ALFONS KAISER
Karl Lagerfeld
Ein Deutscher in Paris
Biographie
C.H.BECK
Mit einem Blick für Paris: Karl Lagerfeld stellt seine Mode für Chloé 1972 auf der Esplanade du Trocadéro vor.
«Es fängt mit mir an, und es hört mit mir auf.»
Karl Lagerfeld stilisierte sich selbst zum lebenden Logo und zu einem Mythos der Modewelt. F.A.Z.-Redakteur Alfons Kaiser, der Lagerfeld seit langem kannte, stellt in dieser Biographie anhand vieler bislang unbekannter Quellen den charismatischen Modeschöpfer vor. Und er erklärt die vielen Rollen seines Lebens: den jugendlichen Außenseiter im norddeutschen Flachland, das weltgewandte Genie in Paris, den unermüdlichen Zeichner, begeisterten Fotografen, leidenschaftlichen Büchersammler und den preußisch disziplinierten Workaholic.
Alfons Kaiser ist Redakteur der «F.A.Z.» und leitet das Ressort «Deutschland und die Welt». Für das monatlich erscheinende «Frankfurter Allgemeine Magazin», das er ebenfalls verantwortet, zeichnete Karl Lagerfeld jahrelang politische Karikaturen («Karlikaturen»).
Erinnerung
Vorgeschichte
Vater
Mutter
1933 bis 1951
Geburt
Bissenmoor
Kindheit
Krieg
Partei
Schule
Demütigung
Schwestern
Preußen
Aufbruch
1952 bis 1982
Paris
Anfänge
Freunde
Aufschwung
Baden-Baden
Chloé
Fendi
Labelfeld
Amerikaner
Jacques
Deutsche
Schloss
Einrichtung
1983 bis 1999
Lagerfeld
Chanel
Fotos
Models
Hamburg
Blumen
Journalisten
Zeichnungen
Bücher
2000 bis 2019
Diät
Logo
H&M
Werbung
Feinde
Baptiste
Hudson
Schauen
Kritik
Choupette
Ende
Nachleben
Anhang
Dank
Anmerkungen
Erinnerung
Vorgeschichte
1933 bis 1951
1952 bis 1982
1983 bis 1999
2000 bis 2019
Nachleben
Bildnachweis
Personenregister
Stammbaum
«Karl For Ever»: Gedenkfeier im Grand Palais am 20. Juni 2019
Es war wie immer, wenn Chanel zur großen Schau lädt. Auf den Treppen zum Grand Palais wies man junge Männer in schwarzen Anzügen in ihre Rolle als Ordner ein. An der Avenue Winston Churchill staute sich der Verkehr, weil die dunklen Limousinen auch in der zweiten Reihe parkten. Vor dem Haupteingang des Riesengebäudes aus der Belle Époque standen die Damen im Tweed-Kostüm und taten unentschlossen, damit sie noch einmal fotografiert wurden, bevor sie hineingingen. Die Sonne, die schon schräg stand, schimmerte an diesem letzten Abend vor Beginn des Sommers melancholisch durch das Dach des Glaspalasts.
Aber es war nichts wie sonst an diesem 20. Juni 2019 in Paris. Denn all die fiebrigen Vorbereitungen, die gespannte Erwartung der Gäste, die zur Schau gestellten Eitelkeiten – sie drehten sich um eine Leerstelle in ihrer Mitte. Karl Lagerfeld, das Zentralgestirn des seltsamen Paralleluniversums Mode, war vor vier Monaten gestorben. Nun kamen sie alle noch einmal zusammen, die um ihn gekreist waren, seine Familie, wie sich die engsten Mitarbeiter immer schon nannten, «Karl’s family», und seine erweiterte Familie, 2500 Gäste, angereist aus aller Welt, gekleidet oft in Schwarz, manchmal aber auch in Rosa oder Weiß, weil er es nicht mochte, wenn man trauert.
«Karl For Ever», so hatte man das offizielle Gedenken genannt. Eine Trauerfeier sollte es nicht sein, denn Lagerfeld hasste den verklärenden Rückblick – er hatte nicht einmal an den Beerdigungen seiner Eltern und seiner Schwestern teilgenommen. Also wurde es eine fröhliche Gedenkfeier, die mit einem Schaulaufen der Prominenten begann, mit Einspielfilmen, Konzerten, Tanzeinlagen und Lesungen weiterging und mit einem Champagner-Empfang endete. 2500 Menschen in seinem Namen versammelt – das hätte ihm gefallen, denn eine seiner großen Stärken war es, Menschen zusammenzubringen.
Le Tout-Paris wurde vorgefahren. Première Dame Brigitte Macron, die Lagerfeld schon deswegen geschätzt hatte, weil ihr Mann Emmanuel Macron als Premierminister den ungeliebten François Hollande abgelöst hatte; die ehemalige Première Dame Carla Bruni-Sarkozy, die lange als Model, auch für Chanel, gearbeitet hatte; Caroline von Monaco, eine der besten Freundinnen des Modeschöpfers, mit schwarzer Schleife an der weißen Bluse, und ihre Tochter Charlotte im knöchellangen schwarzen Kleid. Auch seine einstigen Musen schritten die Treppen im Glaspalast hinab, ganz langsam, um den Fotografen kein unglückliches Bild zu bieten: Inès de la Fressange, Claudia Schiffer, Caroline de Maigret. Das Model Gigi Hadid sagte gerührt in die Kameras: «Ich habe mich heute so angezogen, als ob ich ihn jetzt wirklich treffen würde.»
Der Mann, der dem Modeschöpfer in seinen letzten Jahren am nächsten war, lächelte sibyllinisch. Sébastien Jondeau, der Leibwächter, Fahrer und Vertraute, erschien zugeknöpft im Dreiteiler, schweigsam über diesen Tag hinaus. Lagerfeld wollte, dass seine Asche mit der seiner Mutter und seines schon vor drei Jahrzehnten verstorbenen Lebensgefährten Jacques de Bascher vermischt wird. Sébastien Jondeau hatte den letzten Willen längst erfüllt: Nach der Einäscherung im Krematorium des Mont-Valérien-Friedhofs in Nanterre hatte er die Asche an einen unbekannten Ort gebracht, so dass der Verstorbene verschwand, wie er es sich zu Lebzeiten gewünscht hatte – ohne eine Spur zu hinterlassen.
