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Lutz Raphael

Geschichtswissenschaft
im Zeitalter der Extreme

Theorien, Methoden, Tendenzen
von 1900
bis zur Gegenwart

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Lutz Raphael bietet in seinem Buch einen fundierten Überblick über die wichtigsten Strömungen und Tendenzen der modernen Geschichtswissenschaft. Die Darstellung führt von den Anfängen einer Professionalisierung um 1900 bis hinein in die unmittelbare Gegenwart und nimmt dabei keineswegs nur die europäische und amerikanische Geschichte des Faches in den Blick, sondern immer wieder auch außereuropäische Entwicklungen. Konkrete Beispiele charakterisieren die Leistungen und Besonderheiten etwa der »New History«, der Annales-Schule oder der modernen Sozialgeschichte. Ein besonderes Augenmerk legt diese grundlegende Einführung schließlich auf die Sozial- und Institutionengeschichte der Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert.

Über den Autor

Lutz Raphael, geb. 1955, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier. Er ist Spezialist für die Geschichte der Geschichtswissenschaft und u.a. mit einer großen Studie über «Die Erben von Bloch und Febvre» (1994) hervorgetreten.

Inhalt

Vorwort

     I Konzepte, Probleme und Gegenstände einer Geschichte der Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert

1. Orientierungswissen und kritische Historisierung

2. Erklärungsmodelle: vom Paradigmenmodell zum Konstruktivismus

3. Geschichtsforschung und Politik im 20. Jahrhundert

4. Leitthemen: Internationalisierungstendenzen im Fachbetrieb

5. Aufbau und Auswahl

    II Das Berufsfeld des Historikers im 20. Jahrhundert

1. Die institutionellen Rahmenbedingungen: Universitäten, Akademien, Bibliotheken und Archive

2. Curricula: Grundmuster relevanten Fachwissens

3. Karrierewege und Forschungsorganisation

4. Zeitschriften: Medien und Akteure professioneller Kommunikation

5. Internationalisierung der Grundmodelle und Mindeststandards

6. Die Topographie der internationalen Geschichtsforschung

   III Geschichte zwischen Wissenschaft, politischer Ideologie und nationaler Erinnerungskultur

1. Konfliktkonjunkturen: Politik und Geschichtswissenschaft

2. Geschichtskultur und Geschichtswissenschaft in den europäischen Nationalstaaten

3. Nationale Geschichtskulturen und Geschichtswissenschaft im Zeichen der westlichen Herausforderung: China und Japan

4. Westliche Geschichtswissenschaft und nationale Geschichtskulturen im Zeichen der Dekolonialisierung

5. Exkurs: Nation und Klasse

6. Internationale Forschung, nationale Geschichtsbilder und kollektive Erinnerung

7. Nationalgeschichte in bewegten Bildern: Film, Fernsehen und Geschichtswissenschaft

   IV Die Geschichtswissenschaften um 1900

1. Der Siegeszug der Berufshistoriker

2. Primat der politischen Geschichte

3. Sozial- und kulturwissenschaftliche Impulse

4. Kritiker und Reformer: die «Neue Geschichte»

5. Der Aufstieg der Wirtschafts- und Sozialgeschichte

6. Zwei Beispiele

    V Nationalistische Mobilisierung und kritische Perspektiven: Die Geschichtsforschung zu Staat und Nation in der Zwischenkriegszeit

1. Neue Probleme der politischen Gegenwart und neue Fragen an die Vergangenheit

2. Volksgeschichte

3. Materialistische Kritik: Partikulare Interessen, Ideen und große Politik

4. Zwei Beispiele

   VI Die Annales-Tradition: Denkstil und Netzwerk einer neuen Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte

1. Die Situation der Geschichtswissenschaft in Frankreich zwischen den beiden Weltkriegen

2. Das Profil der neuen Zeitschrift

3. Die intellektuellen Kontexte: Anreger, Gesprächspartner und Vorbilder

4. Zwischenbilanz: das Erbe von Bloch und Febvre

5. Aufstieg und institutionelle Absicherung nach 1945

6. Das Forschungsprogramm der fünfziger und sechziger Jahre

7. Internationale Verbindungen und Wirkungen

8. Fazit: «Denkstil» und «historische Ideen» statt Paradigmen

9. Zwei Beispiele

  VII Umwege und Sackgassen der marxistischen Geschichtswissenschaft

1. Vieldeutigkeit des marxistischen Geschichtsmodells

2. Grundprobleme marxistischer Geschichtsforschung

3. Traditionen der II. Internationale

4. Die sowjetische Sackgasse: vom orthodoxen Marxismus zur parteiamtlichen Geschichtsschreibung

5. Die sowjetische Geschichtswissenschaft als Exportmodell

6. Marxistische Geschichtswissenschaft außerhalb der sozialistischen Länder

7. Übergänge und Engpässe

8. Zwei Beispiele

VIII Die Geschichte der internationalen Beziehungen

1. Die Stellung innerhalb der Geschichtswissenschaft

2. Etablierung der nationalzentrierten Perspektive

3. Rückkehr zur internationalen Perspektive

4. Machtpolitik, Ökonomie und Kulturtransfer: Die Geschichte der europäischen Expansion, von Kolonialismus und Imperialismus

5. Die Internationale Geschichte und die Dynamik der Geschichtswissenschaft

6. Zwei Beispiele

   IX Mentalitäten, Begriffe und politische Sprachen: Wege der kultur- und ideengeschichtlichen Forschung

1. Kulturwissenschaftliche Impulse

2. Ideengeschichtliche Grundpositionen

3. Verankerung in den nationalen Historikerfeldern

4. Weltanschauungen und Mentalitäten

5. Geschichte der Intellektuellen und ihrer Produktion

6. Von der Geschichte politischer Ideen zur Geschichte politischer Semantiken

7. Langfristige Trends und Probleme

8. Zwei Beispiele

    X Aufstieg und Fragmentierung der Sozialgeschichte (1960–1990)

1. Theoretische Geltungsansprüche und methodische Innovationen

2. Institutionelle Verankerungen

3. Leitideen eines expansiven Konzepts: Die Sozialgeschichte nationaler Politik

4. Sozialgeschichte der Herrschaftseffekte

5. Geschichte sozialer Gruppen und Räume

6. Themenfelder einer transnationalen Sozialgeschichte

7. Oral History

8. Siegestaumel und Selbstzweifel

9. Zwei Beispiele

   XI Von der Universalgeschichte über die Historische Soziologie weiter zur Globalgeschichte/global history

