MARITA KRAUSS
«Ich habe dem
starken Geschlecht
überall den
Fehdehandschuh
hingeworfen»
Das Leben der
LOLA MONTEZ
C.H.Beck
Lola Montez hatte viele Gesichter und viele Namen. Die Tochter eines britischen Offiziers, die eigentlich Eliza Gilbert hieß, widersetzte sich bereits früh moralischen Konventionen. Was Männer betraf, so hatte sie ihre eigene, kühne und auf jeden Fall unzeitgemäße Agenda: Mit 16 brannte sie durch, heiratete ihren Liebhaber und zog mit ihm nach Indien, mit 22 tingelte sie als «spanische Tänzerin» durch die Hauptstädte Europas, und mit 25 begann sie ihre Affaire mit König Ludwig I. Als man sie deswegen aus München vertrieb, vermarktete Lola Montez ihre Geschichte am Broadway in New York und in den Outbacks Australiens. Das Schicksal der selbstbewussten Tänzerin, die als Geliebte des Königs zur Gräfin Landsfeld erhoben wurde und sich nie von der Männerwelt einschüchtern ließ, inspirierte Filmemacher und Theaterregisseure. Die Historikerin Marita Krauss hat nun – gestützt auf zahlreiche Quellen, darunter auch bislang unzugängliche Tagebuchaufzeichnungen König Ludwigs I. – den Weg der Lola Montez in all seinen Höhen und Tiefen beschrieben. Entstanden ist eine ebenso seriöse wie unterhaltsame Biografie, die zugleich ein facettenreiches Bild der Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert bietet.
Marita Krauss lehrt als Professorin für Europäische Regionalgeschichte sowie Bayerische und Schwäbische Landesgeschichte an der Universität Augsburg.
1.: LOLA MONTEZ – EINE KUNSTFIGUR?
2.:GROSSBRITANNIEN, INDIEN UND ZURÜCK
Frühe Prägungen in Indien
Erziehung in Großbritannien
Mrs James
Das Ende einer Ehe
3.:IM VORMÄRZLICHEN EUROPA
Mrs James und Lola Montez
Auf dem Kontinent:Ebersdorf und ein Operettenfürst
Dresden und Berlin: «Die neueste Melusine» und die Geschichte mit der Reitgerte
Warschau – politische Turbulenzen
Von Warschau nach Dresden: auf der Suche nach Liszt?
Paris – von der Tänzerin zur Salonière
4.: AUF DEM WEG ZUR «KÖNIGIN SEINES HERZENS» – DIE ERSTEN MONATE IN MÜNCHEN
München 1846
Lola und Ludwig – eine keusche Liebe
5.:MACHT UND OHNMACHT DER KATHOLISCHEN PARTEI
Skandalisierungen
Lola Montez und Hans Pechmann – Favoritin gegen Polizei
Auf Lolas Bettkante – die Aufzeichnungen der Frau Ganser
Die Indigenatsfrage und der Sturz Karl von Abels
Volkstumulte und Champagner – Lolas großer Auftritt
6.: AUFSTIEG UND ÄCHTUNG DER GRÄFIN LANDSFELD
Stille Tage in der Residenz
Risse im Seelenbündnis
Die gesellschaftliche Ächtung
7.: HYBRIS UND FALL
Die Zersetzung einer Beziehung
Eskalation und Zusammenbruch
Revolution und Thronverzicht
Fürstlicher Lebensstil als Sucht – Gräfin Landsfeld in der Schweiz
8.: DER WEG IN DIE SELBSTÄNDIGKEIT
Neuorientierungen
Mrs Heald
Übergangszeiten – von Paris nach New York
«Lola Montez in Bavaria»
Im Wilden Westen
Grass Valley – zwei Jahre in den Bergen von Nevada
9.: THEATERUNTERNEHMERIN UND VORTRAGSREISENDE
Auf Welttournee in Australien
Als Vortragsreisende und Buchautorin in den USA und England
Das Ende
10.: NACHLEBEN
ANMERKUNGEN
1. Lola Montez – eine Kunstfigur?
2. Großbritannien, Indien und zurück
3. Im vormärzlichen Europa
4. Auf dem Weg zur «Königin seines Herzens» – die ersten Monate in München
5. Macht und Ohnmacht der katholischen Partei
6. Aufstieg und Ächtung der Gräfin Landsfeld
7. Hybris und Fall
8. Der Weg in die Selbständigkeit
9. Theaterunternehmerin und Vortragsreisende
10. Nachleben
DANKSAGUNG
BILDNACHWEIS
BIBLIOGRAFIE
Ungedruckte Quellen
Spielfilme, Ballett- und Theaterproduktionen
Gedruckte Quellen
Zeitungen
Literatur
PERSONENREGISTER
1.
Als Maria de los Dolores Porrys y Montez, spanische Adelige aus Sevilla, im Juni 1843 erstmals in London auftrat, war Elizabeth Rosanna Gilbert, geschiedene James, bereits 22 Jahre alt. Die Kunstfigur Lola Montez übernahm seitdem die Deutung über das frühere und zukünftige Leben von Eliza Gilbert, sie konstruierte Abstammung und Geburtstage, Geburtsorte und Lebensstationen. Erst nach ihrem Tod 1861 ließ Lola Montez los; auf dem Grabstein stand: «Mrs Eliza Gilbert».
