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ISBN Print: 978 3 8006 6370 5
ISBN ePDF: 978 3 8006 6371 2
ISBN ePUB: 978 3 8006 6372 9
© 2020 Verlag Franz Vahlen GmbH, Wilhelmstr. 9, 80801 München
Satz: Fotosatz Buck
Zweikirchener Str. 7, 84036 Kumhausen
Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH
Am Fliegerhorst 8, 99947 Bad Langensalza
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Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier
(hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff)
Vorwort der Autoren und Danksagung
Vorwort von Dr. Thomas Sattelberger, Mitglied des Deutschen Bundestages, ehemaliger Personalvorstand der Deutschen Telekom AG
1. Einleitung: Die Kraft der Graswurzel
2. Graswurzelinitiative, Change-Projekt, Culture-Hack: Kann man Unternehmenskultur geplant verändern?
2.1 Die Wirksamkeit von Veränderungsinitiativen in Unternehmen: Top-down? Bottom-up?
2.2 Was wir unter einer Graswurzelinitiative in Organisationen verstehen
2.3 Der Wind unter den Flügeln von Graswurzelinitiativen: Vernetzung, Demokratisierung, Partizipation
3. Bewegung aus der Mitte – Woher? Wohin? Wozu?
3.1 Nährboden: Die äußeren Motivatoren für Graswurzelinitiativen
3.2 Initialzündungen: Einer fängt an zu tanzen
3.3 Sprösslinge: Vom Sämling zum Pflänzchen
3.4 Wirksamkeit: Die Bewegung gewinnt an Fahrt
3.5 Out of control: Die Bewegung erhält Gegenwind
3.6 Multiplikatoren: Dünger für die Graswurzel
3.7 Sponsoren und Mentoren: Die Schutzengel der Initiative
3.8 Andockmanöver: Die Wege aus der „brauchbaren Illegalität“
3.9 Manöverkritik: Was bleibt von der Graswurzel?
64. Quo vadis, Graswurzelinitiativen und Unternehmenskultur?
Nachwort: Handeln ohne Auftrag, oder: Was Organisationen gar nicht mögen, Platz 1
Kurzfragebogen für Graswurzelakteure: Katharina Krentz, Robert Bosch GmbH
Kurzfragebogen für Graswurzelakteure: Karsten vom Bruch
Kurzfragebogen für Graswurzelakteure: Rainer Gimbel, Evonik AG
Kurzfragebogen für Graswurzelakteure: Oliver Herbert, Daimler AG
Kurzfragebogen für Graswurzelakteure: Andrea Demaria, Siemens AG
Kurzfragebogen für Graswurzelakteure: Shakil Awan, Deutsche Telekom AG/Gründungsteam LEX
Kurzfragebogen für Graswurzelakteure: Tobias Leisgang, Texas Instruments
Quellen- und Literaturverzeichnis
Über die Autoren
Wie Veränderungen aus der Mitte des Unternehmens entstehen – und wie sie erfolgreich sein können
von
Sabine Kluge
und
Alexander Kluge
Verlag Franz Vahlen GmbH
Was passiert eigentlich, wenn sich Mitarbeiter aus der Mitte der Organisation selbstorganisiert in Bewegung setzen, um ihr Unternehmen zu verändern? Eine Graswurzelinitiative ist oft mehr als ein kurzer, einmaliger Impuls, denn sie hat das Potenzial, Organisationen nachhaltig zu verändern. Das Buch bietet eine Nahaufnahme aus deutschen Konzernen. Es beleuchtet Initiativen aus Sicht von Entscheidern und Akteuren und zeigt die kritischen Erfolgsfaktoren.
Als ehemaliger Vorstand von Telekom, Lufthansa und Continental bekannt und heute aktives Bundestagsmitglied kommentiert Dr. Thomas Sattelberger seine Sicht auf die Rolle von Graswurzelinitiativen für den Wandel aus der Mitte im Rahmen der aus seiner Sicht dringende notwendigen Selbsterneuerung der deutschen Wirtschaft.
Der Epilog der bekannten Organisationssoziologin Judith Muster (Universität Potsdam) ergänzt schließlich die praktischen Beobachtungen und Analysen der Autoren um eine kritische Würdigung von Veränderungsinitiativen aus der Mitte aus organisationssoziologischer Sicht und liefert damit eine weitere Facette auf die Thematik.
Die Autoren Alexander und Sabine Kluge gestalten mit ihrem Unternehmen Kluge+Konsorten digitale und kulturelle Transformationsvorhaben in Organisationen. Viele der im Buch vorgestellten Graswurzelinitiativen haben sie persönlich begleitet und beschreiben damit deren Erfolgsfaktoren nicht nur aus der beobachtenden, sondern auch aus der mitgestaltenden Perspektive.
Seit mehreren Jahren beschäftigt uns die wachsende Energie, die aus der Mitte von Unternehmen erwächst. So sind wir in den vergangenen Jahren vielfach dem Ruf von Graswurzel-Akteuren gefolgt, sie bei ihren Transformationsvorhaben zu unterstützen. Nicht selten gelang dies nur pro bono, weil es ohne formalen Auftrag kein Budget und ohne Budget in Unternehmen eigentlich kein Bewegen geben kann. Es lag uns also am Herzen zu helfen, aber auch zu verstehen, was die Beweggründe für Initiatoren waren und sind, diesen Kraftakt der „Extra-Meile“, Konflikte und Widerstände auf sich zu nehmen; und so verstanden wir das Privileg des Teilens und Begleitens in den jeweiligen Organisationen als würdigen Lohn, denn die Beobachtung der jeweiligen Entwicklung haben wir als großes Lernfeld dankbar in Anspruch genommen.
