Ein Jahrtausend und dreißig Jahre
Geschichte meines Landes
C.H.Beck
Wie sagt ein ungarisches Sprichwort: «Außerhalb von Ungarn gibt es kein Leben; und wenn, dann ist es nicht dasselbe.» Der Schriftsteller György Dalos fängt die Essenz des ungarischen Lebens ein, wenn er die weit über 1000jährige Geschichte seines Heimatlandes überblickt. Was prägte die Ungarn? Was waren die zentralen historischen Erfahrungen der Bewohner eines Landes, das immer wieder erobert, zerstückelt, beherrscht und fremden Zielen unterworfen wurde? Ursprünglich ein aus Asien stammendes Nomadenvolk mit seiner magyarischen Sprache, die der Familie der finnisch-ugrischen Sprachen angehört, am Ende des 1. Jahrtausends christianisiert und unter Stephan dem Heiligen bestrebt, Anschluß an die westeuropäische Kultur zu finden, führten die Ungarn über Jahrhunderte hinweg einen Abwehrkampf gegen Mongolen, Türken und schließlich auch gegen die Habsburger, die die Ungarn erst 1918 in die Unabhängigkeit entließen. Zur Zeit mühen sich die freiheitlich und demokratisch gesinnten Ungarn, ihre Unabhängigkeit gegenüber ihrem Ministerpräsidenten Viktor Orbán zu bewahren.
György Dalos, in Budapest geboren, lebt heute als freier Schriftsteller in Berlin. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter 1995 mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis, 2000 mit der Goldenen Plakette der Republik Ungarn und 2010 mit dem «Preis der Leipziger Buchmesse zur Europäischen Verständigung». Bei C.H.Beck liegen von ihm vor: 1956. Der Aufstand in Ungarn (2006); Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa (2010); Gorbatschow. Mensch und Macht. Eine Biografie (2011); Lebt wohl, Genossen! (2011); Der letzte Zar (22017); Für, gegen und ohne Kommunismus. Erinnerungen (2019); Geschichte der Russlanddeutschen (32020).
Für Elsbeth Zylla in Berlin
Was in diesem Land einmal war, kann niemals gänzlich vergehen. Hier gibt es alles von alters her, und was es gibt, ist schlecht. Gewohnheit wird Unterwürfigkeit, die Revolution Traumtänzerei, ein Freudenfest Zechgelage genannt. Es schneit, wenn es besser nicht schneien sollte. Oft verwirrt sich der Wind wer weiß, wohin, und wenn er endlich wieder auftaucht, reicht sein Schuldbewußtsein nur dazu, uns den Staub der Geschichte in die Augen zu blasen. Kein Wetter kann hierzulande so viel Schaden anrichten, daß nicht doch wieder ein guter Tag darauf folgen würde.
László Darvasi: Die Legende von den Tränengauklern. Roman. Frankfurt/M. 2001.
Einleitung
I. Blutige Anfänge
Phantombilder und Eigenbild. Die Landnahme
Die Streifzüge
Die «Trauerungarn» – eine rechtzeitige Lehre
Europa als Herausforderung
Der Traum des Papstes. Der heilige König
Die Ausländer
Risikofaktoren
Der Sinn des ungarischen Urchaos
Der Heilige und der Bücherfreund
Ismaeliten und Israeliten
Ungarn als Reiseziel im Mittelalter
Heidnisch und Lateinisch
Höfisches Trauerspiel
Mongolen in Ungarn
Das Ende des Hauses Árpád
Zwischen Buda und Neapel: Das Haus Anjou
János Hunyadi
Matthias oder die verkleidete Gerechtigkeit
Die Einsamkeit des Humanisten
Die Einsamkeit des Machthabers
Der brennende Thron
Mohács als Metapher für den nationalen Tod
Was geschah wirklich?
Der Tag
II. Fremdherrschaften
Das gespaltene Land
Die Randburgen als Hoffnungsschimmer
Der europäische Kontext I
Das Jahrhundert Siebenbürgens
Helden und Opfer
Das letzte Aufgebot: Das Fußvolk des Fürsten
Das Jahrhundert der Habsburger
Die mütterliche Königin
«Der wohlwollende Despot»
Herders Prophezeiung
Verschwörer
Ein Nebenschlachtfeld: Literatur und Sprache
Der europäische Kontext II
Die Reformlandtage
Der ungarische Vormärz
Die Märzrevolution
Der Revolutionsführer
Der europäische Kontext III (Wie Kossuth es sah)
III. Zwischen Frieden und Kriegen
Die heile Welt des Dualismus
Der europäische Kontext IV
Rausch und Katzenjammer
Die bürgerliche Revolution
Die Räterepublik als Verzweiflungsakt
Die Gegenrevolution und der Frieden von Trianon
Der europäische Kontext V (Die Revisionsfalle)
Der Weg in den Abgrund
Die beiden Katastrophen: Krieg und Holocaust
Zwei Gestalten
IV. Ungarn in der Nachkriegszeit
Von der Republik zur Volksrepublik
Der klassische Terror in Ungarn
Die Kulturrevolution
Die Stunden der Wahrheit
Der Volksaufstand
Der europäische Kontext VI
Die Ära Kádár: Peitsche und Zuckerbrot
Die sechziger Jahre
Der «neue Wirtschaftsmechanismus»
Die Krise
Dissidenten und Reformer
Die Agonie
Der Systemwechsel
Der verlorene Konsens
Ungarn im Umbruch
V. Demokratie in der Probezeit (2006–2012)
Die Ausgangslage
Die «Lügenrede» des Ferenc Gyurcsány
Ein böses Omen
Die Spätfolgen der Gyurcsány-Rede
Der Sturm des Fernsehgebäudes
Die Taktik des Fidesz
Tag des Zorns
Ungarische Roma und ihre Gegner
Virtueller und realer Faschismus
Der Spießrutenlauf der linken Koalition
Das letzte Gefecht
«Die Revolution der Wahlkabinen»
Die ersten Konflikte
Der europäische Kontext
VI. Die Ära Orbán (seit 2012)
Die Ausgangslage
Die Wende in der Wende – das Jahr 2015
Die Suche nach dem Feind
Die parlamentarische Opposition
Krieg gegen die NGOs
Die Kampagne gegen den «Soros Plan»
Ungarn als Migräne Europas
Die Ära Orbán
Der europäische Kontext
Literatur (Auswahl)
Dramatis personae
Obwohl ich über ein Diplom als Historiker verfüge, bin ich kein Wissenschaftler, sondern Schriftsteller. Dennoch pflege ich, ähnlich wie viele meiner Landsleute, eine besondere Beziehung zur Geschichte, vor allem derjenigen Ungarns. Historie war für meine Generation niemals ein veralteter Lehrstoff; vielmehr trugen wir sie als Update-Programm auf unserer geistigen und seelischen «Festplatte», spürten ihre Auswirkungen an der eigenen verwickelten Laufbahn. Man könnte sagen, wir lebten und leben in Interaktion mit der Vergangenheit.