An sich stellte die Erfindung der Lola Montez eine Verzweiflungstat dar: Eliza stammte aus einer guten englischen Familie; wie eine Figur eines Jane-Austen-Romans brannte sie aus dem Internat in Bath durch. Nach einer unglücklichen Ehe wurde sie schuldig geschieden. Im hochmoralischen viktorianischen England gab es für sie danach fast keine Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. In ihren Memoiren von 1851 schrieb Lola: «Nur eine einzige Ausflucht schien mir das Schicksal zu lassen. Es war das abenteuerliche Leben einer Künstlerin.»[1]
Für den Erfolg als Künstlerin reichte es aber nicht, die bildschöne, wenn auch moralisch bedenkliche Eliza James zu sein. Spanien war damals in Mode und als spanische Tänzerin Lola Montez erfand sich Eliza neu. Nach dem Identitätswechsel reiste sie ohne gültige Ausweispapiere durch das Europa des Vormärz. Sie galt dort als unerwünschte Ausländerin unbekannter Herkunft und lief jederzeit Gefahr, von der Polizei eingesperrt oder ausgewiesen zu werden. Doch Lola Montez erhob sich bald über ihre Situation, sie tanzte vor dem preußischen König und dem russischen Zaren. Ihr Aufstieg zur Favoritin des bayerischen Königs Ludwig I. sowie die Tumulte in München um ihre Person, die fast unmittelbar in die Revolution von 1848 und in die Thronentsagung Ludwigs I. mündeten, waren es dann vor allem, die sie weltweit bekannt machten: Die Zeitungen berichteten ausführlich; sie selbst brachte die Geschichte seit 1852 als eine Art dokumentarische Revue mit dem Titel «Lola Montez in Bavaria» auf die Bühne und ging damit höchst erfolgreich in den USA und Australien auf Tournee. Lola Montez wurde ein weltberühmter Star, sie füllte spielend die größten Theater ihrer Zeit und verdiente als selbstbestimmte Theaterunternehmerin reichlich Geld, das sie gerne großzügig ausgab. Letztlich wurde sie mit ihren «Lectures» auch noch zur gefeierten Vortragsreisenden. Sie war nicht Opfer, sondern Herrin ihres Schicksals.
Die Frage nach Wahrheit oder Lüge führt mit Blick auf die bereits von Lola selbst in jeder Lebensphase neu justierte Biografie in die Irre. Obwohl ihre Behauptung, Lola Montez zu sein, immer wieder ins Wanken geriet, so war diese Figur doch die Form, in die sie sich weiterhin fasste. Als sie im August 1847 von König Ludwig I. von Bayern zu Marie Gräfin von Landsfeld erhoben wurde, trug diese Kunstfigur sogar einen legalen Adelstitel. Selbst bei ihrer zweiten Heirat mit dem viele Jahre jüngeren, steinreichen George Trafford Heald behielt sie den Titel bei und nannte sich Marie de Landsfeld-Heald; in einem Bigamieprozess wurde die Ehe annulliert, da Lolas vorhergehende Scheidung nach englischem Recht keine zweite Heirat erlaubte. Später nutzte sie den Namen Mrs Heald, wenn sie inkognito reisen wollte. Doch als Lola Montez war sie berühmt geworden, dieser Name zog das Publikum ins Theater und war ihre Geldquelle. Wie gut sich Lola Montez verkaufen ließ, zeigen auch zeitgenössische Satiren und Parodien, die Theater von London bis San Francisco füllten. Den Anfang machte der 1848 in London aufgeführte Einakter von J. Sterling Coyne, «Lola Montes, or a Countess for an Hour», der wohl nach der Intervention des bayerischen Botschafters vom Spielplan verschwand, jedoch mit geändertem Namen als «Pas de Fascination, or, Catching a Governor» wiederauferstand und in der englischsprachigen Welt viel gespielt wurde, oft gleichzeitig mit Lolas Auftritten in den entsprechenden Städten. Nach ihrem Tod wurde sie in New York auch noch von einer evangelikalen Gruppe vereinnahmt, die aus ihr eine reuige Sünderin machen wollte; die Broschüre mit ihren angeblichen religiösen Tagebuchaufzeichnungen erlebte sieben Auflagen. Lolas Marktwert war und ist hoch.[2]
Zur Legendenbildung um Lola Montez trug nicht nur sie selbst aktiv bei. Sie war ein Star und bereits zu ihren Lebzeiten wie nach ihrem Tod fügten weltweit hunderte Journalisten, Romanciers, Filmemacher und Historiker neue Details und Facetten zur Lebensgeschichte dieser Frau hinzu, übernahmen alte Berichte und schmückten sie aus, versuchten die «Wahrheit» herauszufinden und empörten sich über die fast undurchdringlichen Gespinste aus Erfindungen und Halbwahrheiten, die sie nicht zuletzt in Lola Montez’ autobiografischen Texten wie ihren Memoiren von 1851 und auch noch in der «Autobiography» von 1858 vorfanden.[3] Viele kapitulierten und glaubten, die Geschichte der Lola Montez nur als Roman erzählen zu können. In mancher Hinsicht sagen diese Produktionen jedoch mehr über Frauenbilder und Moralvorstellungen der jeweiligen Entstehungszeit aus als über Lola Montez.
Sie selbst gab dazu in ihrer «Autobiography» von 1858 die Richtung vor: «Also wenn ich Lola Montez wäre, würde ich zu zweifeln beginnen, ob ich jemals einen Vater hatte und ob ich überhaupt geboren wurde, ausgenommen vielleicht auf die Art, in der Minerva dem Haupt Jupiters entsprungen sein soll: Lola Montez kam und kommt sogar noch komplizierter auf die Welt, da sie wieder und wieder im Kopf jedes Menschen geboren werden muss, der den Versuch unternimmt, ihre Geschichte zu schreiben.»[4] Das stimmt: Die Erkenntnis über die Subjektivität und Zeitbezogenheit des eigenen Blicks muss jede Lola-Montez-Biografie wie überhaupt jede biografische Arbeit begleiten. Von Lola Montez’ Zeitgenossen bis heute gab es faszinierte, moralinsaure, sensationslüsterne, leichtgläubige, aber auch gründliche Autoren und Autorinnen, die sich aus sehr unterschiedlichen Perspektiven dem Leben dieser außergewöhnlichen Frau näherten. Es ist daher nötig, viele Schichten von Projektionen abzutragen, bevor man Lola Montez wieder neu erfinden kann. Auch hier ist zu berücksichtigen, was Barbara Stollberg-Rilinger in ihrer Biografie über Kaiserin Maria Theresia schrieb: Es gilt, jede falsche Komplizenschaft zu vermeiden und die Andersartigkeit der historischen Situation, ihrer Regeln, Konventionen, sozialen Unterscheidungen und Selbstverständlichkeiten in den Blick zu nehmen, denn nur vor diesem Hintergrund ist das Handeln der betrachteten Personen zu deuten.[5] Für Lola Montez bedeutet dies: Erst vor diesem Hintergrund ist das Ausmaß ihrer Regelverletzungen und Konventionsbrüche zu erkennen.