1. Ansätze zur Erforschung weltgeschichtlicher Zusammenhänge

2. Kulturmorphologie, soziologische Formenlehre und Geschichtsphilosophie

3. Die Historische Soziologie

4. Universalhistorische Forschungen der Historiker

5. Weltgeschichte als global history

6. Zwei Beispiele

  XII Das Ende der alten Ordnungen: institutionelle Veränderungen in den nationalen Historikerfeldern und internationale Umbrüche in Kultur und Politik nach 1968

1. Wachstum der Geschichtswissenschaft im Zeichen von Bildungsexpansion und Hochschulausbau

2. Strukturwandel der Historikerfelder

3. Politisierung und Kulturrevolution

4. Von der Gegenkultur zum postmodernen Kulturbetrieb

5. Unterschiedliche Reaktionen der Historikerfelder auf die kulturellen Umbrüche der späten 60er Jahre

6. Fallbeispiel: kulturelle und politische Spannungsfelder der Sozialgeschichte nach 1968

XIII Historische Anthropologie und neue Kulturgeschichte

1. Perspektivwechsel

2. Positionsverschiebungen

3. Theoretische und methodische Grundlagen

4. Diskurse

5. Gender

6. Die anthropologische Ebene

7. Volkskulturen

8. Die neue Kulturgeschichte des Politischen

9. Zwei Beispiele

XIV Fokus oder Rahmen? Nationalgeschichte und Geschichtswissenschaft im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts

1. Der Aufstieg der demokratischen Nationalgeschichte «von unten»

2. Brüche und Konflikte in den nationalen Geschichtskulturen seit den 80er Jahren

3. Positionswechsel und Perspektivwechsel in der Geschichtswissenschaft

4. Neue Richtungen der Nationalgeschichte

5. Darstellungsformen der professionellen Nationalhistoriographie

6. Zwei Beispiele

  XV Geschichtswissenschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts

1. Das langsame Ende des Eurozentrismus

2. Internationalisierung im Zeichen prekärer Autonomie

3. Die Überschreitung des Nationalen – neue Identitätsmuster und kollektive Bezugspunkte

Bibliographie:

a) Werke

b) Sekundärliteratur

Personen- und Ortsregister

Vorwort

Dieser Überblick über eine riesige Forschungslandschaft wäre ohne die Aufforderung von Studierenden und Mitarbeitern der Universität Trier gar nicht zustande gekommen. Sie hielten das, was sie in einer Vorlesung im Sommersemester 1997 hörten, für so interessant und nützlich, dass sie für eine Publikation plädierten. Den Weg dahin begleiteten berechtigte Zweifel, ob das Ziel, die internationalen Perspektiven einzufangen, erreicht werden könnte. Mit Kritik, Hinweisen und Anregungen unterstützt haben mich insbesondere Gabriele Lingelbach, Olaf Blaschke, Jürgen Osterhammel, Andreas Eckert und Anselm Doering-Manteuffel. Sie haben das gesamte Manuskript oder einzelne Kapitel gelesen, ihr kritischer Blick hat viele Fehler entdeckt. Frau Collet schließlich hat immer wieder dafür gesorgt, dass aus den vielen Entwürfen und Überarbeitungen das vorliegende Buch entstanden ist. Ihnen allen sei an dieser Stelle für ihre Mitarbeit und Hilfe ganz herzlich gedankt.

I
Konzepte, Probleme und Gegenstände einer Geschichte der Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert

Jeder Leser historischer Fachliteratur kennt die Beobachtung: Er wird von der ersten Seite an Zeuge von Auseinandersetzungen, die der Autor mit älteren oder jüngeren Forschungsthesen und Berufskollegen führt. Ohne die Kenntnis der zugrundeliegenden Fragestellungen und Probleme bleiben selbst «schlichte» Darstellungen historischer «Tatsachen» rätselhaft und unverständlich. Wissenschaftliche Geschichtsschreibung führt einen ständigen Dialog mit sich selbst. Der zeitliche Horizont dieser Dialoge reicht dabei über die unmittelbare Gegenwart weit zurück in die Forschungsgeschichte. Häufig markiert der Beginn von Professionalisierung und Verwissenschaftlichung der Historiographie die zeitliche Grenze dieser Rückbezüge und Dialoge. Weltweit können deshalb die beiden Jahrzehnte um 1900 als Ausgangspunkt genommen werden für eine gegenwartsbezogene Geschichte der Geschichtswissenschaft, welche die Genese noch heute wichtiger Probleme und Fragestellungen, Institutionen und Verfahren der Forschung in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit stellt.

1. Orientierungswissen und kritische Historisierung

Eine Geschichte der modernen Geschichtswissenschaft hat demnach ein Informationsbedürfnis ganz elementarer Art zu befriedigen: Sie bietet eine unentbehrliche Orientierungshilfe für alle, die sich aktuelles Fachwissen aneignen wollen. Als Geschichte fachwissenschaftlicher Problemstellungen und ihrer Lösungsversuche liefert sie notwendiges Kontextwissen für das wissenschaftliche Tagesgeschäft.

Damit liefert eine Geschichte der Geschichtswissenschaft zugleich auch einen grundlegenden Beitrag zu einer selbstkritischen Historisierung und Problematisierung aktueller Begriffe und Forschungsfragen. Historiker interessieren sich immer wieder von neuem für alte Fachkontroversen, prüfen alte Argumente und aktualisieren vergessene Problemsichten. Als Wissenschaftsgeschichte ist die Historiographiegeschichte jedoch noch mehr: Mit Hilfe sozial- und kulturgeschichtlicher Methoden versucht sie, die Institutionen des Faches sowie die politischen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen der früheren Berufspraxis von Historikern zu analysieren. Indem sie kollektive Traditionsmuster, Konfliktfelder aber auch fächerübergreifende Konjunkturen herausarbeitet, legt sie die unbewussten, d.h. verkannten Erbschaften bzw. nicht reflektierten Aspekte des eigenen wissenschaftlichen Tuns bzw. der eigenen beruflichen Position und Situation offen. So kann sie etwa offenlegen, wie die soziale Dominanz von Männern in diesem Beruf lange Zeit mit einem dezidiert «männlichen» Blick auf Staat, Gesellschaft und Kultur früherer Zeiten verbunden war und zum Teil noch heute ist.

