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Heinrich August Winkler

GESCHICHTE DES WESTENS

Von den Anfängen in der Antike
bis zum 20. Jahrhundert

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

Zum Buch

Der Westen – seit dem Zeitalter der Entdeckungen ist er gleichsam das welthistorische Maß aller Dinge. Er hat fremde Reiche erobert und ganze Kontinente unterworfen, die Erde bis in ihre entlegensten Winkel erschlossen, die Naturwissenschaften und die moderne Technik hervorgebracht, die Menschen- und Bürgerrechte, die Herrschaft des Rechts und die Demokratie erfunden. Aber er hat auch oft genug seine Werte verraten, Freiheit gepredigt und Habgier gemeint und mit dem Kapitalismus eine Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse entfesselt, die bis heute die Menschheit in Atem hält. In einem grandiosen Panorama erzählt Heinrich August Winkler zum erstenmal überhaupt die Geschichte des Westens – und damit auch die Geschichte unserer eigenen Identität.

„Eine Geschichte der westlichen Welt, wie sie hier präsentiert wird, gab es bislang nicht.“

Volker Ullrich, Deutschlandfunk

„Dem Berliner Historiker ist mit der ‚Geschichte des Westens‘ ein unzeitgemäßes Meisterwerk gelungen.“

Jürgen Osterhammel, Rheinischer Merkur

Über den Autor

Heinrich August Winkler, geb. 1938 in Königsberg, studierte Geschichte, Philosophie und öffentliches Recht in Tübingen, Münster und Heidelberg. Er habilitierte sich 1970 in Berlin an der Freien Universität und war zunächst dort, danach von 1972 bis 1991 Professor in Freiburg. Seit 1991 war er bis zu seiner Emeritierung Professor für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Für Dörte

Inhalt

Vorbemerkung

Einleitung

1. Die Entstehung des Westens: Prägungen eines Weltteils

Monotheismus als Kulturrevolution: Der östliche Ursprung des Westens

Das frühe Christentum: Ein religiöser Schmelztiegel

Ein Gott, ein Kaiser

Zwei Kaiser, ein Papst

Translatio imperii: Der Reichsmythos

Christianisierung und Kreuzzüge

Geistliche versus weltliche Gewalt: Die Papstrevolution und ihre Folgen

«Stadtluft macht frei»: Die Entstehung des Bürgertums

Feudalismus und beginnende Nationalstaatsbildung: Der Geist des Dualismus

Verhinderte Weltherrschaft: Krise und Niedergang des Reiches

Individualität versus Institution: Beginnende Selbstsäkularisierung des Christentums

Im Zeichen des Schismas: Der Verfall der kirchlichen Einheit

Europa im Umbruch (I): Binnen- und Außengrenzen des Okzidents

Europa im Umbruch (II): Renaissance und Humanismus

Judenverfolgung und Hexenverbrennungen: Die Widersprüche der spätmittelalterlichen Gesellschaft

2. Der alte und der neue Westen: Von Wittenberg nach Washington

Luthertum und Calvinismus: Das neue Staatskirchentum

Dreißigjähriger Krieg und europäischer Friede

Nachdenken über den Staat: Vom Humanismus zu Hobbes

Von der puritanischen Revolution zur Glorious Revolution

Der Absolutismus und seine Grenzen

Hegemonie und Gleichgewicht nach 1648

Gewaltenteilung und allgemeiner Wille: Von Locke zu Rousseau

Kritik des Bestehenden: Die Aufklärung und ihre Grenzen

Aufgeklärter Absolutismus: Anspruch und Wirkung

Absolutismus in der Krise: Frankreichs Weg in die Revolution

Wirtschaftliche Umwälzung: Die Industrielle Revolution in England

Politische Umwälzung: Die Amerikanische Revolution

Europa am Vorabend der Französischen Revolution

3. Revolution und Expansion: 1789–1850

1789: Das Ende des Ancien régime und der Beginn der Französischen Revolution

Radikalisierung (I): Von der konstitutionellen Monarchie zur Republik

Gespaltenes Echo: Die Rezeption der Revolution in Deutschland und England

Radikalisierung (II): Die Revolution zwischen Krieg und Schreckensherrschaft

Prekäre Stabilisierung: Thermidor und Direktorium

Vom Ersten Konsul zum Kaiser: Napoleon Bonaparte

Das Grand Empire und das Ende des Alten Reiches

Lernen aus der Niederlage: Die preußischen Reformen

Fichte, Jahn, Arndt: Die Entstehung des deutschen Nationalismus

Großbritannien, die USA und die Kontinentalsperre

Napoleon im Niedergang: Von der spanischen «guerilla» zum Rußlandkrieg

Vom Tauroggen bis Elba: Napoleons erster Sturz

Die «Charte» und die «Hundert Tage»: Napoleons endgültiger Sturz

Konservative, Liberale, Sozialisten: Die nachrevolutionäre Ideenwelt

Rückkehr zum Gleichgewicht: Der Wiener Kongreß

Unterdrückung und Wandel: Die großen Mächte nach 1815

Revolutionen im Mittelmeerraum: Spanien, Portugal, Italien, Griechenland

Die Befreiung Lateinamerikas

Großmacht USA: Von Monroe bis Jackson

Tocqueville in Amerika: Das Zeitalter der Gleichheit

Die französische Julirevolution von 1830

Folgerevolutionen: Europa in den frühen 1830er Jahren

Reform statt Revolution: Großbritannien 1830–1847

Wandel in Preußen: Zollverein und Thronwechsel

Orient und Rhein: Die Doppelkrise von 1840

Hungry fourties: Die Entstehung des Marxismus

Europa am Vorabend der Revolution von 1848

Das Ende der Julimonarchie

Die Märzrevolutionen in Deutschland

Revolution und Konterrevolution im östlichen Mitteleuropa

Die Revolution in Italien

Ordnung vor Freiheit: Frankreichs Zweite Republik bis zum Frühjahr 1849

Weder Einheit noch Freiheit: Die deutsche Revolution von 1848/49

Die Niederwerfung der Revolutionen in Italien und Ungarn

Wandel ohne Revolution: Nord- und Nordwesteuropa

Verselbständigung der Exekutivgewalt: Frankreich auf dem Weg ins Zweite Kaiserreich

Von Erfurt nach Olmütz: Preußens gescheiterte Unionspolitik

Rückblick auf die Revolution (I): Deutschland

Rückblick auf die Revolution (II): Europa

Wandernde Grenzen: Die Westexpansion Amerikas im internationalen Vergleich

4. Nationalstaaten und Imperien: 1850–1914

Materialismus versus Idealismus: Die geistige Wende in der Mitte des 19. Jahrhunderts

West versus Ost: Der Krimkrieg und die Folgen

Der Westen in Asien: Indien, China, Japan

Von der Reaktionszeit zur «Neuen Ära»: Der Regimewechsel in Preußen

Ein Nationalstaat entsteht: Die Einigung Italiens

Kursänderungen: Die deutschen Großmächte 1859–1862

Reform und Expansion: Rußland unter Alexander II.

