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Thomas W. Gaehtgens

NOTRE-DAME

C.H.Beck


Zum Buch

Als Kathedrale, Meisterwerk gotischer Architektur, kunsthistorische Sehenswürdigkeit und historisch bedeutsames Nationalmonument, das während der französischen Revolution geplündert und später in Literatur und Film verewigt wurde, zählt Notre-Dame zum Weltkulturerbe der Unesco und zieht jedes Jahr etwa 13 Millionen Touristen an. Der Brand im April 2019 löste nicht nur in Frankreich, sondern auf der ganzen Welt große Bestürzung aus. Thomas W. Gaehtgens erzählt im vorliegenden Band eindrucksvoll die Geschichte dieses wichtigen kulturellen, politischen und religiösen Erinnerungsortes.

Über den Autor

Thomas W. Gaehtgens war Gründungsdirektor des Deutschen Forums für Kunstgeschichte in Paris und langjähriger Leiter des Getty Research Institutes in Los Angeles. Zuvor lehrte er Kunstgeschichte an der FU Berlin. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: Die brennende Kathedrale. Eine Geschichte aus dem Ersten Weltkrieg (2018).

Inhalt

Plan von Paris (Truschet/Hoyau) um 1550, Ausschnitt mit der Île de la Cité

Plan von Paris (Plan Turgot) 1734–1736, Ausschnitt mit der Île de la Cité

Vorwort

I. Die gotische Kathedrale

Kathedrale und Königskirche

Eine Kathedrale für die Hauptstadt

Chor, Langhaus, nördliche und südliche Querschiffe

Die Westfassade

Die Westportale

Die Königsgalerie

Die Querhausfassaden und die Porte Rouge

Die vollendete Kathedrale

Königskirche vom Mittelalter bis zur Renaissance

II. Die Kathedrale der Könige

Eine Hochzeit mit dramatischen Folgen

Festliche Ereignisse und Staatstrauer

Calvinisten im Chor von Notre-Dame

Das Gelübde Ludwigs XIII.

Stiftungen der Bürger: Die «Mays» (Maibilder)

Kardinal de Beaumont

Ein Grabdenkmal der Aufklärung

III. Tempel und Kirche der Nation

Tempel und Nationaldenkmal

Vandalismus

Die Kaiserkrönung Napoleons I.

Gotteshaus der Restauration

Der Roman von Victor Hugo

Die Restaurierung unter Lassus und Viollet-le-Duc

IV. Die Kathedrale der Republik

Die Trennung von Kirche und Staat

Nationalkirche

Dichterische Inspiration und Deutung der Kathedrale

Vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg

15. April 2019

Gläubige und Besucher

Ausgewählte Literatur

Bildnachweis

Plan von Paris (Truschet/Hoyau) um 1550, Ausschnitt mit der Île de la Cité

Plan von Paris (Plan Turgot) 1734–1736, Ausschnitt mit der Île de la Cité

Vorwort

Das lodernde Feuer des Daches der Kathedrale Notre-Dame in Paris, durch die Bildmedien im April 2019 verbreitet, wurde mit großem Schrecken in der ganzen Welt wahrgenommen. Warum löste der Brand solche Emotionen aus? 13 Millionen Besucher zieht das Gotteshaus jährlich an, mehr als der Eiffelturm und der Louvre. Warum kommen sie? Was macht die Besonderheit dieser Kirche aus? Vor allem aber, was wissen sie über Notre-Dame?

Diese Fragen sind kaum oder jedenfalls nur sehr unzureichend zu beantworten, weil die Herkunft der Besucher und der Beweggrund ihres Interesses nicht unterschiedlich genug gedacht werden können. Die Pilger in früheren Jahrhunderten kamen, um an dem heiligen Ort zu beten und vor den Reliquien um Fürbitte und Vergebung ihrer Sünden nachzusuchen. Sie und die katholischen Gläubigen bilden auch heute einen Teil der Besucher, aber sie sind eine kleine Minderheit gegenüber den Strömen von Touristen, die lange Schlangen vor dem Gebäude bilden.