2. Erklärungsmodelle: vom Paradigmenmodell zum Konstruktivismus

Die meisten Historiker, die sich mit der Geschichte ihres eigenen Faches beschäftigen, vermeiden eine Festlegung auf ein Verfahren, einen theoretischen Zugriff. Anerkennung und Verbreitung hat jedoch das Paradigmenmodell gefunden, das vom Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn unter Rückgriff auf den wissenssoziologischen Entwurf Ludvik Flecks entwickelt worden ist [Kuhn, Fleck].[*] Für die Geschichtswissenschaft ist es von Jörn Rüsen maßgeblich weiterentwickelt worden. Das Paradigmenmodell bietet einen Ansatz für eine Strukturgeschichte grundlegender historischer Erklärungsansätze und Verfahren, deren Verbreitung und Wechsel. Es geht davon aus, dass sich die Geschichtswissenschaft in Analogie zu den Naturwissenschaften über Brüche, radikale Veränderungen der Deutungsmuster weiterentwickelt habe. Unterschiedliche Erklärungsansätze und Methoden, die wiederum von unterschiedlichen Forschergruppen und -generationen getragen, vertreten und dann auch im Forschungsprozess getestet werden, lösen einander ab. Es lassen sich Phasen des Umbruchs, die gekennzeichnet sind durch Kontroversen um die Grundlagen des Faches, unterscheiden von Zeiten, in denen die Mehrheit des Faches mit Hilfe etablierter Modelle weiterforscht, in denen also so etwas wie störungsfreier «Normalbetrieb» stattfindet. Rüsen hat dieses Modell für die Geschichtswissenschaften konkretisiert, indem er solche Denkstile oder Paradigmen in fünf Aspekte oder Dimensionen untergliedert: 1. die Interessen oder Orientierungsbedürfnisse der Gegenwart, die Eingang finden in die Fragen der Fachhistoriker, 2. die Ideen bzw. leitenden Gesichtspunkte bei der Erschließung der Vergangenheit, 3. die Regeln der empirischen Forschung, 4. die Formen der Darstellung und 5. die Funktionen des historischen Wissens [Rüsen].

Dieses ausgearbeitete Modell hat nur wenige theorietreue Anhänger gefunden, seine fünf Dimensionen sind jedoch in der einen oder anderen Weise in vielen Analysen zur Entwicklung der Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert berücksichtigt worden. Besonders attraktiv war die Idee des Paradigmenwechsels: Sie erlaubt nämlich, die unübersichtlichen, vielfach disparaten Beobachtungen über die Fachentwicklung zu bündeln und den Gesamtablauf der wissenschaftlichen Entwicklung als Abfolge dominanter Paradigmen zu ordnen. Rüsen selbst hat die moderne deutsche Geschichtswissenschaft als Abfolge von Aufklärungshistoriographie, Historismus und historischer Sozialwissenschaft für das gesamte 19. und 20. Jahrhundert periodisiert [Jäger/Rüsen]. Georg Iggers sieht in seinem Übersichtswerk die internationale Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhundert durch zwei Paradigmenwechsel geprägt: Der klassische Historismus, auf dessen Grundlage sich das Fach im 19. Jahrhundert etabliert hatte, wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts abgelöst durch das Paradigma der Sozialgeschichte und der historischen Sozialwissenschaft. Aber für die Zeit seit 1980 konstatiert Iggers dann eine weitere Kehrtwende hin zu einer neuen Kulturgeschichte, deren theoretische Grundlagen jedoch so vielfältig und intern so kontrovers sind, dass er für die jüngste Vergangenheit und Gegenwart vorsichtig das Ende der großen Paradigmen feststellt [Iggers 1993]. Die überraschende Rücknahme des Modells in Iggers’ letzter Studie lässt bereits erkennen, welche Schwierigkeiten entstehen, wenn man versucht, die Fachentwicklung vorrangig anhand der Schnittstelle zwischen großen Theorien und Methodenkontroversen zu erklären. Im Ergebnis kommt ein Ablaufmodell zustande, das bestenfalls einen weitgehend willkürlich ausgewählten Ausschnitt der Fachwirklichkeit halbwegs plausibel zu erklären vermag. Es zeigt sich immer wieder, dass in der Geschichtswissenschaft der Bezug auf theoriegeleitete Erklärungsmodelle, gar auf wissenschaftstheoretische Reflexionen eher nachrangige Bedeutung besitzt, zuweilen geradezu zufällig erscheint. Die Lässigkeit der Historiker in Fragen der Theorie stützt sich auf einen fachspezifischen Empirismus, der immer wieder darauf setzt, induktiv die eigenen leitenden Begriffe und Erklärungsmodelle zu entwickeln. Überall dort, wo historische Forscher autonom über die Wahl der leitenden Ideen entscheiden konnten, finden wir eine lebhafte Konkurrenz oder häufiger noch ein friedliches Nebeneinander unterschiedlicher Ansätze, ohne dass dadurch die Einheit der Disziplin gesprengt worden wäre. Eine Stufenfolge unterschiedlicher Paradigmen und ein geordneter Wechsel zwischen revolutionären Krisenphasen und Jahren des Normalbetriebs lässt sich im Fortgang der Disziplinentwicklung seit 1880 jedenfalls nicht ausmachen. «Denkstile» und «Denkkollektive» sind im Fall der Geschichtswissenschaft immer unterhalb der Schwelle paradigmatischer Verbindlichkeit und Verbreitung geblieben, die Pluralität von Ansätzen, «Schulen» und «Konzepten» ist im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer größer geworden.

Dieser Zuwachs hängt auch damit zusammen, dass ältere Forschungsansätze unbehelligt von neuen Trends und Moden weiterexistierten. Gerade die wachsende Spezialisierung hat ein solches Nebeneinander von Denkstilen ganz unterschiedlichen Alters stark gefördert. Einheitsstiftendes Element der Fachentwicklung war nicht die große Theorie, sondern die gemeinsame Methodik. Drei Gesichtspunkte ergänzen und relativieren also die Einsichten, die aus der Betrachtung theoriegeleiteter Debatten und aus der Analyse von großen Werken, den «Klassikern» der Disziplinengeschichte, gewonnen werden können:

1. Die Geschichte der Kontroversen muss zugleich auch als Geschichte der Konflikte um die Aneignung von Ressourcen, von Macht und Einfluss im Fach analysiert werden, deren Ausgang keineswegs allein durch die Überzeugungskraft der wissenschaftlichen Argumente und Forschungsergebnisse bestimmt wurde und wird. Eine realistische Geschichte der Disziplin muss deshalb auch die Sozial- und Politikgeschichte der wissenschaftlichen Institutionen umfassen.

