Cover

Dietrich Erben

DIE KUNST
DES BAROCK

C.H.Beck


Zum Buch

Die Kunst des Barock vermag bis heute eine überwältigende Wirkung zu entfalten. Sie hat eine neue Bildsprache erfunden, die in einer bis dahin unbekannten Weise direkt an den Betrachter appellierte, indem sie in dessen Wirklichkeit eindrang. Dieser Band beschreibt die Entwicklung der Architektur und der verschiedenen Bildgattungen, vom Stillleben und der Landschaft über das Porträt und die Genremalerei bis hin zum Historienbild. Dabei erläutert Dietrich Erben auch die kunsttheoretischen und historischen Grundlagen, auf denen die Kunst der Epoche beruhte. Er stellt dar, wie die Künste sich in den Dienst des Staates und der verschiedenen Konfessionen stellten, wie sich aber andererseits die Künstler auch ein erstaunliches Maß an Unabhängigkeit bewahrten und damit erst den Gedanken einer Autonomie der Kunst ermöglichten.

Über den Autor

Dietrich Erben ist Professor für Theorie und Geschichte von Architektur, Kunst und Design an der Technischen Universität München. Bei C.H.Beck ist von ihm u.a. erschienen: «Architekturtheorie. Eine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart» (2017).

Inhalt

I. Die Erfindung einer Epoche

Der Zwiespalt eines Begriffs

Neobarock im 19. und 20. Jahrhundert

II. Die Tradition und die Anfänge um 1600

Auf den Schultern von Riesen

Triumph der Stadtplanung in Rom

Appelle an den Betrachter: Bernini, Rubens und die Erfindung einer barocken Bildsprache

III. Die Beredsamkeit der Künste und die Gattungen der Malerei

Das selbstbewusste Bild

Die Aktualität der Rhetorik

Die Hierarchie der Bildgattungen

Die Errungenschaften der Fachmaler

IV. Die Repräsentation des Staates

Leviathan

Herrscherpanegyrik und Herrschaftsbegründung

Kunst als Mittel der Macht: Das Beispiel Versailles

Bürgerliche Sphäre und Widerstand

V. Künste und Konfessionen

Monument der Staatskirche: Die Karlskirche in Wien

Vielfalt der Konfessionskulturen

Bürgerkirche des Luthertums: Die Dresdner Frauenkirche

VI. Die Internationalität des Barock

Das vereinte Europa der Künste

Caravaggisten und Palladianisten

Ferne Welten

VII. Bildwelten des Wissens

Wissensspeicher

Die Sichtbarkeit der Vergangenheit

Bildmedien der Zeitgeschichte

Das «emblematische Zeitalter»

VIII. Rokoko und Aufklärung

Ein Gründungsdatum des Rokoko

Style rocaille

Das Ende des Barock: Revision und Musealisierung

Literaturhinweise

Personenregister

Bildnachweis

I. Die Erfindung einer Epoche

Der Zwiespalt eines Begriffs

Den Zeitgenossen des 17. und des frühen 18. Jahrhunderts wäre es nicht in den Sinn gekommen, vom «Barock» zu reden. Die Namen, die sie der Kultur ihrer Zeit gaben, und die Art und Weise, wie sie diese charakterisierten, haben auf den ersten Blick wenig mit der künstlerischen Prosperität und mit den überwältigenden Produktivkräften zu tun, die man heute mit der Epoche assoziiert. Sie verweisen ganz im Gegenteil auf deren zerstörerisches Potential. Im Zeitalter der Türkenkriege, des Dreißigjährigen Krieges, des Spanischen Erbfolgekrieges und nicht zuletzt der zahllosen Bürgerkriege und Revolten war die Rede vom «eisernen Jahrhundert» oder vom «martialischen Saeculum». Der geschichtliche Schauplatz der Ägide des Kriegsgottes Mars war das «Theatrum Europaeum». So verkündet es der Titel einer Chronik, die von dem Frankfurter Kupferstecher Matthäus Merian seit 1635 in voluminösen Bänden veröffentlicht wurde und über ein ganzes Jahrhundert hinweg, bis 1738, erschien (Abb. 1).