Nicht alle der beschriebenen Graswurzelinitiativen haben wir begleitet, und nicht alle, die wir begleitet haben, konnten wir in diesem Buch in der gebotenen Offenheit beschreiben. Wir haben jedoch die aus unserer Sicht prominenten Beispiele herausgesucht, an denen sich die Mechanismen und Phasen einer Bewegung aus der Mitte besonders plastisch beschreiben lassen.
Danken möchten wir allen namentlich genannten und nicht genannten Graswurzel-Initiatoren – und ihren zahlreichen Mitstreitern in den jeweiligen Unternehmen, dafür, dass sie uns teilhaben ließen. Sie alle haben uns einen neuen Blick auf traditionelle Unternehmenskulturen gewährt, verbunden mit der Hoffnung, dass Veränderung von Organisationen heute aus vielen Richtungen kommen kann. Auch den Autoren, die hier mitgewirkt haben, möchten wir von Herzen für ihre wertvollen Perspektiven und Beiträge danken: Dr. Thomas Sattelberger, der als ehemaliger Personalvorstand der Telekom und heutiger Bundestagsabgeordneter einer der wortgewaltigen Streiter für eine andere Arbeitswelt ist, und Judith Muster, die es mit der Perspektive der Organisationssoziologie in der ihr eigenen, unverwechselbar einzigartigen, nüchternen Heiterkeit immer wieder vermag, uns auf den Boden der begrenzenden Realität zurückzuholen. Schließlich wäre dieses Buch nicht ohne unseren Begleiter Harald Willenbrock entstanden. Er fräste sich mit großer Geduld wieder und wieder durch unsere Ausführungen, ordnete 8unsere Gedanken und Beobachtungen und hat so ganz wesentlich dazu beigetragen, dass unser Herzensprojekt nun in dieser Form vor Ihnen liegt.
Kein Wirtschaftswunder 2.0 ohne Graswurzel-Bewegungen
„Nach der Coronakrise braucht es das Wirtschaftswunder 2.0“ so der Titel meines Gastkommentars mitten in der Corona-Krise im Frühjahr 2020 im Handelsblatt, dessen enorme Resonanz mich selbst dann doch überrascht hat.
Es scheint, als sei der Beitrag mit seiner Analyse und den daraus resultierenden Zukunftsperspektiven zur rechten Zeit erschienen. „Schon vor dieser Krise stand die Rezession vor der Tür, hatte Deutschland die niedrigste Innovatorenquote seit Beginn der KfW-Analysen 2002, erlebten Tausende Zombie-Unternehmen Scheinblüte wegen Niedrigstzinspolitik. Schon vor dieser Krise mangelte es der Automobilbranche an Transformation und der Gründerszene an Skalierung.“ – So meine schonungslose Analyse für das Handelsblatt.
Eine solche Krise braucht ein neues Hoffnungs-Narrativ. Mein Vorschlag: ein Wirtschaftswunder 2.0. Sieben Handlungsfelder sah und sehe ich dafür als besonders relevant an, einige davon haben eine hoffe Affinität zum Konzept der Graswurzelbewegungen in Unternehmen und auch auf gesellschaftlicher Ebene:
1. Deep-Tech-Republik Deutschland. Internet der Dinge, Künstliche Intelligenz, Biotech, Raumfahrt: unsere Zukunftsbranchen. Innovation und ihre Kommerzialisierung, das ist nicht die Domäne von Fraunhofer & Co. Da müssen jetzt Science Entrepreneurs, Start-ups und wagemutige Hidden Champions ran.
2. Digitale Freiheitszonen. Shenzhen ist um die Ecke: Frankreich, Polen, Großbritannien nutzen seit Jahrzehnten die Hebeleffekte von Hotspots und Free Enterprise Zones. Diese digitalen Freiheitszonen können die Wende bringen – durch Vernetzung von Start-ups, Spin-offs und innovativen Mittelständlern mit Hochschulen, Forschungs- und Transferzentren, Kommunen, Regionalentwicklern.
10Start-ups wachsen so zu Scale-ups. Mittelständler transformieren so Geschäftsmodelle. Kommunen wandeln sich so zu E-Service-Anbietern für Bürger. Agil, unbürokratisch, steuerbegünstigt, innovativ.
3. Systemrelevante Industrie wieder Made in Germany. Puffer- und nahtlose globale Wertschöpfungsketten erweisen sich in der Krise als Mythos. Systemrelevante Teile unserer Wertschöpfung müssen wir renationalisieren oder europäisieren: Medizintechnik, Schutzausrüstung, Biotech, Nahrungsmittel, digitale Infrastruktur. Redundanz, um resilient zu werden.
4. Antitrust & Small is beautiful. Nach der Krise fressen die Großen die Kleinen. Jenseits bestehender digitaler Mono- und Oligopole drohen Übernahme- und Konzentrationswellen. Und dies ausgerechnet unseren ohnehin nicht reichlich gesäten Tech-Start-ups und -Mittelständlern. Jetzt hilft nur flexibles Kartellrecht, zumindest temporär. Einerseits bei Kooperationen zwischen Wettbewerbern (etwa bei Pharmaforschung und Entwicklung oder Sicherstellung der Daseinsvorsorge). Andererseits bei der Abwehr feindlicher Übernahmen mithilfe Weißer Ritter.
5. New Deal für Deutschlands digitalen Hoover-Staudamm. Deutschland hat stark entzündete Achillesfersen: Homeschooling, E-Health, E-Government, Homeoffice der öffentlichen Verwaltung. Der Staat muss jetzt als „prime customer“ für Megadigitalisierungsprojekte agieren. Neben den allemal nötigen Infrastrukturprojekten, angefangen bei Brücken- und Schulrenovierungen. Hoover und Roosevelt haben uns das in der Great Depression vor 100 Jahren erfolgreich vorgemacht.