Für mich als einen aus der schreibenden Zunft ist die Geschichte zudem ein unerschöpfliches Märchen, das nie langweilig wird und in dem sich die Zuhörer wiedererkennen. Mit diesem Buch will ich die gut tausend Jahre meines Landes als eine kollektive Biographie erzählen. Ungarns Werdegang vom Ende des 9. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts ist eine der spannendsten Episoden der europäischen Sage: ein unaufhörliches Ringen um die Selbstbehauptung zwischen Ost und West, Heidentum und Christentum, Verzweiflung und Hoffnung, Provinzialität und Weltoffenheit, Tradition und Moderne – ein für die ungarische Kultur höchst produktiver innerer Zwist.
Die Ungarn verspürten schon immer – womöglich aufgrund ihrer sprachlichen Isolation – ein ständiges, erhöhtes Bedürfnis, sich der übrigen Welt mitzuteilen. Kein Wunder, daß das Verb «erklären», «klarmachen» in unserer Sprache «magyarázni» heißt, was laut wortgetreuer Übersetzung «ungarisch machen» bedeutet. Seit ungefähr fünfundzwanzig Jahren, seit ich im deutschen kulturellen Raum präsent bin, bewegt mich der hartnäckige Wunsch, die Welt, die mich entscheidend geprägt hat, jener anderen, in der ich heute lebe, jenseits semantischer Barrieren «ungarisch zu machen». Unabhängig von meiner privaten Leidenschaft ist eine derartige Vermittlung jetzt vielleicht auch nützlich. Zu dem Zeitpunkt, da dieses Buch erscheint, sind zehn Millionen Ungarn bereits Bürger der EU.
Berlin, im Herbst 2003
Seit dem Erscheinen der ersten Auflage meines Buches sind 17 Jahre vergangen; inzwischen hat es noch zwei weitere Auflagen erlebt. Doch die Veränderungen in meinem Heimatland seit dem Beginn der «Ära Orbán» haben mich gezwungen, die Gesamtdarstellung nicht nur ein wenig zu überarbeiten und zu aktualisieren, sondern die besorgniserregenden Prozesse während der letzten Jahre der ungarischen Geschichte in dieser erweiterten Neuauflage genauer in den Blick zu nehmen.
Berlin, im Frühjahr 2020 György Dalos
Eine der frühesten schriftlichen Erwähnungen der Ungarn bezieht sich auf die Jahre um 870 unserer Zeitrechnung. Der persische Chronist Dshaihani berichtet über sie Folgendes: «Die Ungarn sind eine Art der Türken. Ihr Anführer reitet mit 20 000 Kriegern aus. Der Name ihres Anführers lautet Kende. Dies ist jedoch nur der nominelle Titel ihres Königs, da derjenige, der als König über sie herrscht, Gyula genannt wird. (…) Die Ungarn haben Zelte (gewölbte Jurten) und ziehen mit dem sprießenden Gras und der grünen Vegetation. Ihr Reich ist ausgedehnt (…) Eine Grenze ist das Meer von Rum [das Schwarze Meer], in das zwei Flüsse münden. Ihre Wohngebiete liegen zwischen diesen beiden Flüssen [gemeint sind vermutlich die Wolga und der Don]. Nahen sich die Wintertage, ziehen sie näher an jenen Fluß, in dessen Nähe sie sich gerade befinden. Dort bleiben sie den Winter über und fischen. Der Winteraufenthalt ist dort für sie angenehmer.»
Die als Feueranbeter geschilderten «Türken» – sie werden erst später als «Oguren», «Ugren» oder «Magyaren» identifiziert – sind zu dieser Zeit, wie alle Stämme des Ostens, unterwegs. Sie kommen aus dem Gebiet zwischen der nördlichen Wolga und dem Ural, lassen sich zunächst in der geographisch oben umrissenen Lebedia nieder und ziehen bald nach Etelköz (Zwischenstromland) am Dnjepr und Prut weiter, um von dort aus endgültig in das Karpatenbecken zu gelangen.
Die Schilderung des Persers Dshaihani ist ebenso eine Momentaufnahme wie diejenige des Arabers Ibn Rusta, der die Ungarn allerdings auf einer höheren Stufe der Zivilisation sieht: «Wenn die Ungarn in Kertsch ankommen, halten sie mit den ihnen entgegenkommenden Byzantinern einen Markt. Sie verkaufen ihnen Sklaven und kaufen byzantinischen Brokat, Wollteppiche und andere byzantinische Waren. Die Ungarn sind ansehnlich und schön anzusehen. Ihre Kleidung ist aus Brokat. Ihre Waffen sind mit Silber beschlagen und mit Perlmutt ausgelegt.» Merken wir uns diese Worte, denn sie bleiben für lange Zeit die letzten, in denen das kleine Nomadenvolk halbwegs lobend erwähnt wird.
Die Ungarn gehörten damals zu den zahlreichen Volksstämmen der Region, die sich ständig auf der Flucht befanden. Sie flüchteten voreinander, vor dem Hunger, vor der Kälte, der Hitze und dem Untergang. Der letztere holte dann die meisten doch ein. Fast alle Protagonisten der Völkerwanderung – Chasaren, Kabaren, Sawarden, Petschenegen sowie die damaligen Bulgaren – überlebten diesen dramatischen «struggle for life» nicht und haben sich bestenfalls in der historischen Überlieferung – wohl in den Namen einiger Siedlungen – erhalten. Die Vertreter der großen Kulturnationen – Araber, Perser und Byzantiner – blickten auf sie mit einer Mischung aus Neugier und Befremdung herab.
Für den byzantinischen Kaiser Leo den Weisen verkörperten die Ungarn anno 904 den Inbegriff der militärisch organisierten Barbarei. In seiner Taktik widmet er ihnen ein ganzes Kapitel: «Die Stämme der Ungarn sind Späher und verhehlen ihre Absichten, sind unfreundlich und unzuverlässig, und da sie einen ständigen Drang nach Reichtümern verspüren, brechen sie den Eid, halten auch keine Verträge, geben sich auch mit Geschenken nicht zufrieden, sondern bevor sie das Gegebene annehmen würden, zerbrechen sie sich den Kopf über Arglist und Wortbruch. (…) Geschickt kundschaften sie die geeignete Gelegenheit aus und sind bemüht, ihre Feinde nicht so sehr mit ihrem Arm und ihrer Streitkraft zu besiegen, sondern eher durch Arglist, Überfall und Raub des Lebensnotwendigen.»