2. Diese Konflikte sind zugleich eingebettet in ein Regelwerk von Institutionen, die Streitlust und Forschungsneugier der Berufshistoriker domestizieren und regulieren: Zeitschriften definieren die Verfahren des fachgerechten Streits, Promotionen und Habilitationen regeln praktisch die Standards hinsichtlich der Methoden, Konzepte und Themen, die im jeweiligen Historikerfeld akzeptiert werden. Entsprechend groß sind die Effekte, welche die universitären Settings für die Gewohnheiten der Berufshistoriker entwickelt haben. Dabei sind die Wechselwirkungen zwischen Ideen und Institutionen, zwischen Regeln und informellen Praktiken oft schwierig zu entdecken, grundsätzlich gehen die folgenden Ausführungen jedoch von der Hypothese aus, dass wissenschaftliche Institutionen als formende Kräfte, die eher unauffällig, aber umso dauerhafter Haltungen und Denkmuster von Wissenschaftlern prägen, für Kontinuität im Berufsalltag sorgen und damit die wissenschaftlichen Disziplinen stabilisieren. Gleichzeitig wirken Institutionen als Orte kollektiver Erinnerung, binden sie unterschiedliche Generationen von Historikern in gemeinsame Ziele und Routinen ein, schaffen sie lokale Traditionen und etablieren über mehrere Generationen von Lehrern und Schülern hinweg Gegensätze und Gegnerschaften. Trotz ihres Trägheitsmoments verhindern sie keinesfalls intellektuelle Veränderungen, aber sie nehmen den intellektuellen Revolutionen häufig viel von ihrer Radikalität.

Wie andere wissenschaftliche Berufe haben Historiker im 20. Jahrhundert sich in Form nationaler Berufsfelder organisiert. Deren Strukturen müssen genau untersucht werden, wenn man die internationale Geschichte des Faches verstehen will. Die Geschichtswissenschaft existiert de facto nur als kommunikative Vernetzung nationalstaatlich organisierter Historikerschaften: Lehrmethoden, Archivlagen, universitäre Verankerung des Faches variieren von Land zu Land, die nationalspezifischen Rahmenbedingungen wiederum prägen nachhaltig Denkstile und Habitus der Fachhistoriker. Im Folgenden werden wir dieses Ensemble von kollektiven Einstellungen, institutionellen Regelungen und Forschungsansätzen im Anschluss an die Kultursoziologie Pierre Bourdieus als Berufsfeld der Historiker oder kurz als «Historikerfeld» bezeichnen.

3. Gleichzeitig existiert die Geschichtswissenschaft nur als Teil eines größeren Wissenschaftsfeldes: universitär blieb sie eingebunden in umfassende geistes- oder sozialwissenschaftliche Fächerkonstellationen. Über ihr eigenes Studium oder aber durch kollegiale Vernetzung waren Historiker auf vielfältige Weise mit den Nachbardisziplinen und deren Fachkulturen vertraut: der Horizont reicht von den Rechts- und Staatswissenschaften, über die Literaturwissenschaften, Theologie, Philologie bis hin zu Politikwissenschaft, Ökonomie, Ethnologie oder Soziologie. Die Grenzen des Faches waren dabei immer strittig, die Einfuhr neuer Ideen und Methoden aus den Nachbardisziplinen wurde entsprechend misstrauisch überwacht. Die spezifischen Konstellationen waren und sind dabei von Land zu Land sehr unterschiedlich, generell jedoch gilt: Die Geschichtswissenschaft musste hinnehmen, dass neue, jüngere Disziplinen im 20. Jahrhundert sich neben ihr und gegen sie durchsetzen konnten und Erklärungsansprüche des Faches infrage stellten. Hier ist vor allem an die vier Disziplinen Psychologie, Soziologie, Ökonomie und Politikwissenschaften zu denken, die alle an der Jahrhundertwende ihren Siegeszug antraten. Sie haben im Verlauf der letzten 100 Jahre immer mehr Terrain erobert, wenn es darum ging, soziale Massenphänomene der Gegenwart zu erklären und Prognosen für die Zukunft zu formulieren. Die Geschichtswissenschaft hat im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu einem ganz erheblichen Maße von den Innovationen ihrer Nachbardisziplinen profitiert; aus diesem Grund muss den interdisziplinären Transfers besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Gerade in den neuesten Einführungen und Kompendien der Geschichtswissenschaft ist eine solche problemorientierte Ausweitung hin zu einem noch im Entstehen befindlichen Feld der historischen Kulturwissenschaften vollzogen worden [Daniel, Eibach/Lottes]. Die folgende Darstellung versucht dieser Dimension gerecht zu werden, indem sie gerade auch intellektuelle Grenzgänger mit in die Betrachtung einbezieht.

3. Geschichtsforschung und Politik im 20. Jahrhundert

Geschichtsforschung war im 20. Jahrhundert aufs engste verbunden mit der Entwicklung einer spezifischen Form von Staatlichkeit: dem Nationalstaat. Die große Mehrheit der Historiker arbeitete als Angestellte bzw. Beamte im öffentlichen Dienst, kümmerte sich um öffentliches Archivgut und unterlag in massivster Weise den Einflussnahmen ihres Dienstherrn. Historiker waren im 20. Jahrhundert dementsprechend vor allem Männer mit verantwortungsvollem und sorgenvollem Blick für die Interessen des eigenen Staats bzw. der eigenen Nation. Nation und Staat waren dabei keineswegs immer identisch. Wir werden sehen, in welchem Maß die Grundmuster dieser äußerst spannungsreichen Beziehung in vielen Regionen der Welt auch die Agenda der Historiker bestimmt haben. Gerade in den letzten zwei Jahrzehnten sind die Kontinuitäten staatszentrierter bzw. nationalorientierter Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung seit dem frühen 19. Jahrhundert wieder deutlich geworden [Berger/Donovan, Lönnroth/Molin, Berger 2007]. Die «Meistererzählungen» über Herkunft, Aufstieg und Fall der eigenen Nation folgen anderen Veränderungsrhythmen als die von Iggers, Rüsen und anderen rekonstruierten «Paradigmen». Wir werden die strukturellen Merkmale und langfristigen Folgen dieser engen Verzahnung von Geschichtswissenschaft und Nationsbildung in einer vergleichenden internationalen Perspektive auszuloten versuchen. Neben der Verankerung im Wissenschaftsbetrieb, konkret zumeist in Universitäten und Akademien, hat die Einbindung in Nationalkulturen die Mehrzahl der Berufshistoriker im 20. Jahrhundert am nachhaltigsten geprägt. Geschichtswissenschaft war im 20. Jahrhundert nicht nur autonome Wissenschaft, sondern zugleich auch ein wichtiges, in manchen Ländern sogar das zentrale Element der politischen Kultur; dementsprechend groß war andersherum der Einfluss politischer Ideologien auf den Wissenschaftsbetrieb. Der Blick in die Geschichte der fachlich so anspruchsvollen und methodisch vielfach vorbildlichen deutschen Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert zeigt dies in aller Schärfe. Berufshistoriker beteiligten sich an politisch-sozialen Bewegungen, engagierten sich publizistisch in den zahlreichen innen- wie außenpolitischen Konflikten, leisteten ihren spezifischen wissenschaftlichen Beitrag für ihre «Partei» in Bürgerkrieg und Krieg. Die Professionalisierung führte deshalb keineswegs überall und automatisch zu größerer Selbständigkeit gegenüber politischen Tagesmeinungen und kollektiven Leidenschaften. Die Selbstmobilisierung von Historikern für die politischen Tagesziele von Parteien oder die Interessen der eigenen Nationen gehört in diesen Kontext.