6. Bildungsoffensive. Den alten Bildungsmuff mit digitalem Zuckerguss zu überziehen, greift zu kurz. Nötig sind kluge hybride Lösungen, die Analog und Digital verknüpfen und soziale Durchlässigkeit fördern.
Wir müssen Bildung grundlegend neu denken. Sie ist heute viel zu oft Paukschule und Reproduktionsmaschine anstelle von Emanzipation und lebenslanger Berufsbefähigung. Gegenmittel: Summerhill 2.0 statt Nürnberger Trichter.
117. Mit New Work zur Entrepreneurial Society. Das ist weit mehr als Homeoffice und die damit verbundene individuelle Souveränität für abhängig Beschäftigte. Es bedeutet balancierte Freiheits- und Schutzrechte für Freelancer und die wachsende Crowdwork. Und es hat mit Agilität und moderner Sozialpartnerschaft zu tun. Sowie mit (im)materieller Mitarbeiterbeteiligung.
Wie einst bei Ludwig Erhards Wirtschaftswunder gehört die Zukunft wieder Unternehmern, Machern, Gründern. Frauen wie Männern. Nur dass sie heutzutage neues Wachstum in innovativen Ökosystemen, innerhalb wie zwischen Organisationen schaffen müssen. Ein solcher Sprung nach vorn muss Menschen emotional gewinnen – mit eben jenem Wirtschaftswunder 2.0.
Diese Veränderung stellt dabei auch das traditionelle Machtgefüge in Frage. Das ist im Prinzip keine neue Erkenntnis. Schon Manuel Castells diagnostizierte: „Die Verbindung der Eliten untereinander und die Segmentation und Desorganisation der Massen, dies scheint der Doppelmechanismus sozialer Herrschaft zu sein.“ Was wir heute in der Zeit von Vernetzung und damit verbunden an Dynamik der Veränderung erleben, zeigt den radikalen Wandel. Die Bewegungen aus der Mitte, die Graswurzeln, erhalten ein Instrument, das ihr Anliegen unterstützt: Die Macht der Netzwerke. Als noch radikalere Hypothese: Die Verhältnisse drehen sich vielleicht gerade – die Eliten dissoziieren sich, auch in den Sektoren (Politik, Wirtschaft, …), während die Graswurzeln Instrumente erhalten, die ihr Anliegen so weit unterstützen, dass sich Machtverhältnisse fundamental wandeln.
Nichts hat dies besser belegt als der Business-Of-War-Brief der Google-Mitarbeiter an ihren CEO Sundar Pichai. Ihr erfolgreicher Protest machte zweierlei deutlich: zum einen die Entfremdung zwischen dem Pentagon und dem Silicon Valley, zum anderen die Macht der Google-Graswurzel, die keine Tätigkeit von Google für das Pentagon akzeptieren wollte.
Gerade dieser Imperativ erfordert ein fundamentales Umdenken, eine Auflösung von „oben“ und „unten“ in Unternehmen – der Imitation feudaler Strukturen des vergangenen Jahrhunderts im Wirtschaftssystem. Nach 1945, die Welt lag in Trümmern, begann der Wiederaufbau, allerdings nach wie vor mit alten Schlüsselindustrien 12und Korporatismus. Doch lange schon wissen wir: Es müssen neue partizipative Ansätze her, um unsere Organisationen von innen heraus zu verändern. Denn, und auch das wird in der Krise deutlich, die Kraft aus der Mitte wird entscheidend sein, wenn Organisationen sich schneller denn je an ein „neues Normal“ anpassen müssen.
Graswurzelinitiativen ermöglichen es, dass die Richtigen, nicht die Zuständigen den Unternehmenserfolg gestalten. Mündige Mitarbeiter fordern heute diese Form des demokratischen, konstruktiven Dialogs. Sie fordern eine andere Form der Unternehmensführung und Organisation.
Kluge Unternehmenslenker begreifen dies als Chance und verstecken sich nicht hinter sinnentleerten Regeln und Prozessen – sie öffnen den Raum für die Intelligenz aus der Mitte. Von Jack Welch, dem GE Manager mit der Eisenhand, lernten wir: Wenn die Geschwindigkeit außerhalb der Organisation höher ist als innen, ist das Ende nah. Aus dem vorliegenden Buch können wir schließen, dass das Ende ebenfalls naht, wenn Mitarbeiter aufhören zu (wider)-sprechen, zu streiten, zu kämpfen, ja ihre Existenz zu riskieren für „ihr“ Unternehmen. Denn dann ist der letzte Funke Stolz, der letzte Tropfen Herzblut im hoffnungslosen „Dienst nach Vorschrift“ und damit für die Erneuerung aus der eigenen Mitte versiegt.
Schon daher empfiehlt es sich, zarte Pflänzchen von Widerspruch und Kreativität aus der Mitte zu hegen, zu pflegen, auch wenn dies im Regelfall Irritation verbreitet und Anstrengung sowie ein Verlassen der Komfortzone aller erfordert – mithin die entscheidenden Anpassungskräfte des Wandels. Denn diese Energie liegt in viel zu vielen Unternehmen immer noch brach – eine Verschwendung, die sich Unternehmenslenker heute nicht mehr leisten können. Keine Frage, dass die dramatischen Ereignisse der Gegenwart mehr denn je zu schnellem Umdenken zwingen – aber auch zu schnellem Handeln.
Wie aber gelingt uns die Umsetzung? Meine für das neue Werk der Autoren und Transformationsexperten Alexander und Sabine Kluge nicht ganz irrelevante Hypothese dazu: Kein Wirtschaftswunder 2.0 ohne Graswurzel-Bewegungen in den Unternehmen und zwischen den Unternehmen. Gerade das Konzept der Digitalen Freiheitszonen 13braucht Fleisch und Blut, das heißt Enthusiasmus und Energie der lokalen bzw. regionalen Akteure.
