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Laurenz Lütteken

RICHARD STRAUSS
DIE OPERN

Ein musikalischer Werkführer

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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C.H.Beck Wissen – Musik

Die C.H.Beck Wissen-Bände aus dem Themenbereich Musik wollen umfassende Informationen zum Werk bedeutender Komponisten der Musikgeschichte anhand einer für ihr Schaffen repräsentativen musikalischen Gattung bieten. Der Leser lernt auf diese Weise nicht nur Stil, Kompositionstechnik und Interpretation einzelner Werke kennen, sondern erhält die Möglichkeit, den betreffenden Komponisten, seine kompositorische Entwicklung und ebenso die jeweilige Gattung und ihre Entwicklung in derMusikgeschichte einzuordnen. Aspekte derWirkungsgeschichte und der Aufführungspraxis runden die allgemeinverständlich gehaltenen Darstellungen ab. Die regelmäßig in der enzyklopädischen Reihe C.H.Beck Wissen erscheinenden Themenbände zur Musik sollen sich für Kenner und Liebhaber zu einer Bibliothek musikalischer Werkführer, nach zentralen Gattungen gegliedert, entwickeln.

 

Der Herausgeber

Siegfried Mauser, Jahrgang 1954, gibt in der Reihe C.H.Beck Wissen die Themenbände zur Musik heraus. Er hat an der Musikhochschule Würzburg und an der Universität ‹Mozarteum› in Salzburg gelehrt. Seit 2002 ist er Professor für Historische Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater inMünchen, seit 2003 auch deren Rektor. Er hat zahlreiche Publikationen zur Musik der Zweiten Wiener Schule sowie zur Musikgeschichte und Ästhetik des 18. bis 20. Jahrhunderts vorgelegt und ist Herausgeber der ‹Schriften zur musikalischen Hermeneutik› und des ‹Handbuchs der musikalischen Gattungen›. Als konzertierender Pianist ist er durch Auftritte im In- und Ausland und eine rege Aufnahmetätigkeit bekannt geworden.

Zum Buch

Richard Strauss (11. Juni 1864 bis 8. September 1949) gehört zu den bedeutendsten Komponisten der Moderne. Tondichtungen, Lieder, vor allem aber seine Opern gehören zum überzeitlichen musikalischen Erbe unserer Kultur. Wer immer in dieser Generation Opern komponierte, mußte sich mit den Ideen und Werken Wagners auseinandersetzen. Strauss hat, trotz seiner lebenslangen Bewunderung für Wagner einen sehr bewußten Prozeß der Distanzierung und Abgrenzung von ihm vollzogen und es dabei verstanden, sich seinen eigenen Weg in die musikalische Modernezu bahnen. Wie ihm dies gelungen ist, wie er sich in seinen Opern ausdrückte und welche Librettisten ihm dabei geholfen haben, beschreibt Laurenz Lütteken in dem vorliegenden kleinen Band, in dem er alle Opern von Richard Strauss vorstellt und in ihren Besonderheiten erläutert.

Über den Autor

Laurenz Lütteken lehrt als Ordinarius für Musikwissenschaft an der Universität Zürich. Er wurde mehrfach für seine wissenschaftlichen Arbeiten ausgezeichnet – unter anderem mit der Dent Medal der Royal Musical Association, London. Er ist Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Die Erforschung von Leben und Werk Richard Strauss’ bildet einen seiner Arbeitsschwerpunkte.