Im Palast der Weltausstellung von 1900 hatte Karl Lagerfeld bis zu der Couture-Schau im Januar 2019, zu der er wegen seiner Krankheit nicht mehr erschienen war, vier Mal im Jahr seine Welt ausgestellt, zwei Mal beim Prêt-à-Porter, zwei Mal bei der Haute Couture. Dieses Mal ging es im Grand Palais nicht um die Kleider der nächsten Saison. In diesen zwei Stunden ging es um ein ganzes Leben, um die vielen Rollen, in die sich ein Mensch in 85 Jahren kleiden konnte, um alle Dimensionen, in denen er dachte, redete, handelte, lebte. Der Modeschöpfer, das war am Ende zu erkennen, war auch ein Schöpfer von Ideen, Büchern, Zeichnungen, Sinnsprüchen, Logos, Beziehungen, Karrieren und Idealen.
Also kamen nicht nur die Kundinnen und die Fans, die Manager und die Models, die Schneiderinnen und die Schauspielerinnen. An der Avenue sprang seine Floristin Caroline Cnocquaert aus dem Lieferwagen ihres Blumenladens Lachaume; aus Hamburg kam Marina Krauth vom Buchgeschäft Felix Jud; an seiner eigenen Buchhandlung 7L auf der anderen Seite der Seine hatten Hervé Le Masson und Catherine Kujawski ein handgeschriebenes Zettelchen an die Glastür geklebt, dass heute schon von 16.30 Uhr an geschlossen sei; Schmuckdesigner Aaron Cyril Bismuth trug die Halsketten mit großen bunten Steinen, die auch Lagerfeld sich zu besonderen Gelegenheiten umgelegt hatte; und Birte Carolin Sebastian erzählte vom Beginn ihrer Karriere als Model in den neunziger Jahren, als er ihr kurz vor der Chanel-Schau mit einem Augenzwinkern Mut machte in einer Welt, die ihr noch ganz neu war.
Im Grand Palais stand an diesem letzten Frühlingsabend nicht die Mode im Mittelpunkt, sondern er selbst.[1] An den Stahlstreben der großen Halle hingen 56 große Fotos des Designers aus all seinen Epochen: mal mit Bart, mal mit Monokel, mal mit Katze. An den Bildern ließ sich die Dauer erkennen, in der er modisch tätig war, nämlich sechseinhalb Jahrzehnte, wenn man die Zeit bei Pierre Balmain seit 1954 als Beginn ansetzt. Zu sehen war auch seine Lust an der Selbstdarstellung, vom romantisch verklärten Jüngling Ende der Fünfziger mit Seitenscheitel und weißem Einstecktuch bis hin zum überretuschierten Weltstar, der sich in der Pose eines Rockmusikers gefiel oder im überkandidelten Habitus eines Dandys mit Birmakatze im Arm.
Sechsundfünfzigfach blickte er hinab auf ein Pariser Gesellschaftsspiel, wie er es so liebte. Eingeladen hatten nämlich alle drei Marken, für die der rastlose Designer bis zuletzt tätig war: Chanel, Fendi und Karl Lagerfeld – und die gehören ganz verschiedenen Besitzern. Bernard Arnault, der Fendi seinem LVMH-Universum einverleibt hatte, dem größten Luxuskonzern der Welt, könnte es auch auf die beiden anderen Marken abgesehen haben. Als sollten solche Verschwörungstheorien gar nicht erst aufkommen an diesem Abend des Gedenkens, unterhielt sich der reichste Franzose entspannt mit Alain Wertheimer, dem Chanel zusammen mit seinem Bruder Gérard gehört. Der nette Umgang wird nicht das Verlangen des unersättlichen Markensammlers stillen. Denn die Wertheimer-Brüder, um die 70 Jahre alt, könnten nach Jahrzehnten im Luxusgeschäft langsam die Lust verlieren an ihrer glänzenden Marke. Schließlich hatte Lagerfeld dreieinhalb Jahrzehnte lang den Wiederaufstieg von Chanel orchestriert. Nun war er nicht mehr. Wie sollte es jetzt weitergehen?
Mit den vielen Designer-Kollegen, die gekommen waren, hätte man eine ganze Modewoche bestücken können: Valentino Garavani äußerte «größten Respekt» für einen Freund, den er schon seit den fünfziger Jahren kannte; Stella McCartney, die Lagerfeld bei der Marke Chloé gefolgt war, trug einen schwarzen Spitzenschleier; Tommy Hilfiger, der ihn einst ermunterte, mehr aus der Marke seines Namens zu machen, war aus Nizza angereist; Ralph Lauren kam aus London, wo er gerade von Prinz Charles zum Ritter geschlagen worden war. Gucci-Designer Alessandro Michele umarmte Fendi-Chefin Silvia Fendi. Auch Alber Elbaz und Haider Ackermann waren da. Beide waren einst zu möglichen Thronfolgern bei Chanel stilisiert worden – und beide verharrten in der Möglichkeitsform.
Karl Lagerfeld hatte keinen großen Sinn für seine eigene Familie. Umso wichtiger war ihm die Familie, die er sich selbst geschaffen hatte. «Das war seine Stärke, dass er jeden um sich herum genutzt hat für sein Schaffen, für sein Leben, für sein Wissen, um zu erfahren, was auf der Straße los war», sagte Sébastien Jondeau in einem der Einspielfilme, die Opernregisseur Robert Carsen mit Live-Aufführungen zu einer abendfüllenden Hommage am zweitlängsten Tag des Jahres zusammengestellt hatte. «Er war der Multi-Tasker schlechthin, ein Mann, der alles gleichzeitig machte», sagte «Vogue»-Chefin Anna Wintour. «Er mochte Partys, er liebte Menschen, aber er hat sein Privatleben geschützt. Er hat oft gesagt, wenn er sterbe, wolle er verschwinden und nur sein Werk zurücklassen. Das darf nicht passieren.»
Und das passierte auch nicht. Der sonst so schweigsame Alain Wertheimer erzählte, ihr Verhältnis habe 1982, als er ihn für Chanel engagierte, als Geschäftsbeziehung begonnen und sei dann zur Freundschaft geworden. Bernard Arnault verglich den Modeschöpfer mit Picasso, der sich in seinen verschiedenen Phasen auch immer neu erfunden habe. Und Tilda Swinton las auf der Bühne aus dem Roman «Orlando» von Virginia Woolf, einem von Lagerfelds Lieblingswerken: «Die Kleider tragen uns, nicht wir sie. Sie ändern unsere Sicht auf die Welt und die Sicht der Welt auf uns.» Cara Delevingne trug virtuos ein Katzen-Gedicht von Colette vor, Lang Lang spielte auf einem von Lagerfeld entworfenen Steinway-Flügel Chopins «Grand valse brillante» in Es-Dur, Pharrell Williams sang sein schwereloses Lied «Gust of Wind», und Helen Mirren zitierte ihre liebsten «Karlismen»: «Persönlichkeit beginnt da, wo das Vergleichen endet.»