Die Transformation braucht also auf verschiedenen Ebenen diese Transformations-Netzwerke jenseits des Tagesgeschäfts.
So weit, so gut. Und eigentlich auch nicht ganz neu – im besten Sinne! In unserem Buch „Das demokratische Unternehmen“ formulierte ich vor fünf Jahren: „Wenn die deutschen Unternehmen den Weg zur Demokratisierung und des Kulturwandels gehen, können sie wieder innovationsfähiger werden, jenseits von Effizienz- und Rationalisierungsinnovationen. Ein demokratisches Unternehmen gewinnt an technologischer und sozialer Innovationskraft, weil technologische und soziale Innovationen wie Zwillinge sind.“ Die Notwendigkeit des Gleichschwungs von technologischer und sozialer Innovationskraft ist mehr denn je mein Mantra. Vielleicht ist die Corona-Krise jetzt der Katalysator, der den nachhaltigen Wandel hervorbringt.
Dann hätte der Schrecken der Pandemie am Ende doch noch etwas Positives. Auf jeden Fall ist es wertvoll, dass die Kluges als frühe Pioniere der Graswurzel-Bewegungen und der Netzwerk-Ökonomie nun ein Werk vorgelegt haben, das dieses Phänomen fundiert reflektiert. Möge ihr Werk möglichst Leser finden und Transformatoren ermutigen!
Sind Sie Mitarbeitende eines großen, traditionellen Unternehmens? Wie viele Veränderungsprojekte haben Sie bereits erlebt? Und wie viele davon, würden Sie sagen, waren wirklich erfolgreich? Welcher Anteil jedoch versandete im Ungefähren, Unvollendeten, Unbefriedigenden?
Sind Sie Entscheider in einem klassischen Konzern? Möglicherweise gar Vorstand? Wie viele Change-Programme haben Sie Ihrer Organisation schon verordnet? Und wie viele davon haben tatsächlich bei den Menschen in Ihrer Organisation verfangen – und für alle weithin erkennbar, Entscheider wie Betroffene und Beteiligte – Abläufe, Zusammenarbeit, Produktivität und Ergebnisse verbessert?
Wenn Sie zu einer dieser beiden Gruppen gehören, wissen Sie vermutlich: Solange Menschen den Nutzen einer Veränderung nicht schnell und unmittelbar erkennen, ist sie kaum effektiv umzusetzen. Stattdessen bleiben bei jedem neuen Change-Prozess weitere Mitarbeitende auf der Strecke, die die Veränderung nicht mitgehen können oder wollen und protestierend oder in innerer Emigration und nicht selten dauerhafter Unproduktivität versunken zurückbleiben. Die Folgen sind dramatisch – für den Einzelnen, für die Organisation, für unsere Wirtschaft, allem voran jedoch für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen. Glaubt man dem sogenannten Engagement Index Deutschland des Beratungsunternehmens Gallup, das einmal jährlich in einer repräsentativen Studie die Zufriedenheit von Mitarbeitenden mit ihrem Arbeitsplatz abfragt, sieht es in den Betrieben düster aus.
16Lediglich 15 Prozent der befragten Arbeitnehmer fühlten sich in ihren Betrieben wohl, etwa genauso viele, wie innerlich bereits gekündigt haben.
Und 71 Prozent gaben an, nur noch Dienst nach Vorschrift zu machen.
Veränderungsturbo Demokratisierung
Gerade etablierten Unternehmen bleibt damit gar keine andere Wahl, als sich radikal zu erneuern. Das liegt ganz wesentlich an den Auswirkungen der Individualisierung und des demokratischen Reifegrades unserer Gesellschaft. Als Folge erleben wir zunehmend (potenzielle) Mitarbeitende, die heute nur noch wenig Lust verspüren, ein Berufsleben lang als Rädchen im Unternehmensgetriebe zu agieren. Viele haben ganz andere Vorstellungen von Organisation, Struktur und dem Sinn ihrer Arbeit, als Generationen vor ihnen.
Veränderungsturbo Digitalisierung
In Unternehmen jeder Branche löste und löst die Digitalisierung unserer Arbeitswelt einen unentrinnbaren Veränderungsdruck aus. Denn sie erleben wir als einen gewaltigen Wandlungsmotor, der propellergleich Märkte, Wettbewerbsumfelder und Geschäftsmodelle durcheinanderwirbelt und Organisationen zwingt, sich mit bislang ungekannter Geschwindigkeit und Konsequenz anzupassen, um jenem Sturm zu trotzen, der da draußen tobt. Für viele Firmen geht es ums Überleben. Und ob ihnen dies gelingt, hängt allein von ihrer Veränderungsbereitschaft und -kompetenz als Organisation 17ab. Und dazu brauchen sie ein Set von Fähigkeiten, die etablierten Firmen eher fremd sind: Selbstorganisation, Anpassungsfähigkeit, Eigenverantwortung der Mitarbeitenden, Vertrauen und höchste Flexibilität zum Beispiel.
Wir, die Autoren dieses Buches, sind als Organisationsgestalter fast jede Woche in solchen Unternehmen unterwegs. Wir erleben, wie enorm schwer sich die meisten Organisationen, bzw. die dort zugehörigen Menschen, mit dieser Häutung tun. Es ist, als verlangte man von einem 18-Tonner, sich wendig und mit hoher Geschwindigkeit durch die engen Nebenstraßen einer quirligen Großstadt zu kämpfen: früher oder später bleibt er unweigerlich stecken.