Für Luisa

Inhalt

Vorwort

I.   Strauss und das 20. Jahrhundert

1. Die andere Moderne

2. Die Begrenztheit historischer Zusammenhänge: Tondichtung und Oper

II.  Opern vor Hofmannsthal

1. Oper nach Wagner

2. Revision der Künstleroper: Guntram

3. Bruch mit Wagner: Feuersnot

4. Die Moderne und das rohe Altertum: Salome

III. Strauss und Hofmannsthal

1. Die Krise des Lord Chandos und «das erreichte Soziale» …

2. Komödie, Mythologie und Märchen

3. Die letzte Tragödie als Neubeginn: Elektra

4. Komödie für Musik: Der Rosenkavalier

5. Exkurs: Musik und Gestus in Josephs Legende

6. Die ‹plastische› Antike: Ariadne auf Naxos

7. Märchen: Die Frau ohne Schatten

8. Geläuterte orientalische Antike: Die ägyptische Helena

9. Plastische Operette: Arabella

IV. Jenseits von und nach Hofmannsthal

1. Leben und Kunst: Intermezzo

2. Letzte Komödie: Die schweigsame Frau

3. Zurück zum Einakter: Friedenstag

4. Der ‹griechische Germane›: Daphne

5. Späte Bekenntnisse: Capriccio

6. Abschied: Die Liebe der Danae

V.  Bühne und Wirklichkeit

Literaturhinweise

Vorwort

Das vorliegende Büchlein ist dem Schaffen des bedeutendsten Opernkomponisten des 20. Jahrhunderts gewidmet. Richard Strauss vollendete sein erstes Bühnenwerk 1894, sein letztes 1944, und noch im willentlich nachgeordneten ‹Spätwerk› beschäftigte er sich mit dem erstaunlichen Unternehmen eines Stückes für das Schultheater. In seinem Schaffen spiegelt sich der Versuch, aus dem Wagnerschen Ideendrama des 19. Jahrhunderts produktiv herauszufinden, und zwar mit einer neuen Art musikalischen Theaters. Dieses Theater hat, wie der Komponist selbst betonte, viele Bezugspunkte, namentlich das Schaffen von Mozart und Wagner, aber es knüpft an diese Vorbilder nicht mehr ideell, sondern bloß noch technisch an. Schon beim Guntram von 1894 handelt es sich um den wohl nachdrücklichsten Versuch des späteren 19. Jahrhunderts, zu Wagner, durchaus unter dem Eindruck von Schopenhauer und Nietzsche, eine Distanz zu finden – ohne dessen musikdramatische Vorgaben in Frage zu stellen. Die 14 folgenden Bühnenwerke und das große Ballett kreisen um sehr unterschiedliche Ausformungen eines neuen Paradigmas von Musiktheater. In der individuellen Beschaffenheit der einzelnen Gattungsbeiträge knüpft der Komponist an Vorstellungen an, die ihn schon bei seinen Tondichtungen geleitet haben: feste, tradierbare Normen aufzugeben und von Werk zu Werk, wie in einem metamorphotischen Prozeß, fortwährend neue, singuläre Gestalten zu erfinden. Auch dies zeigt sich verheißungsvoll bereits im Guntram, dem musikdramatischen Erstling, dem bezeichnenderweise ein Gattungsname fehlt. Die folgenden Werke führen dann eine nahezu unerschöpfliche Variationenreihe an Bezeichnungen und damit Konzeptionen vor: Musikdrama, Tragödie, Komödie für Musik, Oper, Vorspiel, bürgerliche Komödie, komische Oper, bukolische Tragödie oder heitere Mythologie.