1   Matthäus Merian, Allegorie der Europa. Frontispiz des Theatrum Europaeum, 1635.

In der Symbol- und Figurenwelt des Titelblattes ist der Begriff von Europa bildlich entfaltet. Drei Frauen huldigen auf einer steilen Treppe als Personifikationen ferner Erdteile der thronenden Gestalt der Europa. Der Globus, der in den Wolken darüber balanciert und auf dem der europäische Kontinent vom strahlenden Auge Gottes in Licht getaucht ist, verdeutlicht ebenso wie die Huldigungsszene, dass die Welt durch die europäischen Entdeckungen größer geworden war. Die Anordnung der Hauptfiguren lässt indessen keinen Zweifel daran, wem im Konzert der Kontinente der Vorrang gebührte. Die seitlichen Figuren im oberen Bereich des Bildes illustrieren den Krieg als eine Grundbedingung des Zeitalters. Die mit Schild und Lanze bewehrte Kriegsgöttin Bellona sitzt auf der rechten Seite, zu ihr reckt sich die Personifikation des launischen Schicksals empor, der der strafende Arm mit der Rute zugeordnet ist. Gegenüber blickt Jupiter mit der Siegespalme in der Hand gelassen auf die geflügelte Gestalt, die seinen Ruhm in die Welt hinaus posaunt. Auf Erden galten die Fürsten als Stellvertreter des Göttervaters. Der Ruhm des Herrschers, so will es die Argumentation des Bildes, setzte den Krieg ebenso voraus wie den Frieden.

Man ist auf Anhieb bereit, dem Titelbild Merians das Prädikat «barock» zu verleihen. Dies ist nicht nur mit dem Sinngehalt des Bildes zu begründen, sondern vor allem mit dem bühnenhaften Illusionismus der Komposition und dem beträchtlichen allegorischen Aufgebot. Solche Etikettierungen verdanken sich jedoch einer heutigen Sicht. Der Terminus Barock ist keine aus der Epoche selbst gewonnene Bezeichnung. Er bürgerte sich erst nach dem Ende der Epoche, im ausgehenden 18. Jahrhundert, als eine abwertende Kennzeichnung ein, bevor er sich dann im Verlauf des 19. Jahrhunderts als wissenschaftlicher Epochenbegriff etablierte. Sein Gebrauch ist deshalb in zweifacher Hinsicht prekär – eben weil er in den zeitgenössischen Quellen als Epochenbezeichnung nicht vorkommt und sich später zunächst als Schimpfwort verbreitete. Für die früheren und nachfolgenden Abschnitte der Frühen Neuzeit gilt dieser negative Befund nicht. Zwar hat sich deren Bezeichnung ebenfalls erst im Historismus durchgesetzt, doch lässt sich bereits in der jeweiligen Zeit selbst eine positive Selbstdeklaration der Epoche ausmachen. In der Renaissance diente dazu die Metapher von der Wiedergeburt der Künste (rinascita) und im Manierismus, der um 1600 vom Barock abgelöst wurde, der schillernde Begriff der maniera. Auch in der dem Barock folgenden Epoche des Klassizismus und der Aufklärung wurde der Aufgang einer neuen Zeit mit einem selbstgewählten Begriff verheißungsvoll verkündet: Schon von den Vertretern der Aufklärung wurde die Bildungsbewegung ihrer eigenen Zeit als «Aufklärung» bezeichnet.

Die bis heute in einigen Aspekten rätselhafte Etymologie des Wortes «Barock» ist schillernd und vielgestaltig. Es geht wahrscheinlich auf das lateinische Wort für Warze (verruca) zurück, das man unter anderem für fehlerhafte Auswüchse an natürlichen Dingen oder handwerklich hergestellten Sachen gebrauchte. Das italienische Substantiv und das gleichlautende Adjektiv barocco dürften sich direkt aus der portugiesischen und spanischen Bezeichnung für eine schief geformte Perle oder eine unregelmäßige Edelsteinbildung (barocco bzw. barrueco) ableiten. Schon im 16. Jahrhundert wurde diese Gegenstandsbezeichnung auf abstrakte Sachverhalte übertragen. Als ein barocco galt in der Rhetorik ein skurriler dichterischer Einfall oder eine raffinierte Schlussfolgerung. Seit dem frühen 18. Jahrhundert ist die französische Bezeichnung baroque für eine gekrümmte Ornamentform in der Fachsprache der Tischler dokumentiert. Sowohl in der Dichtungstheorie als auch im Kunsthandwerk kündigt sich also ein ästhetischer Sinn des Wortes an, der bis heute verbindlich geblieben ist.