Wir haben keinen Grund, an der Chrarakterisierung durch den weisen Herrscher (886–912) zu zweifeln. Vielmehr stellt sich die Frage: Wieso konnten die Ur-Ungarn, diese heimtückischen Regelverletzer und Spielverderber, anders als die ihnen ebenbürtigen Nomaden zwischen der Wolga und der Donau, Wurzeln schlagen? Wie ist es ihnen gelungen, letztendlich das hochzivilisierte persische, arabische und byzantinische Reich zu überleben? Steckt dahinter eine göttliche Fügung, die Genialität der Stammesführer oder eine historische Notwendigkeit? Die Antwort auf diese Frage macht einen noch heute – wie Kleider die Leute – zum Christen, Nationalisten oder (horribile dictu!) Marxisten. Meinerseits neige ich als Historiker am ehesten zur letzteren Weltdeutung, doch möchte ich sie keineswegs als endgültige Wahrheit bezeichnen.
Am wenigsten glaube ich daran, daß bei der Rettung der Magyaren die von Dshaihani apostrophierten 20 000 Krieger, überhaupt Kriegslust oder -list eine relevante Rolle gespielt haben. Imperien, die weitaus besser mit allen damals modernen Mitteln der Verteidigung und des Angriffs ausgestattet waren, sind heute nur noch Tradition. Vielmehr waltete über das Geschick des kleinen Nomadenvolkes der Zufall.
Genauer gesagt handelte es sich um zweierlei Zufälle. Erstens wurden die Ungarn durch die rivalisierenden Stämme mehrere tausend Kilometer westwärts von ihrem ursprünglichen Standort vertrieben. Zweitens erreichten sie das Karpatenbecken zu einer Zeit, als weder das Frankenreich noch die Lombardei oder Byzanz aufgrund ihrer inneren Probleme imstande waren, die ehemalige römische Provinz Pannonia unter Kontrolle zu halten. Zwischen Donau und Theiss lebten damals schwach strukturierte awarische und slawische Volksgruppen, die den Eindringlingen keinen nennenswerten Widerstand entgegensetzen konnten. Dies ist wichtig zu erwähnen, denn besonders im stürmischen 20. Jahrhundert zweifelten die Ungarn nicht ohne Grund daran, ob die Auswahl des neuen Heimatortes exakt am Kreuzweg zwischen Ost und West wirklich optimal gewesen ist.
Den ethnisch und sprachlich verwandten Finnen schob man eine ironische Legende in den Mund, der entsprechend die beiden Völker während der gemeinsamen Wanderung in der Steppe plötzlich zwei Wegweiser mit der Inschrift «Ungarn» und «Finnland» erblickt hätten und die Magyaren, die, ganz anders als die gebildeten Kinder von Suomi, Analphabeten gewesen seien, sich für die erste Lösung ausgesprochen hätten.
Diese skeptische Auffassung reflektierte jedoch eine viel spätere Konstellation. Die Chronisten des Mittelalters bezeichneten die Tiefebene im Donautal vielmehr als ein Kanaan, in dem Milch und Honig flossen, und auch das Volk, das dieses Paradies erobert hatte, als eines von ganz edler Herkunft. Simon von Kézai, der Hoferzähler des 13. Jahrhunderts, führte den Stammbaum der Ungarn direkt auf die Hunnen zurück – einer der populärsten Männernamen in Ungarn ist bis heute Attila. Abenteuerlichere, um nicht zu sagen, dümmere Theorien entdecken im Eifer der Ahnenforschung das Sumererreich, Japan oder gar direkt den Garten Eden.
Der Notar von König Béla III., Anonymus, dessen sitzende Statue mit den unergründlichen Gesichtszügen im Budapester Stadtpark besichtigt werden kann, suchte in seinen Gesta Ungarorum die Wurzeln der Nation bei den Skyten und sogar beim Geschlecht Magogs, einem Urenkel des Japhet. Auch die Schulbücher des romantischen 19. Jahrhunderts sparen nicht mit biblischen Parallelen. So führt der hochbetagte Fürst Álmos das Volk, wie seinerzeit Moses die Juden, nur bis zur Grenze des Gelobten Landes und überläßt das Werk der «Landnahme» seinem Sohn Árpád:
«Die Reise unserer Vorfahren» – lesen wir in einem Lehrbuch aus dem Jahre 1845 – «dauerte lange und war reich an Verwicklungen; da sie aber an Mühen, Kälte und Hitze gewöhnt waren, trugen sie jedwede Last leicht. (…) So erreichten sie die Karpaten, über die sie Árpád hinwegführte, und im Jahre 896 ließ er sie vierzig Tage lang in Munkács [heute Mukačevo, Ukraine] ausruhen. 896 war jenes heilige Jahr, als Árpád (…) zum ersten Mal die vor seinen Füßen liegende lächelnde Niederung, die zukünftige süße Heimat erblickte. Endlich hatte das umherirrende ungarische Volk eine eigene Heimat.»
Kurz vor Álmos’ Tod sollen die Fürsten der sieben Stämme ihm und seinen Nachfahren ewige Treue geschworen haben. Dies geschah in der Form eines sogenannten Blutvertrags, indem die Häuptlinge – so lesen wir bei Anonymus – ihr Blut in ein Gefäß rinnen ließen und einstimmig erklärten: «Vom heutigen Tag an wählen wir dich zu unserem Anführer und Befehlshaber, und wohin dich dein Glück führt, dorthin folgen wir dir.» Zu demselben Legendenkreis gehören noch die Versammlung von Pusztaszer, bei der das Land «in schöner Eintracht» unter den Fürsten verteilt worden ist, sowie die von den Malern ebenfalls bevorzugte Szene von Árpáds «Schilderhebung», das heißt, seine rituelle Wahl zum Großfürsten der Magyaren.
Entgegen den literarisierenden Schilderungen erlebten die Ungarn, deren Bevölkerungszahl zu dieser Zeit die Historiker auf 500 000 schätzten, die sogenannte Landnahme bestenfalls als eine Zwischenstation in ihrer langen Fluchtgeschichte. Die darauffolgenden Streifzüge von Byzanz bis Spanien, die das christliche Europa mit dem Horror eines neuen Barbarensturms erfüllten, waren nicht so sehr auf Eroberung als auf Raub und Mord ausgerichtet. Die panische Angst vor ihnen steckte noch lange in den Knochen der Nachbarvölker und prägte das Ungarnbild des Mittelalters in hohem Maße.
Der Bischof von Cremona, Liutprand, konnte von seiner diplomatischen Mission in Byzanz zu seinem Auftraggeber, Kaiser Otto I., nicht zurückkehren, weil die Wege von den «Türken» (= Ungarn) unsicher gemacht worden waren. Vielleicht spielte diese Unbequemlichkeit auch eine Rolle bei seiner Schilderung des inmitten des Kontinents eingekeilten heidnischen Reitervolkes: «Die schändliche Natur der Ungarn wurde von dieser unermeßlichen Ermordung der Christen dennoch nicht befriedigt, sondern um die Wut ihrer Niederträchtigkeit zu sättigen, ritten sie durch die Länder der Bayern, Schwaben, Franken und Sachsen und äscherten alles ein. (…) Es gab niemanden, der in östlicher und südlicher Richtung den Ungarn Widerstand geleistet hätte. Denn auch die Völker der Bulgaren und Griechen machten sie sich tributpflichtig, und um nichts unversucht zu lassen, wollen sie auch jene Völker aufsuchen, die in südlicher und westlicher Richtung siedeln.»