Im Zentrum dieses Schaffens steht zweifellos die Zusammenarbeit mit Hugo von Hofmannsthal (1874–1929), die mit der Elektra noch indirekt begann, ab dem Rosenkavalier aber lebensbestimmend werden sollte. Auch in diesem Sinne hat der Komponist den plötzlichen Tod des Dichters am 15. Juli 1929 als Katastrophe empfunden. Die Begegnung mit Stefan Zweig (1881–1942) erschien ihm daher, dies hat er dem Dichter ganz unumwunden mitgeteilt, als unverhofftes Glück, um nun den mit Hofmannsthal eingeschlagenen Weg doch noch fortsetzen zu können. Als die politischen Umstände, die Strauss auch in dieser Frage vollkommen unrealistisch eingeschätzt hat, eine Fortführung nicht mehr erlaubt haben, wurden die nachfolgenden Werke wenigstens als Ausformulierung der einstigen Pläne verwirklicht, unter qualvollen Bedingungen für die Beteiligten, insbesondere Joseph Gregor (1888–1960). Dabei hat das von Widersprüchen durchzogene Verhältnis von Strauss zum Nationalsozialismus, das von manchen Takt- und Instinktlosigkeiten geleitet war, auch von der Versuchung, dem keineswegs vorbehaltlosen Ansinnen zur Übernahme des Reichsmusikkammer-Präsidiums nachzugeben, die spätere Wahrnehmung des Schaffens überschattet. Ungeachtet dieser schwierigen Wendung der späten Jahre mit ihren aktiven Verstrickungen und passiven Gefährdungen hat sich der innere, schon von Hofmannsthal bemerkte Zusammenhang dieses bedeutenden Werkes, vielleicht mit der Ausnahme vom ebenfalls auf Stefan Zweig zurückreichenden Friedenstag, nicht wesentlich verändert.

In dessen Mittelpunkt steht ein neues musikalisches Theater als Versuch, die Kunst aus der Vereinzelung des Fin de siècle zu lösen, sie wieder den Menschen und ihren Verhältnissen zuzuwenden. Hofmannsthal sollte dies das «erreichte Soziale» nennen. Das neue Theater gründet auf wahrnehmbaren, mitteilbaren, aus der Sprache gewachsenen Formen einer handwerklich keine Zugeständnisse machenden Tonsprache. Strauss hat diesen Weg, wie übrigens auch Hofmannsthal, als Weg der Moderne, als Weg des 20. Jahrhunderts verstanden – und ihm doch oder deswegen, von vornherein, eine dauerhafte geschichtliche Perspektive verweigern wollen. Seine letzten Opern empfand er daher, pessimistisch, als Abschluß eines Kulturzusammenhangs, möglicherweise, weil er den Konflikt zwischen ihrem humanen Geltungsanspruch und den mörderischen Zeitumständen auch in einem ganz persönlichen Sinne als unlösbar empfand. Im vorliegenden Buch soll dieses Bühnenschaffen systematisch, in den Grenzen des zur Verfügung stehenden Raumes nachgezeichnet werden, ohne einerseits die berechtigten Erwartungen im Blick auf grundlegende Informationen zu enttäuschen, ohne aber damit andererseits in die Nähe eines bloßen Opernführers zu geraten.

Es sei hier all jenen gedankt, die durch zahlreiche Gespräche, Hinweise und Anregungen, insbesondere aber kritische Lektüre das Entstehen des Textes ermöglicht haben: Inga Mai Groote, Michael Hampe, Gustav Kuhn, Stefan von der Lahr, Siegfried Mauser, Christian Strauss, Gabriele Strauss-Hotter, Veronika Weber und Ralf Weikert. Für die aufmerksame redaktionelle Hilfe danke ich besonders Claudia Maria Korsmeier und Ulrike Thiele.