Sezession: Der amerikanische Bürgerkrieg

Revolution von oben: Das Ende des deutschen Dualismus

Bonapartismus in der Krise: Frankreichs Zweites Kaiserreich 1866–1870

Anpassung durch Reform: England in den 1860er Jahren

Vom Norddeutschen Bund zur Reichsgründung: Deutschland 1867–1871

Nach der Niederlage: Die Anfänge der Dritten Republik in Frankreich

Kulturkampf: Staat und Kirche im Widerstreit

Ein gespaltener Nationalstaat: Italien nach der Einigung

Kampf den Reichsfeinden: Deutschland nach der Reichsgründung

Der Alpdruck der Koalitionen: Bismarcks Europa

Imperialismus (I): Von Disraeli zu Gladstone

Imperialismus (II): Die Aufteilung Afrikas

Befestigungsversuche: Deutschland in den 1880er Jahren

Die opportunistische Republik: Frankreich zwischen Reform und Krise

Rechtsruck und Anarchismus: Das Italien der Ära Crispi

Reaktion, Radikalismus, Revolution: Rußland 1881–1906

Pionierland der Moderne: Amerika vor und nach der Jahrhundertwende

Transnationale Moderne: Die Ungleichzeitigkeit des Fortschritts (I)

Zerreißproben: Die innere Entwicklung der Donaumonarchie

Der Fluch des Epigonentums: Das wilhelminische Deutschland 1890–1909

Abschied von der «splendid isolation»: Großbritannien 1886–1914

Die radikale Republik: Frankreich zwischen Antisemitismus und Laizismus

Demokratisierung und Expansion: Italien in der Ära Giolitti

Von Barcelona bis Basel: Die Ungleichzeitigkeit des Fortschritts (II)

Repression und Avantgarde: Rußland 1906–1914

Krieg als Krisenlösung? Das wilhelminische Deutschland 1909–1914

Sarajewo und die Folgen: Von der Julikrise zum Ersten Weltkrieg

Der Westen zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Rückblick und Ausblick

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Anmerkungen

Personenregister

Ortsregister

Vorbemerkung

Eine zusammenfassende Geschichte des Westens gibt es noch nicht. Handbücher und handbuchartige Darstellungen informieren uns über die europäische Geschichte und die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, aber nicht über beide zusammen. Dabei sind die Verbindungen zwischen dem alten und dem neuen Westen so eng und die Gemeinsamkeiten so groß, daß das Fehlen einer solchen transatlantischen Geschichte überrascht.

Im Jahre 2000 habe ich eine zweibändige deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts unter dem Titel «Der lange Weg nach Westen» vorgelegt. Sie handelt von den Schwierigkeiten eines Landes, das kulturell zum Westen gehört und ihn mitgeprägt hat, sich die politische Kultur des Westens anzueignen und aus der Aufklärung ähnliche politische Konsequenzen zu ziehen wie die westlichen Demokratien, an ihrer Spitze die Vereinigten Staaten von Amerika, England und Frankreich.

Nach Abschluß der beiden Bände drängten sich mir einige Folgefragen auf: Hatte nicht auch der angelsächsisch-französische Westen lange Wege zurücklegen müssen, um sein normatives Projekt, die Ideen von 1776 und 1789, hervorzubringen und, wie unvollkommen auch immer, zu verwirklichen? Gab es neben dem deutschen nicht auch bei anderen europäischen Ländern lange Wege nach Westen? Bedurfte es, wenn dem so war, nicht einer weiteren Untersuchung, um zu klären, was den vielfach gespaltenen Westen im Innersten zusammenhält?

Nach der Epochenwende von 1989 fragten sich viele, für was der Begriff «Westen» künftig noch stehen sollte, nachdem der atlantischen Allianz der Gegner in der Zeit des Kalten Krieges, der kommunistische Osten, abhanden gekommen war. Zwölf Jahre später, nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York und Washington, war das Bewußtsein nahezu allgemein, daß diese Angriffe nicht nur Amerika, sondern dem Westen schlechthin gegolten hatten. Die Art und Weise, wie die USA auf «Nine-Eleven» reagierten, rief dann aber in Europa Zweifel hervor, ob man von der vielbeschworenen westlichen Wertegemeinschaft überhaupt noch sprechen konnte. Doch der Westen mag sich noch so sehr fragen, ob es ihn wirklich gibt: Von großen Teilen der nichtwestlichen Welt wird er als Einheit wahrgenommen, und das vor allem von denen, für die er zum Gegenstand des Hasses geworden ist.

Die Fragen, die zu der vorliegenden Untersuchung geführt haben, lagen also nicht nur in der Logik dessen, worüber ich zuvor gearbeitet hatte. Sie ergaben sich auch aus der jüngsten Geschichte selbst. Daß ich das Vorhaben, eine Geschichte des Westens zu schreiben, über erste Vorstudien hinaus in Angriff nehmen konnte, verdanke ich drei Stiftungen und meiner Alma mater. Die Humboldt-Universität zu Berlin, an der ich von 1991 bis 2007 gelehrt habe, stellte mir nach dem Ende meiner Dienstzeit im März 2007 einen Raum mitsamt der notwendigen technischen Ausstattung zur Verfügung. Dafür danke ich dem Präsidenten der Humboldt-Universität, Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Christoph Markschies, und dem seinerzeitigen Dekan der Philosophischen Fakultät I und Geschäftsführenden Direktor des Instituts für Geschichtswissenschaften, Herrn Prof. Dr. Michael Borgolte.

Die Robert-Bosch-Stiftung, die Hans-Ringier-Stiftung und die ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius ermöglichten es mir, zwei Jahre lang die Hilfe von zwei studentischen Hilfskräften und meiner langjährigen Mitarbeiterin Frau Monika Roßteuscher M. A. in Anspruch zu nehmen. Die drei Stiftungen und die Humboldt-Universität werden ihre Förderung für die Dauer von zwei weiteren Jahren verlängern, so daß ich hoffe, meine Darstellung über den End- und Fluchtpunkt dieses Bandes, das Jahr 1914, hinaus bis in die Gegenwart fortsetzen zu können. Für diese Unterstützung bin ich außerordentlich dankbar.