Lebhafter, beinahe mit dem Interesse eines Journalisten schildert der Benediktinermönch Frater Heribald die Ungarn, wie er sie im Jahre 926 während der Belagerung von St. Gallen erlebt hat: «Vom Hof des Klosters (…) ergreifen die Hauptleute Besitz und halten ein reichhaltiges Mahl ab. (…) Wie es üblich war, setzten sie sich zum Essen ohne Stühle auf das grüne Gras. (…) Nachdem sie die Schulterstücke und die übrigen Teile der Opfertiere halb roh, ohne Messer, nur mit den Zähnen abgebissen hatten, warfen sie die abgeknabberten Knochen aus Spaß gegeneinander. Vom Wein, der in vollen Eimern in ihre Mitte gestellt wurde, tranken alle soviel sie wollten, ohne Rücksicht auf den Rang. Nachdem sie vom Wein in Stimmung geraten waren, begannen alle schrecklich zu ihren Göttern zu schreien.» Dieser homo ludens hungaricus schmeichelt bis heute der nationalen Eitelkeit meiner Landsleute ebenso wie die heidnische Tradition oder das Bild des vor den Pfeilen der Magyaren zitternden Europas.
Ohne den barbarischen Charakter der Streifzüge leugnen zu wollen, möchte ich hier anmerken, daß die wilden Reiter von damals häufig im Auftrag durchaus zivilisierter, christlicher, einander befehdender Herrscher handelten. Den Italienfeldzug (899) fochten sie zum Beispiel als Verbündete des römischdeutschen Kaisers Arnulf mit König Berengar I. aus, und der Angriff auf das maurische Spanien (942) erfolgte als eine Art bezahlte Arbeit für den italienischen Herzog Hugo den Großen.
Gerade dieser Kontext führte zum ersten Fiasko der Streifzüge. Als die deutschen Herzöge bei ihrem Aufruhr gegen Kaiser Otto I. die Hilfe des berittenen östlichen Nachbarn in Anspruch nahmen, fügte ihnen der neue Herrscher in der Schlacht auf dem Lechfeld (955) bei Augsburg eine vernichtende Niederlage zu. Offensichtlich hatte die gefürchtete ungarische Fechtweise mittlerweile an Überraschungseffekt eingebüßt, außerdem standen die ehemaligen Nomaden nun nicht dem endgültig geschwächten Karolingerreich, sondern einer aufstrebenden regionalen Großmacht gegenüber. Ihr Heeresführer Lél (Lehel) wurde gefangengenommen und in Regensburg hingerichtet. Einige Angreifer haben die Sieger verstümmelt und danach freigelassen. Diese «Trauerungarn» sollten die Botschaft mit nach Hause nehmen, daß es sich nicht lohnt, die ungarische Kriegskunst noch einmal an den gepanzerten deutschen Rittern zu erproben.
In meiner Kindheit war noch eine Trostsage weit verbreitet: Lél sollte den deutschen Kaiser darum bitten, vor dem Tode noch einmal in sein Horn blasen zu dürfen. Doch anstatt musikalisch Abschied vom Leben zu nehmen, zerschmetterte er mit dem schweren Instrument den Kopf seines Gegners und rief dabei: «Du wirst mein Knecht im Jenseits sein.» Das berühmte Horn (oder zumindest seine Nachbildung) wird bis heute in der Stadt Jászberény aufbewahrt, in der übrigens eine Kühlschrankfabrik nach dem unglückseligen Krieger benannt wurde, während in München laut ungarischen Legenden ein Stadtteil seinen Namen tragen sollte.
Dieses erste Desaster der Streifzüge, die allerdings noch eine Zeitlang in Richtung Süden und Osten weitergeführt wurden, zog eine gewisse Ernüchterung nach sich. Einerseits erschien der westliche Teil Europas plötzlich als eine Herausforderung und als zumindest potentielle Bedrohung für das kleine heidnische Land, das durch seine geographische Lage nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch zwischen den West- und Südslawen eingekeilt war. Andererseits brachten die Raubzüge reiche Beute, welche die Differenzierung nach Vermögen und damit ein ökonomisches Element in die ursprünglich rein tribale oder militärische Hierarchie einbrachte.
Spätestens jetzt mußte der Oberschicht die sprachliche Isolation Ungarns bewußt werden – ein Problem, das in diesem Maße weder die romanischen noch die slawischen Völker beschäftigte. Um mit den Nachbarn gezwungenermaßen friedliche Kontakte knüpfen zu können, brauchte das Land Vermittler wenigstens mit lateinischen Sprachkenntnissen. Die Träger dieser Kultur waren die beiden großen christlichen Kirchen, und die Wahl zwischen ihnen bedeutete eine langfristige Orientierung.
Während sich die römische Kirche mit den Ungarn zunächst schwergetan hat, fand die östliche Orthodoxie relativ früh einen Zugang zu ihnen: Ihre beiden Kirchenväter hatten erstaunlich gute Erfahrungen mit den barbarischen «Ugriern» gemacht, die ansonsten «wie die Wölfe heulten». Angesichts des zum Märtyrertum bereiten, betenden Kyrills gaben sie sich zahm und ließen ihn frei ziehen. Methodius wurde sogar eine Audienz beim «ugrischen König» gewährt. Schließlich ließ sich der Stammesführer Bulcsú 942 in Byzanz taufen, was ihn allerdings keineswegs an der Durchführung weiterer Raubzüge im Westen hinderte. Allein diese Tatsache zeigt, daß die Aufnahme des Christentums für die Ungarn mindestens teilweise ein Akt der Diplomatie war.
Die Christianisierung Ungarns begann im Zeichen von Konstantinopel: Bischof Hierotheos nahm seine Missionstätigkeit bereits 948 auf, während die deutschen Bischöfe und Mönche bis in die frühen siebziger Jahren des 10. Jahrhunderts erfolglos blieben. Erst 973, als Kaiser Otto I. die Gesandten des Fürsten Géza zu Osterfeiern in Quedlinburg empfing, begann eine ernsthafte Annäherung zwischen Ungarn und dem westlichen Christentum. Ein Jahr später wurde Géza in St. Gallen getauft, und er ließ auch seinen heidnisch geborenen Sohn Vajk taufen. Somit stand dessen Ehe mit der Fürstin Gisela, der Tochter Heinrichs II. von Bayern, nichts mehr im Wege. Die Árpáden wurden allmählich in das Familiengeflecht der europäischen Herrscherhäuser integriert, was damals einer Anerkennung de jure gleichkam.