Notre-Dame ist eine katholische Kirche, aber auch für andere Glaubensrichtungen und Nichtgläubige offen. Das Gotteshaus ist jedoch darüber hinaus ein architektonisches Meisterwerk der französischen Gotik und ein hochrangiger Schauplatz französischer und europäischer Geschichte. Bis heute steht Notre-Dame im Zentrum kirchlicher, aber auch sozialer und politischer Vorgänge. Der Erzbischof von Paris ist eine hoch angesehene Persönlichkeit des katholischen Klerus in Frankreich, dessen Stimme Gewicht hat. Trotz der Trennung von Kirche und Staat dient das Gotteshaus auch zu Ereignissen, in denen sie sich verbinden, wenn etwa der Katafalk verstorbener Staatspräsidenten dort ausgesegnet wird. Das Kirchengebäude ist allerdings seit der Französischen Revolution Eigentum des Staates und daher der Staatspräsident der oberste Verantwortliche für seine Erhaltung.

Als Bewahrer kultureller und künstlerischer Werke und durch ihre architektonische Gestalt wurde die Kirche im Laufe der Jahrhunderte nicht nur zu einem Denkmal, sondern auch zu einem Museum. Ausführliche Publikationen waren seit dem 18. Jahrhundert erwerbbar, die die historisch und kunsthistorisch bedeutsamen Werke den Besuchern erläuterten. Nicht nur die Andacht, sondern auch das Erlebnis der Geschichte und der ästhetischen Einzigartigkeit der Kunstwerke motiviert bis heute die Besucher.

Das Feuer im April 2019 hat unseren Blick auf Notre-Dame verändert. Wir hatten uns daran gewöhnt, das gotische Bauwerk als eine selbstverständliche Sehenswürdigkeit zu betrachten. Plötzlich stand uns durch die Katastrophe die Möglichkeit ihres Verlusts vor Augen. Und mit dieser Erfahrung sind wir mit der Frage konfrontiert, was uns ihre Gegenwart bedeutet und worin ihre geschichtliche Rolle besteht? Dieses Buch versucht, eine Antwort auf diese Frage zu geben.

Unser Einblick in die Geschichte von Notre-Dame ist bewusst nicht als Führer durch das Gebäude konzipiert. Es ist vielmehr beabsichtigt, die herausragende Bedeutung seiner Architektur und seiner Sammlungen mit den geschichtlichen Höhepunkten zu verbinden, die sich in der Kathedrale abgespielt haben. Es ist ein Versuch, die charismatische Wirkung nicht nur der Kirche und ihrer Sammlungen, sondern der Aktivitäten ihrer Akteure, der Geistlichen, der Monarchen und Politiker, der Gläubigen und Ungläubigen, darzustellen.

Bei der Aufgabe, 850 Jahre Geschichte von Notre-Dame zu schildern, habe ich wichtige Hinweise und Anregungen erfahren, insbesondere von Barbara Catoir, Danièle Cohn, Barbara Gaehtgens, Christian Freigang, Christian Michel, Eberhard König, Pierre Vaisse und dem Beck-Verlag, besonders Alexandra Schumacher und Beate Sander. Ich bin ihnen herzlich verbunden und dankbar.

Thomas W. Gaehtgens

I. Die gotische Kathedrale

Kathedrale und Königskirche

Nach der Salbung mit dem Heiligen Öl und der Krönung, die dem französischen König im Mittelalter in der Kathedrale von Reims eine gleichsam priesterliche Weihe verliehen, begab er sich auf dem Rückweg nach Paris zunächst in die Abteikirche St. Denis. Dort suchte er die Gräber seiner Vorfahren auf. Dann zog er in die Kathedrale seiner Hauptstadt, Notre-Dame. Erst nach diesem Besuch kehrte er in seinen Palast im westlichen Teil der Île-de-la-Cité zurück.

