Über das Buch:
Noch vor wenigen Monaten träumte Jade McKinley von einem Neuanfang. Sie zog nach Chicago und arbeitete an ihrem Durchbruch als Musikerin. Nun kehrt sie nach Hause zurück – zerbrochen, desillusioniert, schwanger. In ihrer Verzweiflung schmiedet sie einen aberwitzigen Plan: Sie will heiraten, damit ihr Kind nicht ohne Vater aufwachsen muss, aber ihr Herz plant sie nie wieder zu verschenken.
Doch wo soll sie einen passenden Heiratskandidaten hernehmen? Jade bittet ausgerechnet Daniel bei der Suche um Hilfe, den besten Freund ihres Bruders. Sie ahnt nicht, dass sie ihn damit vor eine unmögliche Herausforderung stellt ...

Über die Autorin:
Denise Hunter hat bereits über 20 Romane geschrieben, die in den USA mit etlichen Preisen ausgezeichnet wurden. Neben dem Schreiben genießt sie es, mit ihrer Familie zu reisen, Kaffee zu trinken und Schlagzeug zu spielen. Zusammen mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen lebt sie in Indiana.

Kapitel 6

Jade schlang sich die braune Schürze um die Taille und wandte sich einem Kunden zu, der darauf wartete, dass sie ihn bediente. Das Coachlight Café war nicht ihre erste Wahl, aber im Moment war es ihre einzige. Sie hatte sich für den Job im Krankenhaus beworben, aber jemand anderes hatte ihn bekommen.

Inzwischen war es nur noch eine Woche bis zur Hochzeit und Madison hatte bereits angefangen, ihre Sachen in Becketts Haus zu bringen. Mit ihrem Verdienst im Café konnte Jade sich die Miete von Madisons Haus auf keinen Fall leisten, zumal sich ihr Bankkonto zusehends leerte. Die Krankenversicherung war teuer und ihren letzten Lohn in Chicago hatte sie Izzy gegeben, weil sie Angst gehabt hatte, ihre Freundin könnte nach Jades plötzlicher Abreise die Miete nicht allein bezahlen.

So viel zu einer erfolgreichen Karriere, Jade McKinley. Sie nahm Bestellungen auf, als hätte sie das Café nie verlassen, während sie durch den Mund atmete, weil der Geruch von Espresso ihr auf den Magen schlug. In den frühen Morgenstunden war viel los, sodass die Zeit schnell verstrich.

„Machst du Pause, Jade?“, sagte ihr Chef Sidney, als der erste Andrang vorbei war.

„Okay.“ Sie holte ein Päckchen Kräcker und eine Flasche Wasser aus ihrer Tasche. Das Frühstück hatte sie ausgelassen, weil sie sich an ihrem ersten Arbeitstag nicht hatte übergeben wollen. Später am Vormittag, das hatte sie herausgefunden, konnte sie salzige Kräcker vertragen – normalerweise.

Auf dem Weg zum Pausenraum entdeckte sie Daniel an einem Tisch in der Ecke. Offenbar diente das Café ihm immer noch manchmal als zweites Büro.

Sie nahm ihre Schürze ab und sank auf den Stuhl ihm gegenüber. „Hab gar nicht gesehen, dass du reingekommen bist.“

Er blickte von seinem Laptop auf und seine blauen Augen wurden weicher. „Du hast einen Job.“

Jade verzog das Gesicht und senkte die Stimme. „Das ist nicht gerade das, was mir vorschwebte.“

„Also soll ich weiter die Augen aufhalten?“

„Auf jeden Fall. Wenn ich nichts anderes finde, muss ich bald in einem Pappkarton wohnen.“ Sie biss in einen Kräcker.

Daniels Lippen zuckten. „Irgendwie habe ich das Gefühl, dass da noch ein paar McKinleys ein Wörtchen mitzureden haben.“

„Ich hätte aufs College gehen sollen, wie Mom und Dad es mir geraten hatten.“ Sie war in der Schule nie besonders gut gewesen, aber andererseits hatte sie sich auch nicht sonderlich viel Mühe gegeben.

„Hast du dir mal überlegt, wieder Gitarrenunterricht zu geben? Du könntest doch deine ehemaligen Schüler anrufen und in der Stadt ein paar Flyer verteilen.“

„Ich brauche ein regelmäßiges Einkommen und Sozialleistungen. Ich brauche einen richtigen Beruf und da wäre ein Abschluss hilfreich gewesen.“

„Dafür ist es noch nicht zu spät.“

Sie hatte kein Geld für die Studiengebühren, kein Dach über dem Kopf und erwartete ein Baby … doch, das war es. „Hast du noch von irgendeiner freien Stelle gehört? Bitte sag Ja.“

„Von zweien sogar. Gestern Abend habe ich bei der Grill-Scheune reingeschaut. Der Inhaber ist ein ehemaliger Klassenkamerad von mir. Ende der Woche wird der Restaurantleiterposten frei. Ich habe ihm erzählt, dass du Arbeit suchst.“

Daniel nannte ihr das Gehalt, das deutlich höher war als das, was sie derzeit verdiente. Aber Hamburger? Schon allein bei dem Gedanken an das letzte Exemplar, das sie gegessen hatte, revoltierte ihr Magen. Der Geruch von fettigen Pommes und gebratenen Frikadellen … das ging gar nicht.

„Ich glaube nicht, dass das das Richtige für mich wäre. Was ist mit dem anderen Job?“

„Das wäre bei Chestnut Farms. Sie expandieren und suchen zusätzliche Leute.“

„Wofür?“

„Reitausflüge mit Touristen machen, Pferde striegeln, den Stall ausmisten. Die Bezahlung ist nicht fantastisch, aber wahrscheinlich besser als hier.“

Jade blickte auf ihren halb gegessenen Kräcker hinunter. Sie liebte Tiere, aber die Arbeit mit Pferden könnte das Baby gefährden. Was, wenn sie abgeworfen wurde oder einen Tritt in den Bauch erhielt? Das würde sie sich niemals verzeihen.

„Nein?“

Jade schüttelte den Kopf.

Daniels Lippen zuckten und er trank einen Schluck Kaffee.

„Was ist?“

Er lehnte sich auf seinem Platz zurück. „Ich dachte gerade an das letzte Mal, als ich dich auf einem Pferd gesehen habe.“

Sie runzelte die Stirn, als sie sich daran erinnerte. „Das Pferd hatte eine Betriebsstörung, das sage ich dir.“ Sie war in der siebten Klasse gewesen und es war das erste Mal gewesen, dass sie an der Jahresfreizeit der Jugendgruppe teilgenommen hatte.