Zieht man nur die seriösen Biografien der letzten dreißig Jahre heran,[6] so fällt auf: Die Biografen waren meist Männer und nicht primär Historiker. Die in ihrer Gründlichkeit alle anderen überragende Publikation stammt von Bruce Seymour: Dieser kalifornische Rechtsanwalt befasste sich nach dem Gewinn eines Preisausschreibens sechs Jahre lang mit Lola Montez, er war der Erste, der Licht in das Dunkel um etliche ihrer Lebensstationen brachte, auf seine akribische Vorarbeit stützen sich alle, die sich nach ihm des Themas annahmen und annehmen. Zusammen mit dem ersten deutschen Lola-Montez-Biografen Reinhold Rauh edierte Seymour auch erstmals Teile des in der Bayerischen Staatsbibliothek in München aufbewahrten Briefwechsels zwischen König Ludwig I. und Lola Montez; dieser wurde größtenteils in Spanisch geführt, das beide Briefpartner nicht gut beherrschten.[7] Seymour stellte seine Arbeitsmaterialien der Forschung zur Verfügung, teilweise frei zugänglich im Internet mit dem ausdrücklichen Auftrag, dort weiterzuarbeiten, wo er aufgehört hatte. Dazu gehören eine Art Lola-Montez-Personenlexikon, in dem alle, die ihr begegneten, biografisch erfasst und eingeordnet werden, sowie eine kommentierte Bibliografie mit erfrischend deutlichen Bewertungen.[8] Seymours Arbeit ist eine zentrale Grundlage für jede Lola-Montez-Biografie.
Gibt es also 200 Jahre nach ihrer Geburt noch etwas zu entdecken, das über neue Perspektiven und Interpretationen hinausgeht? Ja, es gibt Quellen, die bisher nicht zugänglich waren: die Tagebücher König Ludwigs I. in der Bayerischen Staatsbibliothek. Bisher konnten sie nur Heinz Gollwitzer für seine Biografie Ludwigs I. und Hubert Glaser für die Edition des Briefwechsels zwischen Ludwig I. und Leo von Klenze einsehen.[9] Großzügig ermöglichte Herzog Franz von Bayern nun die Einsichtnahme für Ludwigs Beziehung zu Lola Montez.[10] Die Tagebücher bieten Innensichten dieser so oft beschriebenen Beziehung zwischen dem König und der Tänzerin. Sie zeigen aus der Perspektive des Königs Lolas große Strahlkraft wie ihre Grenzüberschreitungen, ihre zugewandte Liebe wie ihr Machtstreben. Diese Tagebücher sind eine besondere Quelle; eilig, in nicht orthografisch korrekten oder grammatikalisch durchgeformten Satzfetzen, notierte sich Ludwig die Tagesereignisse als eine Art persönlichen Rechenschaftsbericht über das am jeweiligen Tag Geleistete, ergänzt durch Kurzkommentare zu seinen Gefühlen und Gedanken. In den Jahren 1846 bis 1849 spielte Lola bei Ludwig und daher auch in den Tagebüchern eine Hauptrolle.
Ludwigs Tagebücher zeichneten ein positives, unermüdlich idealisierendes Bild von Lola Montez, dem die meisten Zeitgenossen ebenso wie spätere Historiker heftig widersprachen. Viele sahen sie nur, wie noch in den 1990er Jahren Heinz Gollwitzer, als eine Abenteurerin, habgierig und herzlos, «ordinär und arrogant, niederträchtig und verlogen […], exzentrisch bis zur Verrücktheit und ganz gewiß, wie man heute sagen würde, ein Fall für den Psychiater».[11] Lola Montez polarisierte und polarisiert bis heute: War sie eine der großen Kurtisanen der Weltgeschichte, die man Frauen wie Madame de Pompadour an die Seite stellen sollte?[12] War sie eine freche, eitle, indiskrete und machtgierige Hochstaplerin, die nicht einmal als Tänzerin Qualität hatte und nur von ihren Skandalen lebte? War sie ein Opfer der Presse oder eine Meisterin der Selbstvermarktung? Oder war sie eine selbständige und emanzipierte Frau, die nur nicht in das Weiblichkeitsbild ihrer Zeit passte und daher von Frauen gemieden und von Männern verleumdet wurde? Die Urteile divergieren enorm, nur ihre Schönheit und ihr bezaubernder Charme werden nicht einmal von den erbittertsten Gegnern bestritten. Doch neben allem anderen war Lola Montez auch noch blitzgescheit, sie verfügte über ein breites Spektrum an Fähigkeiten und Verhaltensmöglichkeiten, war großzügig, begabt und eloquent: Lola Montez war und ist ein Phänomen.
Lola gehört mit ihrem abenteuerlichen Leben auch zu den wenigen Frauen ihrer Zeit, die ihr Leben weitgehend auf Reisen verbrachten. Das allein war unerhört, sensationell, ja unanständig: Die bürgerliche oder adelige Frau blieb generell auf das eingesperrte Dasein innerhalb von «Gehäusen» beschränkt, sei es das Haus oder das rollende Heim der Kutsche. Beim Betreten oder Verlassen dieser Gehäuse überschritt sie tabuisierte Grenzen.[13] Lola schrieb dazu in ihren Memoiren: «Von den ersten Tagen meiner Geburt an führte ich ein unstätes Leben, voller Romane, Dramen und Wechselfälle. Die Vorsehung scheint in Wirklichkeit mich zu einem rastlosen Umherirren verdammt zu haben. Von Natur zart und schwächlich, ist dennoch die Veränderung mein Element. Ich habe mir stets eingebildet, daß im Momente meiner Geburt irgend eine Fee Rollen an meiner Wiege befestigt hat, um mich so ununterbrochen von einem Ende der Welt zum anderen zu bringen.»[14] Als sie die Memoiren 1851 veröffentlichte, hatte Lola bereits in Indien, Schottland, England und Spanien, Paris, München sowie Genf gelebt und halb Europa bereist, es sollten Jahre in den USA und in Australien folgen. Sie beherrschte mehrere Sprachen und verfügte über eine Welterfahrung, die sie auch weit über die meisten Männer ihrer Zeit hinaushob. Wie die wenigen anderen weitgereisten Frauen ihrer Zeit war auch sie immer weniger bereit, sich den von ihr als unnötig beengend und einschränkend empfundenen Regeln kleiner europäischer Residenzstädte wie München zu fügen. Das trug sicher dazu bei, dass sie als «Fremde» angefeindet wurde.