Die Verallgemeinerung zum Stilbegriff und die Verbreitung in den Lexika erfolgten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Vorreiter war die Musikliteratur. Der Aufklärer Jean-Jacques Rousseau, der sich als Musikschriftsteller und Komponist dem neuen Stilideal der simplicité, der Einfachheit, verschrieben hatte, rubrizierte die Musik der älteren Komponistengenerationen unter dem Sammelnamen der musique baroque. Zu definieren vermochte er sie freilich nur unter negativen Vorzeichen. Er attestierte ihr eine verworrene Harmonie, überladene Modulationen und Dissonanzen; ihr Gesang sei hart und unnatürlich, die Verläufe der Melodien seien gezwungen. Ein Hamburger Musikkritiker hatte schon einige Jahrzehnte vor Rousseau im Jahr 1737 ganz in dessen Sinne die Musik von Johann Sebastian Bach kritisiert. Das Wort «barock» war ihm noch nicht zur Hand, also nannte er Bachs Werke «schwülstig» und «verworren», seine Musik «verdunkele ihre Schönheit durch allzugroße Kunst» und «streite wider die Natur».

Es ließ nicht lange auf sich warten, bis man mit diesen Begriffen auch Werken der bildenden Kunst und der Architektur zu Leibe rückte. Berühmt geworden ist die Definition des Kunsttheoretikers Quatremère de Quincy, die sich in einem Architekturlexikon findet, das im Jahr der Französischen Revolution 1789 gedruckt wurde. Für den Verfasser ist der Barock schlicht eine künstlerische Spielart des Abwegigen (une nuance de bizarre). Der Barock sei die raffiniert zum Superlativ gesteigerte Form des Bizarren und ein einziger Verstoß gegen alle Regeln des Geschmacks; die Idee des Barock treibe alle Lächerlichkeiten bis zum Exzess.

Im Sinne dieses Barockbegriffes schien die Kunst des Barock sich für die Zeitgenossen Quincys auszuzeichnen durch die Merkmale des Sonderbaren und des Gewählten, des sinnlich Prunkenden auf der einen Seite und des rhetorischen Überschwangs auf der anderen Seite. Die Künstler schienen sich die Lizenz zum Regelverstoß, den Anspruch auf das Ingeniöse und das absichtsvoll Artistische auf die Fahnen geschrieben zu haben. Barock war im Urteil von Kunstliebhabern und Künstlern der nachfolgenden Generation der hässliche Auswuchs an der als vollkommen gedachten Perle der Kunst.

Neobarock im 19. und 20. Jahrhundert

Die positive Umwertung des Barockbegriffs, seine Durchsetzung und seine Popularisierung als Epochenbegriff vollzogen sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Daran war sowohl die sich als akademisches Fach formierende Kunstgeschichte als auch die an der Kunst ihrer eigenen Zeit interessierte Kunstkritik beteiligt. Die Attraktivität des Barockbegriffs beruhte ganz maßgeblich darauf, dass er zwar für die historische Interpretation von Kunst entwickelt wurde, sich dann aber auch als tauglich erwies für die Bestimmung des eigenen ästhetischen und gesellschaftlichen Standorts.

Bei Jacob Burckhardt wird erstmals das Bemühen erkennbar, Kunst und Architektur des Barock unter den ihnen eigenen Formprinzipien zu sehen. Die Anstrengung, die dies den Autor kostete, ist in den einschlägigen Passagen seines «Cicerone» (1855) aus jeder Zeile herauszulesen. Burckhardts Ehrenrettung der von ihm nun auch so bezeichneten «Barockkunst» beruht auf dem Grundgedanken, dass der Barock nicht als Bruch mit der Kunst der Renaissance zu verstehen sei, die seit jeher als unüberbietbare Gipfelleistung bewundert worden war, sondern deren eigenständige Umprägung darstelle: «Die Barockkunst spricht dieselbe Sprache wie die Renaissance, aber einen verwilderten Dialekt davon.» Burckhardts Perspektive auf den Barock blieb voller Ambivalenzen; trotzdem hat er sowohl für die vielfältigen Traditionsbindungen der Barockkunst als auch für deren innovative Eigenleistungen die Augen geöffnet.

Die akademische Kunstgeschichte ist nach Burckhardt diesen Weg weitergegangen. Dies gilt insbesondere für seinen Schüler Heinrich Wölfflin, der Burckhardts Kontinuitätsthese folgte, dem Barock aber auch schon eine eigene Physiognomie für die Jahre nach etwa 1580 zusprach. Das Ende der Epoche setzte er um die Mitte des 18. Jahrhunderts mit dem Ende des Rokoko und dem beginnenden Klassizismus an. Damit waren die zeitlichen Grenzen des Barockstils in einer Weise bestimmt, über die bis heute weitgehend Konsens besteht. Die stilistische Eigenart des Barock entfaltete Wölfflin aus einem einzigen Begriff, dem «Malerischen». Die «malerische Wirkung» ziele auf «die freiere Linie, das belebte Spiel von Licht und Schatten», sie suche den «Reiz in der Bewegung der Massen»; das «Malerische» besitze «keine körperliche Wahrheit», sondern suche «durch den Schein zu wirken». In Wölfflins Habilitationsschrift über «Renaissance und Barock» (1888) wird im Kern jener Illusionismus entwickelt, der sich für das Verständnis des Barock als äußerst folgenreich erweisen sollte.