Dringt man jedoch tief in diese scheinbar starren Großorganisationen vor, entdeckt man in ihren Verästelungen vielerorts umtriebige Keimzellen der Veränderung: Mitarbeitende, die aus Unzufriedenheit mit den Verhältnissen oder der schlichten Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann, selbsttätig die Initiative ergreifen. Sich mit Gleichgesinnten vernetzen und für sich, für einen bestimmten Unternehmenszweig oder für die ganze Firma eine neue Perspektive entwickeln. Gruppen, die eigenständig an neuen Arbeitsformen, veränderten Geschäftsmodellen, mitunter sogar der Neuerfindung ihres Unternehmens arbeiten. Und zwar ohne Auftrag, häufig genug auch ohne Wissen, geschweige denn Segen von Vorgesetzten und Entscheidungsträgern. Und nicht selten auch gegen ihren hierarchisch verordneten Arbeitsauftrag – oder aber in eigenverantwortlicher, man möchte sagen, eigenmächtiger Veränderung desselben.
So war es beispielsweise beim traditionsreichen Siemens-Gasturbinenwerk in Berlin-Moabit, wo 2014 mit dem Budget von zwölf Millionen Euro eine neue Fertigungslinie geplant werden sollte – selbstverständlich und unhinterfragt nach der klassischen Prozessstruktur, was bedeutet: Mit hochgradig durchdachten Budget- und Kostenplänen, klar definierten Meilensteinen, sogenannten Quality Gates zur Definition des Projektfortschritts im Rahmen des Standard-Reporting und damit äußerst akkurat geplanten Arbeitspaketen für die jeweiligen Projektverantwortlichen. An alles hatten die beiden erfahrenen, prozesssicheren Fertigungsplaner Dr. Robert Harms und Ronny Großjohann gedacht. Doch die Lust, die Energie der betroffenen Menschen mitzugestalten, kam in all diesen tausendfach 18praxiserprobten und unternehmensweit etablierten Plänen nicht vor. Und so trat das Projekt auf der Stelle, bis – ja bis die beiden Verantwortlichen daraufhin eigenmächtig entschieden, alle ausgetretenen Pfade zu verlassen und ganz neue Wege zu beschreiten. Die beiden unkonventionellen Macher, denen es auf diese Weise gelang, nicht nur Leben, Lust und Leidenschaft in die Werkhalle zu zaubern, sondern die neue Fertigung mit dem Potenzial aller Beteiligten gleichzeitig hochproduktiv und kosteneffizient zu gestalten, lernen wir in späteren Kapiteln noch etwas besser kennen. Für den Augenblick bleibt zu sagen: Hätten sie sich an alle geschriebenen und ungeschriebenen Regeln sklavisch gehalten: Dieser Erfolg wäre ausgeblieben und es wäre niemals denkbar gewesen, dass die beiden heute in vielen Werkshallen des Konzerns und außerhalb unterwegs sind, um mit klugen und zeitgemäßen Ideen von Arbeits- und Selbstorganisation für mehr Mitgestaltung, Verbundenheit und letzten Endes auch für messbar mehr Produktivität zu sorgen.
Solche Initiativen findet man heute nicht nur bei Traditionskonzernen wie Siemens, Evonik und BMW. Vermutlich gibt es mittlerweile kein deutsches Großunternehmen mehr, in dem nicht zumindest eine selbstinitiierte Gruppe von Mitarbeitenden an der organisatorischen und/oder kulturellen Veränderung arbeitet. Schaut man genauer hin, erkennt man das enorme Potenzial, das diese Graswurzelinitiativen in sich tragen. Denn weil sie sich naturgemäß nahe an der Basis – also nahe an Mitarbeitenden, Kunden und Markt – bewegen, wissen sie sehr viel genauer, woran es dem Unternehmen fehlt, was die Firma braucht, wie und wer sie in Bewegung setzen könnte. Ein weiterer Vorteil: Weil die Graswurzel-Aktivisten aus der Mitte der Mitarbeiterschaft kommen und aus eigenem Antrieb (Fachleute sagen: intrinsischer Motivation) heraus agieren, sind sie zudem sehr viel glaubwürdiger und überzeugter von der Richtigkeit der Veränderung, als es jedes von Strategieabteilung oder Vorstand eingesetzte Projektteam sein könnte. Und weil sie ihr Anliegen zudem ohne offiziellen Auftrag und häufig unter hohem persönlichen Einsatz voranbringen, sind sie zudem enorm überzeugend.
„Wenn wir es schaffen, alle Potenziale unseres Unternehmens zu nutzen und künftig unser Wissen zusammenbringen, um bessere Lösungen für unsere Kunden zu entwickeln – wer soll uns dann eigentlich noch aufhalten?“ fragte Peter Schwarzenbauer, bis Oktober 192019 Vorstand der BMW AG, die rund 500 Mitarbeitenden im Saal, die im Februar 2018 gekommen waren, um gemeinsam mit dem selbstorganisierten Lernprogramm Working Out Loud zu starten – einem Lernprogramm, bei dem die Mitarbeitenden üblicherweise nicht ihre Vorgesetzten um Erlaubnis fragen, wenn sie sich gemeinsam mit selbst gewählten Mitstreitern insgesamt rund zwei Tage (auf zwölf wöchentliche Stunden verteilt) mit dem Thema Vernetzungskompetenz auseinandersetzen. Es mutet auf den ersten Blick fast ironisch an: Ein Top-Manager lobt Mitarbeitende dafür, dass sie ohne Mandat etwas auf die Beine stellen, das ihren Vorgesetzten weder bekannt noch von ihnen explizit abgesegnet worden ist.
In Wirklichkeit stehen Graswurzelinitiativen und neue Formen der Zusammenarbeit und Entscheidungsfindung für den Beginn von etwas Neuem, dessen Reich- und Tragweite wir heute noch gar nicht überblicken können. Nur, dass sich die althergebrachten Management- und Organisationsstrukturen überlebt haben, ist allzu offensichtlich.
Die Komplexität unserer Tage lässt sich mit starren Berichtstrukturen und klassischen Hierarchien nicht mehr beherrschen.