Doch Lola Montez war wehrhaft: Pistolen, Dolch und Reitgerte wurden zu ihren Requisiten; Zeitgenossen sahen in ihr daher eine grausame Frau, eine Domina.[15] Sie nahm sich viele Freiheiten, um ihre Unerschrockenheit und Unabhängigkeit zu demonstrieren. Gegenüber Männern in Uniform oder auch in Zivil, die Autorität über sie ausüben wollten, reagierte sie mit Ohrfeigen oder mit der großen Theaterszene als «Furie» gegenüber dem Gesetz: Das war die Rolle einer Frau, die nicht bereit ist, die bürokratische Ordnung für sich als Maßstab und Autorität zu akzeptieren.[16] Sie war aber nicht nur physisch wehrhaft. Wie nicht zuletzt an ihren oft witzigen Leserbriefen und autobiografischen Texten zu sehen ist, konnte sie auf den Punkt formulieren und sich auch verbal kenntnisreich wehren. Wenn sie mit dem Rücken zur Wand stand, machte sie sich nicht klein, sondern ging offensiv und aggressiv nach vorne. Diese unbekümmerte Selbstsicherheit wurde zeitgenössisch oft als «Frechheit» bewertet. Doch es war mehr als das: Ihre ungezügelten Temperamentsausbrüche standen quer zu den gesellschaftlichen Tugenden von Disziplin und Selbstbeherrschung; manchmal benahm sie sich wie ein trotziges und ungezogenes kleines Mädchen. Bei einer Frau, besonders bei einer Fremden, wurde solches Verhalten nicht akzeptiert.
Lola Montez galt bereits bevor sie nach München kam als berüchtigt, als unmoralisch, als eine Frau, die Skandale auslöst. Geht man diesen Gerüchten nach, so bleibt wenig übrig; es ist nicht einmal klar, ob hinter den Zeitungsmeldungen, sie habe in Berlin einem Polizisten einen Schlag mit der Reitgerte gegeben, in Warschau dem zischenden Publikum ihr Hinterteil zugewandt und in Baden-Baden einem Herrn den Dolch in ihrem Strumpfband gezeigt, tatsächliche Ereignisse stehen. Als skandalös galt bereits, dass sie als Tänzerin auftrat und allein reiste, dass sie in einem Strafprozess öffentlich zugab, in Paris mit einem Mann zusammengelebt zu haben, dass Gerüchte über Liebhaber kursierten. «Skandale sind streitlustige Rituale der Gesellschaft, die Einigung in Aussicht stellen, indem sie Abweichung thematisieren», schrieb der Soziologe und Skandalforscher Stefan Joller.[17] Mit der Ablehnung gegenüber Lola Montez konnte sich die jeweilige Gesellschaft über die eigenen Werte und Normen verständigen. Das war umso leichter, als Lolas Ruf viele unterdrückte Phantasien und Wünsche aktivierte. Zu sehen ist das zeitgenössisch an den «Memorabilien» des Münchner Stararchitekten Leo von Klenze, der Lolas Einfluss auf Ludwig I. neidete und jede schmutzige Einzelheit notierte, die er irgendwo erfahren hatte.[18] Auch heute noch nehmen manche Biografen jedes Skandalgeschwätz auf.[19] Das Biografie-Genre lebt ohnehin von Skandalisierung – Skandale erhöhten damals wie heute den Marktwert.
Am Schluss ihrer Memoiren schrieb Lola, sie habe «dem starken Geschlecht überall den Fehdehandschuh hingeworfen und ihm gezeigt, wie wenig Recht es hat, sich in moralischer Hinsicht über uns Frauen zu erheben. Ich habe den Frauen gezeigt, daß, – wenn sie verständen, die Schwächen der Männer zu nützen, sie überall aufhören würden, das schwache Geschlecht zu sein.»[20] War sie eine Vorkämpferin der Frauenbewegung? Wohl eher nicht: Sie versprach sich viel von der individuellen Stärke von Frauen, wenig indes von organisierten Zusammenschlüssen. Ihr Ausspruch war aus der Erfahrung geboren, dass die gesellschaftliche Doppelmoral Frauen besonders hart trifft und dass Frauen Strategien brauchen, um einen Ausgleich zu schaffen. Ihrem Schönheitsratgeber «The Arts of Beauty» stellte sie 1858 als Widmung voran: «Allen Männern und Frauen aller Länder gewidmet, die sich nicht vor sich selbst fürchten und die genügend Zutrauen zu ihrer eigenen Seele haben, mit der Kraft ihrer eigenen Persönlichkeit aufzustehen und das Wagnis einzugehen, sich den Gezeitenströmen der Welt auszusetzen.»[21]
Lola Montez spiegelt in allen Farben. Auch sie selbst könne nicht, wie sie in ihrer «Autobiography» schrieb, das «Rätsel Lola Montez» lösen.[22] Doch man kann sich ihm multiperspektivisch annähern.
2.
Eliza Rosanna Gilbert, die spätere Lola Montez, kam wohl am 17. Februar 1821 zur Welt.[1] Die Eltern hatten am 29. April 1820 im irischen Cork geheiratet. Der Vater Edward Gilbert, ein Fähnrich der englischen Armee, gehörte einem Polizeiregiment an, das die aufrührerischen Iren im Zaum halten sollte. Er entstammte vermutlich, ob legal oder illegal, dem Adel. Die bei Elizas Geburt gerade 15-jährige Mutter, Elizabeth Oliver, war das jüngste von vier unehelichen Kindern, die Charles Silver Oliver, renommierter Parlamentsabgeordneter aus einer wohlhabenden und einflussreichen Familie, mit seiner Geliebten Mary Green in die Welt gesetzt hatte, bevor er eine standesgemäße Frau heiratete und mit ihr weitere Nachkommen zeugte. Er sorgte dennoch auch für seine unehelichen Kinder: Sie trugen seinen Namen, konnten eine Lehre machen und er vererbte jedem Kind die stattliche Summe von 500 Pfund. Elizabeth Oliver, ein hübsches Mädchen mit dunklen Augen und tiefschwarzem Haar, machte eine Lehre zur Putzmacherin – was man heute als Modistin bzw. Hutmacherin bezeichnen würde – in Cork. Dort lernte sie Edward Gilbert kennen und lieben. Am 6. Mai 1820 stand die Heirat im irischen Ennis Chronicle: «Edward Gilbert, wohlgeboren, 25. Regiment, mit Eliza, der Tochter von Charles Silver Oliver, wohlgeb., aus Castle Oliver, Mitglied des Parlaments».
