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Noam Zadoff

GESCHICHTE ISRAELS

Von der Staatsgründung bis zur Gegenwart

C.H.Beck


Zum Buch

Der kleine Staat Israel, der 1948 als sicherer Hafen für Juden aus aller Welt gegründet wurde, ist heute wirtschaftlich und militärisch stark – und hat doch nicht zur erhofften Normalität und Sicherheit gefunden. Noam Zadoff erzählt die Geschichte des Landes von der zionistischen Einwanderung über die Konflikte mit den arabischen Nachbarn und der palästinensischen Bevölkerung bis zur Gegenwart und zeigt, welche Auswirkungen die zentralen Ereignisse auf Kultur und Gesellschaft hatten. Eine erfreulich sachliche Einführung für alle, die dem kleinen Land voller Widersprüche nicht gleichgültig gegenüberstehen.

Über den Autor

Noam Zadoff, geboren 1974, ist Assistenzprofessor am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck. Zuvor war er Professor für jüdische Studien in Bloomington (USA). Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren in Jerusalem, Berlin, Berkeley, Heidelberg und Zürich sowie verschiedene Preise (zuletzt der Jonathan Shapiro Award for Best Book in Israel Studies) belegen sein internationales Renommee.

Inhalt

Karte 1: Die Grenze Israels 1948–1967

Karte 2: Israel 1967, nach dem Sechstagekrieg

I. West und Ost: Der Zionismus in Traum und Wirklichkeit

1. Erste Schritte in Europa

2. Die Etablierung des Jischuws in Palästina

3. Gefährliches Dreieck: Juden, Araber, Briten

II. Aus dem Meer geboren:
Die Entstehung eines nationalen Ethos

1. Unabhängigkeit und Nakba: Der Krieg von 1948

Die erste Phase des Krieges (November 1947 bis Mai 1948)

Die zweite Phase des Krieges (Mai 1948 bis Juli 1949)

Waffenstillstand

Ende des Krieges

2. Sabras und Flüchtlinge: Die Entstehung zweier Narrative

Die Situation nach dem Krieg

1948 in der israelischen Erinnerung

1948 in der palästinensischen Erinnerung

Die Grenzkriege und die Suezkrise

III. Vom Schmelztiegel zur Mosaikgesellschaft

1. Jüdisch und demokratisch: Religion und Staat in Israel

2. Zentrum und Peripherie: Ein Einwanderungsland

3. Nationalismus und Sozialismus: Kibbuz

4. Vernichtung und Erneuerung: Erinnerung an den Holocaust

IV. Territorium und Grenzen 1967–​1977

1. Der Sechstagekrieg (Junikrieg)

2. Altneues Land

3. Erste Risse im Konsens, Schock und politische Wende

V. Verschwindende Grenze und Polarisierung der Gesellschaft 1977–​1995

1. Das Friedensabkommen mit Ägypten

2. Tauben: Der erste Libanonkrieg und die Geburt der Friedensbewegung

3. Militär und Zivilgesellschaft: Die Erste Intifada, Friedensprozess und politischer Mord

Die Erste Intifada

Militär- und Zivilgesellschaft

Das Oslo-Abkommen

VI. Gemeinsam und getrennt: Araber und Juden in Israel seit dem Jahr 2000

1. Die Zweite Intifada

2. Palästinenser und Siedler im Westjordanland

3. Kooperation statt Konfrontation

Zeittafel

Literaturhinweise

Literarische Texte

Filme

Online Ressource

Personenregister

Karte 1: Die Grenze Israels 1948–1967

Karte 2: Israel 1967, nach dem Sechstagekrieg

An einer offenen Tür hängt ein Schild «Geschlossen».

Wie erklärst du das? Jetzt

ist die Kette los an ihren beiden Enden: Es gibt keinen

Gefangenen und keinen Fänger, es gibt keinen Hund

und keinen Herrn.

Die Kette wird sich langsam in Flügel verwandeln.

Wie erklärst du das?