20Das klassische Kaskadensystem, in dem Veränderungsbedarf an der Spitze erkannt, analysiert und in Change-Prozesse übersetzt wird, die die Organisation umzusetzen hat, stößt an seine Grenzen. Wer in Vorstandsetagen zu Gast ist, trifft Top-Manager, die immer noch so tun (müssen), als wüssten sie, wo es langgeht. In Wirklichkeit aber hangeln sie sich bisweilen von Ergebnisbericht zu Ergebnisbericht und können in der komplexeren Welt immer weniger die Folgen ihres Handelns und Entscheidens vorhersagen.
Die Hierarchien-Hacker
Graswurzelinitiativen in Unternehmen stehen damit für einen radikalen Kulturwandel. Sie sind die freien Radikale im Change-Geschäft, autonom, unkontrollierbar, dynamisch und überzeugend. Sie sind Forum und Werkzeug für alle, die ihr Unternehmen offener, schneller, reaktiver, attraktiver und menschenfreundlicher gestalten wollen. Sie stehen für einen Bruch mit dem klassischen Karrieremantra, das da lautete: Wer im Unternehmen etwas bewegen will, muss erst einmal die Karriereleiter erklimmen und sich weitgehend konform verhalten.
Diesen neuen Aktivisten, den Akteuren von Graswurzelinitiativen, ist unser Buch gewidmet. Lesenswert scheint es uns für:
Von der alten in die neue Welt – und zurück
Woran aber liegt es, dass Führungskräfte mit dem Wandel überfordert sind? Im Gespräch hören wir nicht selten: „Natürlich sind wir im Top-Management bereit für alles, was da kommt, – aber unsere operative Mannschaft auf Arbeitsebene ist es leider nicht.“ Die Messungen zum agilen und digitalen Reifegrad, die Unternehmen heute gern als Ausgangsbasis für „Digitalisierungsprojekte“ durchführen lassen, spiegeln vielfach eine ähnliche Antwort wider. Eindrucksvoll zeigt dies auch der Transformationswerk-Report, den die Hamburger Beratungsgesellschaft Doubleyuu gemeinsam mit der Agentur neuwaerts aus Hannover erstellt hat. Ihr Ergebnis: Die Unternehmenslenker verweisen bei der Suche nach Gründen für nur mäßige Erfolge bei der digitalen Transformation ihrer Unternehmen auf eine träge Mitarbeiterschaft, die die Transformation behindere und den Ernst der Lage nicht erkenne. Die Mitarbeitenden allerdings sehen in den Führungsstrukturen sowie im Management die Hauptblockaden für den Wandel. Gerade die Führungskräfte hängen aus Sicht der Mitarbeitenden an althergebrachten Karrierewegen, Standard-Lösungen und den im System verankerten Incentives, die neues Handeln eher verhinderten und die klassischen Lösungswege belohnten.
Überraschend ist, wie viele Manager in einer Mischung aus der latenten Verunsicherung angesichts eines drohenden Verlusts schwer erarbeiteter Privilegien und der Hoffnung, dass Digitalisierung, 22VUCA-Welt und Komplexität keinesfalls so dramatisch seien wie angenommen, in augenscheinliche Ratlosigkeit verfallen. Offenkundig wissen nur wenige Top-Manager wirklich, wie es in den Reihen ihrer operativen Mitarbeitenden um das gemeinsame Verständnis der Herausforderung und damit um die digitale und agile Zukunft ihres Unternehmens steht. Denn den wenigsten Führungskräften der oberen Riege von großen traditionellen Unternehmen und Konzernen erlaubt ihr Terminkalender, sich selbst ein wahres Bild vom Zustand und Befinden ihrer Belegschaft zu machen. Und falls doch, bleibt immer noch die Frage, wie anpassungsfähig die jeweilige Führungskraft selbst ist. Schließlich: Auf den Unternehmenslenkern lastet mehr als je zuvor ein immenser Druck, nicht nur mit der Zeit zu gehen, sondern ihr vorauszuschreiten. Gleichzeitig fällt es bisweilen schwer, die auch technologisch bedingte Machtverschiebung anzuerkennen, mithin den Umstand, dass sie eben nicht alles im Unternehmen steuern und kontrollieren können, dass die bewährten Erfolgsrezepte nicht mehr uneingeschränkt funktionieren. So müssen sie mehr denn je antizipieren, dass und in welcher Weise Umstände von außen – Wettbewerb, Digitalisierung, globale Spielregeln, erhöhte Marktgeschwindigkeit – ihr Handeln, ihre Prioritäten, und ja, auch ihre eigene Anpassungsfähigkeit treiben müssen. In dem Maß, wie auch Vernetzung und neue Technologien plötzlich Dynamiken erzeugen, die immer weniger beherrschbar sind, spüren diese Entscheider tagtäglich, wie ihre Macht schwindet.
Dank sozialer Medien, Intranets, E-Mail-Verteilern und WhatsApp-Gruppen können ihre Mitarbeitenden sich heute über Abteilungs- und Ländergrenzen, Kompetenzfelder und Hierarchien hinweg munter vernetzen. Die angestammten Zuständigkeitsreviere und Berichtslinien, hinter denen Herrschaftswissen gebunkert und Mitarbeiterinitiativen ausgetrocknet werden konnten, werden von diesen digitalen Kommunikationsbahnen spielend überwunden. So schnell, wie sich beherzte Mitarbeitende miteinander verbinden, kann ein klassisch-hierarchisches System gar nicht gegensteuern. Auf diese Weise entsteht eine völlig ungekannte innerbetriebliche Dynamik, die den Betrieb auf den Kopf zu stellen vermag.