Von König Johann dem Guten ist uns die Beschreibung des Zeremoniells der Ankunft, so wie es 1350 und sicher auch schon früher stattfand, überliefert. Der König erreichte die Fassade mit den drei Portalen der Kathedrale bei geschlossenen Türen (s. Umschlag, Abb. 6). Das Weltgerichtsportal in der Mitte öffnete sich nach kurzer Zeit und Erzbischöfe, Bischöfe und der Doyen des Kapitels zogen ihm aus dem Kircheninneren entgegen. Sie erschienen in ihren festlichen Ornaten und trugen ein Kreuz, Kerzen, Weihrauchgefäße und kostbar gebundene heilige Schriften. Einer der Kirchenfürsten wandte sich an den Monarchen: «Sire, bevor Ihr Euch in die Kirche begebt, seid Ihr, wie Eure Vorfahren, die Könige von Frankreich, verpflichtet, einen Schwur zu leisten …». Der König verneigte sich, küsste das Kreuz und die Heilige Schrift und las die ihm vorgehaltene Schwurformel. Sie besagte, dass er die Rechte der Kirchenfürsten und der Kirche respektieren und verteidigen werde. Er küsste das Manuskript und schwor: «Ich will es und ich schwöre es».

Auf dem Tympanon des sogenannten Annenportals von Notre-Dame, also rechts neben dem Hauptportal der Westfassade, durch die der König nach seiner Krönung Einzug hielt, dürfte der Schwur symbolisch dargestellt sein (Abb. 1). Maria mit dem Kind thront in der Mitte in einem Abbild einer Kirche als Personifikation der Ecclesia. Zu ihren Seiten schwingen Engel Weihrauchfässchen. Links steht ein Bischof, begleitet von einem Schreiber; gegenüber kniet ein König vor der Madonna. Bischof und König halten Schriftrollen in der Hand, deren Inskriptionen verloren sind.

Das Relief ist nicht für seinen heutigen Standort angefertigt worden. Vermutlich wurde es schon um 1145–55 für den Vorgängerbau geschaffen. Aber seine Anbringung an der Fassade um 1220 beweist, dass seine ikonographische Aussage immer noch als gültig angesehen wurde. Der Schwur des Königs und das Geschehen im Tympanon veranschaulichen das Ansehen von Notre-Dame als Kathedrale der Hauptstadt Frankreichs seit dem 12. Jahrhundert. Die Zeremonie vor dem Weltgerichtsportal und das Relief am Annenportal illustrieren die religiösen und politischen Aufgaben der Protagonisten von Kirche und Monarchie in dieser Epoche. Die Auslegung der Lehre und die Fürsorge für die Gläubigen vertrat der geistliche Führer, während der König mit weltlicher Macht die Unabhängigkeit der Kirche zu wahren und das Christentum zu verteidigen hatte.

Der Bischof steht aufrecht, während der König demütig vor der Gottesmutter kniet, ein wichtiges Motiv, das sein Bekenntnis zur Kirche repräsentiert. Beide allerdings müssen vertrauensvoll zusammenwirken, um eine staatliche Ordnung, «l’alliance du trône et de l’autel» (die Allianz von Thron und Altar) zu gewährleisten.

Niemand zweifelte an der notwendigen engen Zusammenarbeit von König und Bischof. In diesem Sinne rief der sterbenskranke Ludwig VII. ein Jahr vor seinem Tod im Bischofspalast von Notre-Dame Fürsten und Klerus zusammen, um seinem Sohn, Philipp August, noch vor der Thronbesteigung politische Vollmachten zu erteilen. Philipp der Schöne hielt über ein Jahrhundert später, ebenfalls in Notre-Dame, eine Generalversammlung ab, um seine Politik bestätigen zu lassen. Die Kathedrale von Paris und ihr Bischofssitz waren nicht nur ein Ort religiöser Einkehr, sondern immer auch Schauplatz politischer Repräsentation von Kirche und Staat … bis heute.