Nach der Eheschließung zog das Paar mit dem Regiment von einer Stadt zur anderen. So wurde die Tochter Eliza zufällig im irischen Grange nahe Sligo geboren. Lola Montez schrieb 1858 in ihrer «Autobiography», die im Rahmen ihrer «Lectures» entstanden: «Lola wurde im zweiten Jahr dieser Ehe geboren. Sie vollzog ihr kleines Debüt auf dieser irdischen Bühne in der Mitte der Flitterwochen der jungen Leute, zu einem Zeitpunkt, als diese wenig gestimmt waren für den angemessenen Empfang einer so außergewöhnlichen Persönlichkeit.»[2] Sie beklagte ihr Leben lang, dass ihre Mutter sie vernachlässigt habe. Die sehr junge Frau war vermutlich mit ihrer Aufgabe überfordert, sie war lebenslustig und entwickelte zunehmend auch gesellschaftlichen Ehrgeiz.
Als Eliza zwei Jahre alt war, wechselte der Vater, sei es aus finanziellen Überlegungen oder aus Abenteuerlust, zur britischen Kolonialarmee in Indien, zum 44. Regiment, und trat mit der kleinen Familie die vier Monate dauernde Überfahrt an. Im Sommer 1823 landeten die Gilberts in Kalkutta. Edward Gilberts neues Regiment hatte sich bereits nach Danapore, 600 Meilen den Ganges aufwärts, eingeschifft. Auch die Gilberts traten diese beschwerliche Reise an. Doch Captain Edward Gilbert infizierte sich mit der Cholera und erreichte Danapore nur, um dort zu sterben. Die 17-jährige Witwe stand nun mit ihrer zweijährigen Tochter allein da. Im November trat sie die Rückreise nach Kalkutta an. Viele Möglichkeiten blieben ihr nicht, da das Geld für die Rückkehr nach Großbritannien nicht reichte: Ihr Ziel musste es sein, sich möglichst schnell wieder zu verheiraten. Und das gelang ihr auch: Mit dem 24-jährigen Leutnant Patrick Craigie, den sie 1824 ehelichte, hatte sie Glück. Er gehörte dem Einheimischen-Infanterieregiment der Ostindienkompanie an und entstammte einer guten Familie aus dem schottischen Montrose. Als fähiger Verwaltungsoffizier war er beliebt, verfügte über beste Verbindungen und stieg im Laufe der Jahre in der Kolonialhierarchie weit nach oben. Der Stiefvater war der kleinen Eliza sehr zugetan. Doch als sie fünf Jahre alt war, wurde sie, wie für Offizierskinder üblich, zur Erziehung nach England geschickt.
So weit eine nüchterne Beschreibung einer Kindheit voller Verluste, Trennungen und großer Reisen. Diese Zeit verlangte sicherlich viel Selbstbehauptungswillen von der kleinen Eliza, wollte sie nicht untergehen. Bis zu ihrem sechsten Lebensjahr war sie fast immer unterwegs, musste sich mit unbekannten Menschen und Situationen zurechtfinden. Auch die Kinderfrauen, die Ayas, die engsten Bezugspersonen des kleinen Mädchens, wechselten: Erst war es wohl eine junge Irin, dann betreuten ab dem dritten bis zum fünften Lebensjahr indische Ayas das Kind. Sie sei verhätschelt und verzogen worden, schrieb Lola später.[3]
Als Tochter und später Stieftochter eines britischen Offiziers gehörte Eliza zur europäischen Oberschicht in Indien. Dort wurden die Handelsinteressen der British East India Company durch reguläre britische Truppenkontingente und durch Eingeborenenregimenter unter britischer Leitung gesichert. Die Kompanie führte in Indien eine Art expansiver privatwirtschaftlicher Kolonialherrschaft: Es ging um den Handel mit Tee, Baumwolle, Salpeter, Seide und Indigo-Farbstoff, später dann auch vor allem um Opium. Sie hatte quasistaatliche Rechte, durfte Münzen prägen und über Krieg und Frieden bestimmen; für ihr brutales Vorgehen gegen die Einheimischen war sie berüchtigt. In Handelsdingen weitgehend selbständig, wurde sie jedoch seit dem 18. Jahrhundert zunehmend unter staatliche Verwaltung gestellt. 1823 verlor sie ihr Handelsmonopol, 1858 wurde British India zur Kronkolonie.[4] Die Offiziere der Kompanie mussten sich ihre Offizierspatente nicht wie in anderen Regimentern kaufen; das eröffnete Karrierechancen jenseits der ständischen Strukturen. Dieses Angebot bestand zur Kompensation der widrigen Lebensbedingungen mit Hitze, Seuchen, kriegerischen Auseinandersetzungen und staubigen Außenposten, die vielen Soldaten das Leben kosteten.
Dem kleinen Mädchen präsentierte sich Indien in seiner unendlichen Fülle von Blumen, Tieren, Gerüchen. Lola beschrieb in ihren Memoiren die Maßnahmen gegen die Hitze: An den hohen Decken waren große Fächer, «ponkas», befestigt. Die «Beira», Diener, hielten die Fächer auf dem Rücken liegend mit Schnüren unaufhörlich in Bewegung.[5] Selbst ein einfacher Offiziershaushalt beschäftigte über zehn Diener; dazu gehörte auch eine einheimische Aya. Gegen die Schmerzen der durchbrechenden Zähnchen kaute das Kind wie die Einheimischen Betelkraut, sie wurde mit Ananas, Bananen und Mangos aufgepäppelt, man aß auf dem Boden sitzend aus einer gemeinsamen Schüssel Reis. Gekleidet war sie nur in ein leichtes Hemd aus Gaze. Die Rückreise von Danapore nach Kalkutta über den Ganges führte vorbei an Kokospalmen, in denen Affen spielten, und an Krokodilen. Einmal fiel Eliza ins Wasser und wurde wieder herausgefischt.[6] Sie beschrieb sich als ein Kind, das immer hüpfen, tanzen und klettern musste. Auch die Tänze der jungen Inderinnen mit ihren «wunderlichen Windungen» der Körper hätten sie sehr beeindruckt. Diese unbeschwerte Lebensphase ging jedoch früh zu Ende: «So verließ ich denn mein erstes Vaterland, voll der poetischen Erinnerungen, der zauberhaften Schauspiele, der berauschenden Tänze, schied aus der Mitte derjenigen, bei welchen ich meine Kindheit verlebt hatte.»[7]
Mit Patrick Craigies früherem Kommandanten, Oberstleutnant William Innes, und seiner Familie trat die fünfjährige Eliza Gilbert auf dem Segelschiff «Malcolm» am 26. Dezember 1826 die lange Rückreise nach England an. Nach einem Halt in Madras (heute Chennai) und einer Fahrt quer über den Indischen Ozean umfuhr man die südlichste Spitze Afrikas. Nach fünf Monaten auf See erreichte die «Malcolm» London am 19. Mai 1827. Die Verwandten des Stiefvaters nahmen Eliza in Obhut und brachten sie nach Schottland.