Gleichzeitig verändern die Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Transformation das gesamte Werte- und Kulturzusammenspiel 23von „oben“ und „unten“ (in diesem Buch bezeichnen wir das allgemein in der Literatur gültige „unten“ mit „aus der Mitte“, weil wir uns damit von der beim Begriff „unten“ mitschwingenden, wertenden Denkweise distanzieren wollen).
Auch und gerade in traditionellen Unternehmen: Soziale Netzwerke in Organisationen erlauben es Mitarbeitenden, das Wort direkt an den Vorstand zu richten, oder für ihre Ideen Gleichgesinnte im Unternehmen zu finden – ganz ohne Freigabe durch die Führungskraft und durchaus auch ohne Budget. Dazu bedarf es in der Regel einigen Mutes, der bei der Generation der Babyboomer gerade aufkeimt. Der Generation Z indes ist dieser Mut quasi angeboren; denn sie wurde so demokratisch und gleichberechtigt erzogen, dass sie eine starre, formale, gottgegebene Hierarchie kaum mehr zu beeindrucken vermag.
Lernen von den Jungen – oder lieber doch von den Erfahrenen?
Welche Optionen bleiben dem Management? Entscheider betrachten bisweilen bewundernd die demokratischen, agilen, selbstgesteuerten und damit oft hochinnovativen Organisationsformen junger Unternehmen oder Start-ups und fragen sich, was sie als traditionelle Unternehmen davon lernen können. In „Digital Experience Touren“ und „Cultural Learning Journeys“ reisen sie aus der alten in die neue Arbeitswelt und zeigen sich beeindruckt von soziokratischen Strukturen, Agilität und Diversität. Hier scheinen alle Mitarbeitenden mitgestalten und mitreden zu wollen, zu können und zu dürfen; jeder spricht mit jedem, jeder wird gehört. Experimente und Scheitern werden so offen diskutiert wie Konflikte, es herrscht Einigkeit über ein gemeinsames Ziel und der absolute, gemeinschaftliche Wille, dieses gemeinsam zu erreichen.
Dann reist man zurück in die alte Welt und erstarrt schon an der Eingangspforte: Da, wo die Stechuhr am Drehkreuz steht, wo die klassische Arbeitnehmervertretung (Flexible Arbeitszeit!), hierarchische Führungsstruktur (Leistungs- und Zielkontrolle!), Gehaltsgefüge (Tarifbindung!), das fehlende gemeinsame Ziel und mangelndes Verständnis für die gemeinsamen Herausforderungen warten. Wo bitte anfangen? Wer treibt den Wandel an? Change und Transformation lieber Bottom-up? Top-down? From-middle-both-ways?
24Für die einen kann erfolgreicher, nachhaltiger Wandel nur durch „Macht-Eliten-Hacking“ glücken, wie es der Wirtschaftspublizist Gunnar Sohn nennt. Durch einen Ansatz also, der darauf abzielt, die derzeit nur schwer zugänglichen Macht-Eliten in Wirtschaft und Gesellschaft zu unterwandern, mit dem Ziel, Herrschaft und Abschottung der Wenigen zu beenden und partizipative, demokratische Entscheidungsstrukturen zu fördern. Für die anderen ist klar, dass es Eliten, Machtstrukturen und Alphatiere immer geben wird, und man daher Strukturen schaffen muss, die allenfalls sicherstellen, dass diese keinen größeren Schaden anrichten in einer Zeit, in der solche Strukturen und Persönlichkeiten dem unternehmerischen Erfolg im Weg stehen. Und wieder andere setzen auf eine Art unternehmerische Frischzellenkur, indem sie Start-ups akquirieren in der Hoffnung, dass diese jungen, experimentierfreudigen Organisationen frischen Wind ins Unternehmen bringen und ansteckend wirken in ihrer zupackenden Unkompliziertheit, die den Gründerteams vielfach zu eigen ist.
Nach unseren Erfahrungen erweisen sich solche Hoffnungen in der Praxis vielfach als unerfüllbar. Zu konsistent, zu beharrungskräftig sind heute noch die über Jahrzehnte gewachsenen Systeme und Strukturen traditioneller Unternehmenskulturen. Kein Wunder also, dass statistisch rund 95 Prozent aller internen Corporate Ventures die in sie gesteckten Erwartungen verfehlen, wie der Wirtschaftswissenschaftler Frank-Benjamin Heim berichtet. Heim hat über unternehmensinterne Start-ups promoviert und ihre Erfolgschancen bewertet. „Die wenigsten Start-ups“, sagt er, „kreieren ein derart nennenswertes Neugeschäft, dass es von ihrer Unternehmensmutter weiterverfolgt wird. Viele leisten überhaupt keinen positiven Beitrag.“ Die Rettung lässt sich demnach nur in den seltensten Fällen von außen einkaufen.
Aus der Mitte heraus
Rettung von außen? Nun, die braucht es auch gar nicht. Denn nach unserer Erfahrung sind die „Rettungskräfte“ (bzw. jene, die das Zeug dazu haben) häufig bereits im Unternehmen zu Hause und warten nur darauf, endlich eingreifen zu dürfen. Schließlich sind es vor allem die Praktiker und Erfahrungsträger im eigenen Haus, die über ausreichend Kompetenz verfügen und entscheiden können, ob und wie Funktionen agiler gestaltet werden können, mit welchen 25Kollegen das möglich ist und in welchem Maß. Zukunft braucht Herkunft – das sagt sich so leicht, birgt aber eine tiefere Wahrheit: Wer ein System verändern will, muss es zunächst einmal kennen. Außerdem braucht es eine große Frustrationstoleranz und tiefe Loyalität, vielleicht sogar Liebe zum Unternehmen, um wirksame Ansätze zu erproben und gegen alle Widerstände umzusetzen. Dies alles sind Eigenschaften, die man eher bei erfahrenen Mitarbeitenden findet als bei den digital Nativen der Generation Z. Kommen deren Vertreter, die noch vor kurzem als unpolitisch gebrandmarkt und heute anerkennend für ihr Engagement für #FridaysForFuture gelobt, dazu, fragen nach Sinn und drohen mit schneller Abkehr, wenn ihre Perspektiven nicht erfüllbar scheinen, kommen plötzlich wesentliche Elemente für ein Gemisch aus Kräften, die Unternehmen erfolgreich weiterentwickeln können, zusammen.