Seine Augen funkelten. „Sicher, dass es nicht an der Reiterin lag?“

„Sie haben mir das älteste Pferd im Stall gegeben. Es war schwerhörig, das schwöre ich. Und lahm. Und stur.“

„Das waren schöne Zeiten.“

Sie warf ihm einen Blick zu.

„Ich denke gerne daran zurück. Erinnerst du dich an die Insel?“

Die „Insel“ war eine riesige aufblasbare Plattform im See gewesen. „Ein Wunder, dass wir uns nicht den Hals gebrochen haben.“ Sie waren auf das eine Ende gesprungen, sodass die Leute am anderen Ende ins Wasser geflogen waren.

„Damals habe ich endlich mit dem Glauben ernst gemacht.“

„Auf der Insel?“

„Sehr witzig.“

Jade nippte an ihrem Wasser. „Ich auch. Diese Freizeit war etwas ganz Besonderes.“

Ihre geistliche Reise hatte zur gleichen Zeit begonnen. Wie kam es, dass sie an so unterschiedlichen Orten gelandet waren?

„Mach dir keine Sorgen“, sagte Daniel. „Wir finden schon noch etwas.“

Er sprach wieder von dem Job.

„Ich weiß, ich wirke ziemlich wählerisch.“

„Hey, du musst schließlich damit leben. Wir werden etwas finden, das passender für dich ist.“

„Apropos passend: Ich habe gehört, dass du nächstes Jahr für den Kongress kandidieren willst.“

Daniel nickte langsam. „Das ist der Plan.“

„Wie aufregend! Musst du Geld sammeln und so?“

„Jede Menge. Ich bin schon ein bisschen nervös, aber mein Vater hat mir einen cleveren Wahlkampfmanager besorgt.“

„Auf meine Unterstützung kannst du zählen – wenn auch leider nicht in finanzieller Form.“

„Sei vorsichtig, wofür du dich freiwillig meldest. Am Ende musst du für mich Briefe eintüten oder Türklinken putzen.“

Jade zuckte mit den Schultern. „Ich habe doch sonst nichts zu tun.“ Sie trank noch einen Schluck Wasser, während ihre Gedanken zu Madisons bevorstehender Hochzeit wanderten und der Tatsache, dass sie immer noch keinen Begleiter hatte. „Und was ist mit unserem kleinen Blind-Date-Projekt? Oh, tut mir leid, ich störe dich bei der Arbeit, oder?“

Daniel zeigte auf den Stapel Papier. „Heimatverein. Ich sollte auf die Knie sinken und dir danken.“

„Eine einfache Verabredung würde es auch tun.“

Er zog eine Augenbraue hoch.

„Du weißt, was ich meine. Hast du schon mit einem von den Jungs gesprochen?“

„Klar.“ Daniel klappte seinen Laptop zu und legte ihn auf die Formulare.

Jade aß den Rest von ihrem Kräcker und zog den Zipbeutel zu. Sie hatte noch Hunger, aber sie wollte kein Risiko eingehen.

Daniel nahm einen Druckstift und klickte die Miene immer wieder raus und rein.

Schließlich zog Jade die Augenbrauen hoch. „Daniel?“

Er blickte auf seine Hände hinunter. Sie waren groß und kräftig, mit langen Fingern, deren Spitzen eckig wirkten. Seine Ärmel hatte er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt.

„Er heißt James Geiger. Kennst du ihn?“

Jade schüttelte den Kopf.

„Er unterrichtet Sachkunde in der vierten Klasse.“

Ein Lehrer. „Dann hat er die Sommer frei und mag Kinder. Das klingt doch vielversprechend.“

„Er ist Single und interessiert. Ich habe ihm dein Bild gezeigt.“

„Welches Bild?“

„Das auf meinem Handy. Es ist nicht mehr neu, aber du hast dich gut gehalten.“

Jade warf ihm einen gespielt finsteren Blick zu. „Was ist mit seinem Bild? Kriege ich das nicht zu sehen?“

„Ich konnte ihn schlecht um ein Foto bitten, Jade.“

„Und, wie sieht er aus?“

Daniel rieb sich den Nacken. „Ich weiß nicht … durchschnittliche Größe und Figur, braune Haare …“

„Das ist sehr hilfreich.“

„Na ja, er hat keine Warzen im Gesicht oder so was. Er sieht aus wie …“ Er zuckte mit den Schultern. „Wie ein Sachkundelehrer.“

„Oh. Na ja, ist ja auch egal. Er ist bestimmt sehr nett. Und er erfüllt die Kriterien?“

„Bis aufs i-Tüpfelchen.“

„Und jetzt?“

„Soll ich ihm deine Nummer geben?“

„Perfekt.“ Vielleicht würde er sie zu Madisons Hochzeit begleiten.

An der Kasse hatte sich eine Schlange gebildet und ihre Kollegin wirkte gestresst. Als Jade auf die Uhr sah, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass zehn Minuten verstrichen waren.

„Ich muss wieder an die Arbeit.“

„Danke für die Unterbrechung. James meldet sich bestimmt bald bei dir.“

Kapitel 7

Jades Füße taten höllisch weh. Trotzdem wiegte sie sich mit James im Rhythmus zu „Anything but Mine“. Auf der anderen Seite der Tanzfläche erblickte sie Madison und Beckett, die beim Tanzen nur Augen füreinander hatten. Beckett hatte die Stirn an Madisons Stirn gelegt und sagte etwas, das nur für ihre Ohren bestimmt war. Daraufhin hob Madison eine Hand, legte sie an seine Wange und küsste ihn zärtlich.

Die Hochzeit war wunderschön gewesen. Der Traugottesdienst in der Kirche war sehr persönlich, fast familiär gewesen, mit selbst formulierten Eheversprechen und persönlichen Anekdoten. Madison sah in ihrem einfachen Satinkleid, das ihre Taille umschmeichelte und zum Boden hin leicht ausgestellt war, absolut atemberaubend aus. Nach gefühlt einer Million Fotos vom Brautpaar und der engsten Verwandtschaft hatten sie sich zu den übrigen Gästen gesellt, die in der Zwischenzeit bereits ins Rathaus gegangen waren. Dieses war mit weißen Lichterketten, Tüllgirlanden und eleganten Blumengestecken in ein romantisches Märchenland verwandelt worden.

Jade zupfte an der Taille ihres Kleides. In den zwei Wochen seit dem Abstecktermin hatte sie einiges zugelegt. Gut, dass sie Mrs Wearly gebeten hatte, ihr etwas mehr Luft zu lassen. Trotzdem hatte sie sich Sorgen gemacht, dass ihre Familie ihre kräftigere Mitte bemerkte.