Die Frage nach der Orientierung war im konfessionellen Sinne zugunsten des westlichen Christentums entschieden. Nun mußte noch die gleichrangige Stellung Ungarns durch die weltlichen Mächte abgesegnet werden. Dies geschah in Form der Übergabe der Heiligen Krone und der Insignien an den Fürsten Vajk, der zu dieser Zeit bereits den Namen István (Stephan) angenommen hatte.
«Die Krone bildet eine goldene hohle Halbkugel, die zwei sich kreuzende Halbbogen umschließen und die ein lateinisches Kreuz ziert. Am Scheitel, in dem mit Perlen und Edelsteinen umsäumten Viereck, ist der Heiland, neben ihm zwei Bäumchen, oben Sonne und Mond.» Mit diesen Worten beschreibt die deutschsprachige Historische Bilder-Gallerie aus Ungarns denkwürdiger Vorzeit (1873) die berühmteste Reliquie der ungarischen Geschichte. Der sakrale Gegenstand galt lange als eine Art Pfand für die Legitimation der jeweiligen Herrscher und wurde im Laufe der Jahrhunderte immer wieder zum Objekt der Begierde für unterschiedliche Thronbewerber. Experten bezweifeln, ob die heute im Budapester Parlament aufbewahrte Krone überhaupt etwas mit derjenigen zu tun hat, die Papst Silvester II. seinerzeit nach Ungarn geschickt hatte. Historiker stellten deswegen häufig den «geistigen Körper» der königlichen Kopfbedeckung in den Mittelpunkt des Kronenkults.
Nach der historischen Überlieferung hielt der Papst diese Auszeichnung ursprünglich für den polnischen König Boleslaw (den Tapferen) bereit. Ende Dezember 1000 (nach anderen Quellen 1001) erschien ihm jedoch ein Engel im Traum und bat ihn, die Krone nicht dem Polenkönig zu schicken, denn am nächsten Tag kämen die Gesandten eines heilig lebenden, frommen Fürsten aus fernem Land, und dem solle er die Krone überreichen. In der Tat erschien am nächsten Tag in Rom der Bischof von Kalocsa, Astrik, und schilderte dem Kirchenoberhaupt eingehend die Erfolge Stephans bei der Christianisierung seines Landes. Daraufhin soll der Oberste Hirte begeistert ausgerufen haben: «Ich bin nur apostolisch, er aber ist ein wahrer Apostel Christi!» Wichtig an dieser Schilderung ist die Erwähnung der Rivalität zwischen Ungarn und Polen um die Frage, wer – sozusagen – zum «ersten Kreis der Kandidaten» gehören sollte. Dabei wurden die Bistümer in Gnesen (Gniezno) und Gran (Esztergom) fast gleichzeitig errichtet.
In Wirklichkeit wurde die Entscheidung über die christliche Bescheinigung der mitteleuropäischen Fürsten keineswegs allein von Rom getroffen. Vielmehr handelte es sich um die Bestrebung des Königs und Kaisers Otto III., das Heilige Römische Reich deutscher Nation zu erneuern. Die Einbindung der Polen, Böhmen und Ungarn in diese als supranational konzipierte Staatengemeinschaft setzte verschiedene Stufen der Abhängigkeit bzw. der feudalen Hierarchie voraus. Während die nördlichen Nachbarn durch diesen Akt zu Vasallen des Deutschen Reichs wurden, zog Ungarn zunächst das glücklichere Los: Kirchlich und damit politisch wurde das Land einzig dem Papsttum unterstellt.
Dennoch war der deutsche Einfluß nicht aus der Welt zu schaffen. Deutsche Bischöfe und Söldner wurden dringend gebraucht, um den Traum des Papstes in die Tat umzusetzen, anders gesagt, die Vorstellung mit der Realität in Einklang zu bringen. Während sich nämlich die oberste Schicht des Landes aus Opportunismus oder Überzeugung zum Christentum und damit zu Europa bekannt hatte, stieß dieses Vorhaben bei der Mehrzahl der Bevölkerung, vor allem bei der Stammaristokratie, auf erbitterten Widerstand.
Fürst Koppány, ein Neffe des Königs, dem die Gebiete südlich des Plattensees gehörten und der die Mentalität der Streifzüge in sich bewahrt hatte, zog Stephans Herrschaft ebenso in Zweifel wie sein Onkel Gyula, der heidnische Souverän von Siebenbürgen, der wiederum mit Byzanz liebäugelte. Um den Erwartungen des Umfelds entsprechen zu können, sah sich der König gezwungen, mitunter recht unchristliche Mittel einzusetzen. Den bei Veszprém besiegten Koppány soll er gevierteilt und einen Teil der Überreste als unfeine Anspielung an Gyula nach Weißenburg (Gyulafehèrvàr, Alba Julia, heute Rumänien) geschickt haben.
Der Familienstreit drehte sich sowohl um die Tradition als auch um handfeste Interessen. Letztere äußerten sich in der unterschiedlichen Auffassung über die Erbfolge: Die heidnischen Ungarn plädierten für das Recht der Seniorität, die zum Christentum gewandelten vertraten hingegen das Prinzip der Primogenität, in dem nicht mehr der Stammälteste, sondern der vom König als solcher bezeichnete Erstgeborene zum Thronfolger erkoren wurde.
Stephan wollte jedoch mehr: Er hatte es direkt darauf abgesehen, das lose Sippengeflecht in eine streng strukturierte Gesellschaft und die freien Kämpfer in Untertanen zu verwandeln. Er teilte das Land in zehn Bistümer auf, die gleichzeitig als Verwaltungseinheiten (Komitaten) mit den dazu gehörenden Burgstädten und je einem Burggrafen («ispán») an der Spitze fungieren sollten. Zwei Drittel des Eigentums der Stammeshäuptlinge ließ er zum königlichen Besitz erklären, um das territoriale Prinzip materiell zu untermauern. Zu diesem Projekt brauchte er nicht nur militärische, sondern auch administrative Kraft und noch mehr Gesetze in lateinischer Sprache, die jedoch damals nur aus der Feder von Ausländern stammen konnten.
«Die Gäste (hospites) und Ankömmlinge», so schrieb der alternde König in seinen testamentähnlichen Ermahnungen an seinen Sohn, den Fürsten Imre (Emmerich), seien für die königliche Macht von großem Nutzen. «Denn wie die Gäste aus unterschiedlichen Landschaften und Provinzen kommen, so bringen sie unterschiedliche Sprachen und Bräuche, unterschiedliche Vorbilder und Waffen mit sich, und all das ziert das Land, erhöht die Pracht des Hofes (…). Denn ein Land mit einer Sprache und einer Gewohnheit ist schwach und vergänglich. Deshalb befehle ich dir, mein Sohn, die Ankömmlinge wohlgesinnt zu beschützen und zu schätzen, auf daß sie sich lieber bei dir als anderswo aufhalten und wohnen.»