Das von Burckhardt, Wölfflin und anderen Gelehrten ausgearbeitete Verständnis des Barock wäre wohl kaum über die akademischen Kreise hinaus an die Öffentlichkeit gelangt, wenn es nicht mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen zusammengefallen wäre. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Neobarock als Baustil inauguriert. Den Startschuss gab der Pariser Louvre, der im Zuge der Französischen Revolution dem König enteignet und 1793 als Museum eröffnet worden war. Seit 1852 war die Anlage durch kolossale Flügelbauten erweitert worden, die den barocken Altbaubestand der Cour Carrée in freier, neobarocker Manier wiederholten. Bauherr war Napoleon III., der die Republik durch einen Staatsstreich zerschlagen hatte und nun als neuer Kaiser in den Erweiterungsbauten seine Residenz bezog. Der Louvre wurde für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Exempel moderner Staatsbaukunst. Das Deutsche Kaiserreich und die K.u.K. Doppelmonarchie wollten hinter dem zweiten Empire nicht zurückstehen, so dass auch in Berlin und Wien monumentale neobarocke Bauten für die staatliche, kirchliche und kulturelle Repräsentation geplant wurden.

Die fern gerückte Barockzeit war für eine Gesellschaft an der Schwelle zur Moderne ein Spiegel, in dem sie nicht zuletzt die eigene mentalitätsgeschichtliche Situation wiederzuerkennen meinte. Mochte der Barock für die Staatsrepräsentation als Fundus von Formen dienen, die Herrschaft visualisieren konnten, so sah eine skeptisch gestimmte Kulturkritik im Barockzeitalter doch auch die Vorzeichen für das Krisenbewusstsein hochindustrialisierter Massengesellschaften. Man nimmt mit Verblüffung zur Kenntnis, in welchem Ausmaß um 1900 das Vokabular, mit dem die historische Epoche und die damalige Gegenwart diagnostiziert wurde, ein und dasselbe ist. Heinrich Wölfflin behauptet, dass für die Architektur des Barock das Komponieren von «Masseneffekten» wesentlich sei, die beim Betrachter die «Intimität des Nachlebens» verhindern. Er sieht darin explizit eine Verwandtschaft zur eigenen Zeit und in Richard Wagner denjenigen Künstler, der in barocker Weise auf die Affektüberwältigung hingearbeitet habe. Gleichzeitig analysierte Cornelius Gurlitt in seinem dreibändigen architekturgeschichtlichen Grundlagenwerk zur «Geschichte des Barockstiles» (1887–1889) die Baukunst im päpstlichen Rom als Instrument der «Agitation», die nicht mehr auf die Bedürfnisse des «einzelnen Bürgers» Rücksicht nehme, sondern auf die Vereinnahmung der «Massen der bekehrten Volksteile» ziele.

Schlagartig enthüllt auch das Wort von der «Nervosität» die mentalen Affinitäten, die die Zeitgenossen zwischen der Barock- und der Gründerzeitära zu erkennen meinten. In den drei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg wurden Nervenschwäche, gesteigerte Reizbarkeit und krankhafte Sensibilität als Grundübel diagnostiziert. Ob faktische Krankheit oder Hypochondrie, für die Nervenschwäche wurden nahezu alle Errungenschaften der technisierten Welt verantwortlich gemacht. Gleichzeitig machte Wölfflin den «Zustand der Erregung» als Hauptabsicht der Barockkunst aus und stellte unumwunden fest: «Die Hauptbarockkünstler litten alle an Nervosität.»

Die Erfolgsgeschichte des Barock ist keineswegs geradlinig verlaufen. Anfänglich wurden der Kunst zwischen Manierismus und Klassizismus alle Qualitäten aberkannt, dann wurde allmählich deren besondere Stilprägung erkannt und am Ende anerkannt. Dabei ist es bis heute geblieben. In der Gegenwart finden barocke Kunst und Architektur eine kaum überbietbare Zustimmung und sind Attraktionen für ein breites Publikum. So wie im Musikrepertoire Monteverdi und Vivaldi, Purcell und Lully, Bach und Händel überall präsent sind, so sind die Werke von Caravaggio und Bernini, Rembrandt und Rubens, Velázquez und Poussin Magneten in den Museen und im Ausstellungsbetrieb. Die europäischen Metropolen, deren Stadtbild von barocken Palästen und Kirchen geprägt wird – wie z.B. Rom, Wien, Prag oder Amsterdam – sind gefragte Ziele des Tourismus.