Und wenn es erst einmal zu sehen war, was dann? Wer würde noch mit ihr ausgehen wollen, wenn alle Welt sehen konnte, dass sie mit dem Kind eines anderen schwanger war? Ganz zu schweigen von sie heiraten? Jade schob den Gedanken beiseite. Darüber würde sie jetzt nicht nachdenken.

Sie blickte auf und sah James in die Augen. „Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich dich gleich zu Madisons Hochzeit mitgeschleift habe“, sagte sie.

„Überhaupt nicht. Ist doch schließlich das Event des Jahres.“ Er hatte ein nettes Lächeln und Fältchen um die Augen, wenn er lachte.

„Was hast du für Sommerpläne, jetzt, nachdem das Schuljahr zu Ende ist?“

„Ich habe selbst ein paar Kurse belegt – ich arbeite an meinem Master. Außerdem schreibe ich Artikel für naturwissenschaftliche Zeitschriften.“

Klug, ehrgeizig und fleißig. Das stand nicht auf der Liste, war aber gut.

„Und du?“, fragte er. „Du bist gerade wieder in die Stadt gezogen?“

„Ja. Ich war ein Jahr lang in Chicago, zusammen mit einer Freundin von der Highschool. Dort habe ich in einem Café gearbeitet und an den Wochenenden Gitarre gespielt.“

„Bestimmt hast du deine Familie vermisst, oder? Ich reise gerne, aber ich bin immer wieder froh, wenn ich nach Hause komme. Dieser Ort hat einfach etwas.“

„Ich weiß, was du meinst. Wie kam es, dass du dich für Naturwissenschaften interessiert hast?“

„Meine Eltern haben mir zu meinem dreizehnten Geburtstag ein Teleskop geschenkt. Damit haben wir uns im Sommer in den Garten gesetzt und sie haben mir die Sternbilder erklärt.“

Es gefiel ihr, dass seine Stimme wärmer klang, wenn er von seinen Eltern sprach. „Du hast ein gutes Verhältnis zu deiner Familie.“

„Ich bin Einzelkind, deshalb ist unsere Beziehung ziemlich eng. Meine Mutter war nicht berufstätig und mein Vater hat an der Highschool Englisch unterrichtet.“

Jade zählte eins und eins zusammen. „Mr Geiger? Ich hatte ihn im ersten Jahr! Er war streng!“

James lächelte. „Lass es nicht an mir aus.“

„Er hat mir in seinem Kurs eine 4 gegeben, weil ich meinen Abschlussaufsatz einen Tag zu spät abgegeben habe.“

„Irgendwie kann ich dich plötzlich ganz schlecht verstehen …“

Er grinste, vollführte eine Drehung und lenkte sie geschickt zu einer weniger überfüllten Stelle auf der Tanzfläche. Die Bewegung verursachte ein flaues Gefühl in Jades Magen. Oder lag es an dem, was sie gegessen hatte? Sie hatte den ganzen Tag gehungert, weil sie schreckliche Angst gehabt hatte, sie könnte mitten in der Trauung das Bedürfnis verspüren, ihren Mageninhalt von sich zu geben. Als der Empfang begonnen hatte, war sie völlig ausgehungert gewesen. Vielleicht war der Nachschlag Kartoffelgratin doch keine gute Idee gewesen.

„Du hast übrigens eine tolle Stimme“, sagte James. „Und das Lied war wunderschön. Ich habe es vorher noch nie gehört.“

Sie hatte daran gearbeitet, seit Madison sie gebeten hatte, bei ihrer Hochzeit zu singen. „Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich es selbst geschrieben habe.“

James lehnte sich ein wenig zurück und sah sie bewundernd an. „Echt? Du bist richtig gut!“

„Danke.“

Jade versuchte, sich auf seine Worte zu konzentrieren, aber ihr Magen verkrampfte sich dennoch. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern. Während Madison mit dem Umzug und den Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt gewesen war, hatte Jade ihre morgendliche Übelkeit verbergen können. Morgendlich? Wem wollte sie hier eigentlich etwas vormachen?

Wo könnte sie hin? Die Damentoilette war wahrscheinlich voller Hochzeitsgäste und der Raum war sehr klein. Sie konnte schon jetzt fühlen, wie die Wände sie erdrückten, was sie nur noch nervöser und ängstlicher machte.

James sagte etwas, aber Jade konnte ihn nicht länger hören. Mit einem Mal wurden ihr die verschiedenen Gerüche in dem schwach beleuchteten Saal nur allzu bewusst. Der knoblauchhaltige Salat, der süßliche Duft der Blumen, das Rasierwasser von James, alles vermischte sich zu einem widerlichen Gestank. Ihr Magen zog sich erneut zusammen.

Zum Glück spielte die Band jetzt die letzten Töne des Liedes. Jade nutzte die Gelegenheit und trat einen Schritt zurück, bevor das nächste Stück begann. „Ich muss mal kurz an die frische Luft.“ Trotz der Verzweiflung, die sie verspürte, bemühte sie sich darum, beiläufig zu lächeln. „Bin gleich wieder da.“

Jade ging in Richtung Flur. Als sie spürte, dass ihr die Zeit davonlief, wurden ihre Schritte größer. So schnell wie möglich schlängelte sie sich an den tanzenden Paaren vorbei. Ihre schmerzenden Füße hatte sie längst vergessen. Vielleicht war ja gerade niemand auf der Damentoilette. Bitte, Gott!

Doch in dem Moment, in dem Jade auf den Flur hinaustrat, sah sie gerade noch etwas Elfenbeinfarbenes in der Damentoilette verschwinden. Ihre Mutter. Dort konnte sie auf keinen Fall hin. Also lief sie weiter den Gang hinunter, bis sie zur Hintertür kam. Während sie gegen den Drang ankämpfte, sich zu übergeben, stieß sie sie auf.

Noch bevor die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, war Jade schon zu einem Eimer gerannt, der bei den Müllcontainern stand, und leerte ihren Magen. Dabei klemmte sie sich das Kleid zwischen die Beine und hoffte, dass es die Sache unbeschadet überstehen würde. Wie konnte ein winziges Baby nur eine so heftige Wirkung haben? Schweißperlen standen ihr auf der Stirn und ihr Rücken war so feucht, dass das Kleid an ihrer Haut klebte.

Als sie fertig war, wischte sie sich mit dem Handrücken den Mund ab und wünschte, sie hätte ein Taschentuch bei sich. Zitternd stützte sie die Hände auf die Knie und holte tief Luft.