Es soll nicht als Geringschätzung der vielgerühmten Toleranz von Stephan mißverstanden werden, wenn wir behaupten, daß die Öffnung des Landes gegenüber den Fremden vor allem für die dünne Herrscherschicht lebensnotwendig war. Trotz der Eroberung des gesamten Gebietes des heutigen Ungarn, Siebenbürgen und später auch Kroatien sowie der internationalen Akzeptanz des Árpádenstaates blieb dieser auf eigenem Territorium zunächst weitgehend unorganisch.
Der heidnische Widerstand hielt noch mehrere Lebensalter lang an und löste blutige Aufstände aus. Bei einer Zusammenrottung 1046 kam der deutsche Bischof Gellért (Gerhard) ums Leben; man ließ ihn laut Überlieferung in einem Faß voller Winkel von dem Berg in die Donau rollen, der jetzt in Budapest seinen Namen trägt. Am zähesten lebten jedoch der Urglaube und seine Moral im Alltag weiter, vor allem in der Weigerung, die neuen Verhältnisse zu akzeptieren. Dieser Schwierigkeit suchten die Árpáden durch drakonische Strafen Herr zu werden, wobei sie das Stehlen von Hühnern grausamer ahndeten als Mord und Totschlag.
Die außergewöhnliche Strenge sollte die Institution des Privateigentums langfristig verankern. Der Staat stellte sich eindeutig auf die Seite der Besitzenden: «Kraft unserer königlichen Gewalt fassen wir den Beschluß, daß jeder die Freiheit haben möge, sein Vermögen aufzuteilen unter seine Frau, seinen Söhnen und Töchtern und seinen Verwandten, oder es der Kirche zu schenken, und nach seinem Tode wage dies niemand ungültig zu machen.»
Die Ausländer – hauptsächlich die in den offiziellen Urkunden unter dem Sammelbegriff «Saxones» erfaßten Württemberger, Bayern, Zipser und wirklichen Sachsen sowie Ismaeliten und Juden – sollten bei ihrer Niederlassung über die Natur des Privateigentums, des Ackerbaus, Handwerks oder Handels nicht aufgeklärt werden. Vielmehr wirkten sie als gestaltendes Element der durch das Sippenwesen zersplitterten ungarischen Gesellschaft. Eine andere Rolle wurde dem Rest jener östlichen Steppenvölker – Petchenegen, Kumanen – zugedacht, die man zum Schutz der Grenze bestellt und zu diesem Zweck an die Scholle gebunden hatte.
Der Werdegang des ersten ungarischen Königs bekräftigte eine paradoxe, für das gesamte Mittelalter gültige Regel: Je stärker die Integrationskraft der Person war, welche die Zentralgewalt in ihrer Hand hielt, desto stärker war diese nach deren Ableben vom Zerfall bedroht. Außerdem war jeder König, den die Historie im nachhinein als «groß», «heilig», «gerecht» oder «weise» akzeptiert hatte, zumindest in der ersten Hälfte seiner Herrschaft ausschließlich damit beschäftigt, die von den vorangegangenen Diadochenkämpfen erschütterten Institutionen und die wackelnde Macht der Gesetze wiederherzustellen. Am wenigsten konnten die Autokraten die Zukunft ihres Landes beeinflussen. Als größter anzunehmender Unfall galt in diesem Zusammenhang das Fehlen eines eindeutigen, von allen akzeptierten Thronfolgers.
So konnte Stephan noch so eifrig an seinen Ermahnungen für den fürstlichen Sohn Imre arbeiten; als dieser 1031 bei einem Jagdunfall starb, verwandelten sich die präzisen politischen und machttechnischen Instruktionen des Erblassers in fromme Wünsche. Er mußte in den letzten Jahren seines Königtums ohnmächtig zusehen, wie die Hofintrigen, Verschwörungen und Mordversuche die Macht seines Hauses untergruben.
Das letzte Kapitel seiner Herrschaft, wie es der Chronist Márk von Kált schildert, ähnelt einem klassischen Königsdrama: Kurz vor dem Tod wollte Stephan seinen nächsten Verwandten, den Vetter Vazul, zum Erben machen, der wegen eines angeblichen Attentats auf ihn im Kerker von Neutra (Nyitra, heute Slowakei) saß. Er schickte einen Boten zu dem Gefangenen, um ihn zu begnadigen. Königin Gisela lehnte diese Entscheidung ab, und ihr Entsandter war schneller: Dem der Verschwörung Bezichtigten wurden die Augen ausgestochen, in seine Ohren wurde Blei gegossen, die drei Söhne wurden aus dem Lande verbannt.
Allerdings sind die Meinungen über diese traurigen Ereignisse geteilt: Nach einer anderen Version soll der König selbst den abtrünnigen, heidnischen Thronprätendenten aus dem Weg geräumt haben, was jedoch, insbesondere nach seiner Heiligsprechung im 1083, zu dem Image des frommen und gutmütigen Herrschers schwer gepaßt hätte. So haben manche Chronisten die gnadenlose Tat der bayerischen Gattin in die Schuhe geschoben. Wie dem auch sei, es handelte sich offensichtlich um den Krieg zweier Hofparteien, aus dem als Sieger zunächst Peter Orseolo, der Sohn von Stephans Schwester und des Dogen von Venedig hervorging.
Die vier Jahrzehnte, welche auf Stephans Tod folgten, sind selbst für den ungarischen Blick schwer überschaubar, und den büffelnden Schülern meiner Generation bedeuteten sie eine Qual beim Lernen. Péter, Aba Sámuel, Péter (zum zweiten Mal), András I. (dreimal), Béla I., Salamon – die Namen der Herrscher dieser Periode, die getötet oder verjagt wurden, stehen für eine Wirrnis, die Stephans Reich fast vollkommen zerrüttete. Auch an ausgestochenen Augen und verstümmelten Gliedern mangelte es nicht. Allein der König Béla I. verendete gewissermaßen natürlichen Todes, als er unterwegs von seinem einstürzenden tragbaren Holzthron erdrückt wurde.
Der Chronist liefert von Stephans direktem Nachfolger eine niederschmetternde Charakteristik: «Er verschlang die Güter der Erde zusammen mit Teutonen, die wie wilde Tiere brüllten, und mit Latinern (Italiener), die wie Schwalben zwitscherten.» Als dann der vertriebene Dogensohn Kaiser Heinrich III. um «Gnade und Unterstützung» bat, das heißt, sich ihm als Vasall empfahl, brach hinter der gewöhnlichen Fehde eine elementare Unzufriedenheit – die erste (1044) und die zweite (1061) heidnische Rebellion – aus.