In der historischen und kunsthistorischen Forschung wird seit einiger Zeit diskutiert, ob Notre-Dame als «cathédrale royale» bezeichnet werden kann. Im Gegensatz zu der Grablege in St. Denis und der Krönungskirche in Reims hatte sie keine unmittelbare Funktion im Dienst des Königs. Es gibt jedoch gute Gründe, Notre-Dame mit diesem Titel zu kennzeichnen, denn «die Gegenwart des Königs war besonders sichtbar, viel deutlicher gekennzeichnet als in irgendeinem anderen Gotteshaus der Epoche» (Sandron, 2013, 34). Notre-Dame sahen die Gläubigen bereits im 13. Jahrhundert, nicht zuletzt durch die Königsgalerie an der Fassade, als königliches Gotteshaus an. Es war die Mutterkirche der Hauptstadt des Reiches. Ihre Architektur wurde Vorbild für andere Bauten der Diözese und vom König protegierte Kirchen in der Île-de-France, wie Bagneux, Bougival, Vitry-sur-Seine, Champigny-sur-Marne, Montreuil-sous-Bois. Und endlich, Notre-Dame war die Pfarrkirche des Königs selbst, der dort einkehrte, wenn er von siegreichen Feldzügen, etwa den Kreuzzügen, zurückkehrte, um Dankesgottesdienste zu feiern.

1 Annenportal, ca. 1145–55

Die Kathedrale von Paris war nicht irgendeine Kirche. Christentum und Königtum gingen in ihr einen Bund ein, der beiden ihre Aufgaben zuwies, den geistlichen Vertretern Gottes das Sacerdotium und den weltlichen das Regnum. Diese doppelte Funktion zeichnet Notre-Dame aus; sie bleibt bis heute lebendig und prägt das Gotteshaus als «lieu de mémoire» (Erinnerungsort), im Sinne des Historikers Pierre Nora, der französischen, europäischen und universalen Geschichte.

Eine Kathedrale für die Hauptstadt

Die Kathedrale Notre-Dame zu beschreiben und als früh- und hochgotisches Meisterwerk im historischen Zusammenhang darzustellen, ist kaum möglich, ohne eine größere Anzahl von anderen Bauten einzubeziehen. Die Gotik entstand in der Île-de-France im 12. und gelangte im 13. Jahrhundert zu ihrem künstlerischen Höhepunkt. Solche monumentalen Bauten in Angriff zu nehmen, setzte eine ökonomische, soziale und kulturelle Blüte voraus, die Könige wie Ludwig VII., Philipp August, Ludwig VIII. und Ludwig IX., der Heilige, förderten. Ihnen gelang es, das Kernland Frankreichs nicht nur zu konsolidieren, sondern auch durch Gewinn an Land im Norden Frankreichs zu erweitern. Die Verteidigung des Christentums durch die Kreuzzüge im Vorderen Orient und eine gegenüber dem Papst trotz häufiger Konflikte weitgehend selbständige Kirchenpolitik, im Gegensatz zu der des Deutschen Kaisers, ließen das Königreich zu einer immer stärker werdenden europäischen Macht werden. Die Voraussetzungen und der Ehrgeiz zur Errichtung gotischer Kathedralen waren gegeben.

Wir müssen uns aber immer vergegenwärtigen, dass neben allem politischen Ehrgeiz die mittelalterliche Frömmigkeit die wichtigste Triebkraft für den Bau von Kirchen und besonders der Kathedralen war. Der christliche Glaube wirkte in das tägliche Leben ganz unmittelbar hinein, auf eine Weise, die uns heute kaum noch verständlich ist. Christus, Maria und die Heiligen bestimmten die Lebensweise ganz konkret. Verfehlungen, Krankheiten und Unglücksfälle konnten, nach tiefer religiöser Überzeugung, nur durch die Hinwendung zur Kirche gelöst werden. Die Heiligen, die durch die Reliquien als gegenwärtig empfunden wurden, galt es zu ehren, um ihre Fürbitte weniger für tägliche Sorgen als für ein ewiges Leben im Jenseits zu erbitten.