I. Strauss und das 20. Jahrhundert

1. Die andere Moderne

Das Bild, das man sich im späteren 20. und im beginnenden 21. Jahrhundert von Richard Strauss gemacht hat und macht, ist von Widersprüchen durchzogen, die sich im Kern auf zwei Argumente zurückführen lassen. Für die einen hat der Komponist die Moderne mit dem Rosenkavalier gleichsam verraten, obwohl doch Salome und Elektra in die ‹richtige› Richtung gewiesen hätten. Für die anderen gilt er als Verkörperung eines zünftigen, bajuwarisch grundierten Musikantentums, das sich in solcher Besinnung auf das Handwerkliche den Verwerfungen dieser Moderne zu Recht entzogen und verweigert habe. Beide Einschätzungen stehen sich, obwohl sie die unterschiedlichsten Erscheinungsformen ausgeprägt haben, unversöhnlich gegenüber – und sind paradoxerweise doch geeint in der Überzeugung, der Komponist habe mit dem 20. Jahrhundert am Ende eben gar nichts oder nur ex negativo zu tun. Kronzeuge dieser Argumentation ist Theodor W. Adorno, der in seiner postum publizierten Ästhetischen Theorie besonders gründlich und folgenreich mit Strauss ins Gericht gegangen ist, indem er die Argumente der Gegenseite gleich mit entwertet hat: «Als Alban Berg die naive Frage verneinte, ob nicht an Strauss wenigstens dessen Technik zu bewundern sei, zielte er aufs Unverbindliche des Straussischen Verfahrens, das mit Bedacht eine Folge von Wirkungen kalkuliert, ohne daß rein musikalisch die eine aus der anderen hervorginge oder von ihr gefordert wäre.» Strauss verfolge, so Adorno weiter, «eine Konzeption, welche das Prinzip der Überraschung in Permanenz erklärt und ihre Einheit geradezu in die irrationalistische Suspension dessen verlegt, was der Tradition des obligaten Stils Logik, Einheit hieß». Und deswegen sei Bergs Kritik am «Straussischen Metier» der Logik des Irrationalen zutreffend, «weil, wer Logik refusiert, zu jener Durchbildung unfähig ist, der jenes Metier dient, auf das Strauss seinerseits verpflichtet war». Damit zeichnet sich die Schlußfolgerung ab: «So durchaus zeitlich-dynamisch angelegte Musik wie die Straussens ist inkompatibel mit einem Verfahren, das die zeitliche Sukzession nicht stimmig organisiert. Zweck und Mittel widersprechen einander.»

Mit dieser Kritik war Strauss also endgültig aus jenem Jahrhundert ausgegliedert, dem er sich selbst nachdrücklich zugehörig fühlte. Adorno bediente sich dabei einer Argumentation, deren entscheidende Konturen bereits in seiner Philosophie der Neuen Musik von 1948 festgelegt worden waren: die ästhetische und ethische Verpflichtung des Komponierens auf einen dialektisch gebrochenen Fortschritt im ‹Material›. Dieser Fortschritt wurde für die Musik von Schönberg geltend gemacht – aber für die Musik von Strawinsky, auch für die von Strauss in Abrede gestellt. Adorno hat diese Denkfigur 1964, in einem Essay zum 100. Geburtstag des Komponisten, neuerlich für Strauss, auch vor dem Hintergrund seiner Präsidentschaft der nationalsozialistischen Reichsmusikkammer, in Anschlag gebracht, um ihn damit nicht nur aus dem 20. Jahrhundert auszugliedern, sondern ihm am Ende sogar den Status des Komponisten zu verweigern. Die Frage nach der ‹Technik› wurde mit dem Argument ad absurdum geführt, daß eine nicht der Formlogik dienende Technik eben keine wirklich musikalische sein könne.

Der vorübergehende Erfolg des von Adorno hergeleiteten historiographischen Modells gewährte vor allem eine handhabbare Orientierung in disparater, von Krieg und Diktatur verwüsteter Zeit, denn mit seiner Hilfe ließen sich alle ihm gegenläufigen kompositionsgeschichtlichen Entwicklungen mit leichter Hand zurückweisen. Die Ordnung der Dinge durch die aus der ästhetischen Positionierung gewonnene ethische Zuversicht erlaubte eine Trennung des Guten vom Schlechten, in jenem Doppelsinn, den die Worte nahelegen. Gegen diese zielgerichtete Lesart sind immer wieder und gerade auch mit Blick auf die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts Vorbehalte formuliert worden, aus kompositionsgeschichtlicher ebenso wie aus allgemein ästhetikgeschichtlicher Perspektive. Derartige Bedenken sind niemals systematisiert worden, nicht zuletzt deswegen, weil sie sich aus einer Skepsis nicht gegen ein bestimmtes System, sondern die Systematik an sich herleiten. Gerade dies hat aber zu Unsicherheiten, ja grundlegenden Ratlosigkeiten beim Umgang mit den besonders querständigen Phänomenen geführt, an deren Spitze gewiß Richard Strauss steht. Seine Zugehörigkeit zum 20. Jahrhundert ist schon deswegen immer in Zweifel gezogen worden, weil er einen auf die Preisgabe der Tonalität gerichteten ‹Fortschritt im Material› nie ernsthaft in Erwägung gezogen hat.