Den Aufständischen ging es darum, die vom Reichsgründer privilegierten Schichten, die Nutznießer der soeben geschaffenen Zentralgewalt, aus dem Sattel zu heben. Es zeigte sich, daß Christianisierung und Feudalisierung bei aller Radikalität bloß die Oberfläche der Gesellschaft erreicht hatten. Jedes ungelöste Problem – sowohl dasjenige der Erbfolge als auch der auswärtigen Orientierung des neuen Staates – demonstrierte dessen Gebrechlichkeit. Die Nachfahren der Stammaristokratie von einst, in deren Familientradition die Erinnerung an Ruhm und Beute der Streifzüge noch frisch war, wünschten keinesfalls nach den alten Gesetzen zu leben. Die Reichen wollten keinen Zehnten an die «deutsche» Kirche zahlen, die Stolzen weigerten sich, eine andere Macht als die eigene zu akzeptieren, die Anhänger der «táltos» (Schamanen) stellten sich dem Dekret entgegen, das den Sonntagsgottesdienst obligatorisch machen wollte. Das war ein letztes Aufflackern des vorchristlichen Traums, plötzliche Wiederkehr der alten Ordnung, «kurzer Sommer der Anarchie», freilich mit einem rein negativen Programm: «Gestatte uns den Brauch unserer Väter, nach heidnischer Art zu leben, die Bischöfe zu steinigen, die Geistlichen zu erwürgen, die Steuerbeamten aufzuhängen, die Kirchen abzureißen und die Glocken zu zerschlagen.»
Auch manche persönliche Rechnung sollte beglichen werden. Als die drei Söhne des erblindeten Fürsten Vazul aus Kiew zurückkehrten, hatte Stephans Witwe Gisela einen guten Grund, unter dem Schutz des deutschen Kaisers das Land zu verlassen, damit sie wenigstens ihre alten Tage unversehrt im Passauer Kloster Niedernburg verbringen konnte.
Die stürmischen Auseinandersetzungen des 11. Jahrhunderts zeigten bereits, wie winzig die Nebenbühne war, auf der sich die ungarischen Königsdramen abspielten: Die Christen waren auf den Papst und noch mehr auf das Deutsche Reich angewiesen, während die Heiden bestenfalls mit einer halbherzigen taktischen Unterstützung von Byzanz rechnen konnten. Als dritte Kraft kamen noch die östlich der Grenze lebenden Nomadenstämme in Frage, die jedoch für das halbwegs zivilisierte Land ebenso unberechenbar waren wie noch vor kurzem Bulcsús und Lehels Horden für das postkarolingische Europa. Konnten die mobilen Urväter vor dem Druck der Völkerwanderung noch über die Steppe ins Donautal flüchten, so waren die seßhaften Urenkel zwischen den Voralpen und den Karpaten endgültig in der eigenen Geographie und Geschichte eingesperrt.
Die Wellenbewegung zwischen absoluter Herrschaft und feudaler Zersplitterung – ein gesamteuropäisches Phänomen – spaltet die ungarische Geschichte mindestens im Bewußtsein der Nachwelt in Perioden des Friedens, der Gerechtigkeit und kultureller Blüte und in solche der Verwüstung, der Rechtlosigkeit und des Untergangs. In Wirklichkeit verlief dieser Prozeß weniger eindeutig. Schwache Könige erwiesen sich nicht nur dem Bösen, sondern auch dem Guten gegenüber als machtlos.
Das ungarische Pferd gehörte sicher zu letzterem. Trotzdem (oder eben deswegen) fühlte sich ein illegaler Pferdehändler unter der Herrschaft eines hergelaufenen Sprößlings der Orseolos sicher besser als unter König László I. (1042–1095), der selbst seinen Kurieren untersagte, ihr Roß weiter als drei Dörfer mitzunehmen. Gleichzeitig konnte eine untreue Frau unter László I. beruhigt sein, wenn ihr Ehemann die Zwistigkeit innerhalb des Hauses ordnen wollte, während einem Dieb oder demjenigen, der ihn flüchten ließ, nichts mehr helfen konnte: Selbst zum Beweis der Unschuld mußte sich der Verdächtige der «Feuerprobe» aussetzen, die einer Strafe gleichkam. Wenn eine Frau beim Diebstahl ertappt worden war, konnte sie von ihrer Nase Abschied nehmen, und eine Witwe mit diesem Delikt mußte sogar um ein Auge und ihren Besitz bangen – ein schwacher Trost für die Gerechtigkeit, daß ihre Söhne den ihnen zustehenden Teil des Vermögens trotzdem erben konnten.
Hingegen fühlte sich ein Pfarrer, der den fleischlichen Gelüsten nicht ganz abhold war, unter (dem später heilig gesprochenen) László I. sicherer als unter den heidnisch angehauchten Herrschern. Der König war auf Gottes Diener angewiesen, handelte also pragmatisch und verordnete eine lockere Handhabung des Zölibats. Sein Nachfolger, König Kálmán (1074–1116) verhielt sich in dieser Frage etwas strenger, dafür ließ er die Hexenprozesse stoppen und galt damit in der Tradition als Frühaufklärer, zumal er die schönen Künste förderte (dafür erhielt er den Beinamen «Bücherfreund»).
Dabei hingen die Motive der Monarchen und ihres jeweiligen Gesetzeswerks eng mit ihrer gesamten Politik, Ideologie und Diplomatie zusammen. Wenn zum Beispiel László I. die Hühnerdiebe henken lassen wollte, deutete dies auf die weite Verbreitung des Delikts hin. Gleichzeitig mußte er an den Ausnahmefall denken, daß der Täter in einer Kirche Zuflucht fand, und diese Institution durfte in keinem Fall Ort einer möglicherweise gewaltsamen Festnahme sein.
Auch Kálmáns berühmte Ablehnung der Hexenjagd diente einem allgemeineren Zweck: Konflikte zwischen dem Christentum und dem immer noch existierendem passiven Heidentum nicht durch hysterische Aktionen loszutreten. In dem an den Erzbischof von Gran, Szerafin, gerichteten Vorwort seines Decretorum liber primus distanziert er sich sogar vom wichtigsten Bezugspunkt des ungarischen Christentums, von König Stephan. Während dieser «die Ungläubigen ausgerottet» habe, wolle er ihnen «durch Rechtsprechung zum wahren Leben verhelfen». Habe Stephan «mit dem Schwert von Gottes Wort gedroht», so wolle er das Volk «mit dem Helm des Heils schmücken». So spricht jemand, der bewußt auf eine Konsolidierung des Erreichten hinsteuert.
Der große Protektor von László I. war Papst Gregor VII., der den deutschen Kaiser zu seinem sprichwörtlichen Canossagang gezwungen hatte. Das selbstbewußte Kirchenoberhaupt wollte dem loyalen ungarischen Monarchen den Rücken stärken, indem er den König Stephan (István), dessen Sohn Emmerich (Imre) und den Märtyrerbischof von Csanád Gerhard (Gellért) heiligsprechen ließ. Die umstrittene Gisela mußte auf die päpstliche Anerkennung noch lange warten und gilt bis heute nur als «selig». Indes mehren sich – nicht zuletzt im Internet – die Forderungen, sie mit den zahlreichen ungarischen Heiligen gleichzusetzen.