Es war ein Abend, der die Selbstmythisierung des Modemachers umstandslos übernahm. Wie könnte man sich auch davon befreien? Denn viel von seiner kreativen Durchsetzungskraft hatte er in die eigene Person gesteckt. Er war der Zeichner seines eigenen Bildes, der Zeremonienmeister seiner Selbstfeier, der Herrscher über die Wahrnehmung seiner Person. Seinen Ruhm verdankte er auch seiner gut inszenierten öffentlichen Wirkung. Mit seinen Weisheiten und Witzen unterhielt er ein großes Publikum. Mit dem Logo, zu dem er sich selbst modelliert hatte, nahm er im Zeitalter des Visuellen Millionen Menschen für sich ein.
«No second choice» – das war eine seiner liebsten Formulierungen. Eindeutigkeit ist altmodisch in Zeiten der Optionenvielfalt. Wenn alles möglich ist, wird vieles beliebig, erst recht in der Modeszene. Seine Entschiedenheit hingegen war so altertümlich wie sein Stehkragen: Er legte sich fest und zog es durch. An seiner Person prallten die Diagnosen einer Gesellschaft ab, in der Verbindlichkeiten verlorengehen und Zugehörigkeiten zerbrechen. Er war zum lebenden Beweis dafür geworden, dass man sich binden und dennoch bei sich selbst bleiben kann.
Seine «rigueur», die Strenge, über die sich Franzosen immer wunderten, weist den Weg zu seinen Wurzeln. Ohne Großeltern und Eltern, ohne Schwestern und Freunde, ohne Lehrer und Mitschüler war sein Leben nicht zu verstehen. Ohne den biographischen Hintergrund preußischer Beamter und hanseatischer Kaufleute wäre diese Karriere eines Deutschen in Paris nicht möglich gewesen. Aber weil er Spuren verwischte, weil er falsche Fährten legte und weil Journalisten die Selbststilisierung nur allzu gern für wahr hielten, verloren sich viele Details seiner frühen Jahre im Nebel der Geschichte. Die Faszination, die Karl Lagerfeld als ein so zeitgebundenes wie überzeitliches Phänomen auf viele ausübte, verstellte den Blick auf den Menschen.
An diesem Abend im Grand Palais, obwohl er so hell war und so schön, war das meiste nicht zu sehen. Woher dieser Modeschöpfer eigentlich kam. Wie ihn seine frühen Jahre prägten. Wie er in seiner Kindheit traumatisiert wurde. Wie er später die Kontrolle nicht nur über sein eigenes Leben anstrebte. Was ihn zu dieser endlosen Produktivität antrieb. Warum er so vieles beherrschen wollte, auch als Produktdesigner, Fotograf, Bühnenbildner, Inneneinrichter, Illustrator, Karikaturist, Sammler, Herausgeber, Verleger.
Dieses Buch soll einem Mann näherkommen, der auf Distanz hielt. Dabei halfen Gespräche mit weit mehr als 100 Verwandten, Freunden, Bekannten, Klassenkameraden, Nachbarn, Kollegen, Geschäftspartnern und Mitarbeitern in Deutschland, Frankreich, Italien und den Vereinigten Staaten. Dabei half auch die Einsicht in bisher unveröffentlichte Briefe und Faxe des Modeschöpfers sowie in zahlreiche unbekannte Briefe, Notizen und Fotos seiner Eltern. Verwendet wurden auch zwei Interviews des Autors mit Karl Lagerfeld aus den Jahren 2015 und 2017, die bisher nur in Teilen veröffentlicht wurden. Und schließlich waren dabei Privat-, Kirchen-, Stadt-, Landes- und Staatsarchive hilfreich – in Baden-Baden, Bad Bramstedt, Beckum, Hamburg, Jakutsk, Kiel, Münster, Neumünster, Neustadt in Holstein, Palm Beach Gardens, Paris, Reggio Emilia, Schleswig und Wladiwostok.[2]
Der Mythos, das übersah das begeisterungswillige Publikum an diesem Abend im Grand Palais nur allzu leicht, war ein Mensch – mit Ideen, mit Fähigkeiten, mit Schwächen, mit Fehlern. Die Modeszene kreiste wieder einmal nur um sich selbst. Der Mann aber, um den es hier ging, stammte nicht aus dem Nichts. Die Energie, die viele an diesem Abend noch zu spüren glaubten, musste doch von irgendwoher gekommen sein. Aber woher? Auch wenn man ein Leben von seinem Ende her sieht – man sollte von vorne anfangen.
11. April 1930, Münster, Dürerstraße 3: Otto Lagerfeld und Elisabeth Bahlmann (Mitte links) feiern ihre Hochzeit. Trauzeugen sind ihre Schwester Felicitas (rechts) und deren Mann Conrad Ramstedt (hinten links). Deren Töchter Eva (vorne links) und Tita werden später zu den Lieblingskusinen Karl Lagerfelds. In der Mitte die Brautmutter Milly Bahlmann.
Einen seiner besten Abnehmer hatte der Kondensmilch-Fabrikant Otto Lagerfeld zu Hause. Sein Sohn Karl wurde nämlich aus der Büchse ernährt. Lagerfelds Frau Elisabeth wollte ihn nicht stillen. «Ich habe nicht einen Milchfabrikanten geheiratet, um meinen Busen für so etwas herzugeben. Es gibt ja Dosenmilch», sagte sie nach der späteren Darstellung ihres Sohns.[1] Weil sie sich nicht «ihren Busen ruinieren» wollte,[2] bekam der kleine Karl Kondensmilch. Es scheint ihm nicht geschadet zu haben.[3]
Auch Otto Lagerfeld, der am 20. September 1881 in Hamburg geboren wurde, ist dank Kondensmilch groß geworden: Mit der Erfindung der Marke Glücksklee machte er das Geschäft seines Lebens. Aber bis dahin war es ein langer Weg, auf dem er sich vielen Gefahren aussetzte. Denn wer im Kaiserreich ein hanseatischer Kaufmann werden wollte, der musste in der Welt herumkommen, zum «Kaffeelernen». Otto Lagerfeld erfuhr also schon in jungen Jahren, was globaler Handel bedeutet – und wie die Weltgeschichte zuschlagen kann.