Der vorliegende Band verdankt viel der Mithilfe und dem Mitdenken meiner studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Frau Angela Abmeier, Frau Franziska Kuschel, Frau Anna Maria Lemcke, Frau Maria Schultz, Herrn Andreas Stirn und Frau Rahel Marie Vogel. Frau Gretchen Klein hat mit größter Sorgfalt meine handschriftliche Vorlage in ein druckreifes Manuskript verwandelt. Die PC-Fassung von Teilen des letzten Kapitels hat mit derselben gleichbleibenden Aufmerksamkeit Frau Monika Roßteuscher angefertigt. Dr. Detlef Felken, der Cheflektor des Verlages C.H.Beck, war ein ebenso gründlicher wie kritischer Leser des Textes. Bei den Korrekturarbeiten hat mir seine Mitarbeiterin Frau Janna Rösch mit nicht nachlassender Geduld geholfen. Große Verdienste haben sich Frau Tabea Spieß (Korrekturlesen) und Herr Alexander Goller (Erstellung der Register) erworben. Mit meiner Frau konnte ich vom ersten bis zum letzten Kapitel alles besprechen, was ich ohne diesen anregenden und klärenden Dialog nicht hätte zu Papier bringen können. Für all dies danke ich. Für das, was es an diesem Band zu bemängeln gibt, haftet aber nur einer: der Autor.

Berlin, im Mai 2009

Heinrich August Winkler

Einleitung

Nicht nur Bücher, auch Begriffe haben ihre Schicksale. Der Begriff «Westen», wenn er politisch oder kulturell gemeint ist, macht da keine Ausnahme: Er hat zu unterschiedlichen Zeiten Unterschiedliches bedeutet.

Das klassische Griechenland bedurfte der Erfahrung der Perserkriege in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts vor Christus, um eine Vorstellung vom kulturellen und politischen Gegensatz zwischen Griechen und «Barbaren», Abendland (dysmaí oder hespéra) und Morgenland (anatolé), Okzident und Orient zu entwickeln. Im christlichen Europa meinte Okzident oder Abendland den Bereich der Westkirche, das lateinische im Unterschied zum griechischen, das heißt byzantinischen Europa. Vom «Westen» als einer transatlantischen Einheit war vor 1890 kaum je die Rede. Erst die Erfahrung der kulturellen und politischen Gleichrangigkeit Europas und Nordamerikas ließ diesen Begriff um die Jahrhundertwende vor allem in der angelsächsischen Welt zum Schlagwort aufsteigen. Es mußte damals noch mit einem anderen, häufiger gebrauchten Begriff, dem der «weißen Rasse», konkurrieren, war aber zugleich enger und weiter als dieser: enger, weil der «Westen» den als rückständig empfundenen russischen und balkanischen Osten Europas ausschloß, weiter, weil die Zugehörigkeit zur «westlichen Zivilisation» nicht an rassische Merkmale gebunden wurde.[1]

Für die tonangebenden Intellektuellen eines westlichen Landes, Deutschlands, unter ihnen Thomas Mann in seinen «Betrachtungen eines Unpolitischen» von 1918, wurde der Begriff «Westen» im Ersten Weltkrieg zu einem negativ besetzten Kampfbegriff.[2] Der Westen in Gestalt Frankreichs, Großbritanniens und, seit ihrem Kriegseintritt im Jahre 1917, der Vereinigten Staaten von Amerika, stand für das, was sie ablehnten, nämlich demokratische Mehrheitsherrschaft und eine vermeintlich rein materialistische Zivilisation. Deutschland hingegen vertrat aus der Sicht seiner geistigen Verteidiger die höheren Werte einer Kultur der Innerlichkeit – einer Kultur, die sich auf die Macht eines starken Staates stützen konnte. Die deutschen «Ideen von 1914» gegen die westlichen «Ideen von 1789»: In vielen Köpfen überlebte dieser Gegensatz die Niederlage von 1918. Erst nach der abermaligen Niederlage des Deutschen Reiches im Jahre 1945 vollzog sich im westlichen Teil Deutschlands jene Entwicklung, in der der Philosoph Jürgen Habermas 1986, auf dem Höhepunkt des «Historikerstreits» um die Einzigartigkeit des nationalsozialistischen Judenmordes, die größte intellektuelle Leistung der zweiten deutschen Nachkriegszeit sah: «die vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens».[3]

Im Zeichen des Kalten Krieges wurde der «Westen» zur Kurzformel für das atlantische Bündnis: die Allianz der beiden großen Demokratien Nordamerikas, der USA und Kanadas, mit anfangs zehn, später vierzehn Staaten auf der anderen Seite des Atlantiks, darunter seit 1955 die Bundesrepublik Deutschland. Nicht alle Mitglieder der NATO waren zu jeder Zeit Demokratien. Portugal war bis 1974 eine rechtsautoritäre Diktatur; Griechenland und die Türkei wurden zeitweise unmittelbar oder mittelbar vom Militär regiert. Trotz solcher Abweichungen von der Regel sah sich der Atlantikpakt stets als Bündnis zur Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte gegenüber der Bedrohung durch die Sowjetunion und die Staaten des Warschauer Pakts – also nicht nur als Militärallianz, sondern als Wertegemeinschaft.

Nach der Epochenwende von 1989/91 änderte sich die Bedeutung des Begriffs «Westen» erneut. Das Ende der kommunistischen Diktaturen machte den Blick frei für geographische und historische Tatsachen, die in der Zeit des Ost-West-Konflikts weithin in Vergessenheit geraten waren. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wäre kaum jemand auf den Gedanken gekommen, Polen, die Tschechoslowakei (beziehungsweise die in diesem Staat zusammengeschlossenen Gebiete) oder Ungarn «Osteuropa» zuzurechnen; «Mitteleuropa» oder, genauer, «Ostmitteleuropa» waren und sind die zutreffenden Bezeichnungen. Der Begriff «Osteuropa» war Rußland bis zum Ural, Weißrußland und der Ukraine vorbehalten. Historisch gehören das östliche Mitteleuropa, das Baltikum und der Westen der Ukraine zum «Okzident» oder «Abendland», also zu jenem Teil des Kontinents, der seinen gemeinsamen geistlichen Mittelpunkt bis zur Reformation in Rom gehabt hatte und der sich eben dadurch vom orthodox geprägten Ost- und Südosteuropa unterschied. Es ist dieser historische Westen, der im Mittelpunkt unserer Betrachtung steht.

«Europa ist nicht (allein) der Westen. Der Westen geht über Europa hinaus. Aber: Europa geht auch über den Westen hinaus»: Auf diese knappe Formel hat der Wiener Historiker Gerald Stourzh das Verhältnis zwischen Europa und dem Westen gebracht.[4] Was den außereuropäischen Teil des Westens betrifft, so gehören unstrittig die Vereinigten Staaten, Kanada, Australien und Neuseeland, also die ganz oder überwiegend englischsprachigen Demokratien, und, seit seiner Gründung im Jahr 1948, der Staat Israel dazu. In Europa liegen die Dinge komplizierter. Die Frage, wie es dazu kam, daß nicht ganz Europa dem Westen zuzurechnen ist, führt zurück in die Zeit, die der historischen Spaltung in eine West- und eine Ostkirche vorausging. Diese Frage ist nicht bloß von historischem Interesse. Denn sie zielt auf kulturelle Prägungen, die Europa einmal verbunden haben und von denen noch vieles nachwirkt.