Plötzlich ging hinter ihr die Tür auf. Panisch drehte Jade sich um, wobei sie sich gleichzeitig so unauffällig wie möglich aufrichtete.

Daniel kam heraus und ließ die Tür hinter sich zufallen. „Jade? Ist alles in Ordnung?“

Sie versuchte zu lächeln. „Mir geht es gut.“

Er kam näher. „Ich habe gesehen, wie du rausgerannt bist. Was ist passiert …?“ Sein Blick fiel auf den Eimer. Er wurde von dem summenden Neonlicht über ihren Köpfen erleuchtet, sodass sie seinen Inhalt nicht verbergen konnte.

„Du bist krank.“ Daniel drehte eine leere Kiste um und zog sie zu dem improvisierten Hocker. „Setz dich.“

„Ich muss was gegessen haben …“ Die wievielte Lüge war das jetzt?

Er zog seine Jacke aus und legte sie um ihre Schultern. „Bleib hier. Ich komme gleich wieder.“

Die Musik wurde lauter, als er durch die Tür verschwand. Super! Fantastisch! Was, wenn er PJ oder ihre Mutter holte? Sie hätte ihn zurückhalten sollen. Die Hochzeit war vorüber, aber so wollte sie ihre Neuigkeit eigentlich nicht verkünden.

Eine Minute später kehrte Daniel allein zurück, allerdings mit einem feuchten Papiertuch und einem Becher Wasser. Jade stand auf, spülte sich den Mund aus und achtete darauf, dass ihr Kleid nichts abbekam, als Daniel den Eimer in die Mülltonne leerte.

„Besser?“, fragte er, als sie sich den Mund abgewischt hatte.

Sie nickte. „Danke.“

„Ich kann deine Mutter holen …“

„Nein! Ich meine, ich bin ja jetzt in Ordnung. Und ich will ihr nicht den Spaß verderben. Außerdem soll ich dabei helfen, den Saal wieder auf Vordermann zu bringen, wenn die Party hier vorbei ist.“

„Du solltest nach Hause gehen und dich hinlegen.“

„Mir geht’s gut. Wirklich.“ Jade lächelte, um ihre Worte zu unterstreichen. „Was immer es war, was ich da gegessen habe – das ist jetzt draußen.“ Wohl wahr. Sie wandte sich dem Gebäude zu. „Ich sollte zu James zurückgehen.“

„Wie läuft es?“

„So weit, so gut. Du hast einen guten Geschmack, was Männer betrifft.“

Daniel hielt ihr die Tür auf und seine Mundwinkel zuckten. „Danke. Glaub ich wenigstens.“

Anderthalb Stunden später öffnete James die Beifahrertür seines Buicks. Jade stieg ein. Ihre Handtasche nahm sie auf den Schoß. Ihre Füße brachten sie fast um, ihre Kehle brannte von der Säure und sie war so müde, dass sie das Bedürfnis verspürte, eine ganze Woche am Stück zu schlafen. Aber wenigstens war ihre Verabredung ein Erfolg gewesen. James war die Art Mann, die sie suchte. Und als Bonus kam hinzu: Dadurch, dass bei ihm eindeutig die linke Gehirnhälfte stärker ausgeprägt war, würde er nicht so anfällig für romantische Launen und emotionale Ausbrüche sein.

Soeben hatten sie Madison und Beckett in die Flitterwochen verabschiedet. Becketts Pick-up hatten sie mit so viel Blumen und Tüll geschmückt, dass er ihnen finstere Blicke zugeworfen hatte, die hoffentlich gespielt gewesen waren. Jetzt war das frischgebackene Brautpaar auf dem Weg nach Louisville. Dort würden die beiden übernachten, bevor sie zu den Outer Banks flogen, der berühmten Inselkette vor der Küste North Carolinas.

„Und, wie geht es deinen Eltern heute, wo ihr erstes Kind in den Hafen der Ehe eingelaufen ist?“, fragte James, als er den Motor anließ.

Eigentlich war Ryan der Erste gewesen. Aber die Ehe mit Abby hatte nicht funktioniert. Sie hatten die Heirat überstürzt und die Ehe hatte sich so dahingeschleppt, bis sie zwei Jahre später mit viel Schmerz gescheitert war. Ryan hatte Abby sehr geliebt und Jade glaubte, dass sein Herz sich immer noch nicht von dem Verlust erholt hatte.

„Sie sind begeistert. Mom macht schon Anspielungen auf Enkelkinder.“ Sie hatte natürlich keine Ahnung, dass Jade einen Frühstart hingelegt hatte. Bei dem Gedanken, dass sie es ihren Eltern erzählen musste, wurde ihr ganz mulmig. Würden sie sehr enttäuscht von ihr sein?

„Ich habe meine Eltern schon gewarnt, dass sie von mir keine Enkel zu erwarten haben. Zum Glück haben sie mir deswegen nicht zu viel Stress gemacht.“

Da Jade in ihre eigenen Gedanken vertieft war, hätte sie die Botschaft fast nicht mitbekommen. Aber James Worte wurden in ihrem Kopf zurückgespult und noch mal abgespielt.

„Du willst keine Kinder?“ Sie bemühte sich um einen beiläufigen Tonfall.

„Wollte ich noch nie. Es klingt vielleicht verrückt, wo ich doch Lehrer bin, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, Vater zu sein. Ich habe die Kinder tagsüber gerne um mich, aber abends mag ich es ruhig. Und nach allem, was ich gehört habe, kann man das als Eltern vergessen.“

James warf ihr ein Lächeln zu. So viel zu der Theorie, James könnte der perfekte Partner für sie sein. Ihr Baby hatte einen Vater verdient, der es wollte. Und natürlich verdiente auch James das, was er sich vom Leben erhoffte. Und ein Kind gehörte offensichtlich nicht dazu – geschweige denn, das Kind eines anderen.

Den restlichen Heimweg über plauderten sie noch ein wenig, aber Jade schweifte gedanklich immer wieder ab. Madison hatte die Miete für ihr Haus bis zur Mitte des Monats bezahlt. Danach würde Jade in ein 1-Zimmer-Apartment am Stadtrand ziehen. Es war nicht ihre Traumwohnung, aber es war ein Schritt in die richtige Richtung. Irgendwann würde sie ein richtiges Haus haben, mit einem eingezäunten Garten, in dem ihr Kleines sicher herumlaufen konnte. Jetzt musste sie erst einmal irgendwie die geforderte Kaution für die Einzimmerwohnung auftreiben.

Während James sie zur Haustür begleitete, überlegte Jade, was sie sagen sollte. Sie konnte die Sache genauso gut gleich beenden. Niemandem war damit gedient, wenn sie ihn hinhielt.