Daneben bezeichnen aber Kontrolle und Zensur, Verfolgung und Vertreibung die anderen, noch elementareren Gefährdungen historischer Forscher in vielen Ländern und Regimen während des 20. Jahrhunderts [De Baets]. Angesichts der zentralen Bedeutung radikaler politischer Ideologien und diktatorialer Regime muss eine Geschichte der Geschichtswissenschaft sich auch der Herausforderung stellen, die Fachentwicklung dieser kontrollierten, «gebundenen» Historikerfelder einzubeziehen. Die Differenz in den Arbeitsbedingungen und vor allem in den Artikulationsmöglichkeiten von Historikern in Diktatur und Demokratie, aber auch die mühsam errungenen Geländegewinne fachlicher Autonomie gegenüber den Zugriffen und Ansprüchen der Politik gehören zu den zentralen Themen einer internationalen Geschichte des Faches.

4. Leitthemen: Internationalisierungstendenzen im Fachbetrieb

Das politische und kulturelle Gewicht der eigenen Nation für Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung hat dazu geführt, dass die meisten Fachhistoriker vorrangig auf nationaler Ebene über nationale oder lokale Themen publizierten. Die meisten Veröffentlichungen von Historikern erscheinen bis heute in den jeweiligen Landessprachen; nur in begrenztem Maße haben sich Englisch, Französisch und Deutsch als internationale Sprachen im Fach etablieren können, am Ende des 20. Jahrhunderts hat sich allein das Englische als weltumspannende lingua franca behauptet, ohne dass jedoch das Gewicht der Nationalsprachen für die meisten Fachpublikationen ernsthaft zurückgegangen wäre. Übersetzungen sind bis heute das zentrale Medium der fachlichen Internationalisierung geblieben. Erst in Übersetzungen in die jeweiligen nationalstaatlichen Verkehrssprachen erreichen fremde Klassiker, neue Entwürfe und große Modelle ihre Wirkung, erst durch Aneignung und Rückübersetzung in Antworten für eigene, meist nationalgeschichtlich ausgerichtete Fragestellungen bzw. als Argumente für eine Kontroverse mit wissenschaftlichen und/oder politischen Gegnern unter den Kollegen im eigenen Land bzw. im eigenen Sprachraum entfalten sie ihre Wirkung. Die folgende Darstellung über Grundprobleme und Hauptströmungen wissenschaftlicher Geschichtsschreibung geht also von der Beobachtung aus, dass nach den europäischen und atlantischen Anfängen im 19. Jahrhundert erst im 20. Jahrhundert der Nationalstaat international zum wichtigsten organisatorischen Rahmen und seine Geschichte der mit Abstand meistbehandelte Gegenstand historischer Forschung wurde.

Angesichts dessen mutet es paradox an, dass sich die intellektuellen Tendenzen, die kommunikativen Verbindungen und schließlich auch die fachlichen Standards der wissenschaftlichen Disziplin immer stärker in Richtung auf globale Vernetzungen und wachsende Zusammenarbeit von Spezialisten über Ländergrenzen hinweg verändert haben. Diesem Zusammenhang gilt das besondere Augenmerk dieser Darstellung. Mit der globalen Diffusion einer nationalzentrierten Geschichtswissenschaft hat sich zugleich auch die wachsende Internationalisierung des Faches fortgesetzt. Transnationale Kooperationen von Spezialisten haben die nationalen Historikerfelder immer stärker miteinander verknüpft. Auch dieser für alle Wissenschaften im 20. Jahrhundert grundlegende Prozess war im Fall der Geschichtswissenschaft sehr stark beeinflusst durch politische Ereignisse. In der Zwischenkriegszeit haben die Emigrationswellen von Historikern vor den Diktaturen in Ost-, Mittel- und Südeuropa den Transfer von Ideen beschleunigt, in den sechziger und siebziger Jahren haben die studentischen Protestbewegungen für die schnelle Zirkulation neuer Ideen und für die internationale Verbreitung vor allem neo-marxistischer Konzepte gesorgt. Im Ergebnis bleibt festzuhalten: Selbstverständnis und Berufspraxis von Historikern verschiedener Länder und Kontinente haben sich im Verlauf der letzten 120 Jahre einander angenähert. Zwar prägen nach wie vor ganz unterschiedliche Lebens- und Sinnwelten, verschiedenartige materielle Arbeitsbedingungen den Alltag von Berufshistorikern, doch folgen sie in überraschendem Maße den gleichen Regeln bei der Erzeugung ihrer wissenschaftlichen «Tatsachen», bei der methodisch abgesicherten (Re)-Konstruktion der Vergangenheit. Dieser immer noch zunehmende Konsens über die Mindeststandards ist begleitet von einem anhaltenden Streit darüber, welche Konzepte und Methoden denn den größten Erfolg versprechen, die wissenschaftliche «Wahrheit» am besten befördern, welche für das Verständnis und die praktische Bewältigung der Gegenwart angemessen seien [Torstendahl 1996]. Zunächst der Nationalismus, dann der Marxismus in seinen unterschiedlichen Varianten, die Ideen der Annales-Strömung, die feministische Kritik männerzentrierter Geschichtskonstrukte oder die Kritik an nationalen bzw. imperial-kolonialen Fortschritts- und Siegergeschichten sind die auffälligsten Beispiele für solche Formen intellektueller Vernetzung mit weltumspannender Tendenz.

Die Internationalisierung von Fachkommunikation und Forschungspraxis der Geschichtswissenschaft war aufs engste verbunden mit dem Export westlicher Modelle und Organisationsformen höherer Bildung und Wissenschaft rund um die Welt. De facto schuf die Errichtung von weiterführenden Schulen und Universitäten, von Forschungsinstituten und wissenschaftlichen Akademien in den meisten Staaten der Welt Mindestvoraussetzungen für die Ausbreitung einer verwissenschaftlichten Aneignung der Vergangenheit in Händen von Berufshistorikern. Damit einher ging und geht der Export westlicher Modelle historischen Wissens, die sich gegen ältere Formen von Gelehrsamkeit und Geschichtswissen durchzusetzen versuchten. Die Kritik an imperialistischen, eurozentrischen Fehldeutungen fremder Vergangenheiten ist deshalb ein wesentlicher Bestandteil einer Wissenschafts- und Kulturgeschichte dieses Exports von Wissenschaft und Bildung westlichen Musters geworden. Transkulturelle Verständigung, Kolonialismuskritik und die Formulierung eigenständiger, post-kolonialer Konzepte und Positionen gehört denn auch zu den wichtigsten Themen der Historiographiegeschichte am Beginn des 21. Jahrhunderts.