Die stärkste dieser gemeinsamen Prägungen ist religiöser Natur: die christliche. Im Zuge der fortschreitenden Entkirchlichung und Entchristlichung Europas ist eine solche Feststellung alles andere als selbstverständlich. Erklärten Laizisten könnte sie sogar als ein Versuch erscheinen, die Säkularisierung in Frage zu stellen und ihr Einhalt zu gebieten. In Wirklichkeit ist es gerade der spezifische, ja weltgeschichtlich einzigartige Charakter des westlichen Säkularisierungsprozesses, der uns veranlassen sollte, den religiösen Bedingungen dieser Entwicklung nachzugehen.

Vom christlichen Erbe Europas und des Westens läßt sich aber nicht sinnvoll reden, wenn wir nicht zuvor vom jüdischen Erbe des Christentums gesprochen haben. Zum jüdischen Erbe gehört zentral der Monotheismus. Dieser hat eine Vorgeschichte, die über das Judentum hinausweist: in das Ägypten des 14. Jahrhunderts vor Christus. Mit der Entstehung des Monotheismus müssen wir also einsetzen, wenn wir wissen wollen, wie der Westen zu dem wurde, was er heute ist. Von diesem Ausgangspunkt gilt es fortzuschreiten zu jener spezifisch christlichen Unterscheidung zwischen göttlicher und weltlicher Ordnung, in der die Säkularisierung der Welt und die Emanzipation des Menschen bereits angelegt sind. Der klassische Beleg dieser Unterscheidung ist das Wort von Jesus: «Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.»[5]

Von diesem Aufruf bis zur ansatzweisen Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt im Investiturstreit des späten 11. und frühen 12. Jahrhunderts verging über ein Jahrtausend. Die Unterscheidung zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt erscheint im historischen Rückblick als Keimzelle der Gewaltenteilung überhaupt, als Freisetzung von Kräften, die sich erst durch diese Trennung voll entfalten und weiter ausdifferenzieren konnten. Der ersten Gewaltenteilung folgte, beginnend mit der englischen Magna Charta von 1215, eine zweite: die Trennung von fürstlicher und ständischer Gewalt, wobei die letztere in der Folgezeit von Adel, Geistlichkeit und städtischem Bürgertum ausgeübt wurde. Beide mittelalterlichen Gewaltenteilungen blieben auf den Raum der Westkirche beschränkt. Im Bereich der Ostkirche fehlte der Dualismus zwischen Papst und Kaiser beziehungsweise König; die geistliche Gewalt blieb der weltlichen untergeordnet; es gab keine Trennung von fürstlicher und ständischer Gewalt; es entwickelte sich, anders als im Westen, kein wechselseitiges Treueverhältnis zwischen Landesherr und Feudaladel, keine Stadtfreiheit und kein selbstbewußtes städtisches Bürgertum und infolgedessen auch keine Tradition individueller und korporativer Freiheit.

Die Geschichte des Westens ist keine Geschichte des ununterbrochenen Fortschritts in Richtung auf mehr Freiheit. Die Reformation des 16. Jahrhunderts brachte einerseits einen gewaltigen Zugewinn an Freiheit, indem sie das Gewissen des Einzelnen zur höchsten moralischen Instanz erhob. Andererseits brachte sie in Gestalt des lutherischen und des anglikanischen Staatskirchentums erhöhten obrigkeitlichen Zwang, ja einen Rückfall hinter die bereits erreichte ansatzweise Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt und hinter die religiöse Toleranz, für die sich die Humanisten eingesetzt hatten. Im anglikanischen England rief die Freiheitsbeschränkung Widerstand hervor: den protestantischen Protest calvinistischer Nonkonformisten. Aus ihm entwickelte sich eine demokratische Bewegung, die auf der anderen Seite des Atlantiks, in den amerikanischen Kolonien der britischen Krone, so stark wurde, daß der neue Westen, Amerika, schließlich die Revolution gegen das Mutterland wagen konnte.

Im alten Westen war England freilich immer noch das freieste unter den größeren Ländern Europas. Hier wurde die mittelalterliche Gewaltenteilung zwischen fürstlicher und ständischer Gewalt weiterentwickelt zur modernen Gewaltenteilung, der Trennung von gesetzgebender, vollziehender und rechtsprechender Gewalt – der Gewaltenteilung, die 1748 in Montesquieus «Geist der Gesetze» ihren klassischen Ausdruck fand. Zusammen mit den Ideen von den unveräußerlichen Menschenrechten, der Herrschaft des Rechts und der repräsentativen Demokratie gehört die Gewaltenteilung zum Kernbestand dessen, was wir als das normative Projekt des Westens oder die westliche Wertegemeinschaft bezeichnen können.

Dieses Projekt war keine reine Neuschöpfung des Zeitalters der Aufklärung. Vielmehr hatte es, wie die Aufklärung selbst, Wurzeln, die tief in die Geschichte des Westens, bis ins Mittelalter und die Antike, zurückreichen. Das Projekt des Westens war auch kein rein europäisches Werk, sondern das Ergebnis transatlantischer Zusammenarbeit: Die ersten Menschenrechtserklärungen wurden, beginnend mit der Virginia Declaration of Rights vom 12. Juni 1776, auf britischem Kolonialboden in Nordamerika beschlossen und verkündet. Sie beeinflußten auf das stärkste die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte durch die französische Nationalversammlung am 26. August 1789. Seit den beiden atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts, der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789, war das Projekt des Westens im wesentlichen ausformuliert. Der Westen hatte einen Maßstab, an dem er sich messen konnte – und messen lassen mußte.

Bis sich der gesamte Westen zu diesem Projekt bekannte, vergingen zwei Jahrhunderte. Die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts bestand zu einem großen Teil aus Kämpfen um die Aneignung oder Verwerfung der Ideen von 1776 und 1789. Es gab viele Auflehnungen westlicher Länder gegen die Ideen der Amerikanischen und der Französischen Revolution, geboren aus dem Geist des Nationalismus, der in vieler Hinsicht selbst ein Phänomen der westlichen Moderne war, darunter die radikalste dieser Auflehnungen, die deutsche, die im Nationalsozialismus gipfelte. Und es gab die Länder Ostmitteleuropas, die erst nach dem Zusammenbruch des Kommunismus 1989/90 wieder die Möglichkeit erhielten, sich im westlichen Sinn zu entwickeln. Die Verwestlichung des Westens war mithin ein Prozeß, dessen hervorstechendes Kennzeichen die Ungleichzeitigkeit bildet.