Sobald sie auf der Veranda angekommen waren, drehte sie sich um. Sie war froh, dass sie nur vom Mondlicht beschienen wurden.

„Ich habe den Tag genossen.“

„Hör zu, James.“

Sie hatten beide gleichzeitig gesprochen.

James grinste verlegen. „Oh, oh. Das klang nicht gut.“

Die ganze Situation war Jade extrem unangenehm. Er schien ein netter Kerl zu sein. Schade.

„Ist es die 4, die mein Vater dir gegeben hat?“, fragte er.

Sie lächelte über seinen Versuch, die Stimmung aufzulockern. „Tut mir leid. Du bist wirklich super. Ich wollte auch auf jeden Fall wieder mit dir ausgehen, wenn du mich gefragt hättest, aber …“

„Die Sache mit den Kindern ist ein K.-o.-Kriterium, richtig?“

„Tut mir leid.“ Er hatte keine Ahnung, wie leid es ihr tat.

„Keine Sorge, ich verstehe das.“

Nachdem sie sich zum Abschied verlegen umarmt hatten, ging Jade ins Haus. Sie ließ Lulu in den Garten und machte sich dann bettfertig. Es war still im Haus – zu still ohne Madison. Da sie ihr Essen wieder von sich gegeben hatte, war sie ziemlich hungrig, aber sie war zu müde, um etwas zu essen. Außerdem gab es keine Garantie, dass es drinbleiben würde.

Gerade als Jade es sich in ihrem Bett bequem gemacht hatte, ging eine SMS ein. Sie nahm ihr Handy vom Nachttisch.

* * *

Daniel legte sein Handy auf seinen Bauch und lehnte sich in sein Kissen zurück.

Es war ihm schwergefallen, Jade und James den ganzen Abend zusammen zu sehen. Der Typ hatte sich besser gemacht, als Daniel erwartet hatte, und Jade hatte in seinen Armen eindeutig zu entspannt ausgesehen. Ehrlich gesagt hatte Daniel nicht erwartet, dass bei den beiden der Funke überspringen würde. Er war sich sicher gewesen, Jade würde James ziemlich langweilig finden.

Er dachte daran zurück, wie sie früher gewesen war, wie sie sich im Garten mit den Glühwürmchen gedreht hatte und ihr langer Rock um ihre Beine wehte. Das Mädchen von damals hätte James auf jeden Fall langweilig gefunden. Daniel fragte sich, was aus der Kleinen von einst geworden war.

Er schloss die Augen und sah Jade vor sich, wie sie an diesem Abend ausgesehen hatte. Ihr langes Haar, das in sanften Wellen über ihre Schultern fiel, ihre grünen Augen, die im Schummerlicht funkelten, das silberne Kleid, das ihr ausgesprochen gut stand. Wunderschön! Er hatte kaum den Blick abwenden können.

Den halben Abend hatte er hin und her überlegt, ob er sie um einen Tanz bitten sollte. Wie gerne hätte er sie in den Armen gehalten, ihre schmalen Hände auf seinen Schultern gespürt, den Duft des exotischen, würzigen Parfüms eingeatmet, das sie immer trug. Doch letztlich hatte er sich dagegen entschieden, denn er wusste, es wäre eine Qual gewesen – wenn auch eine süße.

Später am Abend, als Jade mit angespannter Miene hinausgerannt war, hatte Daniel gewusst, dass etwas nicht stimmte. Hatte James irgendetwas gesagt oder getan, was Jade verletzt hatte? Dann würde der Mann Daniels Faust zu spüren bekommen.

Sein Handy summte, als eine Nachricht einging.

Viel besser. Zu Hause und im Bett. Hochzeit war toll. Freu mich für Schwesterherz.

Daniel tippte eine Antwort. Ja, war ein schöner Tag. Wie ist das Date ausgegangen? Wenige Sekunden später wusste er es.

Er will keine Kinder – K.-o.-Kriterium!!!

Erleichterung machte sich in Daniel breit. Sogleich schimpfte er mit sich selbst. Er sollte wollen, was das Beste für Jade war. Wollte er etwa, dass sie allein durchs Leben ging, nur weil er sie nicht haben konnte?

Wieder tippte er eine Antwort. Was? Er ist Lehrer.

Jade: Offenbar reichen ihm 8 Stunden am Tag.

Daniel: Sorry! Ich hätte gedacht …

Jade: Wie du gesagt hast, du kannst sie nicht verhören.

Jade: Meinst du, du findest einen anderen?

Daniel runzelte die Stirn. Sie hatte es echt eilig. Kein Problem – wer würde nicht mit dir ausgehen wollen? Er las die Nachricht noch einmal und löschte sie dann wieder. Am liebsten hätte er ihr gesagt, dass der Mann, der der Richtige für sie war, hier saß und ihr schrieb. Klar. Melde mich bald deswegen, o.k.?

Eigentlich hätte er längst über sie hinweg sein müssen. Sie war ein Jahr lang fort gewesen – wie lange konnte man in jemanden verliebt sein, der einen nicht einmal wahrnahm? Obwohl, das stimmte so nicht. Jade nahm ihn sehr wohl wahr. Leider fiel er jedoch in die Kumpelkategorie. Nein, noch schlimmer. In die Bruderkategorie.

Er blickte auf das Display. Keine Antwort.

Jade?

Er war es leid, seine Gefühle zu verbergen. Manchmal wünschte er sich, er könnte die Zeit zurückdrehen. Wünschte sich, er hätte es ihr gleich damals, vor all den Jahren, gesagt. Er hätte einfach ehrlich sein sollen, ohne Rücksicht auf Verluste.

Jade war damals achtzehn gewesen und er hatte ihr beigebracht, einen Wagen mit Gangschaltung zu fahren. Die McKinleys hatten ihr alle davon abgeraten und Aaron hatte selbst nicht gewusst, wie es ging. Sie hatte den Wagen total billig bekommen, ihn aber nicht fahren können.

Jade hatte gerade zum wiederholten Mal den Motor abgewürgt, weil sie die Kupplung zu schnell hatte kommen lassen.

Sie seufzte. „Ich lerne das nie.“

„Doch, das wird schon. Tritt die Kupplung durch und dreh den Zündschlüssel. Gut, und jetzt leg den ersten Gang ein und lass die Kupplung kommen, während du Gas gibst. So ist es gut. Langsam … du musst den richtigen Punkt finden.“

Wieder kam das Auto ruckelnd zum Stehen. Jade schlug mit der Handfläche auf das Lenkrad. Aber dann biss sie die Zähne zusammen und versuchte es noch einmal.