Strauss hat den Bruch mit dem 19. Jahrhundert jedoch auf anderer Ebene vorsätzlich herbeigeführt, einen Bruch, der für ihn mit dem Paradigma der Instrumentalmusik und ihrer ‹Logik› verbunden gewesen ist – und deswegen auch Richard Wagner betreffen mußte, leitete dieser sein Musikdrama doch ausdrücklich aus dem vermeintlichen Scheitern der Instrumentalmusik ab. Im Selbstverständnis des ‹Wagnerismus› um 1900 war diese Beglaubigung zu einer unverbrüchlichen Gewißheit geworden, von der Strauss sich jedoch nachdrücklich distanzieren wollte. Seine Hinwendung zur Bühne, die am Ende mit dem Abschied von der Instrumentalmusik, aber auch vom Wagnerschen Ideendrama einherging, hatte offenkundig ganz andere Motive. Bereits mit dem Guntram, fälschlich immer wieder als eine Oper in der Wagner-Nachfolge gedeutet, zeichnen sich die entscheidenden Parameter seines Neuansatzes ab. Denn danach sollte das andere, von Wagner sich abgrenzende Theater auch der Musik, die Strauss in einer entscheidenden Krise glaubte, wieder Mitteilbarkeit gewähren und sie aus der Sprachlosigkeit befreien. Der Komponist hat das Problem des Sprachverlusts bereits in jungen Jahren beschrieben, und hierin deckt er sich mit jener Diagnose, die der zehn Jahre jüngere Hugo von Hofmannsthal in seinem fiktiven Brief an Lord Chandos, erschienen 1902 in Berlin, formuliert hatte: Sprachverlust als Ergebnis fehlender Beziehungen zu den menschlichen Verhältnissen.

Das neue musikalische Theater, das dann vor allem in der Zusammenarbeit mit Hofmannsthal angestrebt wurde, verstand sich als ein dem Menschen, seinen Verhältnissen zugewandtes Drama, nicht mehr als Austragung von Ideen und deren Widerstreit. Der Versuch, menschliche Verhältnisse auf die Bühne zu bannen, sollte der Kunst Menschenmaß und damit wenigstens vorübergehend wieder eine funktionierende Interaktion ermöglichen. Genau dies galt Strauss als Zeichen einer genuinen Moderne, deren entscheidendes Merkmal für ihn im Abschied von der hypertrophen Stilisierung der Künstlerexistenz lag. Für den Komponisten mußte dies, neben dem Verzicht auf die Instrumentalmusik, eine Reihe bedeutender Konsequenzen zeitigen, die schon in Guntram und Feuersnot erkennbar werden, in der Folge immer deutlicher hervortreten und ihn lebenslang begleiten sollten. An erster Stelle steht die Distanz zum Mittelalter und der aus ihm gewonnenen Mythologie sowie, daraus hervorgehend, die Hinwendung zu einer neuen Antike, die nicht mehr bloß die ‹klassische›, sondern eben auch die antiklassische, die ‹orientalische› von Salome und Elektra, schließlich der Ägyptischen Helena sein sollte. Die auf solche Weise wiedergewonnene, ‹antiwagnerische› Antike konnte für die Kunst, durchaus im Verständnis des späten Goethe, eine neue Form von Plastizität stiften. Gemeint war also Anschaulichkeit im Sinne von Mitteilbarkeit, Dialog und Kommunikation. Noch die Liebe der Danae, sogar die Schuloper Des Esels Schatten sind davon geprägt.