Nicht minder markant ist ein anderes Merkmal der Entwicklung des Westens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert: der Widerspruch zwischen dem normativen Projekt und der politischen Praxis. Unter den Verfassern der ersten Menschenrechtserklärungen und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 waren Sklavenbesitzer. Hätten die Gegner der Sklaverei auf deren Abschaffung bestanden, wäre die erstrebte Loslösung der 13 Kolonien vom englischen Mutterland daran gescheitert. Das Gründungsversprechen aber war ein revolutionäres: Wenn die Unabhängigkeitserklärung allen Menschen bescheinigte, sie seien frei geboren und von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet worden, dann wurde die Sklaverei erst recht zum Skandal und der Kampf um ihre Aufhebung und das Verbot des Sklavenhandels zur historischen und normativen Notwendigkeit. In diesem langwierigen Kampf zeigte sich, daß das Projekt am Ende stärker war als die Praxis: So zynisch der Westen sich gegenüber der nichtwestlichen Welt meist verhielt, so besaß er doch die Fähigkeit zur Selbstkritik, zur Korrektur seiner Praxis und zur Weiterentwicklung seines Projekts.

Die afroamerikanischen Sklaven waren nicht die einzige Gruppe, der unveräußerliche Rechte vorenthalten wurden. Die Ureinwohner Nordamerikas und Australiens wurden an den Rand der physischen Ausrottung getrieben. Aber auch Teile der weißen Bevölkerung waren anhaltender Diskriminierung ausgesetzt. Es dauerte lange, bis die volle Gleichberechtigung der Frauen durchgesetzt war, und auch bei den Arbeitern waren staatsbürgerliche Rechte und ein menschenwürdiges Dasein erst das Ergebnis schwerer, oft gewaltsam ausgetragener Konflikte. Beide, die Frauen und die Arbeiter, konnten sich bei dem, was sie forderten, auf die Verheißungen von 1776 und 1789 berufen: Ideen, aus denen sich Waffen im Kampf gegen eine widerstrebende Wirklichkeit schmieden ließen.

Die Entstehung des westlichen Projekts, die Ungleichzeitigkeit seiner Verwirklichung, die Widersprüche zwischen Projekt und Praxis: Mit diesen Stichworten sind die Leitlinien der vorliegenden Darstellung umrissen. Sie will keine «histoire totale», sondern eine Problemund Diskursgeschichte sein: ein Versuch, die Hauptprobleme der europäischen und der nordamerikanischen Geschichte sowie das Nachdenken über sie in ihrem atlantischen oder westlichen Zusammenhang zu erörtern. Von den nichtwestlichen Ländern bezieht die Darstellung Rußland am stärksten mit ein: Das Zarenreich und später die Sowjetunion wurden durch den Westen ebenso beeinflußt, wie sie ihrerseits den Westen beeinflußten. Je mehr westliche Mächte im Zeitalter des Imperialismus die übrige Welt ihrer formellen oder informellen Herrschaft unterwarfen, desto mehr müssen auch diese anderen Teile der Erde ins Blickfeld rücken. Eine «Globalgeschichte» erwächst daraus aber nicht, höchstens ein Beitrag zu einer solchen.

Als Max Weber 1920 seine berühmte Vorbemerkung zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie verfaßte, arbeitete er bestimmte Kulturerscheinungen heraus, die er nur im Okzident vorfand und als typisch westlich charakterisierte: eine empirisch vorgehende Wissenschaft, die rationale harmonische Musik, den strengen Schematismus des okzidentalen Rechts, das Fachmenschentum, die schrankenlose Erwerbsgier des modernen Kapitalismus, die Trennung von Haushalt und Betrieb, die rationale Buchführung, das abendländische Bürgertum, die Organisation freier Arbeit und die Entstehung eines rationalen Sozialismus. Der gemeinsame Nenner war der spezifisch okzidentale Rationalismus, der sich in einer praktisch-rationalen, namentlich in einer wirtschaftlich rationalen Lebensführung niederschlug.[6]

Webers Analyse erfaßte bestimmte Facetten des Modernisierungsprozesses, den alle von Industrie und Bürokratie geprägten Gesellschaften des Westens durchlaufen hatten und zum Teil noch durchliefen. Von den normativen und politischen Errungenschaften des Westens aber war bei ihm bemerkenswerterweise nicht die Rede: weder von den Menschen- und Bürgerrechten noch von der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität oder der repräsentativen Demokratie. Diese Kulturerscheinungen bildeten nach Webers Meinung offenbar keine typischen Merkmale des Okzidents – eine sehr deutsche und damals schon nicht mehr zeitgemäße Sichtweise. Heute gibt es erst recht gute Gründe, die Entwicklung der normativen Maßstäbe, einer selbstkritischen politischen Kultur und einer pluralistischen Zivilgesellschaft in den Mittelpunkt einer Geschichte des Westens zu rücken. Das geschieht in dieser Darstellung, während manche andere der von Weber aufgeführten Kulturerscheinungen in den Hintergrund treten. Die Entscheidung für eine Problem- und Diskursgeschichte erfordert eine Schwerpunktbildung, deren notwendiges Gegenstück mehr oder minder weitgehende Ausblendungen sind.

Der vorliegende Band endet mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Dieser Krieg, der bis dahin furchtbarste Zusammenstoß nationaler Antagonismen, revolutionierte das internationale Staatensystem mehr noch als die Gesellschaften. Der alte europäische Westen als ganzer ging aus dieser blutigen Auseinandersetzung geschwächt, der neue amerikanische Westen gestärkt hervor. Gemeinsam wurde der Westen seit 1917 durch eine Macht herausgefordert, die dem Krieg ihre Entstehung verdankte: die Sowjetunion. Zu ihrem schärfsten Antipoden entwickelte sich nach 1933 das nationalsozialistische Deutschland, das durch seine nach allen Seiten gerichtete Aggressivität Ost und West zu einer Koalition gegen sich und seine Verbündeten, Italien und Japan, zusammenzwang. Nach der Niederlage der «Achsenmächte» im Zweiten Weltkrieg zerbrach die heterogene west-östliche Allianz. Es begann der Ost-West-Konflikt, der Europa und der Welt viereinhalb Jahrzehnte lang seinen Stempel aufdrückte.

Einer Fortsetzung dieses Bandes muß es vorbehalten bleiben, die Geschichte des Westens von 1914 bis zum Ende des Kalten Krieges in den Jahren 1989 bis 1991 und danach darzustellen. Nach dem Untergang des sowjetischen Imperiums und seines Trägers, der Sowjetunion, glaubten manche Beobachter, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis die Ideen des Westens sich auf der ganzen Welt durchsetzen würden. Tatsächlich sind bestimmte Hervorbringungen des Westens, vom Kapitalismus über die Industrialisierung und die Organisationsform des souveränen Nationalstaats bis hin zu ganzen Rechtssystemen und zu demokratischen Mehrheitsentscheidungen, schon von zahlreichen nichtwestlichen Gesellschaften übernommen worden, und nichts spricht dagegen, daß diese Art von Verwestlichung oder, besser, Teilverwestlichung fortschreitet. Doch der Westen hat längst aufgehört, die Welt zu dominieren. Er vertritt eine Lebensform und eine politische Kultur unter vielen, und wenn man die Nationen zusammenzählt, die sich als «westlich» verstehen, bilden sie zusammen nur eine Minderheit der Weltbevölkerung.