Wenn zur Bereitschaft, mit neuen Formen der Zusammenarbeit zu experimentieren, noch die Haltung und der Mut des Einzelnen kommt, dies auch ohne Auftrag und gegen die bestehende Konvention zu tun, kann die Graswurzel im Unternehmen gedeihen.
26Und wenn es gelingt, diese Erfahrung zu kommunizieren und damit zu multiplizieren, kann daraus eine gesunde, intrinsisch motivierte, starke Veränderungsbereitschaft der Vielen werden.
Immer öfter hört unserer Beobachtung nach dann auch der Vorstand hin, möchte genau verstehen, was da gerade vor sich geht, wie man die Bewegung unterstützen und so vielleicht multiplizieren kann. Und dann wächst aus dieser Graswurzel eine saftige grüne Wiese – auf der im besten Fall auch eine traditionelle Unternehmenskultur sich zeitgemäß weiterentwickeln kann. Dies scheint auf den ersten Blick ein Widerspruch zu sein: Kann die traditionelle Unternehmenskultur also so bleiben, wie sie ist, wenn es nur gelingt, sie mit einem hübschen, ansehnlichen, bunten Teppich von Wiesenblumen zu überziehen?
Nun, jeder Impuls innerhalb einer Gemeinschaft verändert in minimalen Graden die Kultur des Miteinanders. Und eine Graswurzelinitiative ist im Erfolgsfall weit mehr als ein (einmaliger, kurzer, unbedeutender) Impuls, denn sie macht in der Regel sehr schnell und nachdrücklich sichtbar, wohin die Aufmerksamkeit derjenigen geht, die mit ihrem Wissen, mit ihrer Erfahrung, mit ihrer Kompetenz und ja, auch mit ihrer Leidenschaft Tag für Tag am Unternehmenserfolg mitgestalten wollen: Eine wertvolle Chance für Entscheider, denen erfahrungsgemäß die Zukunft ihres Unternehmens mit der gleichen Leidenschaft und Verbundenheit am Herzen liegt, insbesondere, wenn sie, wie es im Volksmund heißt, zu den „Hausgewächsen“ gehören und sich damit ihre persönliche Geschichte eng mit der Geschichte des Unternehmens verbindet. Denn auch wenn die Maßnahmen unterschiedlich gewählt sind: Es wollen doch alle das gleiche – das eigene Unternehmen nachhaltig zum Erfolg führen und damit eine oft Jahrzehnte währende Erfolgsgeschichte mithilfe des eigenen, erkennbaren Fußabdrucks fortschreiben: Mehr kann sich ein Unternehmen eigentlich nicht wünschen.
Schlagen wir im altehrwürdigen Gabler Wirtschaftslexikon nach, finden wir als Definition für „Unternehmenskultur“:
„Grundgesamtheit gemeinsamer Werte, Normen und Einstellungen, welche die Entscheidungen, die Handlungen und das Verhalten der Organisationsmitglieder prägen.“
Ferner unterscheidet Gabler Unternehmenskultur in zwei Ebenen:
Das Arbeitgeberbewertungsportal kununu beschreibt dies sehr anschaulich: „Die DNA einer Firma zeigt sich in ihrer Unternehmenskultur – und es gibt so viele unterschiedliche Kulturen wie es Unternehmen gibt. Wie geht eine Firma mit seinen Mitarbeitenden um, welche Werte vertritt sie, wie wirkt sie nach außen, auf Kunden, Partner und Lieferanten? Unternehmenskultur zeigt sich nicht nur nach innen, sie wirkt auch nach außen und beeinflusst entscheidend das Renommee am Markt – und damit letztendlich auch den wirtschaftlichen Erfolg.“
In anderen Worten: Die Erfolge einer konstruktiven Auseinandersetzung und Arbeit mit der Unternehmenskultur sind alles andere als „Nice to have“-Wohlfühlfaktoren, sondern lassen sich laut kununu in messbarer Währung sogar wirtschaftlich nachweisen.
28Auch wenn wiederholt kontrovers diskutiert wird, ob man Unternehmenskultur überhaupt planvoll und damit proaktiv beeinflussen kann, so stellt kununu die Unternehmenskultur in einen direkten Zusammenhang mit dem Mitarbeitenden-Engagement.
Ihre Hypothese lautet: „Engagierte Mitarbeitende haben eine persönliche Verbindung zum Arbeitgeber und initiieren zusätzliche Anstrengungen für den Erfolg des Unternehmens.“ Im Umkehrschluss folgert kununu: „Mitarbeitenden, die nicht engagiert sind, fehlt diese Verbindung.“
Gehören also die Initiatoren einer Graswurzelinitiative genau zu den bei Gallup thematisierten 15 Prozent Engagierten, weil sie durch ihr konkludentes und konsequentes, aber eben nicht zwingend regelkonformes Handeln einen Konflikt riskieren in der besten Hoffnung und Absicht, das Miteinander im Unternehmen und damit auch den Erfolg des Unternehmens verbessern zu können? In jedem Fall stellt das Aufkeimen einer Graswurzelinitiative eine harte Probe für traditionelle Organisationen dar, und es liegt in der Hand der Entscheider, diese Energie im Sinne des nachhaltigen Erfolgs zu nutzen.
Graswurzelinitiativen in Unternehmen – gab es sie schon immer?
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