5. Aufbau und Auswahl

Der Kreis der Themen und Probleme ist sehr weit, entsprechend schwierig ist die Auswahl dessen, was überhaupt in einer Überblicksdarstellung zur Sprache kommen soll. Zwangsläufig wird dabei mehr von übergreifenden Prozessen und Strukturen, von international verbreiteten Ideen und Diskursen die Rede sein, als es angesichts der nationalen Verfasstheit der Historikerfelder gut ist. Dieses Verfahren erscheint mir legitim, weil die nationalen Entwicklungen bereits mit Abstand am besten dokumentiert sind, andererseits die internationale Geschichte des Faches aber mehr ist als die Aneinanderreihung nationaler Disziplingeschichten. Leser, die weitere Informationen zu den Historikerfeldern einzelner Länder oder Regionen suchen, finden Literaturhinweise über die im Text genannte und am Ende dieses Buches aufgelistete Grundlagenliteratur hinaus auf der Homepage des Verlags C.H.Beck (http://www.raphael.beck.de) und des Autors an der Universität Trier (http://www.unitrier.de/uni/fb3/geschichte/raphael/geschichtswissenschaft.pdf) Das gleiche gilt für die umfangreiche internationale Spezialliteratur zu den einzelnen Kapiteln. Wer über die Literaturhinweise am Ende dieses Buches hinaus Anregungen sucht, wird hier ebenfalls fündig.

Als Gegengewicht zur Vogelperspektive dieses internationalen Überblicks sind die Kurzporträts einzelner Werke gedacht. Sie stehen exemplarisch für die breiteren Strömungen und Tendenzen, in deren Zusammenhang sie vorgestellt werden. Die Präsentation wichtiger Einzelwerke trägt auch der Tatsache Rechnung, dass im Fach Geschichte solche konkreten exempla mehr Wirkung entfalten und mehr Beachtung gefunden haben als «paradigmatische» Ideen. Das Urteil der Fachwelt über diese Werke ist keineswegs immer einhellig. Neben «Klassikern», über deren Bedeutung fast einhelliger Konsens herrscht, sind auch Werke ausgewählt worden, die in besonderem Maß charakteristisch für die jeweilige Tendenz sein sollen. Grundlage der Auswahl war aber mein subjektives Urteil, dass es sich um herausragende Forschungsleistungen und Darstellungen handele. Damit sollen die spezifischen Stärken der unterschiedlichen Ansätze und Strömungen in der tendenziell immer vielstimmigeren und komplexeren Geschichtswissenschaft dem Leser konkret vor Augen geführt werden.

Eine letzte Warnung sei an alle Kollegen gerichtet: Die folgende Darstellung nennt nur sparsam die Namen von Titeln und Autoren. Angesichts der enormen Ausbreitung fast aller Historikerfelder im Verlauf des 20. Jahrhunderts würden umfangreiche Listen einschlägiger Forschungsarbeiten einfach das hier gewählte Buchformat sprengen. Auf internationaler Ebene bieten inzwischen hervorragende biographische Lexika angemessenen Ersatz [Boyd, Boia, Vom Bruch, Cannon, Reinhardt]. Bei der Auswahl der wenigen, die namentlich erwähnt werden, hat der subjektive Faktor wieder eine nicht unwesentliche Rolle gespielt. Jeder Leser wird entsprechend seiner Vorlieben und Kenntnisse Ergänzungen und Korrekturen vornehmen.

Die folgende Darstellung kombiniert sachliche und chronologische Gesichtspunkte. Die Kapitel 2 und 3 präsentieren die Institutionen und Strukturen, welche die Welt der Berufshistoriker in den letzten 100 Jahren nachhaltig geprägt haben. Die zwei folgenden Kapitel geben einen Überblick über die wichtigsten neuen Trends in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im sechsten und siebten Kapitel werden mit Marxismus und Annales-Historiographie die beiden international einflussreichsten Strömungen der Geschichtswissenschaft in der 2. Hälfte des Jahrhunderts dargestellt. Ihre Kenntnis ist grundlegend für das Verständnis der langfristigen Forschungstendenzen in den verschiedenen Unterdisziplinen des Faches. Mit der Geschichte der Internationalen Beziehungen, der Kultur- und Ideengeschichte, der Sozialgeschichte und schließlich dem Feld universalgeschichtlicher Forschungen sind vier Felder ausgewählt worden, welche für die gegenwärtige Geschichtswissenschaft von besonderem Interesse sind. Die Kapitel 12 bis 15 widmen sich schließlich den Veränderungen der letzten drei Jahrzehnte. Dieser Zeitraum steckt wissenschaftsgeschichtlich den engeren zeitlichen und sachlichen Horizont der meisten aktuellen Kontroversen und Diskussionen ab. Mit den Umbrüchen und Neuorientierungen um 1970 beginnt die unmittelbare «Zeitgeschichte» des heutigen Faches. Dementsprechend konzentriert sich die Auswahl in diesem Fall auf Bereiche, in denen diese Veränderungen am deutlichsten zutage getreten sind und welche der gegenwärtigen Forschungslandschaft eine deutlich andere Prägung verliehen haben, als es die vielen Faktoren der Kontinuität seit 1900 hätten erwarten lassen.

* Die kursiv gesetzten Autorennamen im Text verweisen auf die Literaturverzeichnisse am Ende des Buches. Namen in runden Klammern finden sich im Verzeichnis der Werke, solche in eckigen Klammern im Verzeichnis der Sekundärliteratur aufgeschlüsselt.