Der Anspruch der unveräußerlichen Menschenrechte aber bleibt ein universaler, und solange sie nicht weltweit gelten, ist das normative Projekt des Westens unvollendet. Der Westen kann für die Verbreitung seiner Werte nichts Besseres tun, als sich selbst an sie zu halten und selbstkritisch mit seiner Geschichte umzugehen, die auf weiten Strecken eine Geschichte von Verstößen gegen die eigenen Ideale war. Doch auch sonst läßt sich aus dieser Geschichte lernen. Die wichtigste Erkenntnis ist wohl die, daß Menschenrechte, Gewaltenteilung und Herrschaft des Rechts menschenfreundliche Errungenschaften sind und ihre Abwesenheit jedes Gemeinwesen über kurz oder lang in ernste Gefahr bringt. Aufzwingen freilich läßt sich diese Einsicht niemandem. Auch manche westliche Nationen, darunter Deutschland, haben schließlich lange gebraucht, bis sie zu dieser Einsicht gelangten und sie zu beherzigen begannen.

1.
Die Entstehung des Westens: Prägungen eines Weltteils

Monotheismus als Kulturrevolution: Der östliche Ursprung des Westens

Am Anfang war ein Glaube: der Glaube an einen Gott. Zur Entstehung des Westens war mehr erforderlich als der Monotheismus, aber ohne ihn ist der Westen nicht zu erklären. Der westliche Monotheismus ist östlichen Ursprungs. Er ist das Ergebnis einer Kulturrevolution, die sich im Ägypten des 14. Jahrhunderts vor Christus unter dem König Amenophis IV. vollzog. Amenophis, der Gemahl der Nofretete, erhob den Sonnengott Aton zum alleinigen Gott und nannte sich selbst Echnaton, was so viel wie «dem Aton wohlgefällig» bedeutet.

Der ägyptische Monotheismus blieb eine Episode. Er wurde von Echnatons Gegnern, obenan den einflußreichen Priestern des Gottes Amun, unterdrückt und aus der Erinnerung gelöscht, also im psychologischen Sinn des Wortes «verdrängt». Dennoch hatte er weltgeschichtliche Wirkungen: in Gestalt der mosaischen Religion. Ob es Moses als historische Figur überhaupt gegeben hat und, wenn ja, ob er ein vornehmer Ägypter oder ein israelischer Gefolgsmann Echnatons war, das ist in der Forschung so umstritten wie alles, was in der Bibel über die ägyptische Gefangenschaft der Israeliten und ihren Exodus ins gelobte Land zu lesen steht. Als sicher darf nur gelten, daß der jüdische Monotheismus eine Metamorphose des ägyptischen, der Aton-Religion, ist. Die Suche nach den Ursprüngen des Okzidents hat uns also in den Orient geführt, und wir werden noch mehrfach dorthin zurückkehren müssen, wenn wir das Werden des Westens erklären wollen.[1]

In Ägypten war der Versuch, die Vielgötterei durch den Glauben an einen Gott zu ersetzen, politische Theologie im strikten Sinn des Begriffs: Der Monotheismus sollte der Festigung eines multinationalen Reiches dienen, war also als Mittel der Herrschaftssicherung gedacht. Der Begriff «politische Theologie» ist durch den deutschen Staatsrechtler Carl Schmitt zum geflügelten Wort geworden. «Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe», lautet die Kernthese seiner 1922 erschienenen Schrift «Politische Theologie». Der Autor verweist auf die Umwandlung des allmächtigen Gottes in den omnipotenten Gesetzgeber im Zeitalter des Absolutismus und stellt fest, für die Jurisprudenz habe der Ausnahmezustand eine analoge Bedeutung wie das Wunder für die Theologie. Die Idee des modernen Rechtsstaates hat sich, so Schmitt, mit dem Deismus entwickelt – jener aufklärerischen Religionsauffassung, die in Gott den Urgrund der Welt sieht, seinen Einfluß auf dieselbe aber mit der Schöpfung enden läßt und jede Art von göttlicher Offenbarung leugnet. So wie der Deismus das Wunder aus der Welt verweist, weil es die Naturgesetze durchbricht, so lehnt die Staatslehre der Aufklärung den unmittelbaren Eingriff des Souveräns in die geltende Rechtsordnung ab. Umgekehrt sind die konservativen Schriftsteller der Gegenrevolution im 19. Jahrhundert nicht zufällig überzeugte Theisten, also Anhänger des Glaubens an einen persönlichen und überweltlichen, die Weltläufte bestimmenden Gott. Sie brauchen diesen Glauben schon deshalb, weil ihnen daran liegt, durch einen Analogieschluß von Gott auf den König die persönliche Souveränität des Monarchen ideologisch zu stützen.[2]

Als Gegenposition zu Carl Schmitt erscheint auf den ersten Blick die These des Ägyptologen Jan Assmann: «Alle prägnanten Begriffe – vielleicht sagen wir lieber bescheidener: einige zentrale Begriffe – der Theologie sind theologisierte politische Begriffe». So wie Schmitt den Prozeß der Säkularisierung zentraler theologischer Begriffe nachweisen wollte, will Assmann in seiner Studie «Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa» das Theologischwerden zentraler politischer Begriffe herausarbeiten. Den krassesten Fall einer Umbesetzung ursprünglich politischer Modelle und Begriffe bildet für ihn die alttestamentliche Bundestheologie. «Hier werden die politischen Modelle des Staatsvertrages und der Treueidverpflichtung zur Grundlage einer Theologie gemacht, die das Thema der Weltzuwendung Gottes in eindeutig politischen Formen darstellt und das Thema der politischen Ordnung in geradezu radikaler Weise theologisiert. Diese ‹Theologisierung› des Politischen hat die damalige Welt ebenso fundamental revolutioniert wie in der Neuzeit die Säkularisierung des Theologischen.»[3]

Tatsächlich hatte schon Schmitt angedeutet, daß Säkularisierung und Theologisierung zwei Seiten einer Medaille oder, anders gewendet, dialektisch aufeinander bezogene Vorgänge sind: «Das metaphysische Bild, das sich ein bestimmtes Zeitalter von der Welt macht, hat dieselbe Struktur wie das, was ihr als Form ihrer politischen Organisation ohne weiteres einleuchtet.»[4] Und Assmann betont seinerseits, seine Perspektive kehre die Schmittsche These nicht einfach um, sondern erweitere sie um ihre Vorgeschichte. Diese Vorgeschichte beginnt in Ägypten und setzt sich in Israel fort: Der jüdische Monotheismus ist für Assmann die «erste reflexiv gewordene und sich über andere Religionen kritisch erhebende Form der wahren Gottesverehrung».[5]