Schon Otto Lagerfeld senior, sein Vater, war Kaufmann. Im Hamburger Telefonbuch von 1910 ist sein Name verzeichnet als «Weinhandlung und beeidigter Weinverlasser, General-Depot der Grande-Chartreuse (Pères Chartreux in Tarragona)». Der Weinhändler, der 1845 geboren worden war, saß am Rödingsmarkt 74, also ganz in der Nähe des Hamburger Binnenhafens, und verkaufte auch Kräuterlikör.[4] Sein Sohn Otto baute ihm fürs Alter ein Haus in Ottensen: Als Traueradresse für Tönnies Johann Otto Lagerfeld, der am 22. Juni 1931 im Alter von 85 Jahren starb, war Elbchaussee 70 angegeben. Das Haus mit Blick auf die Elbe war auch noch die Traueradresse beim Tod seiner Frau Maria Lagerfeld, geborene Wiegels, am 13. März 1936.[5] Damals war die Elbchaussee, auch der vordere Teil in Ottensen, eine noch feinere Anschrift als heute, denn die Hauptverkehrsstraße in die Elbvororte war kaum von Autos befahren. Auch gerade Hausnummern, stadtauswärts auf der rechten Seite gelegen, waren nicht von Nachteil. Heute bedeutet das, dass man, um zur Elbe zu gelangen, eine vielbefahrene Straße überqueren muss.[6]
Otto Lagerfeld junior, eines von elf Kindern, wurde ein Kaufmann wie sein Vater, machte eine Lehre in einem Hamburger Kaffee-Handelsunternehmen, absolvierte seinen Militärdienst und ging Ende 1902 für die Hamburger Firma Van Dissel, Rode & Co. nach Maracaibo in Venezuela. Ein solcher Auslandseinsatz im Zeichen des damals in Hamburg begehrten venezolanischen Kaffees war ungemein gefährlich.[7] Otto Lagerfeld setzte sich nicht nur dem Gelbfieber aus, das von Mücken aus der sumpfigen Umgebung von Maracaibo übertragen wurde. Wegen des Verfalls des Kaffeepreises gab es auch politische Unruhen. 1899 brachte eine Revolution in Kolumbien das Geschäft mit dem Nachbarland zum Erliegen. Guerrillakämpfe erschwerten die Arbeit auf den Plantagen. Von 1902 bis 1903 führte die «Venezuela-Krise» dazu, dass viele Deutsche im Land verhaftet wurden.
Trotzdem schiffte sich der Einundzwanzigjährige 1902 auf einem Frachtkahn nach Venezuela ein.[8] Laut seinen eigenen Aufzeichnungen geriet er in Maracaibo in Kriegsgefangenschaft. Und das Gelbfieber überlebte er nach eigenen Worten nur, weil ihn eine Indianerin Tag und Nacht mit Öl eingerieben habe.[9] Auf der Suche nach besseren Kaffeebohnen bereiste er Kolumbien auf dem Rücken von Maultieren. Die politischen Konflikte, die erst mit einem Abkommen im März 1903 endeten, zeigten dem jungen Kaufmann, dass man nicht erfolgreich handeln kann, wenn es die politische Lage nicht zulässt.
Anzeige aus dem Jahr 1912: Otto Lagerfeld verkaufte in Wladiwostok Dosenmilch und weitere amerikanische Produkte wie Fliegenfänger, Seile und Werkzeuge.
Seinen Vertrag kündigte er nach wenigen Jahren, weil sich ihm keine Aufstiegschancen boten.[10] Otto Lagerfeld reiste in die Vereinigten Staaten, wo schon seine beiden Brüder Joseph und Johannes lebten. Am 16. April 1906 kam er in San Francisco an,[11] zwei Tage vor dem großen Erdbeben mit mehr als 3000 Todesopfern, das auch zu verheerenden Bränden führte. Von Sausalito aus, auf der anderen Seite der Golden-Gate-Meerenge gelegen, habe er die Feuer beobachtet, erzählte er seiner Enkelin Thoma Schulenburg.[12]
Noch mindestens bis zum Dezember 1906 blieb Otto Lagerfeld in San Francisco.[13] Von dort aus reiste er in Richtung Norden nach Kent bei Seattle im Bundesstaat Washington, zu der noch jungen Carnation Evaporated Milk Company, die für ihr expandierendes Geschäft einen ehrgeizigen Handelsreisenden gut gebrauchen konnte. Über Japan, Manila und Hongkong kam er 1907 nach Wladiwostok und baute dort eine Vertretung für den Dosenmilchhersteller auf.[14] Kondensmilch war noch ein recht neues Produkt. Erst seit dem 19. Jahrhundert war es möglich, die Keime in der Milch durch Erhitzung abzutöten, ihr durch Eindickung Wasser zu entziehen und durch Homogenisierung die Fett-Tröpfchen so zu zerkleinern, dass die Milch nicht so schnell aufrahmt und leichter zu verdauen ist. Bedarf an Kondensmilch, die lange haltbar ist, hatten vor allem Regionen, in denen Frischmilch fehlte – und das waren damals viele Gegenden, denn Kühlschränke waren noch nicht verbreitet.
Aber Russland? Und dann gleich Wladiwostok? 8000 Kilometer von Hamburg entfernt? Karl Lagerfeld, der viel über seine Mutter erzählte, aber wenig über seinen Vater, konnte seine Zuhörer in Gesprächen immer wieder mit dem Satz verblüffen: «Mein Vater hat sogar in Wladiwostok Kondensmilch verkauft.» Da schmückte sich der Sohn mit dem Unternehmergeist und der Abenteuerlust seines Vaters. Der Heimatforscher Andrei Sidorov aus Wladiwostok hat in einem Nachschlagebuch von 1912 eine Anzeige gefunden, die Otto Lagerfeld aufgegeben hatte.[15] Demnach verkaufte er außer Kondensmilch auch weitere amerikanische Produkte wie Fliegenfänger, Trockenfrüchte, Manilahanf-Seile, Feilen und andere Metallwerkzeuge wie Bohrer für Minenarbeiten und landwirtschaftliche Geräte.
Die Stadt am östlichen Rand des Russischen Reichs war ein ideales Terrain für einen Kaufmann, der gute Verbindungen zu Herstellerfirmen hatte. Denn die Transsibirische Eisenbahn, die in mehreren Etappen bis 1916 fertiggestellt wurde, rückte den Fernen Osten näher an Europa heran. Das führte seit 1903 zu einem wirtschaftlichen Aufschwung: Die wichtigste russische Hafenstadt am Pazifik wurde zu einem internationalen Handelszentrum. Die Dosenmilch, benannt nach dem amerikanischen Wort für Nelke, Carnation, verkaufte Otto Lagerfeld in der ostsibirischen Stadt unter dem russischen Wort für Nelke: Gwosdika.