II
Das Berufsfeld des Historikers im 20. Jahrhundert

Professionalisierung, Verberuflichung im Zeichen der Verwissenschaftlichung, bezeichnet jenen Basisprozess, dessen globale Diffusion im 20. Jahrhundert überhaupt erst die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, von einer internationalen Geschichtswissenschaft zu sprechen. Bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts können in universalhistorischer bzw. kulturvergleichender Perspektive bestenfalls kulturell sehr unterschiedliche Tradierungsformen der Vergangenheit mit ihren spezifischen Varianten historischer Gelehrsamkeit und Überlieferungskritik miteinander verglichen werden. Die weltweite Verbreitung des europäischen Wissenschaftsmodells hat eine ganz neuartige Situation heraufbeschworen: Erstmals hat sich über kulturelle Grenzen und die Differenz politischer Regime hinweg ein Set von Institutionen und Verhaltensregeln ausgebreitet, welche der Berufstätigkeit von Historikern ein überall erkennbares gemeinsames Profil aufprägen. Dieses Grundmuster konfrontiert jeden Vertreter dieser Disziplin und jedes nationalstaatliche Berufsfeld mit einem Ensemble von internationalen Mindeststandards, von dem sie zwar abweichen können, dessen Geltungsansprüche sich aber trotz zahlreicher politischer und weltanschaulicher Eingriffe in die Berufswelt von Historikern im Lauf des 20. Jahrhunderts immer weiter durchgesetzt haben. Mit der Etablierung historischer Forschung als Routinetätigkeit von Berufshistorikern sind die Gesellschaften der Historiker anders geworden als die für die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts noch typischen Clubs von Gelehrten, Publizisten, Politikern oder Amateurforschern, die mehr oder weniger lose durch gemeinsame Werthaltungen und eine gemeinsame Leidenschaft für die Geschichte miteinander verbunden waren. Dort, wo wie in China und Japan die Fachgelehrten und Geschichtsschreiber bisher zumeist in direktem Auftrag des Staates bzw. des Herrscherhauses arbeiteten, veränderten sich die methodischen Regeln und die Auswahlkriterien des Wissens so stark, dass auch in diesen Ländern keine ungebrochene organisatorische Kontinuität zur Berufswelt des Historikers im 20. Jahrhundert zu beobachten ist.

Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden aus solchen von Männern dominierten Netzwerken gelehrter Geschichtsforscher hierarchisch gegliederte Gesellschaften von Experten, in denen schließlich nur noch die wissenschaftlich nach dem Modell westlicher Universitäten ausgebildeten Berufshistoriker volles Bürgerrecht genossen. Damit einhergehend hat die scientific community ein immer größeres Gewicht für die Entwicklung von historischen Ideen, Stil und Inhalt der einzelnen Werke oder die Sichtweisen jedes einzelnen Historikers gewonnen. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass Geschichtsforschung und -darstellung immer stärker zu arbeitsteilig organisierten Unternehmungen geworden sind. Deren Organisationsformen prägen die Aufmerksamkeitsregeln, Arbeitsweise und Präsentationsformen aller vernetzten Fachvertreter. Wichtige intellektuelle Impulse konnten damit nur noch forschungspraktische Erfolge haben, wenn sie mit diesen Formen in Übereinstimmung zu bringen waren oder aber ihrerseits zu institutionellen Reformen führten [Torstendahl/Veit-Brause].

1. Die institutionellen Rahmenbedingungen: Universitäten, Akademien, Bibliotheken und Archive

Die Professionalisierung der Geschichtsforschung geschah in Europa im Gefolge der Universitätsreformen im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert. Deren weltweite Ausbreitung blieb auch im 20. Jahrhundert aufs engste verknüpft mit der Übernahme des westlichen, zunächst europäischen, dann nordamerikanischen Universitätsmodells als wichtigster Vermittlungsinstanz historischen Wissens. Im letzten Drittel kam es in den meisten europäischen Ländern, aber bereits auch in Japan, Indien und den größeren Staaten des amerikanischen Kontinents, voran den USA, zur Gründung von Lehrstühlen für Geschichte, bald gefolgt von Forschungseinrichtungen (Instituten, Seminaren) und ersten Fachzeitschriften [Lingelbach, Weber 2002]. Im 20. Jahrhundert setzte sich dann weltweit der Siegeszug dieses Organisationsmodells fort. In Lateinamerika erstreckte sich dieser Professionalisierungsprozess über fast vierzig Jahre (1895–1935). In China vollzog sich der Wechsel von den Traditionen konfuzianischer Geschichtsschreibung und Quellenforschung zum westlichen Modell innerhalb von zwanzig Jahren nach dem Sturz des letzten Kaisers und stand ganz ähnlich wie im Fall Japans im Zeichen der nationalen Selbstbehauptung angesichts der westlichen Herausforderung. In beiden Fällen wurden die neugegründeten Universitäten in Tokyo und Peking sowie in den anderen Metropolen des Landes zu wichtigen Zentren einer neuartigen Geschichtsauffassung mit neuen Methoden und Konzepten [Mehl, Wang 2001, Conrad]. In den Fällen Japans und Chinas zeigte sich frühzeitig die Attraktivität des westlichen Universitätsmodells für eine Wissenschafts- und Kulturreform, welche aufs engste mit dem Ziel nationaler Erneuerung bzw. Befreiung verknüpft war. Das in China und Japan beobachtbare Grundmuster tritt dann auch in den Ländern hervor, welche in direkte koloniale Abhängigkeit von westlichen Mächten geraten waren. Hier war die Gründung von Colleges bzw. Universitäten zunächst Teil der Kolonialisierung und geprägt von westlichem Kultur- und Wissensexport. In Indien, dann 50 Jahre später in den afrikanischen Staaten wurden die neuen Universitäten rasch zu Zentren einer Geschichtsforschung mit antikolonialer, nationaler Zielrichtung, die mit den Methoden der neuen Disziplin die Perspektivverengungen der europäischen Historiographie über das eigene Land bzw. die gesamte Region kritisierte und korrigierte [Eckert 1999, Sarkar]. In Indien z.B. gewann dieser Prozess mit dem Ausbau des Universitätssystems in den einzelnen Bundesstaaten nach der Unabhängigkeit 1947 an Breite und regionaler Verankerung. In den afrikanischen Staaten kam es erst nach dem Zweiten Weltkrieg und in viel bescheidenerem Umfang zur Gründung entsprechender Hochschuleinrichtungen, so dass sich erst in der Phase der Staatsgründungen um 1960 sowie in den anschließenden zwei Jahrzehnten eine universitäre Forschung und Lehre im Fach Geschichte etablierte. Zeitlich parallel, aber strukturell ganz anders gelagert ist wiederum die Gründung von Universitäten westlichen Typs in den islamischen Ländern. Die Universitäten Beirut und Kairo wurden zu wichtigen Zentren für die gesamte arabischsprachige Welt, in den 60er Jahren etablierten sich jedoch gestützt auf eigene Universitäten mit entsprechenden Studiengängen nationalstaatliche Historikerfelder nach westlichem Muster, welche vor allem für die Ausbildung von Geschichtslehrern in den staatlichen Schulen verantwortlich waren. Typisch für die islamischen Staaten blieb jedoch die Konkurrenz zwischen diesem Organisationsmodell und der traditionellen Ausbildung von Historikern an islamischen Rechtsschulen und theologischen Fakultäten. Dieses Nebeneinander der Institutionen war zugleich verbunden mit der Konkurrenz unterschiedlicher Modelle historischen Wissens und des Historikerberufs: Die Bindung an die religiöse Überlieferung und die Parteinahme für die eigene religiöse Gemeinschaft standen und stehen im Gegensatz zu einer säkular nationalstaatlichen Orientierung, aber auch im Spannungsverhältnis zur historisch-kritischen Methode der westlichen Richtungen [Freitag 1999]. Die universitäre Verankerung des Historikerberufs ist aufs engste verknüpft mit dem Ausbau von Schulen und Hochschulen. Wenn auch in unterschiedlichem Umfang lässt sich weltweit beobachten, wie Geschichte zu einem Kernfach im Programm weiterführender Schulen und damit die Ausbildung von Geschichtslehrern ein wichtiger Teilauftrag für Universitätsdozenten des Fachs wurde. Entsprechend nah folgte das Wachstum der nationalen Berufsfelder den Trends der jeweiligen Bildungssysteme. Global lässt sich eine Phase verhaltenen, langsamen Wachstums von Stellen und Fachpersonal bis zum Zweiten Weltkrieg beobachten. Die weltweiten Bemühungen um eine Demokratisierung des Bildungssystems im Zeichen von «Chancengleichheit» und «Modernisierung» ließen dann seit den 50er Jahren fast alle nationalen Historikerfelder deutlich schneller als in der Vergangenheit wachsen, in den 60er und 70er Jahren kam es zu einem regelrechten Boom.