Wie für die Ägypter war der Monotheismus auch für die alten Israeliten eine politische Theologie. Der Glaube an einen Gott, dessen auserwähltes Volk sie waren, half ihnen, den Zusammenhalt auch in Zeiten des Reichszerfalls, der staatlichen Zersplitterung, der Verfolgung, der Vertreibung und der Fremdherrschaft zu wahren. Sigmund Freud hat in Moses, dem Ägypter, sogar den Schöpfer des jüdischen Volkes und in seiner Lehre von der Auserwählung Israels den Ursprung der Judenfeindschaft gesehen: «Ich wage die Behauptung, daß die Eifersucht auf das Volk, welches sich für das erstgeborene, bevorzugte Kind Gottvaters ausgab, bei den anderen heute noch nicht überwunden ist, so als ob sie dem Anspruch Glauben geschenkt hätten.»[6]

Freuds ägyptischer Moses ist Volks- und Religionsschöpfer in einem und wird eben dadurch zu einem Kulturrevolutionär. Er hat zunächst einem Teil des jüdischen Volkes «eine höher vergeistigte Gottesvorstellung gegeben, die Idee einer einzigen, die ganze Welt umfassenden Gottheit, die nicht minder alliebend war als allmächtig, die, allem Zeremoniell und Zauber abhold, den Menschen ein Leben in Wahrheit und Gerechtigkeit zum höchsten Ziel setzte». Moses’ von Echnaton übernommenes Verbot, sich ein Bild von Gott zu machen, bedeutete eine «Zurücksetzung der sinnlichen Wahrnehmung gegen eine abstrakt zu nennende Vorstellung, einen Triumph der Geistigkeit über die Sinnlichkeit, streng genommen einen Triebverzicht mit seinen psychologisch notwendigen Folgen». Die «Entmaterialisierung Gottes» bewirkt eine «außerordentliche Steigerung der intellektuellen Fähigkeiten» und die Herausbildung einer ethischen Religion der Triebverzichte. «Nicht daß sie sexuelle Abstinenz fordern würde, sie begnügt sich mit einer merklichen Einengung der sexuellen Freiheit. Aber Gott wird der Sexualität völlig entrückt und zum Ideal ethischer Vollkommenheit erhoben. Ethik aber ist Triebbeschränkung.»[7]

Monotheismus als Kulturfortschritt, ja als Kulturrevolution: Es gibt Autoren, die dieser These widersprechen. Für Assmann hat die monotheistische Gegenreligion des Echnaton die «mosaische Unterscheidung», die Unterscheidung zwischen wahr und falsch, vorweggenommen und damit den «Haß der Ausgegrenzten» auf sich gezogen. «Seitdem ist dieser Haß in der Welt und kann nur im Rückgang auf seine Ursprünge überwunden werden.»[8] Der Monotheismus als Gegenreligion des Hasses, der antike, von Ägypten ausgehende Kosmotheismus, für den Gott und Welt im letzten eines sind, als «Grundlage für Toleranz und interkulturelle Übersetzung»: Assmann macht sich eine Deutung zu eigen, die sich bis auf Spinoza und einige Autoren der Aufklärung zurückverfolgen läßt.[9] Steht der Monotheismus also am Beginn einer weltgeschichtlichen Fehlentwicklung?

Unduldsamkeit gegenüber anderen Göttern, die nur noch Götzen sein konnten, und gegenüber jeder Art von Götzendienst war die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß sich der mosaische Monotheismus historisch durchsetzen konnte. Der Gott Moses’ war die theologische Antwort auf die Frage nach dem Schöpfer der Welt und dem Verhältnis des Menschen zu ihm – eine Frage, der mit polytheistischen Mythen rational nicht beizukommen war. Der jüdische Monotheismus bedeutete also in der Tat einen gewaltigen Schub in Richtung Rationalisierung, Zivilisierung und Intellektualisierung.

Da Moses’ Gott der unmittelbare Urheber der Zehn Gebote und aller anderen auf Moses zurückgeführten biblischen Vorschriften, mithin des gesamten Rechts, war, ließ sich das Wohlergehen seines auserwählten Volkes fortan damit erklären, daß dieses seinen Anweisungen folgte. Wenn es wider seinen Herrn sündigte oder gar in den Götzendienst zurückfiel, brach es den mit Gott geschlossenen Bundesvertrag und mußte darum göttliche Sanktionen gewärtigen. Die härtesten der vorchristlichen Zeit waren die Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch König Nebukadnezar II. in den Jahren 597 und 587 und das anschließende babylonische Exil der Juden, das Ende der staatlichen Existenz Israels. Die Bestrafung vergangener Verfehlungen war für den jüdischen Monotheismus nicht weniger wichtig als das prophetische Versprechen einer künftigen Zeit des Heils, die mit dem Erscheinen des Messias einsetzen würde. Der Glaube an den einen Gott, den Gott Israels, wurde verinnerlicht, weil die Verbindung von Furcht und Hoffnung sich als Unterpfand des moralischen Überlebens des jüdischen Volkes erwies.

Volk ist nicht gleich Land. Der Verlust der Staatlichkeit trug dazu bei, daß die Vorstellung vom besonderen Bund zwischen Gott und seinem auserwählten Volk immer mehr exterritoriale Züge annahm. Es entstand die Tradition des hellenistischen Judentums, für die nicht mehr die Hoffnung auf einen nationalen Messias, sondern auf einen Welterlöser und damit auf ein Ziel und Ende der Geschichte bestimmend war. Unter «Hellenismus» verstehen wir seit Johann Gustav Droysen den Zeitraum von der Herrschaft Alexanders des Großen bis zur Ablösung der römischen Republik durch das römische Kaiserreich, das heißt vom letzten Drittel des 4. Jahrhunderts vor Christus bis zur Zeitenwende. Vorausgegangen waren die Selbstbehauptung der griechischen Stadtstaaten, der poleis, im Kampf gegen das als barbarisch und despotisch wahrgenommene Perserreich, der Peloponnesische Krieg zwischen Athen und Sparta und ihren jeweiligen Verbündeten im 5. Jahrhundert und schließlich, 66 Jahre nach dem Sieg Spartas, die Errichtung der makedonischen Vorherrschaft über Griechenland unter König Philipp II., dem Vater Alexanders des Großen, im Jahre 338. Das Großreich Alexanders, das nach der Niederwerfung des Perserreiches vom Indus über Kleinasien bis Libyen und vom Schwarzen zum Roten Meer reichte, zerfiel nach dem Tod seines Gründers im Jahr 323 in die sogenannten Diadochenreiche. Unter ihnen verbreitete sich die griechische Kultur im gesamten östlichen Mittelmeerraum. Mit der Eroberung des letzten der Diadochenreiche, des ägyptischen Ptolemäerreiches, durch Oktavian, den späteren Kaiser Augustus, im Jahre 30 vor Christus wurde die hellenistische Welt in Gänze Teil des Imperium Romanum, das nunmehr endgültig zum Weltreich wurde.[10]