Für den Russland-Liebhaber, der auch Russisch sprach, muss es besonders schmerzhaft gewesen sein, dass sich mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs alles änderte. Als Deutschland am 1. August 1914 Russland den Krieg erklärte, beantragte Otto Lagerfeld bei den russischen Behörden seine Ausreise über Japan in die Vereinigten Staaten, denn aufgrund der «Einstellung der Handelsoperationen mit London und Hamburg» könne er seine Geschäfte nicht mehr fortsetzen.[16] Aber wenige Tage später wurde er festgenommen, weil man ihn und weitere Landsmänner der Spionage verdächtigte.[17] Im Gefängnis von Wladiwostok beantragte er noch die russische Staatsangehörigkeit, weil er seit sieben Jahren in Russland lebe und im Alltag neben Englisch auch Russisch spreche.[18] Aber vergebens. Die Amerikanerin Eleanor L. Pray war Zeugin am Bahnsteig, als Otto Lagerfeld und weitere Deutsche abtransportiert wurden.[19]
Nach einer mehr als 2000 Kilometer weiten Fahrt Richtung Norden, zu großen Teilen vermutlich per Schiff, kam er nach Werchojansk, in ein verlorenes Nest jenseits des Polarkreises. Jakutien war schon zu Zarenzeiten eine Region für Verbannte. Zunächst waren es Bauern und Arbeiter, Altgläubige und Sektenanhänger, nun vermehrt «Politische». In Stalin-Zeiten wurde Jakutien dann zum «Gefängnis ohne Gitter». Die Gegend war so entlegen, die Bedingungen waren so rau, dass an Flucht kaum zu denken war, zumal es keine Eisenbahnen und keine befestigten Straßen gab. Werchojansk hatte 470 Einwohner, drei Läden, eine Kirche. Von Otto Lagerfelds Zeit dort ist wenig überliefert.[20] Er unterstand der örtlichen Polizei, nicht den militärischen Behörden. In Werchojansk gab es kein Kriegsgefangenenlager – es war ein Ort der Verbannung.
Die Umstände des Lebens dort lassen sich nur indirekt erschließen. Otto Lagerfeld schrieb 1956 in einem Leserbrief an die «Frankfurter Allgemeine», ergänzend zu einer Zeitungsmeldung über «Milch in Scheiben»: «Ich möchte dazu mitteilen, dass nicht nur in Jakutsk an der Lena Milch in Scheiben käuflich ist, sondern in ganz Nordsibirien. (…) Im Winter wird die Milch in einen tiefen Teller gemolken, und während des Melkens und gleich danach ist die Milch gefroren. Die Bauersfrauen lösen die Milch vom Teller dadurch ab, dass sie mit dem Teller über das Feuer streichen und die Milchscheiben in einen Sack werfen. Man kauft die Milch in Nordsibirien per Sack und hält sie in einem Eisloch zu Hause. Wenn man Milch benötigt, geht man hinein, schlägt sich etwas Milch ab und taut es über dem Herdfeuer auf. Ich war vier Jahre an der nördlichen Lena in der Nähe von Jakutsk während des ersten Weltkrieges interniert. Wir hatten dort durchschnittlich 50 bis 55 Grad Kälte im Winter.»[21]
Was für eine unterkühlte Darstellung! Das Leben in der Gegend muss brutal gewesen sein. Am 5. Februar 1892 herrschten dort minus 67,8 Grad, die bis dahin niedrigste gemessene Temperatur. Werchojansk galt forthin als «Kältepol» aller bewohnten Gebiete in der nördlichen Hemisphäre, als «kälteste Stadt der Welt». Aber Otto Lagerfeld, der Elend und Entbehrung gar nicht erst thematisiert, schreibt in sachlicher Form über Milch, als wäre in dieser entlegenen Siedlung sonst nicht viel passiert. Man erkennt darin den traditionellen männlichen Gestus, sich nichts anmerken zu lassen, vielleicht auch die hanseatische Tugend, Schicksalsgeschichten in Understatement zu kleiden, womöglich die fürs 20. Jahrhundert so typische Überlebensstrategie der Verdrängung.
Otto Lagerfeld gelangte in den Wirren der Revolution 1918 über Sankt Petersburg zurück nach Hamburg. Schon 1919 begann er dort mit seiner Firma Lagerfeld & Co., Carnation-Dosen einzuführen.[22] Eingetragen wurde er ins Handelsregister am 1. März 1919 gemeinsam mit seinem Bruder Johannes Jacob Lagerfeld, wie er «Kaufmann zu Groß Flottbek». Am 26. August 1922 wurde auch Carl Wübbens als Mitgesellschafter eingetragen, ein Freund, mit dem er von Wladiwostok aus verbannt worden war.[23] Evaporierte Dosenmilch wurde langsam populär. 1923 gründete Otto Lagerfeld eine eigene Marke unter dem Namen Glücksklee. Das rot-weiße Etikett mit dem vierblättrigen grünen Kleeblatt, damals noch mit dem Kopf einer Kuh in der Mitte, entwarf er selbst. Wie man eine Marke aufbaut, das konnte Karl Lagerfeld am Beispiel seines Vaters gut beobachten. Der Sohn schien stolz darauf zu sein: Noch in den siebziger Jahren trug er ein goldenes Glücksklee-Blatt am Revers.[24]
«Lagerfeld & Co.» saß An der Alster 52. Die «Gen.-Vertr. f. amerikan. Dosenmilch ‹Carnation›» war wohl das erste deutsche Unternehmen, das sich auf Kondensmilch spezialisierte. Zunächst importierte der Geschäftsführer die evaporierte Milch für fünf Dollar je Kiste.[25] Aber wegen höherer Importzölle musste seit 1922 jede Milchkiste laut Lagerfelds Aufzeichnungen mit 20 Reichsmark verzollt werden. Daher überzeugte er seine amerikanischen Lizenzgeber, dass es billiger sei, die Dosen mit deutschen Arbeitskräften herzustellen und mit deutscher Milch zu befüllen. 1925 gründete er die «Glücksklee Milchgesellschaft mbH» – und profitierte in den nächsten Jahren vom bescheidenen Wohlstand der «Goldenen Zwanziger».