Am Ende des 20. Jahrhunderts ist dieser globale Trend zum Stillstand gekommen, die einzelnen Historikerfelder haben in den letzten beiden Jahrzehnten ganz unterschiedliche Konjunkturen durchlaufen, in Afrika sowie in den früheren sozialistischen Ländern kam es zu regelrechten Krisen, in denen zahlreiche Historiker ihren Beruf aufgeben mussten. Mit den Universitäten kam in das neue Berufsfeld auch ein Element lokaler bzw. regionaler Verankerung, das sich in der Ausbildung spezifischer lokaler Traditionen und Schulbildungen niedergeschlagen hat. Die deutsche oder amerikanische Geschichtswissenschaft etwa wurden nachhaltig geprägt von der Binnenkonkurrenz in einem pluralistischen Universitätssystem mit stark konturierter regionaler Verankerung. Der universitäre Wettstreit zwischen München, Berlin, Bielefeld oder Tübingen, zwischen Chicago, Columbia, Berkeley oder Harvard hat wichtige organisatorische Grundlagen geschaffen für innerfachliche Pluralität. Dasselbe Muster lässt sich aber auch in Nigeria beobachten, wo die zunächst dominierende britisch geprägte «Ibadan-Schule» Konkurrenz durch die islamisch geprägten Historiker der Universität Kano und die vielen nach 1971 gegründeten regionalen Universitäten erhielt. Gerade angesichts der starken Tendenzen innerhalb der national verfassten und nationalgeschichtlich zentrierten Historikerfelder zu Konformität stellt die universitäre Form ein wichtiges Gegenelement dar, welches immer wieder die Meinungsvielfalt des Faches gestärkt hat.

Eine Erbschaft des 19. Jahrhunderts ist schließlich in den meisten europäischen Ländern auch noch die Konkurrenz zwischen Universität und Akademie als Organisationsformen wissenschaftlicher Forschung. Die Akademien waren in vielen Staaten Europas früher als die Universitäten mit der Sammlung und Edition von Quellen, aber auch mit der Organisation langfristiger Forschungsvorhaben betraut. Daraus hat sich in den meisten europäischen Ländern im Lauf des 20. Jahrhunderts eine Forschungslandschaft entwickelt, in der Akademien und Hochschulen nebeneinander existierten. Dabei wurden in den nichtsozialistischen Ländern Europas, aber auch in Lateinamerika die älteren Akademien in der Regel als komplementäre Zentren historischer Forschung, besonders aber als Träger langfristiger Editionsprojekte in ein dominant universitäres Berufsfeld integriert. Anders hat sich dieser Dualismus im Osten Europas entwickelt: Hier wurden nach 1945 die traditionsreichen nationalen Akademien (z. B. Budapest 1825 gegr., Prag 1891 gegr.) nach sowjetischem Vorbild als Zentren einer neuen marxistischen Geschichtswissenschaft ausgebaut. Als zentrale Einrichtungen der historischen Forschung beschäftigten die Akademien bis zum Ende der sozialistischen Regime einen wachsenden Anteil von Berufshistorikern und gewannen in einigen Ländern sogar das Recht, unabhängig von den Universitäten Diplome zu verleihen und den eigenen Nachwuchs auszubilden. Als hierarchisch gegliederte, zentralisierte Institutionen waren die historischen Institute der Akademien als Instrumente politischer Steuerung und parteiamtlicher Kontrolle historischer Forschung aufgebaut und gefördert worden. Angesichts der ungelösten Spannung zwischen den Mindeststandards des Faches und den Ansprüchen der Regime auf Herrschaftslegitimation durch konforme Geschichtsbilder entwickelten sich auch in diesen Organisationen Nischen autonomer Forschung und Verfahren professioneller Gegenwehr.

Schließlich gehört zu den unabdingbaren Existenzbedingungen der Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert ein funktionierendes Bibliotheks- und Archivsystem. Beide bilden eine wissenschaftliche Infrastruktur, deren Mängel oder gar Fehlen nur mit hohem Einsatz an Energie, Zeit und Engagement ausgeglichen werden konnten und können, so dass vielfach der Schlüssel zum Erfolg nationaler Historikerfelder – gemessen an der internationalen Anerkennung ihrer Vertreter, aber auch an der Wertschätzung in den nationalen Geschichtskulturen – im Zustand und in der Zugänglichkeit dieser elementaren Ressourcen historischer Forschung gefunden werden kann. Während die meisten europäischen Staaten bereits im 19. Jahrhundert begonnen hatten, ein tiefgestaffeltes, in der Regel bis auf die lokale (kommunale) Ebene reichendes öffentliches Archivsystem aufzubauen, dessen Verwaltung in den Händen von historisch ausgebildeten Fachleuten lag, gehörte der Aufbau entsprechender nationaler bzw. regionaler Archive zu den wichtigsten wissenschaftspolitischen Aufgaben in der Gründungsphase der meisten außereuropäischen Historikerfelder. Gleiches gilt für die wissenschaftlichen Bibliotheken. Im islamischen Kulturraum etwa gewann die Sammlung und Zusammenführung von Handschriften eine ganz zentrale Bedeutung, war sie doch die notwendige Voraussetzung für ehrgeizige Editionsvorhaben, welche gerade den Reichtum der islamischen historiographischen Tradition und darüber hinaus der gesamten Wissenschaften dokumentieren sollten und entsprechende kulturpolitische Prioritäten besaßen [Freitag 1999].