Diesmal schaffte sie den ersten Gang und dann den zweiten. Erst als sie in den dritten Gang schalten wollte, ging der Motor aus.

„Schon viel besser. Bald hast du den Dreh raus.“

„Danke für deine Hilfe“, sagte sie, während sie den Motor erneut anließ. „Dad macht mich immer völlig nervös. Es wundert mich, dass noch keine Löcher im Armaturenbrett sind, so fest, wie er sich immer festkrallt.“

Daniel lachte. „Macht er das immer noch? Also gut, probieren wir es noch einmal. Diesmal versuchen wir den ganzen Weg bis zum Ende der Straße zu schaffen.“

Jade warf ihm einen skeptischen Blick zu. Sie hatte sich vor Kurzem eine Haarsträhne grün gefärbt, was perfekt zu ihren Augen passte. Sie war als Einzige nicht mit in den Zopf eingeflochten, der ihr über die Schulter fiel.

Jade kam bis zum Stoppschild und würgte den Motor erst ab, als sie wendete. Danach fuhr sie ohne Fehler einmal um den Block, vorbei an den Maisfeldern ihres Vaters und die langen Schotterwege hinunter, bis sie wieder beim Haus der McKinleys ankamen.

Nachdem sie geparkt hatte, sprang Jade aus dem Wagen und fiel ihm um den Hals. „Danke, danke, danke!“

Daniel legte die Arme um sie. Plötzlich war ihm ihr Körper nur allzu bewusst. Wie sie an ihm lehnte. Wie sie duftete, süß und würzig, und wie seine Hände in ihrer Taille lagen.

Mehr als bewusst, dachte er, als etwas in ihm aufflackerte.

Komm schon, Mann. Das ist Jade. Der Stöpsel.

Aber als sie ihm zum Abschied winkte und ihm über ihre schmale Schulter ein Lächeln zuwarf, sah sie nicht mehr aus wie die kleine Jade. Sie sah wie eine schöne junge Frau aus.

In den folgenden Wochen hatte er die Augen nicht mehr von ihr abwenden können. Oder aufhören können, an sie zu denken. Bis es ihm irgendwann vorgekommen war, als durchdringe sie jeden seiner Gedanken.

Es war sinnlos, das wusste er. Er war zu alt für sie. Und sie liebte Aaron. Doch selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre, wären Daniels Eltern nie mit Jade einverstanden gewesen. Sie duldeten seine Freundschaft zu den McKinleys – aus Schuldgefühlen heraus, vermutete er, weil sie selbst nicht da gewesen waren, um ihn großzuziehen. Aber sie hatten einen Plan für seine Zukunft und dazu passten weder ein Leben in einer Kleinstadt noch ein Mädchen wie Jade.

Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Jade mit Sicherheit völlig entsetzt gewesen wäre, wenn sie seine Gedanken hätte lesen können. Wenn sie gewusst hätte, dass er an sie dachte, wenn er abends die Augen schloss und von einer Welt träumte, in der er mehr war als nur ihr Bruder ehrenhalber.

Also wandte er den Blick ab, wann immer Aaron ihre Hand nahm oder sie umarmte. Während er zum Studium an der Uni war, erschien ihm der Gedanke an Jade und Aaron nicht so schlimm, und wann immer er nach Hause fuhr, hielt er die Luft an. Doch er musste jedes Mal feststellen, dass die beiden immer noch bis über beide Ohren ineinander verliebt waren.

Als sein Abschluss näher rückte, überlegte Daniel lange, ob er wirklich nach Chapel Springs zurückgehen und als Bürgermeister kandidieren sollte, wenn das bedeutete, dass er zusehen musste, wie Jade sich ein Leben mit einem anderen aufbaute.

Dann war Aaron gestorben und Daniel hatte ihr nur seinen Trost anbieten können. Aber als sie sich auch nach mehreren Monaten nicht wieder gefangen hatte, war Daniel besorgt gewesen. Ihre Augen funkelten nicht mehr. Sie war still und zurückgezogen. Sie spielte nicht mehr Gitarre im Bistro, hörte auf zu unterrichten und zog zu Madison. Er bekam sie kaum noch zu Gesicht, es sei denn, er besuchte sie gezielt.

Nach einer Weile schien Jade wieder Boden unter den Füßen zu haben, aber etwas fehlte. Da hatte er angefangen, ihr die Nachrichten zu schicken. Erst sollte es nur eine sein, nur eine kleine Ermutigung, um sie daran zu erinnern, was für ein wunderbarer Mensch sie war. Aber dann hatte er die nächste Nachricht geschrieben und dann noch eine. Ihre Familie hatte angefangen, sie mit ihrem heimlichen Verehrer aufzuziehen, und er hatte schreckliche Angst gehabt, sie könnten ihm auf die Schliche kommen. Aber er war vorsichtig gewesen, hatte seine Handschrift verstellt und die Nachrichten nur hinterlassen, wenn er sich sicher war, dass niemand ihn dabei ertappte.

Erst jetzt wurde Daniel bewusst, wie sehr er diese Nachrichten und Blumengrüße vermisste. Sie hatten ihm eine Möglichkeit geboten, Jade seine Gefühle zu offenbaren und endlich ehrlich zu sein.

Nachdem Jade nach Chicago gezogen war, hatten sie keinen Kontakt mehr gehabt. Dann, im vergangenen Herbst, hatte Madison eins und eins zusammengezählt und begriffen, dass Daniel Jades heimlicher Verehrer war. Sie hatte versprochen, ihn nicht zu verraten, und da Jade ohnehin nicht mehr da war, schien es auch keine Rolle mehr zu spielen.

Aber jetzt war sie zurück und er betete, dass Madison weiter Wort halten würde.

Daniel blickte auf sein Handy, aber es kamen keine neuen Nachrichten mehr. Offenbar war Jade mitten in ihrer Unterhaltung eingeschlafen.

Kapitel 8

„Jade, Telefon!“, sagte Sidney. „Du kannst in meinem Büro drangehen. Es ist dein Bruder. Hat gesagt, es sei ein Notfall.“

Jade reichte ihrer Kollegin den leeren Becher, den sie gerade hatte befüllen wollen. „Americano, doppelter Espresso, mit vollfetter Sahne.“ Sie verließ die Theke und versuchte, das flaue Gefühl in ihrem Magen zu unterdrücken. Heute kamen Madison und Beckett aus ihren Flitterwochen zurück. Ihnen war doch sicher nichts zugestoßen?