Mit dieser Verpflichtung zur Plastizität und zum Dialog waren zugleich bedeutende Konsequenzen für die Tonsprache verbunden. Strauss hat zeitlebens an der Tonalität festgehalten, nicht aber im Sinne eines autonomen, eines gegebenen Sinnzusammenhangs. Vielmehr galt ihm die Tonalität bloß noch als Chiffre temporärer Mitteilbarkeit, gleichsam als ein, im Verständnis Hofmannsthals, ‹erreichtes Soziales›. Gerade deswegen handelt es sich beim Rosenkavalier nicht um einen ‹Rückschritt›, sondern um eine Perfektionierung des in Salome und Elektra erprobten Verfahrens. Damit verbunden ist die schon in Feuersnot erkennbare Hinwendung zur Komödie als der zentralen Darstellungs- und Denkform der neuen Gegenwärtigkeit von Musik, mit den Derivaten von Märchen, Operette oder Alltagsoper. Das bedeutet zugleich die Abkehr von der Künstlerthematik (die in der Sängerszene des Rosenkavalier nachhaltig karikiert und zugleich melancholisch in die Geschichte entlassen wird), verbunden mit der Selbstversicherung im tätigen Leben. Diese Selbstversicherung entbehrt aller metaphysischen Grundierung, sie ereignet sich bestenfalls als erotischer Vollzug – als dessen besonders signifikante Chiffre erstmals in Feuersnot der Paartanz des Walzers erscheint. Gerade im Walzer wird erkennbar, daß eine solchermaßen bestimmte Musik ‹gestisch› ist, daß sie also auch jenseits der Worte (und doch nicht ohne sie) mitteilsam sein könne und solle. Wenigstens einmal, in Josephs Legende, hat dies zum ambitionierten Versuch geführt, das Plastische und Gestische, schon in Salomes Tanz eigenständig geworden, unter gänzlichem Verzicht auf die Sprache zu erreichen.

Diese neue Plastizität kennt demzufolge keine funktionierenden Gattungsnormen mehr: Jede Oper erscheint als individuelle, nicht tradierbare Ausprägung solcher Anschaulichkeit. Dies spiegelt sich nicht nur in der heterogenen Fülle von Gattungsbezeichnungen, sondern auch im Verzicht auf stringente Handlungsformen, die vom für Strauss besonders bedeutsamen Einakter (von der frühen Feuersnot bis zur späten Daphne) bis zum Dreiakter und allerlei Mischformen (wie in Ariadne auf Naxos und Intermezzo) reichen. Die Preisgabe von Gattungsnormen ist unlösbar verknüpft mit dem entscheidenden, um 1900 im deutschen Sprachraum ganz isolierten Vorsatz, die seit Wagner normative, von ihm begründete Einheit von Dichter und Komponist wieder aufzulösen. In der durchaus nicht immer einfachen Zusammenarbeit zwischen Dichter und Komponist sollte das ‹Plastische› bereits zum Modus aller künstlerischen Produktion werden. Strauss hat, mit der sehr genau begründbaren Ausnahme des Intermezzo, nach dem Guntram keinen seiner Texte selbst geschrieben. Die neu gewonnene Zusammenarbeit hat zudem neue Modelle der musikalischen Syntax hervorgebracht, die in der (erstmals in Elektra kompromißlos verwirklichten) Motivtechnik besonders auffällig zutage tritt. Sie gründet nur äußerlich in Wagner, denn sie beruht nicht mehr auf dessen Koppelung von Motiv und dinghafter Evidenz oder Präsenz. Strauss strebt vielmehr, in einem komplexen Rückgriff auf Mozart, eine psychologisierende Verwendung von Motiven an. Sie werden in einem komplexen polyphonen Satz (von ihm als ‹psychische Polyphonie› bezeichnet) verwoben, aber zusammengehalten und überwölbt von der kantablen Linie des dem Zuhörer sich zuwendenden Gesangs, der mitunter – und wohl aus diesem Grund – sogar zum Gegenstand der Bühnenhandlung werden konnte (wie in der Szene der Zerbinetta in Ariadne auf Naxos oder der Szene des Sängers im Rosenkavalier).