Eliza lebte die nächsten fünf Jahre im schottischen Montrose. Patrick Craigies Vater – auch er hieß Patrick Craigie – war als Apotheker und langjähriger Bürgermeister von Montrose ein angesehener Mann in der Stadt; er wurde später geadelt. Das jüngste seiner insgesamt neun Kinder war nur sieben Jahre älter als Eliza. Lola Montez überliefert mit Blick auf das Kind Eliza in ihrer «Autobiography», dass «die Ankunft dieses sonderbaren, eigensinnigen kleinen indischen Mädchens sofort in ganz Montrose bekannt war. Die Eigentümlichkeiten ihrer Kleidung und, wie ich zu sagen wage, die nicht geringe Exzentrizität ihres Benehmens machten sie zu einem Objekt von Neugierde und Gerede und vermutlich nahm das Kind wahr, dass es so etwas wie eine öffentliche Person war, und mag sogar schon in diesem frühen Alter begonnen haben, ein eigenes Verhalten und eigene Gewohnheiten anzunehmen».[8] Sie habe weder ordentlich sprechen noch lesen oder schreiben können und nur den Gott Brahma gekannt, berichtete sie.
Über die Zeit in Montrose ist wenig überliefert. Eliza besuchte offenbar eine lokale Boarding School mit Französischklassen für Mädchen, hörte Vorträge über Astronomie und ging für den Religionsunterricht in die Samstagsschule. Sie war eine Rebellin, die sich immer wieder gegen das viktorianische Ideal des gehorsamen Kindes auflehnte. Eine von Elizas damaligen Schulkameradinnen, Mary Thompson, später verheiratete Buchanan, überlieferte: «Sie war störrisch und eigensinnig, aber gleichzeitig warmherzig und impulsiv; die harte Behandlung, die Teil des schottischen Erziehungssystems jener Zeit war, scheint sehr unklug und unglücklich in seinen Auswirkungen auf ein Temperament wie ihres gewesen zu sein.»[9] Die Neunjährige soll sich im Sommer 1830 in einem Wutanfall die Kleider vom Leib gerissen haben und nackt durch die historische High Street von Montrose gelaufen sein, um ihre Gastfamilie zu provozieren oder um gegen das disziplinierte Leben, das sie führen musste, aufzubegehren.[10] Sie selbst schrieb in ihren Memoiren: «Die kalte Temperatur zwang mir wärmere Kleidung und Fußbedeckung auf. Jedoch die Gewohnheiten meiner ersten Jugend, während welcher ich fast vollständig unbekleidet ging, übten einen solchen Einfluß auf mich, daß ich mir in meiner warmen, bequemen Bekleidung wie in einem Gefängnisse erschien.»[11] Sie sei als «anders», als exotisch und fremd wahrgenommen worden. Ihre Aussagen, sie sei anfangs immer noch von ihrer indischen Aya getragen worden und habe daher nicht richtig gehen können und es sei ihr unmöglich gewesen, gerade auf einem Stuhl zu sitzen, sind wohl auch als Chiffren dafür zu lesen, dass sie nicht «passte», als «unzivilisiert» und ungebildet galt, dass viele Blicke auf sie gerichtet waren und sie nicht genügen konnte.
Als Zehnjährige verließ Eliza die Familie Craigie. Lola vermutete in ihrer «Autobiography», dass ihre Eltern meinten, sie werde dort zu sehr verhätschelt und verwöhnt.[12] Sie wurde von der älteren Schwester ihres Stiefvaters, Mrs Catherine Rae, und deren Mann William nach England mitgenommen; das Paar eröffnete eine kleine Internatsschule in Durham. Solche Schulen waren von höchst unterschiedlicher Qualität. Meist wurde hier eine kleine Gruppe Mädchen zwischen zehn und 18 Jahren nach selbst erarbeiteten Lehrplänen unterrichtet; im Mittelpunkt stand der Erwerb von als weiblich angesehenen Fertigkeiten wie Handarbeiten, Zeichnen und Tanzen. Oft waren Mädchenpensionate erweiterte Familieneinrichtungen, die nicht mehr als sieben oder acht Mädchen beherbergten. Mädchenerziehung bedeutete in diesen Jahren auch meist Erziehung zum geltenden Weiblichkeitsbild, zu Anpassung und Unterwürfigkeit. Als weiblich galten Güte, Mitgefühl, Demut, Bescheidenheit, Sittlichkeit, Geduld, Feinfühligkeit und Takt. Darauf richtete sich dementsprechend die Erziehung.[13] Körperliche Züchtigung war Teil des Alltags, Rebellion wurde streng bestraft. Es gehörte zu den pädagogischen Glaubenssätzen der Zeit, dass man den starken Willen eines Kindes «brechen» müsse, bevor man ihn nach eigenen Vorstellungen wiederaufbauen könne.