Am 1. Mai 1926 lief die Produktion im neuen Fabrikgebäude am Hafen von Neustadt an. Die Stadt liegt logistisch ideal: in der Nähe der vielen Milchviehbetriebe in Ostholstein und mit direktem Zugang zur Ostsee für den Vertrieb. «Die Glücksklee», wie man in Neustadt sagte, war eine Erfolgsidee. Denn die Zeit war reif für die haltbare Milch: Man kann heiße Schokolade und Desserts damit zubereiten, den Kaffee genießbar machen oder die mit Wasser verdünnte Milch einfach trinken. Eine Glücksklee-Werbung von 1930 hatte die Überschrift «Bitte, gib mir noch mehr, Mutti»: «Auch Kinder, die sonst nur ungern Gemüse essen, bitten um eine zweite Portion, wenn am Gemüse etwas Glücksklee-Milch ist.»
Mit den seit 1933 herrschenden Nationalsozialisten suchte sich Otto Lagerfeld gut zu stellen – aber geschäftlich geriet er in Schwierigkeiten. Bis 1937 wurden zwar sogar noch zwei weitere Werke angegliedert, in Waren (Mecklenburg) und in Allenburg (Ostpreußen). Der Krieg schnitt jedoch in die Produktion ein. Der Fabrikleiter schrieb in einem Brief vom 9. April 1941: «Dann fehlen uns die Kohlen, dann Dosen, dann Fässer, dann fehlt uns Blech, dann Lötzinn, und so ist jeden Tag was Neues los, Sie können sich nicht denken, was es heißt, 130.000 Liter Milch täglich anzunehmen, ohne dass man weiß, ob man sie noch verpacken kann.»[26] Bald musste man auf Käse-, Butter- und Milchpulverproduktion umstellen. Die Werke in Waren und Allenburg gingen durch den Krieg verloren. Der Direktor hatte aber keine Not zu leiden. Nach den Angaben auf seinem Entnazifizierungs-Fragebogen hatte er durch Gehalt, Bonus, Dividende, Zinsen und Miete seit 1935 stets ein Bruttoeinkommen von mehr als 50.000 Reichsmark im Jahr, von 1940 bis 1944 waren es sogar etwa 70.000 Reichsmark.[27]
In den letzten Tagen des Krieges spielte sich in der Lübecker Bucht eine Tragödie ab. Vor Neustadt versenkten am 3. Mai 1945 britische Bomber die deutschen Schiffe Cap Arcona, Thielbek, Deutschland und Athen, die keine Truppenverbände an Bord hatten, wie die Briten annahmen, sondern hauptsächlich Häftlinge aus Konzentrationslagern. Mehr als 8000 Menschen kamen dabei ums Leben. In Neustadt brach das Chaos aus. Die Überlebenden holten sich Lebensmittel aus den Magazinen der Glücksklee. Ein Verpflegungsgüterzug mit Käserädern, Zuckersäcken und Butterpaketen am Bahnhof wurde ausgeräumt. Auch Einwohner, Fremdarbeiter und Kriegsgefangene plünderten die Lebensmittellager.[28] Dabei kam es zu tragischen Todesfällen: Entkräftete ehemalige Häftlinge, die sich auf die Butter stürzten, vertrugen die ungewohnte Kost nicht und starben «in großer Zahl».[29] Unklar ist, ob der Glücksklee-Direktor in diesem Zusammenhang festgenommen wurde, etwa weil er Lebensmittel bevorratet und den Behörden vorenthalten hatte. Angeblich kam Otto Lagerfeld jedenfalls vorübergehend in Neumünster in Untersuchungshaft. «Seiner Frau war das sehr peinlich.»[30]
Dafür hatte der Direktor schon bald nach dem Krieg wieder Glück mit Glücksklee. Die Währungsreform von 1948 half dem Kaufmann: «Durch die einseitige Abwertung der Geldvermögen und die Stabilität der Sachwerte wurden Haus- und Grundbesitzer, Wirtschaftsunternehmen und Kaufleute extrem begünstigt.»[31] 1952 verarbeitete das Unternehmen 535.000 Liter Milch pro Tag. «Die Glücksklee» war ein wichtiger Arbeitgeber in Neustadt, der größte Steuerzahler der Stadt und ein hervorragender Abnehmer für die Milchbauern in Ostholstein.
In seiner Kindheit und Jugend erlebte Karl Lagerfeld einen Vater, der ständig zu den Fabriken unterwegs war oder zum Hauptsitz seiner Firma am Mittelweg 36 in Hamburg.[32] «Der hat sich außer um Dosenmilch um nichts gekümmert», sagte er.[33] «Mein Vater sprach wenig, höchstens über Geschäfte. Er war sehr hanseatisch. Tiefe Konversationen hatte ich mit ihm nicht. So was galt damals als Mangel an Schamgefühl.»[34] Er sei ein «Pfeffersack» gewesen, also ein echter Hamburger Kaufmann.[35] Anfreunden konnte sich Karl Lagerfeld mit den Geschäften nicht. Der Hamburger Großbürgersohn fremdelte mit der holsteinischen Provinz. Nur einmal sei er zur Glücksklee-Fabrik nach Neustadt gekommen, so erinnerte sich später sein Cousin Kurt Lagerfeld. Das fünfundzwanzigjährige Jubiläum der Fabrik wurde im Mai 1952 im nahen Grömitz begangen. Als bei dem Fest ein Bauer mit Karl ein Bier trinken wollte, habe der Achtzehnjährige abgewinkt: Er trinke nur Champagner.[36] Bald darauf ging er nach Paris.[37]
Otto Lagerfeld blieb bis 1957 Glücksklee-Geschäftsführer. So erfolgreich er auch gewesen war: Der Marktanteil von Bärenmarke, der Allgäuer Konkurrenz, die vor allem den süddeutschen Markt beherrschte, lag 1963 bei 26 bis 28 Prozent, während Glücksklee auf 16 bis 17 Prozent kam.[38] Mitte der Sechziger lag der Umsatz, den rund 1000 Mitarbeiter erwirtschafteten, bei vermutlich mehr als 100 Millionen Mark.[39] Heute ist das Werk Otto Lagerfelds kaum noch zu sehen. Der amerikanische Glücksklee-Lizenzgeber wurde 1985 vom Schweizer Konzern Nestlé übernommen. Am 17. September 1987 wurde die Glücksklee GmbH aufgelöst und in die Nestlé Deutschland AG integriert.[40] Das Werk in Neustadt an der Ostsee stellte zum 31. Dezember 2002 nach 76 Jahren seinen Betrieb ein, obwohl die Produktivität stimmte und die Auftragsbücher voll waren. Die Neustädter waren enttäuscht von Nestlé. Das lange Backstein-Gebäude am Hafen stand plötzlich leer. Schon im Jahr 2003 verkaufte Nestlé seine Kondensmilch-Sparte an die Hochwald-Nahrungsmittelwerke in Rheinland-Pfalz. Seit 2008 ist Hochwald alleiniger Hersteller von Dosen-Kondensmilch in Deutschland. Der Verbrauch ist rückläufig. Man ernährt sich heute gerne fettarm. Nur noch ältere Menschen stechen zwei Löcher in die Dose und drücken die fettreiche Milch tropfenweise in den Kaffee.