Dieser Ansatz zielt auf eine kompromißlose, antimetaphysische Gegenwärtigkeit von Kunst, Musik und Drama – und ihm ist deswegen keine geschichtliche Perspektive mehr zu eigen. Diese Haltung von Strauss, die in ihrer pessimistischen Grundierung den euphorischen Aufbrüchen, Beglaubigungen, Manifesten und Erklärungen so vieler seiner Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts entgegensteht, läßt sich tatsächlich als eine gegenläufige, eine ‹andere› Moderne verstehen.

2. Die Begrenztheit historischer Zusammenhänge:
Tondichtung und Oper

Im August 1888 hat Richard Strauss in einem erstaunlichen Brief an seinen Mentor Hans von Bülow die Begrenztheit der musikalischen Denkformen des 19. Jahrhunderts hervorgehoben: «Ob ich aber vorläufig auf dem Wege, auf dem ich in konsequenter Entwicklung von der f-moll-Sinfonie her gelangt bin, umkehren kann, darüber kann ich jetzt noch nichts Bestimmtes äußern. Eine Anknüpfung an den Beethoven der ‹Coriolan›-, ‹Egmont›-, ‹Leonore›III-Ouvertüre, der ‹Les Adieux›, überhaupt an den letzten Beethoven, dessen gesamte Schöpfungen nach meiner Ansicht ohne einen poetischen Vorwurf wohl unmöglich entstanden wären, scheint mir das einzige, worin eine Zeit lang eine selbständige Fortentwicklung unserer Instrumentalmusik noch möglich ist. Wenn mir die künstlerische Kraft und Begabung fehlen sollte, auf diesem Wege was Ersprießliches zu leisten, dann ist es wohl besser, es bei der großen 9 [von Beethoven] mit ihren 4 berühmten Nachzüglern [von Brahms] zu belassen; ich sehe nicht ein, warum wir uns, bevor wir unsere Kraft erprobt haben, ob es uns möglich ist, selbständig zu schaffen und die Kunst vielleicht einen kleinen Schritt vorwärts zu bringen, sofort in das Epigonentum hineinreden wollen […]. Ich habe mich von der f-moll-Sinfonie weg in einem allmählich immer größeren Widerspruch zwischen dem musikalisch-poetischen Inhalt, den ich mitteilen wollte u[n]d der uns von den Klassikern überkommenen Form des dreiteiligen Sonatensatzes befunden. […] Will man nun ein in Stimmung u[nd] konsequentem Aufbau einheitliches Kunstwerk schaffen und soll dasselbe auf den Zuhörer plastisch einwirken, so muß das, was der Autor sagen wollte, auch plastisch vor seinem geistigen Auge geschwebt haben. Dies ist nur möglich infolge der Befruchtung durch eine poetische Idee, mag dieselbe nun als Programm dem Werke beigefügt werden oder nicht. Ich halte es nun doch für ein rein künstlerisches Verfahren, sich bei jedem neuen Vorwurfe auch eine dementsprechende Form zu schaffen […]. Ein rein formales, Hanslicksches Musizieren ist dabei allerdings nicht mehr möglich […].»