Im zeitgenössischen Roman «Jane Eyre» von Charlotte Brontë wird die Ich-Erzählerin als Kind nach einem Temperamentsausbruch, mit dem sie sich gegen ungerechte Behandlung auflehnte, stundenlang allein in einen Raum eingesperrt, in dem vor vielen Jahren ihr Onkel gestorben war. Sie erlebt dort einen traumatischen Schrecken und fällt in eine tiefe Ohnmacht. Die Dienstboten beschuldigen sie, böse und hinterhältig zu sein, die Tante nennt sie lügnerisch und droht, Gott werde das Kind bei einem Wutanfall mit dem Tod bestrafen. Oliver Twist, der Held von Charles Dickens’ gleichnamigem Roman, wird im Armenhaus eine Woche im Kohlenkeller eingesperrt.[14] Ähnliche Bestrafungen erlebte Eliza. Ein Zeichenlehrer aus der Schule in Durham, J.G. Grant, schilderte das junge Mädchen: «Tatsächlich gaben die Heftigkeit und Halsstarrigkeit ihres Wesens ihrer gutmütigen, freundlichen Tante nur allzu häufig Anlaß zu schmerzlicher Besorgnis; ich erinnere mich, daß Eliza einmal erst aus ihrer Einzelhaft entlassen werden mußte, in der sie den ganzen vorherigen Tag wegen eines rebellischen Ausbruchs von Leidenschaft gehalten worden war, damit sie den Unterricht besuchen konnte. Die Tür wurde aufgeschlossen und heraus kam bereits eine kleine Lola Montez, die wie eine junge Tigerin aussah, die gerade von einer Höhle in die andere entkommen war.»[15] Nein, Eliza wurde nicht ohnmächtig in Einzelhaft wie Jane Eyre, doch diese Willensstärke galt als Makel. Der Zeichenlehrer beschrieb sie als anmutig und hübsch, ihr Charme sei jedoch beeinträchtigt worden «von einem Ausdruck von dreister Selbstgefälligkeit – ich würde fast sagen von hochmütiger Ungeniertheit […] in völliger Übereinstimmung mit dem Ausdruck ihres sonst schönen Antlitzes, nämlich dem des unbezähmbaren Eigenwillens – eine Eigenschaft, die sich, glaube ich, schon seit ihrer frühen Kindheit gezeigt hatte. Ihre Züge waren regelmäßig, konnten jedoch ihren Ausdruck rasch und stark verändern. Ihr Teint war orientalisch dunkel, aber durchscheinend klar, die Augen waren tiefblau und, wie ich mich genau erinnere, von außerordentlicher Schönheit, strahlten hell und gaben wenig Hinweis auf die sanften und zarten Gefühle ihres Geschlechts als vielmehr auf stürmischere und leidenschaftliche Erregungen»; man sei sehr schnell zu der Überzeugung gekommen, «daß sie sehr eigenwillig und schwierig war». Auch von der 1819 geborenen späteren Königin Victoria von England wird berichtet, dass sie als willensstark galt und als Kind gelegentlich Tobsuchtsanfälle hatte. Sie wurde vom Personal als «Miniaturherkules» bezeichnet.[16] Später vertraute sie ihrer ältesten Tochter an, sie habe eine unglückliche Jugend gehabt: Es fehlte ihr ein vertrauensvolles Verhältnis zur Mutter, sie hatte keine Brüder und Schwestern. Vor allem habe ihr aber ein «Auslauf für meine starken Gefühle und Zuneigungen» gefehlt. Das Problem bestand also für englische Mädchen aller Gesellschaftsschichten.
Ein temperamentvolles, phantasiebegabtes und eigenwilliges Kind wie Eliza, das sich bereits sehr früh auf sich allein gestellt sah und einen großen Selbstbehauptungswillen entwickelte, um nicht unterzugehen, passte nicht in den Rahmen konventioneller englischer Erziehung. Die Lehrer sahen sich im Einklang mit den zeitgenössischen Gesellschaftsentwürfen, wenn sie alles unterdrückten, was nach Rebellion oder Unangepasstheit aussah. Der Zeichenlehrer gab überdies, das zeigt die Namensnennung als «kleine Lola Montez» und nicht als Eliza Gilbert, sein Statement zu einem Zeitpunkt ab, zu dem aus Eliza schon die berüchtigte Lola Montez geworden war. Dies bestimmte sicher seine Erinnerung mit.
Eliza blieb nur ein Jahr in Durham. Als Hauptmann Craigies ehemaliger Kommandeur, Generalmajor Sir Jasper Nicolls, nach England zurückkehrte, bat ihn Craigie, für eine bessere Erziehung seiner Stieftochter zu sorgen: Nicolls, ein Offizier alter Schule, hatte selbst etliche Töchter. Als Mrs Rae und Eliza am 14. September 1832 bei ihm in Reading eintrafen, machte die elfjährige Eliza auf den strengen Mann keinen guten Eindruck. «Heute kam aus Durham Hauptmann Craigie’s Schwester mit Mrs C’s Tochter an, die wir, ihrer Bitte gemäß, in eine Schule geben sollten. Wenn das so weitergeht, werde ich eine hübsche Anzahl von Kindern haben, auf die ich aufpassen muss.»[17] In ihren Memoiren schrieb Lola Montez über ihn: «Der alte General mit seinen noblen und strengen Sitten imponierte durch seine stolze Kälte erwachsenen Personen, und flößte den kleinen Furcht ein. Seine Züge waren durch die Gewohnheit der Macht, welche er in seinen Händen gehabt, und die große Verantwortlichkeit, mit welcher sie ihn belastet hatte, sehr strenge geworden. Sein Aufenthalt in Indien, die Gewohnheit des Befehlens, die beständige Berührung mit dem eingebornen Militär hatten den General zu einem Haustyrannen gemacht.»[18] Sie habe, so Lola, bei ihrem Aufenthalt das ganze Haus auf den Kopf gestellt und «die Dienerschaft in eine wahre Revolution versetzt». Ihre vielen Mutwilligkeiten hätten den General dazu gebracht, «sogar den Mund zu öffnen und sich über mich zu erzürnen». In seinem Tagebuch schrieb Nicolls später von Elizas «Eitelkeit und Lügen», er prognostizierte diesem Mädchen keine gute Zukunft. Doch wie mit Patrick Craigie vereinbart, brachte er sie in einem vornehmen Internat in Bath unter.[19]