Seit gut zwei Jahrzehnten ist auch in der aktuellen Architektur, den visuellen Künsten und der Kulturkritik eine Berufung auf den Barock zu erkennen. Unter den Vorzeichen der Postmoderne kam es zu einem Revival der Scheinperspektive in der Architektur. Illusionsräume des römischen Hochbarock wurden als Urahnen einer Ästhetik des Virtuellen und der sinnlichen Vereinnahmung entdeckt. In den Raffinessen der Betrachtertäuschung sah man Vorformen der «special effects» von Computerspielen. Solche Schulterschlüsse bezeugen das Bedürfnis der Historisierung gegenwärtiger Kulturphänomene. Für das Verständnis der vergangenen Epoche leisten sie hingegen in der Regel wenig.

Beim folgenden Versuch, einige Entwicklungslinien der Kunst und Architektur vom Beginn des 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts zu skizzieren, ist die Frage nach deren geschichtlichem Zeugniswert ins Zentrum gestellt. Es geht mit anderen Worten weniger darum, was an einem Kunstwerk barock ist und ob es den Stil seiner Zeit nun vollgültig oder nur teilweise vertritt. Das Hauptaugenmerk liegt vielmehr auf der Frage, was ein Werk mit den Mitteln der Kunst über die Epoche seiner Entstehung aussagt. Künstler und Architekten reflektieren in Kooperation mit ihren Auftraggebern und ihrem Publikum Problemlagen ihrer Zeit und bringen sie in ihren Werken zur Anschauung. Zum Verständnis dieser Mitteilungen soll nicht nur nach deren künstlerischer Form und nach deren Inhalten gefragt werden, sondern auch nach den Voraussetzungen ihres Zustandekommens. Zu diesen Bedingungen gehören auch Institutionen – der sich formierende moderne Staat, konfessionelle Gruppen und andere Institutionen wie Akademien, die der Bürokratisierung und der Internationalisierung des Kunstgeschehens Vorschub leisteten.

II. Die Tradition und die Anfänge um 1600

Auf den Schultern von Riesen

Bei den Künstlern und Architekten, die an der Wende zum 17. Jahrhundert den neuen Stil schufen, ist keine Euphorie des Aufbruchs zu erkennen. Sie sahen sich als Bewahrer einer Tradition, an der sie sich zwar selbstbewusst maßen, der sie aber nicht zu entkommen suchten. Als Epoche des Neubeginns verstanden sie ebenso wie die vorangegangenen Künstlergenerationen die schon länger zurückliegenden Anfänge der Renaissance. Die rinascita, die Wiedergeburt, der Künste war von Giorgio Vasari in seinen einflussreichen Künstlerviten, die zuerst 1550 und mit Erweiterungen 1568 erschienen, sanktioniert worden. Nach seiner Geschichtskonstruktion erfolgte diese Wiedergeburt in mehreren Phasen, bis sie sich nach 1500 selbst vollendete. Durch die Schöpfungen Michelangelos, so Vasari, erfuhr das neue Kunstideal eine nicht zu übertreffende Erfüllung.

Vasaris Wertmaßstäbe und das von ihm entworfene historische Ordnungsprinzip blieben in der Folgezeit lange gültig. Jede Neuerung in den Künsten war dem Gedanken der Kontinuität, der Nachahmung älterer und aktueller Kunst (imitatio), wie auch der Idee konkurrierender Überbietung des Früheren und des Modernen (aemulatio) verpflichtet. Gegenüber den Künstlern und Architekten wurde dieser Anspruch in einem geradezu erdrückenden Maß von den Auftraggebern, den Kunstkennern und vom Publikum bekräftigt. Neben die Antike rückte die Kunst des 16. Jahrhunderts als gleichberechtigte Orientierungsinstanz. Die im Kunstwerk nachvollziehbare Auseinandersetzung mit der Kunsttradition konnte nicht nur als Ausweis der Kennerschaft gelten und befriedigte nicht nur das Gefallen an einer anspielungsreichen Kunstsprache. Aus ihr gewann die Barockkunst auch immer wieder ihre eindrucksvolle historische Tiefe.