Strauss zeigt sich in derlei Bekundungen nicht einfach als Agent provocateur des ausklingenden 19. Jahrhunderts. Denn immer wieder ist es ihm, dem noch ganz jungen Komponisten, darum zu tun, einen geschichtlichen Zusammenhang nicht einfach fortzuschreiben oder zu zertrümmern, sondern seine Grenzen produktiv zu erkunden. Das musikalische 19. Jahrhundert hat seinen Fluchtpunkt, so seine keineswegs isolierte Auffassung, im Werk Beethovens und der aus ihm abgeleiteten formalästhetischen Beglaubigung durch Eduard Hanslick, dessen folgenreiches, vielfach aufgelegtes Buch Vom Musikalisch-Schönen erstmals 1854 erschienen war. Strauss gab sich schon früh von der fehlenden historischen Perspektive dieses Denkzusammenhangs überzeugt. Diese Skepsis galt zunächst den instrumentalen Gattungen, dann der Instrumentalmusik überhaupt, schließlich, in letzter Konsequenz, dem von Wagner daraus abgeleiteten Musikdrama. Bereits zum Zeitpunkt des Bekenntnisses an Bülow hatte er mit ruppiger Attitüde unwiderrufliche Schlüsse gezogen: Zwischen 1878, also seinem vierzehnten Lebensjahr, und 1888, seinem 24. Geburtstag, wurden die von ihm als nicht mehr tragfähig angesehenen Gattungen in meist singulären Beiträgen regelrecht abgearbeitet: Ouvertüre, Sinfonie und Sonate. Danach komponierte Strauss weder tradierte Kammermusikgattungen noch Solokonzerte im hergebrachten Sinn, auch keine Sinfonien mehr. Die Lösung lag für ihn zunächst in der ‹Tondichtung›, einer Gattung, in deren Bezeichnung bereits jede Anspielung auf das ‹Sinfonische› (wie in ‹Sinfonische Dichtung›) unterdrückt wurde. Ihr konzeptioneller Kern gründete in der Auffassung, jedes instrumentalmusikalische Gebilde müsse seine eigene Form generieren.

Die Folgen einer derart zugespitzten Individualisierung von Werken waren unübersehbar. Es ließ sich aus der möglichst vollständigen Überblendung von Inhalt und jeweils eigener Form (die sich von Liszts Festhalten am Sonatensatz grundlegend unterschied) kein neuer historischer Zusammenhang ableiten. Auch wenn manche Komponisten genau dies versuchten – Johan Wagenaar etwa in seiner unüberhörbar an den Don Juan anknüpfenden Ouvertüre Cyrano de Bergerac op. 23 von 1905 –, so war Strauss selbst die fehlende Geschichtsmächtigkeit seines Ansatzes bewußt. Wie in einem Fanal wird in der ersten seiner Tondichtungen, Macbeth op. 23 (1888), in nur fünf Takten der Beginn von Beethovens Neunter Sinfonie heraufbeschworen – und regelrecht demontiert. Die von ihm eingeforderte neue Plastizität des Komponierens war nicht mehr verallgemeinerbar, einzig noch in den allgemeinsten Grundsätzen des Komponierens wie Tonalität oder Motivik. Der hier erkennbare Sprachverlust, den 14 Jahre später auch Hugo von Hofmannsthal öffentlich formulieren sollte, ließ sich nur noch begrenzt überbrücken («eine Zeit lang», wie es im Brief an Bülow heißt), er war für Strauss gleichbedeutend mit der fundamentalen, nicht mehr auflösbaren Sinnkrise des 19. Jahrhunderts.

Der endgültige Abschied von der Instrumentalmusik, eigentlich im Heldenleben vollzogen und in den antipodischen Künstlerstücken von Sinfonia domestica und Alpensinfonie nochmals thematisiert, war irreversibel. Der späte, in den 1940er Jahren unternommene (und erstaunlich weit gediehene) Versuch eines Orchesterwerkes Donau ist über Entwürfe nicht mehr hinausgekommen. Die Wendung zum musikalischen Theater, zur vertonten Sprache, zur Bühne – und zwar in Abgrenzung von Wagner – läßt sich daher als entschiedener Versuch verstehen, mit den Voraussetzungen des 19. Jahrhunderts produktiv zu brechen. Das ‹Plastische› der Bühnenwerke gründete nicht nur in der Rückwendung in die Antike, die von dort aus auch auf andere Bereiche, etwa das Märchen (Die Frau ohne Schatten) oder die Operette (Arabella