Otto Lagerfeld, ein freundlicher Herr, der aber stets distanziert blieb, versuchte in späten Jahren, seine Enkelin Thoma an seinen Lebenserfahrungen teilhaben zu lassen. Er nahm das Mädchen mit nach St. Pauli, in eines der chinesischen Restaurants am Wilhelms-Platz, dem späteren Hans-Albers-Platz, und plauderte mit den Besitzern auf Chinesisch. Die Sprache und das Essen beeindruckten sie sehr. Es ist unklar, ob Otto Lagerfeld in seinen Lehr- und Wanderjahren wirklich neun Sprachen gelernt hatte, wie sein Sohn später behauptete.[41] Sicher aber sprach er Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch und etwas Chinesisch. Und nun freute er sich, dass er das mal jemandem zeigen konnte.[42]
Im März 1960 zogen Otto Lagerfeld und seine Frau Elisabeth nach Baden-Baden. Bei der Anmeldung an seinem Altersruhesitz gab er als Beruf «beratender Direktor» an;[43] von seiner Lebensaufgabe konnte er offenbar noch immer nicht lassen. Als Rentner hatte er nach den Worten seines Sohns «nichts mehr zu tun, keine Aufgabe, fühlte sich nutzlos, hat den ganzen Tag nur Zeitung gelesen, zehn Jahre lang.»[44] Sein Vater sei «an Langeweile» gestorben: «Er ist nämlich beim Zeitunglesen mit 90 eingeschlafen.»[45] Dabei war Otto Lagerfeld, als er am 4. Juli 1967 im Schwarzwälder Rentnerparadies starb, 85 Jahre alt – so alt wie sein Vater und sein Sohn, als sie starben.
Erst drei Wochen nach dem Tod des Vaters habe seine Mutter ihm die traurige Nachricht überbracht, sagte Lagerfeld oft. Das mache aber nichts, fügte er hinzu, er gehe ohnehin nicht gerne auf Beerdigungen.[46] Allerdings erschien schon zwei Tage nach dem Tod des Vaters die von der Glücksklee-Milchgesellschaft aufgegebene Todesanzeige in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». «Aus kleinsten Anfängen», so heißt es dort, habe Otto Lagerfeld «eines der bedeutendsten Unternehmen der deutschen Milchwirtschaft» geschaffen.[47] Sollte die Mutter nichts von der Anzeige mitbekommen haben? Sollte sie es riskiert haben, dass der Sohn in Paris vom Tod des Vaters durch eine Anzeige erfährt und nicht durch sie selbst? Natürlich nicht. Die Nachricht vom Tod seines Vaters muss Karl Lagerfeld bald erreicht haben, denn die Erdbestattung auf dem Nienstedtener Friedhof in Hamburg fand am 10. Juli 1967 statt, und er war dort.
Beziehungsweise auch wieder nicht. Die Beisetzung war nämlich ein letztes seltsames Zeugnis der merkwürdigen Beziehung von Karl Lagerfeld zu seinem Vater. Der Sohn des Verstorbenen ging nicht etwa zum Friedhof, sondern wartete im nahen Hotel Louis C. Jacob an der Elbchaussee, bis die Trauergesellschaft dort schließlich erschien.[48] Die Familie war empört. Bei dem Anlass machte sich auch «Tante Ebbe» unbeliebt. Nach der Erinnerung von Karls Cousin Kurt sagte Elisabeth Lagerfeld zur Familie ihres Mannes, das mit der Verwandtschaft sei ja jetzt vorbei: «Jetzt sagen wir Sie zueinander.» Karl Lagerfelds später geäußerter Satz, mit ihm werde die Dynastie der Lagerfelds enden, musste die Familie ebenfalls ärgern. Denn auch Otto Lagerfelds Geschwister hatten Kinder, Enkel und Urenkel. Es gibt in Deutschland und in den Vereinigten Staaten viele Menschen mit dem Namen Lagerfeld, die meisten von ihnen sind jedoch nicht im Telefonbuch zu finden.
Man kann Karl Lagerfeld aber nicht vorhalten, dass er sich nicht um das Familiengrab im Feld 16D des Nienstedtener Friedhofs gekümmert hätte, in dem auch sein Großvater, seine Großmutter und zwei seiner Tanten begraben liegen. Die Laufzeit des sechsstelligen Wahlgrabs, so die Friedhofsverwaltung, wurde beizeiten von ihm selbst verlängert: bis zum Jahr 2042.[49] Das ist eine außergewöhnlich lange Zeitspanne. Wenn seine Ruhestätte eingeebnet wird, ist Otto Lagerfeld, die letzte Person, mit der das Familiengrab belegt wurde, schon seit 75 Jahren tot.
Sein Vater kam Karl Lagerfeld abgehoben vor. Also hielt er sich an seine Mutter, die öfter da war und stets etwas zu sagen hatte. Ihre spitzen Bemerkungen allerdings drückten neben abgründigem Witz vor allem unerbittliche Strenge aus. All die Merksätze und Urteilssprüche, die ihr Sohn einer staunenden Öffentlichkeit überlieferte, lassen Elisabeth Lagerfeld nicht gerade als mütterliche Person erscheinen. Vielmehr ist zu erahnen, dass sie ihre hohen Ansprüche ans Leben ungefiltert an ihren einzigen Sohn weitergab – und ihn dadurch zugleich frustrierte und stimulierte.