Die Kultur des Hellenismus steht am Ende des langen Weges «vom Mythos zum Logos», der griechischen Aufklärung. Zu deren bleibenden Errungenschaften gehört die Einsicht in die «ungeschriebenen Gesetze» (nomoi ágraphoi) einer Ethik, die über allem positiven Recht steht.[11] Nach einem solchen ungeschriebenen Gesetz, das die göttliche Weltordnung vertritt, handelt bei Sophokles Antigone, die Tochter des Ödipus, als sie gegen das ausdrückliche Verbot ihres Onkels Kreon, des Königs von Theben, den Leichnam ihres Bruders Polyneikes bestattet und damit ihren eigenen Tod heraufbeschwört. Damit beansprucht in einem tragischen Konflikt das Gewissen eines einzelnen Menschen Vorrang vor dem Gesetz der Gemeinschaft: eine naturrechtliche Wendung, die einen späten Widerhall im Protest des Apostels Paulus gegen den veräußerlichten Gesetzesglauben der zeitgenössischen Juden findet.

Das frühe Christentum: Ein religiöser Schmelztiegel

Der evangelische Theologe Rudolf Bultmann, der Begründer der «entmythologisierenden» Interpretation des Neuen Testaments, hat das Urchristentum ein «synkretistisches Phänomen» genannt, in das neben dem jüdischen und dem klassischen griechischen Erbe der Hellenismus in mehrfacher Gestalt eingeflossen ist. In der Ausprägung der Stoa war der Hellenismus schon längst nicht mehr polytheistisch, Gott und Natur vielmehr eins und die Menschheit ein Teil dieser Einheit. In Bultmanns Worten: «Der Mensch sucht die Welt und sich rational zu verstehen und dadurch seine Sicherheit zu gewinnen; und zwar versteht er im Gefolge der griechischen Tradition die Welt als eine Einheit, die von einer ihr immanenten göttlichen Kraft und einem rationalen göttlichen Gesetz durchwaltet ist. So weiß er sich gesichert, indem er das Weltgesetz als das Gesetz seines eigenen Wesens versteht und bejaht und sich in den Kosmos eingegliedert weiß, den Platz erfassend, der ihm zukommt.»[12]

Eine andere Ausprägung des Hellenismus, die auf das frühe Christentum einwirkte und in ihm fortlebte, war die Gnosis. Der Gott der Gnostiker ist, anders als der Gott der Stoiker, transzendent, also Nicht-Welt; er ist das Licht im Gegensatz zur Finsternis, die Wahrheit im Gegensatz zur Lüge, das Oben im Gegensatz zum Unten. Für das konkrete Leben kann der Gott der Gnosis nur Bedeutung gewinnen, indem er dem eigentlichen Ich des Menschen gegenüber dem uneigentlichen, empirischen zum Durchbruch verhilft. «Die Befreiung kann nur als Erlösung kommen», schreibt Bultmann, «als eine Erlösung, die den Menschen aus dem Gefängnis befreit, indem sie ihn von sich selbst befreit.» Die Menschheit der Gnosis bildet eine Einheit, aber es ist eine rein geistige, mystisch empfundene Einheit, die nicht von dieser Welt ist. Der Gnostiker ist ein radikaler Individualist; er bedarf weder der Gemeinde noch des Kultus. Meditation und Ekstase sind die Mittel, die es ihm erlauben, die Erlösung vorwegzunehmen.[13]

Auf das Urchristentum wirkten ferner der hellenistische Schicksalsglaube, die orientalische Verehrung einer Allgottheit, des Sonnengottes, und jene vorderasiatischen Mysterienreligionen ein, die Menschen unterschiedlichster sozialer oder kultureller Herkunft ein Gefühl spiritueller Gemeinschaft vermittelten. Die frühchristlichen Gemeinden, die «heidenchristlichen» noch mehr als die «judenchristlichen», waren religiöse Schmelztiegel. Vom Judentum übernahm das frühe Christentum den Glauben an den einen Gott und die Offenbarung seines Willens durch Moses und die Propheten; es trennte sich aber von allem im Judentum, was der neuen Botschaft Jesu, dem Evangelium der Nächstenliebe, widersprach und was bloß zum Bereich der äußerlichen Gesetze gehörte. Von den Mysterienreligionen übernahm das Christentum die Mystik der Gemeinschaft und einige ihrer Kultformen; vom klassischen Griechenland die Gegenüberstellung von menschlichem und göttlichem Recht, Platons Unterscheidung zwischen dem inneren und dem äußeren Menschen sowie seine Lehre von der göttlichen Vernunft, dem Logos; von der Stoa die Idee der einen Menschheit, eine entwickelte Naturrechtslehre und die Vorstellung vom Leib als Gefängnis der Seele; von der vorchristlichen Gnosis die Versenkung in das eigene Selbst, die konsequente Trennung von Gott und Welt, die Metaphorik von Licht und Finsternis und den Glauben an die Erlösung – einen Glauben, den es in anderer Form auch im Judentum gab.

An die Erlösung der Menschheit durch einen Messias zu glauben hieß der Geschichte ein Ziel zu geben: eine lineare und eschatologische Sicht, durch die sich die Christen, wie zuvor schon die Juden, scharf von dem zyklischen Geschichtsdenken der Griechen, ihrem Glauben an die ewige Wiederkehr des Gleichen, abhoben. Dagegen waren die christlichen Vorstellungen von der Trinität Gottes durchaus vom Denken der hellenistischen Spätantike beeinflußt. In der (noch nicht neutestamentlichen, sondern erst frühkirchlichen) Lehre vom dreieinigen Gott, der sich als Vater und Schöpfer, als Mensch gewordener Sohn und als der die christliche Gemeinde einende Heilige Geist offenbarte, wirkte die neuplatonische Auffassung vom Einen, dem Geist und der Seele als Ausströmungen des Göttlichen, ebenso nach wie die von christlichen Gnostikern entwickelte Idee der Einheit von Gott, Wille und Geist. Ein hohes Maß an Dialektik war erforderlich, um aus der Trinität nicht eine Dreigötterlehre werden zu lassen, sondern mit dem Glauben an einen Gott vereinbar zu machen. Ohne die Schulung in der antiken Tradition wären die Kirchenväter kaum in der Lage gewesen, eine derart dialektische Theologie hervorzubringen.