Mit diesem Umstand war auch die wirtschaftliche Grundlage für die Errichtung der monumentalen Bauten verbunden. Die Kosten übernahmen weitgehend die Gläubigen durch Spenden, die oft durch Ablässe – also das Versprechen auf eine verkürzte Zeit im Fegefeuer – ermuntert wurden. Auf Messen und Märkten, die sonntags stattfanden, sammelte die Kirche erhebliche Mittel, die dem Fortschreiten des Bauunternehmens dienten. «Jedes Zugeständnis an eine kirchliche Institution, jede wirtschaftliche Transaktion, aus der eine solche Institution materiellen Nutzen zog, hielt man für eigens dem Titelheiligen zugedachte Ehrungen» (von Simson, 1968, 233).

Heute befindet sich eine der wertvollsten christlichen Reliquien im Kirchenschatz von Notre-Dame, die Dornenkrone Christi (Abb. I). Es muss die größte Enttäuschung der Bischöfe gewesen sein, dass Ludwig der Heilige, der sie vom byzantinischen Kaiser im Jahre 1237 kaufte, sie nicht in Notre-Dame deponierte. Nach dem abenteuerlichen Erwerb der Krone, für ca. 10.000 Pfund (so viel kosteten etwa drei vollgerüstete Kriegsgaleeren), gelangte sie zunächst auf dem Seeweg nach Venedig und von dort nach Frankreich. Ludwig und sein jüngerer Bruder reisten ihr bis nach Sens entgegen. Im Büßergewand begleiteten sie die kostbare Reliquie nach Paris und zogen mit ihr zwar in Notre-Dame ein; doch verblieb sie dort nicht, vielmehr errichtete der König für sie und andere kostbare Schätze, deren Rang alle bis dahin in Notre-Dame verwahrten Reliquien weit übertraf, 1244–1248 in seinem Palast mit der Sainte-Chapelle eine Art monumentalen Reliquienschrein. Erst im frühen 19. Jahrhundert, nachdem die Französische Revolution für Zerstörung und Plünderung in der Sainte-Chapelle gesorgt hatte, wurde die Dornenkrone von Napoleon dem Schatz von Notre-Dame übergeben. Der Architekt Eugène Viollet-le-Duc entwarf ein neues Reliquiar für die Aufstellung in der Achskapelle des Chors.

Der Erwerb der Dornenkrone war ein politisch außerordentlich wichtiges Ereignis für die Geschichte Frankreichs und Europas. Ihre Übertragung aus dem Morgenland in das Abendland erschien den Gläubigen, als sei die Verantwortung für die Verteidigung des Christentums vom byzantinischen Kaiser auf den französischen König übertragen worden. Als Ludwig der Heilige mit der Krone in Notre-Dame einzog, wurde die mit seinem königlichen Amt verbundene Aufgabe der «propaganda fide» nochmals sichtbar dokumentiert und sein früheres Bekenntnis durch seine Krönung in Reims bestätigt. Papst Innocenz IV. bezeichnete ihn offiziell als den «Rex Christianissimus». König und Kirche gingen ein enges Bündnis ein, nicht nur für Frankreich, sondern für ganz Europa, ein Umstand, der bereits durch die Kreuzzüge Wirklichkeit geworden war.

Unter Ludwig VII., vor allem unter seinem Sohn Philipp August, entwickelte sich Paris im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts zur Hauptstadt mit ca. 50.000 Einwohnern. Zwar war das Bistum noch dem Erzbischof von Sens unterstellt. Aber gerade in unmittelbarer Nähe der Residenz des Königs und in der Hoffnung auf Stiftungen durch die Krone lag die Initiative eines repräsentativen Neubaus für Kirche und Königtum nahe. Zu klein geworden waren die älteren Bauten auf der Île-de-la-Cité, dem dichtbesiedelten Zentrum von Paris. Die Kirche St. Étienne und die ältere Kathedrale, die bereits Maria geweiht war, befanden sich in keinem guten Zustand und erschienen der in geistlichen Fragen führenden Rolle des Pariser Bistums und der wachsenden Macht der Könige nicht mehr angemessen.