Einmal erzählte Lagerfeld, sie habe seine alten Tagebücher weggeworfen. «Das braucht ja nicht jeder zu wissen, dass Du so doof bist.»[50]
«Setz keine Hüte auf, Du siehst aus wie eine alte Lesbierin.»[51]
«Du siehst aus wie ich, aber nicht so gut.»[52]
«Deine Nase ist wie eine Kartoffel. Und Du solltest Vorhänge für die Nasenlöcher bestellen!»[53]
«Du hättest mehr aus Dir machen können, aber bei deinem Mangel an Ehrgeiz ist es schon okay, was du geschafft hast.»[54]
«Sprich bitte schneller, damit du mit dem Stuss, den du redest, bald zu Ende kommst.»[55]
«Mit so dicken Fingern solltest Du nie im Leben rauchen oder Klavier spielen.»[56]
«Schade, dass du dich nicht über den Hof gehen siehst, sonst hättest du gesehen, was für einen dicken Hintern du gekriegt hast.»[57]
Man kann nur schwer ermessen, wie mütterliche Härte ein Kind prägt. Die bizarre Bosheit dieser mütterlichen Botschaften kann wohl kein Minderjähriger als originell erkennen. Wegen der harschen Bemerkungen fremdelte er mit seiner Rolle als Kind. Somit musste er sich auch unter Gleichaltrigen als Außenseiter fühlen. Die Merksätze verstärkten den Wunsch, so schnell wie möglich das beklemmende Dasein als Kind hinter sich zu lassen und erwachsen zu werden. Vielleicht war das aber auch alles gar nicht so gemeint – und die Sätze zeugten von mütterlichem Stolz, der durch Herabsetzungen relativiert werden musste.
Man muss einen Schritt zurücktreten und auf die Geschichte von Elisabeth Bahlmann schauen, um ihr Verhalten zu deuten. Als Tochter des Landrats in Beckum wurde sie zwar in provinziellen Verhältnissen groß; die Stadt zwischen Münster und Paderborn hatte um die Wende zum 20. Jahrhundert nicht einmal 10.000 Einwohner. Aber Elisabeth und ihre ältere Schwester Felicitas Bahlmann wuchsen in dem Bewusstsein auf, dass sie wegen vieler familiärer Ortswechsel diesen Verhältnissen nicht entstammten. Außerdem hatten sie als Töchter des Landrats in der provinziellen Umgebung eine herausgehobene Stellung und konnten folglich leichter den Kindheitsmustern entfliehen als Alteingesessene.
Auf die Haltung kam es an: Die Schwestern Felicitas (links) und Elisabeth Bahlmann wuchsen privilegiert in der damaligen Kreisstadt Beckum auf.
Denn ihr Vater Karl Bahlmann (1859 bis 1922) war nicht einfach ein westfälischer Provinzpolitiker. Er war in Neustadt in Oberschlesien geboren worden, machte 1881 sein Abitur in Recklinghausen, studierte Rechtswissenschaften in Freiburg, Greifswald und Berlin, wurde 1884 in Jena promoviert, war Regierungsassessor und von 1891 bis 1899 Oberamtmann in Gammertingen auf der Schwäbischen Alb und schließlich von 1899 bis 1922 Landrat im Kreis Beckum. Von 1911 bis 1920 war er für die Zentrumspartei auch Mitglied im Provinziallandtag der Provinz Westfalen. Den langsamen Abstieg der Zentrumspartei, das Erstarken der Nationalsozialisten und die Auflösung des Provinziallandtags nach der Machtergreifung 1933 musste er nicht mehr miterleben.
Karl Bahlmann, dessen Enkel seinen Vornamen erben sollte, war mithin ein gebildeter und umtriebiger Mann, der sich in Politik, Justiz und Bürokratie des Kaiserreichs und der beginnenden Republik gut auskannte. Schon sein Vater Wilhelm Bahlmann (1828 bis 1888) war Richter und Ministerialbeamter in Preußen gewesen. Die Ernennung Karl Bahlmanns zum Landrat nahm der Kaiser persönlich vor. «Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen etc.», so beginnt das Schreiben Wilhelms II. vom 23. August 1899, das in Bahlmanns Personalakte im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, erhalten ist. Er habe die Bestallung, so schrieb der Kaiser, «allerhöchst selbst vollzogen».[58]
Die noch junge Familie zog nach Beckum – und sollte es nicht bereuen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging es ihnen dort gut. Der neue Landrat beantragte beim Regierungspräsidium als Reserveoffizier nicht nur die Freistellung für «militärische Dienstleistung», die er mindestens in den Jahren 1900, 1905 und 1907 absolvierte, in der Regel für vier Wochen. In der Personalakte im Landesarchiv Münster sind auch seine Urlaubsanträge zu finden. 1901 ging es für vier Wochen nach Norderney, im August 1904 für drei Wochen in die Schweiz, im Sommer 1905 für vier Wochen nach Tirol, 1907 vier Wochen im Juli in die Schweiz.
Der Familie fehlte es in dieser Zeit an nichts. Vom 1. Oktober 1904 an bewilligte der Regierungspräsident von Münster dem Landrat zum Jahresgehalt von bis dahin 5400 Mark eine Zulage von 600 Mark. Zum 1. Oktober 1907 wurden auf die 6000 Mark weitere 600 Mark jährlich aufgeschlagen. Und schon zum 1. Oktober 1910 wurde von 6600 auf 7200 Mark erhöht. Das war viel Geld in Zeiten, in denen ein Arbeiter auf etwa 1500 Mark im Jahr kam und in denen ein Zentner Kohle oder ein Kilo Schweinefleisch nur etwas mehr als eine Mark kosteten. Schon 1911 wurde dem Landrat zudem vom Kreis ein Automobil für dienstliche Angelegenheiten zur Verfügung gestellt.
Elisabeth, die am 25. April 1897 noch in Gammertingen im Landkreis Sigmaringen geboren worden war, also mit zwei Jahren nach Beckum kam, und ihre ältere Schwester Felicitas mussten sich wie Prinzessinnen fühlen. Die Familie lebte in einer großen Dienstwohnung im Erdgeschoss des Kreisständehauses in Beckum. Der neugotische Prachtbau von 1886/1887, heute «Altes Kreishaus», war mit seiner Größe und mit dem weitläufigen Park hinterm Haus für Kinder ein kleines Paradies. Elisabeth ging erst in Beckum zur Schule, von 1911 bis 1913 besuchte sie dann das Lyzeum im fünf Kilometer entfernten Ahlen. Nach der Mittleren Reife ging sie ab.[59]
Allerdings bekam das schöne Bild bald Risse. Denn Karl Bahlmann erlitt vermutlich im Frühjahr 1908 einen Herzinfarkt, noch keine 50 Jahre alt. Im April und Mai 1908 war er in Wiesbaden in Behandlung sowie im Oktober in Köln. Fortan war der Vater, der ohnehin viel im Landkreis unterwegs war, öfters an Wehrübungen teilnahm und sich seit 1911 auch immer wieder für die Verhandlungen des Provinziallandtags beurlauben ließ, noch seltener da. Denn nun fuhr er oft mehrmals im Jahr wochenlang zur Kur nach Bad Nauheim, das auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen spezialisierte Heilbad in Hessen.