Hastig schüttelte sie den dunklen Gedanken ab. Wahrscheinlich hatte lediglich Ryans Auto den Geist aufgegeben. Heute fand ihr wöchentlicher Grillabend statt und damit bot sich jetzt, wo Madisons Hochzeit vorbei war, die Gelegenheit, auf die sie seit ihrer Rückkehr gewartet hatte. Endlich konnte sie den anderen von dem Baby erzählen.

Der Wunsch, reinen Tisch zu machen, war inzwischen weitaus größer als die Angst vor der Enttäuschung ihrer Eltern. Sie war es leid, ihre Übelkeit, die Erschöpfung und ihren wachsenden Bauch zu verstecken.

Jade nahm das Telefon von dem überfüllten Schreibtisch ihres Chefs und ging damit zur Tür. „Hi. Was gibt’s?“

„Tut mir leid, dass ich dich bei der Arbeit störe. Es geht um Mom. Dad hat sie vorhin in die Notaufnahme gebracht. Sie hatte Rückenschmerzen und ihr war schlecht. Sie glauben, es könnte was mit dem Herzen sein.“

Instinktiv presste Jade eine Hand auf ihr eigenes Herz. „Oh nein.“

„Ich bin jetzt auch im Krankenhaus. Sie machen ein paar Untersuchungen –“

„Ich komme sofort.“

„Dad ist bei ihr und sie lassen sonst niemanden auf die Station.“

„Das ist mir egal, ich komme trotzdem. Hast du Grandpa und PJ und Daniel angerufen? Oh nein – was ist mit Madison?“

„Grandpa weiß Bescheid. PJ und Daniel rufe ich als Nächstes an. Was Madison und Beckett angeht, so finde ich, wir sollten warten, bis die beiden in Louisville gelandet sind. Schneller herkommen können sie ohnehin nicht.“

Zwanzig Minuten später stürzte Jade in den Warteraum der Notaufnahme. Sie war nicht die Einzige, die darauf bestanden hatte herzukommen. Daniel saß bereits neben Ryan. Die beiden standen auf, als Jade näher kam.

„Gibt es was Neues?“

Ryan schüttelte den Kopf. „PJ kommt auch gleich.“

Jade setzte sich zwischen die Männer und fingerte an dem Stoffriemen ihrer Handtasche herum. Die Zeit schlich unerträglich dahin. Die Minuten auf der nüchternen Uhr im Wartezimmer verstrichen in Zeitlupe. Auf dem an der Wand angebrachten Fernseher lief die Sesamstraße.

Ryan hatte die Augen geschlossen. Wahrscheinlich war er ins Gebet vertieft. Jade flüsterte auch schnell eines. Die Erinnerungen an ihre letzte Fahrt hierher standen ihr nur allzu lebendig vor Augen.

Eine halbe Ewigkeit später erschien PJ und setzte sich auf Ryans andere Seite. Sie redete ohne Punkt und Komma. Ihre Schwester kochte, wenn sie nervös war, und wenn weder Nudelholz noch Schneebesen in der Nähe waren, redete sie. Es gelang Jade nicht, sich auf ihre Worte zu konzentrieren, und so wurde Ryan automatisch zu PJs Resonanzboden.

Irgendwie konnte Jade sich überhaupt nicht vorstellen, dass ihre Mutter einen Herzinfarkt haben könnte. Ihr Cholesterinspiegel war zu hoch, aber ansonsten war sie gesund. Sie war diejenige in der Familie, die niemals krank wurde.

Daniel legte beruhigend die Hand auf Jades Finger. „Ihr wird nichts passieren.“

„Das weißt du nicht.“

„Sie ist eine starke Frau.“

Jade schöpfte Kraft aus seinen ruhigen blauen Augen. Er wirkte so überzeugt. Bitte, Gott. Ich weiß, dass es eine Weile her ist, dass wir ernsthaft miteinander gesprochen haben, aber du musst dafür sorgen, dass es ihr gut geht. Etwas anderes konnte sie sich einfach nicht vorstellen. Ihre Mutter war das Herz der Familie. Hörst du mich, Gott?

Jade schnappte nach Luft, als ihr plötzlich etwas einfiel, und sie sah Daniel an. „Letzten Monat hatte sie auch Rückenschmerzen und war ganz erschöpft, weißt du noch? Ich habe sie ins Bett geschickt.“

Daniel drückte ihre Hand. „Jade …“

„Das waren erste Anzeichen. Warum habe ich nicht ...“

„Hör auf. Selbst wenn das bereits etwas mit dieser Sache zu tun hatte, wäre Mama Jo sowieso nicht ins Krankenhaus gefahren. Heute Morgen ist sie auch nur hergekommen, weil dein Dad sie dazu gezwungen hat, und dabei war sie kurz davor, ohnmächtig zu werden.“

Bisher hatte niemand auch nur mit einem Wort Grandma erwähnt. Sie hatte mit Mitte fünfzig ihren ersten Herzinfarkt gehabt. Der zweite hatte sie das Leben gekostet.

Als die Tür zur Intensivstation aufging und Dad herauskam, sprangen sie alle auf und liefen ihm entgegen. In dem unbarmherzigen Neonlicht sah er deutlich müder und älter aus als sonst. PJ schmiegte sich an ihn und legte den Kopf an seine Schulter.

„Gibt es irgendwelche Neuigkeiten?“, fragte Ryan.

„Es war eindeutig ein Herzinfarkt. Wir warten noch auf die Untersuchungsergebnisse, damit wir wissen, wie schwer er war.“

Daniels Hand legte sich auf Jades Schulter. „Wie behandeln sie sie jetzt?“

„Sie haben ihr Medikamente gegeben, aber ich bin mir nicht sicher, was als Nächstes passiert. Das hängt wahrscheinlich von den Ergebnissen ab.“

„Wie fühlt sie sich?“, fragte Ryan.

„Besser. Die Rückenschmerzen und die Übelkeit sind weg. Sie ist nur ein bisschen müde.“

„Ich werde die Gebetskette in Gang setzen“, sagte Ryan.

Zwei Stunden später warteten sie immer noch auf die Untersuchungsergebnisse. PJ knabberte Chips, Daniel telefonierte mit dem Handy und ging dabei vor der Fensterfront auf und ab und Ryan schrieb eine SMS.

Jade starrte auf den Fernseher, in dem jetzt eine Krimiserie lief. Jedes Mal, wenn die Tür aufging, blickten sie erwartungsvoll auf, aber Dad war bisher noch nicht zurückgekommen. Durch die SMS, die er Ryan zwischendurch geschickt hatte, wussten sie, dass er immer noch auf die Ergebnisse wartete.