Der Neubau von Notre-Dame dauerte über ein Jahrhundert; auch danach war die Kirche noch keineswegs vollendet. Im Grunde wurde während ihrer über 850 Jahre währenden Geschichte immer an ihr gearbeitet, erweitert und restauriert. Der frühgotische Chor entstand seit 1163, als Bischof Moritz von Sully, vielleicht in Gegenwart des Papstes Alexander III., feierlich den Grundstein legte.

Zwei große, aus dem 19. Jahrhundert stammende Kirchenfenster im Chor von Notre-Dame mit der Darstellung der beiden Bischöfe Moritz und Odo von Sully erinnern an das Wirken dieser beiden einflussreichen Kirchenfürsten. Moritz war nicht nur ein herausragender Theologe, Lehrer an der Kathedralschule und Prediger, der Beispiele seiner Ansprachen zu bestimmten Feiertagen in einer Schrift zur Anleitung in seiner Diözese verbreitete. Als einem hoch angesehenen Organisator und Reformer des Bistums unterstand ihm eine große Anzahl an Kirchen und Klöstern in Paris und Umgebung. Er sorgte nicht nur für den Neubau der Kathedrale, sondern auch für den Ausbau der Kathedralschule, das Kloster und das Krankenhaus, das sich bis heute unmittelbar neben dem Gotteshaus, wenn auch auf der anderen Seite des Vorplatzes, befindet. Notre-Dame war über Jahrhunderte neben seiner missionarischen und pastoralen Funktion ein Hafen für Arme und Kranke, sowohl für Einwohner der Stadt als auch für die ständig strömenden Pilgerscharen.

Etwa mit der bedeutenden politischen Rolle von Abt Suger vergleichbar, spielte Moritz eine große Rolle am Hofe und beriet sowohl Ludwig VII. als auch Philipp August. Ludwig VII. hatte er 1162 zu Verhandlungen mit Friedrich Barbarossa begleitet. Auch setzte er sich in mehreren Schreiben an Papst Alexander III. für den vom englischen König angeklagten Erzbischof von Canterbury, Thomas Becket, ein.

Während Moritz aus einfachen Verhältnissen stammte, war sein Nachfolger Odo mit Philipp August verwandt, was den Zugang zum König und die Förderung des Bauunternehmens erleichtert haben mag. Odo war ein leidenschaftlicher Gegner aller häretischen Bestrebungen, die sich vor allem im Süden Frankreichs ausbreiteten. Er spielte eine wichtige Rolle mit seinen Vorschlägen zur Reform der Messe. Dass der Priester die Hostie den Gläubigen sichtbar hochzuhalten hat, der entscheidende Moment der Wandlung, geht auf ihn zurück. Die gotische Architektur des Chores im Licht der Kerzen und farbigen Glasfenster vermag dem entscheidenden zeremoniellen Moment den magischen Rahmen zu geben. Der Bischof war auch ein Förderer der polyphonen Kirchenmusik von Magister Perotinus, der als Komponist an der Kathedrale von Notre-Dame wirkte.

Selbstverständlich haben Moritz wie auch Odo von Sully auf die Bildprogramme von Notre-Dame den größten Einfluss genommen, ein von der Forschung noch nicht wirklich ausgelotetes Thema. Im Gegensatz zu Moritz, der sich im Kloster St. Victor begraben ließ, wünschte Odo eine Beisetzung im Chor von Notre-Dame, der Kathedrale, für die er sich während seiner ganzen Regierungszeit so intensiv eingesetzt hatte.

Philipp August, der den Bau finanziell entscheidend förderte, bestimmte, seine erste Gemahlin Isabella von Hennegau und seinen Vetter, Gottfried von Bretagne, in Notre-Dame zu bestatten. Notre-Dame blieb über Jahrhunderte eine Begräbnisstätte, allerdings nur für ausgewählte Persönlichkeiten. Heute werden dort nur die Erzbischöfe von Notre-Dame beigesetzt.

Chor, Langhaus, nördliche und südliche Querschiffe

II