Gregors Wirken stand im Zeichen sowohl der Kirchenreform als auch einer wachsenden Intoleranz gegenüber den beiden großen Weltreligionen: dem Islam und dem Judaismus. Der erste Kreuzzug mit seinen verheerenden Folgen sowohl für den angegriffenen Orient als auch für das angreifende Europa stand bevor. Diese Atmosphäre stellte bald Stephans berühmte Geduld gegenüber den «Gästen» auf eine harte Probe.
Mohammedaner gab es in Ungarn wenig – mehrheitlich aus dem Südosten stammende Handwerker und Händler. Sie wurden von der königlichen Macht allmählich zwangsweise assimiliert. Mit besonderem Eifer sorgte man dafür, daß sie, falls sie Gäste empfingen, mit ihnen Schweinefleisch aßen und auch Mischehen mit Ungarn eingingen. Als Geldwechsler wurden sie sehr bald zum Sündenbock eines womöglich mit Absicht geschürten sozialen Hasses. Die Gesetze gegen sie wurden vermutlich, wie auch ansonsten, durch ihre Lücken gemildert.
Scheinbar ähnlich verhielt es sich mit den Juden. Die Verbote gegen sie blieben jedoch im europäischen Vergleich zunächst im zivilen Rahmen und die Strafen relativ human. Sie durften – anders als die Ismaeliten – keine Ungarn heiraten, nicht einmal als Knecht einstellen. Die gewöhnlichen Wochenmessen am Sonntag wurden bereits von Béla I. (1060–1063) auf Samstag – für die frommen Juden Sabbath – verlegt. Ihre Ansiedlung war zumindest formal streng geregelt.
Nach dem Konzil von Piacenza zogen die Scharen des ersten Kreuzzugs über Mitteleuropa her. Die fanatisierten Ritter und ihre Knechte raubten, mordeten und bekehrten zugleich. Aus Regensburg, Wien und Prag flüchteten ganze jüdische Gemeinden nach Ungarn. Da der christliche «Dschihad» auch die Dörfer in Transdanubien nicht verschonte, untersagte Kálmán einer als Heer bezeichneten Meute den Durchzug durch sein Land und schlug sie sogar in der Schlacht bei Mosony. Gut hundert Jahre später fanden sich magyarische Monarchen, die mit mehr Beflissenheit der römischen «Generallinie» folgten; trotzdem blieb das Land noch lange ein bevorzugter Fluchtpunkt vor spanischen Scheiterhaufen, deutschen Pogromen und österreichischen Vertreibungen.
Das Land mit zwei Millionen Einwohnern, dessen Könige mit allen wichtigen Dynastien in Ost und West verwandt, verschwägert, verbrüdert und gelegentlich verfeindet waren, zog die Reisenden des ganzen Kontinents an. Am Hof von Andreas (András, Endre) II. (1211–1235) zu Alba Regia (Stuhlweißenburg, Székesfehérvár) war der gotische Architekt Villard de Honnecourt ebenso willkommen wie der Minnesänger Tannhäuser.
Unter den Besuchern gab es Diplomaten und Reisende, die oft im Auftrag ihres Herrn als Kundschafter arbeiteten. So begleitete Bischof Otto von Freising König Konrad III. Mitte des 12. Jahrhunderts auf dem dritten Kreuzzug und zeigte recht zwiespältige Gefühle gegenüber dem Königreich und seinen Bewohnern. Einerseits sei es «an Wäldern sehr reich, in diesen gibt es vielerlei Wild und die natürliche Schönheit ihrer Oberfläche ist genau so anmutig, wie es Gottes Paradies oder das prächtige Ägypten zu sein scheint». Andererseits: «Die Ungarn haben häßliche Gesichter, ihre Augen sitzen tief, sie sind klein gewachsen», und er bewundert «die göttliche Milde (…), die derartigen wilden Unmenschen ein so herrliches Land gegeben hat».
Wenn man bedenkt, daß der Bischof weder das Paradies noch Ägypten aus eigener Erfahrung kannte und das ästhetische Kopfschütteln über die häßlichen Ungarn Teil seiner beschönigenden Biographie über Friedrich den Rotbart war, können wir feststellen, daß seine Schilderung das erste Glied einer langen Kette von touristischen Klischees über Ungarn darstellt. Aus derselben Zeit meldet der arabische Geograph Al-Idrisi aus Sizilien Günstigeres: «Die Stadt Fehérvár ist eine schöne, prächtige Stadt mit vielen Gebäuden, einer starken Mauer, Jahrmärkten mit viel Volk, Handwerk, einem lebhaften Handel (…). Auf den blühenden Gutshöfen leben die Menschen ausgezeichnet und in Reichtum.» Ein anderer Reisender, der Maure Abu Hamid al-Andalusi al-Garnati (aus Andalusien, Granada), erwähnt lobend 78 Städte mit Befestigungen sowie die militärische Stärke des Königs «Unkurija»: «Alle Völker fürchten seine Bosheit, die große Zahl seiner Scharen und seine große Kraft.» Immerhin war der begeisterte Andalusier nicht ins Heilige Land unterwegs, sondern erhielt den Auftrag, für Géza II. an der Wolga Bogenschützen anzuwerben.
Das bereits der Vergangenheit angehörende Heidentum zierte nun als Tradition die Chroniken. Der Notar Anonymus dichtete in dieser Zeit zur Legitimation des Hauses Árpád die Hunnenlegende nach, an einem Fresko in Siebenbürgen mit dem heiliggesprochenen László I. erblickt man den altertümlichen Lebensbaum sowie Tierkämpfe aus Ur-Ungarn. Gleichzeitig hält die Gotik im Tempelbau Einzug, die Mönche schreiben Amtslateinisch, die Ritter tragen flämische Kleider, noble Neugeborene werden nach griechischen Helden wie Priamos oder Achilles benannt, der Kleriker Elvin wird von König Béla III. nach Paris geschickt, um dort Kirchenmusik zu studieren, andere Studiosi kommen durch dieselbe majestätische Gunst gar nach Oxford.
Die kulturelle Blüte schmückte ein Imperium, das seine vorläufig größte Ausdehnung erreicht und seinen Platz im zeitgenössischen Europa gefunden hatte. Die Personalunion mit Kroatien öffnete für Ungarn die Adria, und angesichts der augenblicklichen Schwäche sowohl von Byzanz als auch des Deutschen Reichs stand seinen weiteren Eroberungsplänen ausschließlich Venedig im Wege.
Doch dieser Glanz erwies sich sehr bald als Talmi. Ausgerechnet die Großmachtphantasien führten dazu, daß sich das Königreich dem aktuellen Kreuzzug nicht mehr entziehen konnte. Zwar steigerte die Beteiligung an diesem europäischen Projekt das christliche Prestige des Herrschers, die Kosten dafür überstiegen jedoch die realen Möglichkeiten seines Landes. Der teure Triumph trug erheblich zur Erschöpfung der Ressourcen Ungarns bei, und das durch innere Fehden und Kriege ausgeblutete Land erwartete ein unglückliches 13. Jahrhundert.