Jade zog den Gefrierbeutel mit den Salzkräckern aus ihrer Tasche. Inzwischen war es im Wartezimmer deutlich voller. In einer Ecke hatte sich eine Familie versammelt, deren Mutter ein durchweichtes Taschentuch in den Händen knetete. Ihnen gegenüber wartete ein junger Mann, um dessen Hand ein blutiges Geschirrtuch gewickelt war.

Daniel steckte sein Handy weg und sank neben Jade auf den Stuhl. „Wie geht es dir?“

„Ganz okay, würde ich sagen. Es dauert furchtbar lange.“

„Willst du was aus dem Snackautomaten?“

Jade hielt einen Kräcker hoch. „Nein danke.“

Daniel rutschte auf seinem Platz ein wenig näher, sodass sie sein Rasierwasser riechen konnte. Es war ein schöner, sauberer, männlicher Duft, der längst nicht so aufdringlich war wie der der meisten Aftershaves.

„Ich musste gerade daran denken, wie ich das erste Mal zu eurem Haus gegangen bin.“

„Geschlichen, meinst du wohl.“ Er war über das Rosenspalier in Ryans Zimmer geklettert, weil es ein Wochentag und Ryan sich sicher gewesen war, dass seine Eltern Nein sagen würden, wenn sie sie um Erlaubnis baten.

„Wir hielten uns für unheimlich schlau und dachten, niemand hätte etwas mitbekommen. Wir haben die ganze Nacht lang Filme geschaut und sind am nächsten Morgen wie Zombies durch die Schule geschlichen. Am darauffolgenden Wochenende hat Ryan mich dann zum Abendessen mit zu euch gebracht und gefragt, ob ich bei ihm übernachten dürfe. Weißt du, was Mama Jo gesagt hat?“

Jade schüttelte den Kopf.

„Sie sagte: ‚Natürlich. Aber nimm diesmal die Haustür.‘“

Sie lächelten gemeinsam. „Mom kann man so leicht nichts vormachen.“ Genau das war auch der Grund gewesen, warum Jade seit ihrer Rückkehr nicht sehr viel Zeit mit ihrer Mutter verbracht hatte. Jetzt hatte sie deshalb ein schlechtes Gewissen. Wäre sie öfter bei ihrer Mom gewesen, hätte sie die Symptome vielleicht früher erkannt.

„Wann sollen Madison und Beckett ankommen?“, fragte Ryan.

„Ihr Flugzeug landet so gegen drei.“

Was für eine Begrüßung für das Brautpaar. Hoffentlich hatten sie bis dahin gute Nachrichten …

In diesem Augenblick kam ihr Dad durch die Tür. Er bedeutete ihnen, sitzen zu bleiben, und nahm selbst auf einem der orangefarbenen Plastikstühle ihnen gegenüber Platz. Die Ellbogen stützte er auf die Knie.

„Mom geht es gut. Sie sagt, ihr sollt aufhören, euch Sorgen zu machen, und wieder an die Arbeit gehen.“

„Sind die Ergebnisse da?“

Dad nickte. „Der Arzt sagt, Mom braucht eine Bypassoperation.“

Jade war es, als hätte jemand ihr die Luft aus der Lunge geschlagen. Es war also mehr als ein kleiner Herzanfall. Konnte es ernster werden als eine Operation am offenen Herzen?

„Warum können sie nicht die Arterien erweitern oder Stents setzen?“, fragte Daniel. „Walter Webster hatte letztes Jahr einen Herzinfarkt und bei ihm haben sie das gemacht.“

„Das hatte ich auch gehofft, aber der Arzt sagt, dass zwei der zentralen Koronararterien zu stark blockiert sind. Sie braucht den Bypass.“

„Wann?“

„In den nächsten Tagen. Sie machen es in Louisville und sie muss nach der OP eine Woche im Krankenhaus bleiben. Die anschließende Genesung wird wohl eine Weile dauern, mehrere Monate, sagt der Arzt.“

„Was wird aus dem Laden?“, fragte PJ.

„Mach dir darüber keine Gedanken, Dad“, sagte Ryan. „Wir kümmern uns um alles.“

„Er hat recht“, sagte Jade. „Sag Mom das.“

Nachdem ihr Vater gegangen war, drängten sie sich zusammen.

„Ich kann mir Urlaub nehmen“, sagte Ryan, „und auf dem Hof helfen.“

„Ich auch“, sagte Daniel. „Aber was ist mit dem Laden?“ Mom führte das beliebteste Antiquitätengeschäft in der Stadt, Grandmas Dachboden. „Wir könnten jemanden einstellen“, schlug er vor.

„Wo sollen wir jemanden finden, der was von Antiquitäten versteht?“

„Ich übernehme den Laden“, sagte PJ.

„Das geht nicht“, wandte Jade ein. PJ machte zurzeit ein Praktikum in einer angesehenen Bäckerei in Louisville. Es hatte Monate gedauert, diese Stelle zu ergattern.

„Sie hat recht“, sagte Daniel. „Du müsstest dein Praktikum sausen lassen.“

Ryan rieb sich den Nacken. „Wir können ihn nicht zumachen. Du hast Dad gehört – wir reden hier von ein paar Monaten, und das auch noch in der Touristensaison. Mom macht im Sommer den Löwenanteil ihrer Umsätze.“

„Ich übernehme den Laden.“ Alle sahen Jade an.

„Du hast gerade erst eine Stelle gefunden“, sagte Daniel. „Ich kann ein paar Stunden aushelfen. Und vielleicht können Madison und Beckett ebenfalls einspringen.“

„Madison und Beckett sind auch berufstätig“, sagte Jade. „Und du kannst nicht alles machen, Daniel. Bürgermeister, freiwilliger Feuerwehrmann, Kongresskandidat, Teilzeitlandwirt. Ich kann frühmorgens oder abends im Café arbeiten, wenn der Laden geschlossen ist, und an den Sonntagen.“

„Und wann willst du schlafen?“, fragte Daniel.

Jade schob das Kinn vor. „Ich übernehme den Laden. Es ist mein Ernst.“

Ryan blickte zwischen den beiden hin und her. „Also gut. Daniel und ich kümmern uns um die Farm und Jade übernimmt den Laden.“

„Und was ist mit mir?“, fragte PJ.

„Du kannst Mom und Dad im Haushalt helfen“, schlug Jade vor. „Jemand muss für sie kochen und die Wäsche machen und so. Madison und ich können natürlich auch helfen, aber ich will ihr so kurz nach der Hochzeit nicht zu viel aufhalsen.“

„Einverstanden“, sagte PJ.

„Gut!“ Ryan nickte. „Dann haben wir einen Plan.“