Englands starre Klassengesellschaft spiegelte sich in seinem Erziehungswesen:[20] Schulen waren Geldsache. Den Unterschichten standen nur rudimentäre Möglichkeiten zur Verfügung, die Analphabetenquote war vor allem bei den Frauen hoch. Eine Ausbildung erhielten Mädchen mit Blick auf ihre Rolle für die nächste Generation, galt doch die Erziehung durch die Mutter als wichtigster Faktor der kindlichen Sozialisation. Meist wurden Töchter der wohlhabenden Mittelschicht, die im früh industrialisierten Großbritannien entstanden war, ebenso wie Kinder der Oberschicht von Gouvernanten zu Hause erzogen oder eben in eines der vornehmen und anspruchsvolleren Pensionate, z.B. in Bath, gegeben.[21] Bath war dank seiner heißen Quellen bereits in der Antike bei den Römern beliebt und entwickelte sich seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts immer mehr zum mondänen englischen Kurort. Die Internate dort waren teuer, oft teurer als die Erziehung durch eine Gouvernante.[22] Ein Platz in einem dieser Mädchenpensionate in Bath kostete jährlich zwischen 70 und 80 Pfund. Patrick Craigie muss deutlich mehr für die Erziehung seiner Stieftochter aufgewendet haben; Nicolls schreibt in seinem Tagebuch, Elizas Ausbildung habe insgesamt rund 1000 Pfund gekostet.[23]
Die Aldridge Academy im vornehmen Camden Place (heute Camden Crescent), geführt von den Schwestern Eliza und Caroline Aldridge, bot auch tatsächlich mehr als andere Mädchenpensionate. Hier wurden 15 Internatsschülerinnen zwischen zehn und 18 Jahren unterrichtet.[24] Neben dem Kanon weiblicher Fertigkeiten gab es Unterricht in Sprachen, Latein und Französisch. Lola Montez berichtete in ihren Memoiren, dass den Mrs Aldrigde gelang, was vorher gescheitert war: «Ich war weniger wild, ich begann mich in eine Europäerin umzuwandeln. Ich zeigte mich wohlmeinenden Worten zugänglich und noch mehr den guten Beispielen.»[25] Zu den Usancen der Schule gehörte die Regel, dass die Schülerinnen unter der Woche nur Französisch miteinander sprechen durften. Wenn ihnen ein englisches Wort entschlüpfte, mussten sie dafür von ihrem Taschengeld Strafen zugunsten der Armen bezahlen. Nur sonntags war englische Konversation erlaubt. Lola betonte, dass sie zwar Fortschritte im Gehorsam gemacht habe, aber immer noch zu Regelverstößen neigte. «Mein Hang zu Neckereien, Possen und losen Streichen machten mich stets zur Anführerin aller Verschwörungen gegen das Reglement.» Als Strafe musste «eine alte Magd […] mit ihrem Lederriemen mir einige tüchtige Fuchtelhiebe aufzählen». Danach erfand sie neue Streiche. «Um diesen maurischen Charakter, welcher unbeugsam wie Eisen wurde, zu dämpfen, befahl Mistreß dem ganzen Hause mit der größten Strenge gegen mich zu verfahren.» Sie sei leidenschaftlich und wissensdurstig gewesen, stets in Bewegung und ausgelassen. Auch eine destruktive Seite erkannte sie selbst: Auf der Suche nach nicht Benennbarem habe sie zum Entsetzen ihrer sanften Freundin Fanny Nicolls, der jüngsten Tochter von Sir Jasper und nur ein Jahr älter als sie selbst, Spielzeug zertrümmert und Puppen den Körper und den Kopf aufgerissen. Sonntags gingen alle gemeinsam in die Kirche. Da knüpfte Eliza auch erste zarte Bande zu einem Jungen aus dem benachbarten Knabenpensionat: Sie sei damals zwölf gewesen, er 17 Jahre alt.
Die Schülerinnen kamen mit dem gesellschaftlichen Leben des Kurortes oder überhaupt mit der Außenwelt kaum in Berührung. Auch in den Memoiren steht nichts darüber. Lola gab an, dass sie die Ferien jeweils bei der Familie Nicolls verbrachte. Mrs Nicolls sei mit Fanny und Eliza sogar nach Paris gefahren. In Sir Jasper Nicolls’ Tagebüchern findet sich dafür jedoch keine Bestätigung.[26] Sie knüpfte mit ihren Pensionatsgenossinnen offenbar auch keine dauerhaften Freundschaften, auf die sie später hätte zurückgreifen können. Insgesamt scheint Eliza in der Aldrigde Academy aber trotz mancher Konflikte recht glücklich gewesen zu sein. Sie erhielt hier eine für ein Mädchen ihrer Zeit sehr gute Ausbildung, die ihr später noch zugutekommen sollte. Das galt für die Sprachen, vor allem für Französisch, sie lernte aber auch Literatur, Kunst und Philosophie kennen. Sticken und Klavierspielen blieben lebenslang ihre Hobbys. Lola Montez resümierte jedoch in ihren Memoiren, man habe sie zur Salondame erzogen, nicht zur Familienmutter, sie sei zu Eitelkeit und Luxus ermutigt worden. «Anstatt uns auf die Fallstricke der Welt aufmerksam zu machen, hatte man es vorgezogen, sie unter Blumen zu verbergen. Anstatt uns gegen den Feind zu bewaffnen, hatte man uns ihm schutzlos in die Hände geliefert.»[27]
Hier findet sich ein Bild, das bereits früh Elizas und dann auch Lolas Leben prägte: das Bild des Kampfes, für den man Waffen braucht. «Der Feind» ist an dieser Stelle nicht näher bestimmt: Ist es der Mann? Die Gesellschaft mit ihren als unangemessen empfundenen Forderungen? Wenn sie am Schluss ihrer Memoiren schrieb, sie habe «dem starken Geschlecht überall den Fehdehandschuh hingeworfen»,[28] so war nicht zuletzt dieser Kampf gemeint.
Die Abschottung im Pensionat war jedenfalls fast komplett. Von den Spannungen, den politischen und sozialen Verwerfungen und dem Wandel im England dieser Zeit bekamen die Mädchen nichts mit. Die wachsenden Industriestädte griffen in ihre Umgebung aus, brach liegende Felder, Kuhställe, Dunghaufen und Schuttgruben bestimmten die Vorstädte; Fabriken, Werkstätten, Arbeitersiedlungen, Tavernen und Bäckereien drängten in die ländliche Umgebung und verwandelten ihr Gesicht. Ausgehend von Slums wie dem Londoner Jacob’s Island überzog 1832 die Cholera die Stadt. Charles Dickens schilderte das London der Kinderarbeit und der niederdrückenden Gefängnisse, von Schmutz und Elend.[29] Mit den ersten Eisenbahnlinien begann 1834 der Einbruch der Moderne, es entstanden Schienen, Bahnhöfe, Maschinenschuppen, Reparaturwerkstätten. Kaum eine Phase der britischen Geschichte war so aufgewühlt:[3031