Jehuda Amichai, Jerusalem 1967

I. West und Ost: Der Zionismus in Traum und Wirklichkeit

Der 14. Mai 2018 war in Israel ein besonderer Tag. Siebzig Jahre zuvor hatte David Ben-Gurion als Oberhaupt einer provisorischen Staatsregierung im Stadtmuseum von Tel Aviv die Unabhängigkeit des Landes proklamiert. Nach Ablauf des britischen Mandats erklärten fünf arabische Länder Israel den Krieg, und ihre Truppen überquerten die Grenze zu Palästina. Damit nahm der israelische Unabhängigkeitskrieg seinen Anfang, der zwar zur endgültigen Errichtung eines jüdischen Staates führte, aber auch den Beginn des palästinensischen Exils markierte. Seit damals hat sich Israel sehr verändert und entwickelt: gesellschaftlich, technologisch und geographisch. Deshalb bot das siebzigjährige Jubiläum für viele Israelis reichlich Grund zum Feiern. Doch der 14. Mai 2018 war auch deswegen ein besonderer Tag, weil die zufälligen Ereignisse in seinem Umfeld auf ungewöhnliche Art und Weise die Widersprüche und Komplexitäten spiegelten, die den Staat Israel seit 1948 begleiten.

So hatte das Land zwei Tage zuvor, am 12. Mai 2018, den Eurovision-Song-Contest zum vierten Mal in seiner Geschichte gewonnen. Das preisgekrönte Lied von Netta Barzilai mit dem Titel «I’m not Your Toy» beschwört «die göttliche Schönheit einer jeden Frau». Seine musikalische Basis bildet die Misrachi-Musik, in der sich westliche und arabische Motive vermischen. In dem Song wird die aktuelle Botschaft der «MeToo»-Bewegung mit einer oberflächlich zelebrierten Leichtigkeit kombiniert, die von sich behauptet, die Grenzen von fixen Mustern (Gender, Musikstil, Nationalität) zu überwinden. In Europa wurde Nettas Auftritt als «innovativ und als ein Symbol für Diversität» wahrgenommen, wie etwa der österreichische Kurier am 14. Mai kommentierte. Auch dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump war seine Präsenz in Jerusalem an besagtem Unabhängigkeitstag wichtig und er demonstrierte sie damit, dass die USA als erster Staat genau in diesem Moment die Heilige Stadt offiziell als Hauptstadt Israels anerkannten. Jerusalem war in der Zeit von 1949 bis 1967 zwischen Israel und Jordanien aufgeteilt gewesen, und der östliche Teil der Stadt wird bis heute von den Palästinensern als ihre Hauptstadt reklamiert. Trump torpedierte diesen 1980 von der UNO entschiedenen Status quo, in dem er die amerikanische Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem verlegte. Damit vertiefte er die Kluft zwischen Israelis und Palästinensern weiter und disqualifizierte die USA als möglichen Vermittler zwischen den Konfliktparteien. Diese beiden Ereignisse reflektieren eine Spannung, die an die Zeit vor der Gründung des Staates erinnert und sich schon in der zionistischen Ideologie nachweisen lässt: der Wunsch, den jüdischen Staat im Nahen Osten zu errichten, aber gleichzeitig Teil des Westens zu bleiben und sich dabei auf die Unterstützung großer Mächte zu verlassen.

Weniger als 90 Kilometer entfernt von Jerusalem, an der Grenze zum Gazastreifen, fanden indessen an eben diesem 14. Mai 2018 große Protestveranstaltungen von Palästinensern statt, die das Leben im belagerten Gaza nicht mehr akzeptieren wollten. Die Demonstrationen hatten schon am 30. März begonnen, am sogenannten Tag des Bodens, der jährlich seit 1976 als Protest gegen die Enteignung arabischen Bodens durch Israel begangen wird. In diesem Jahr aber demonstrierten die Einwohner des Gazastreifens gegen die nun schon 13 Jahre andauernde Blockade, die Israel zusammen mit Ägypten seit der Machtübernahme des sunnitisch fundamentalistischen Terror-Regimes der Hamas verhängt hatte. Am Tag der israelischen Unabhängigkeit, dem gleichen Tag, an dem die Palästinenser ihrer Katastrophe – der Nakba – gedenken, eskalierten die Unruhen, nicht zuletzt auch infolge der Ereignisse in Jerusalem. Dem Aufruf der Hamas, an der Grenze zu demonstrieren, folgten mehr als 35.000 Menschen. In den Auseinandersetzungen mit der israelischen Armee wurden 61 Menschen getötet und mehr als 1200 verletzt. Die gewalttätigen Vorfälle stellten die demonstrative Festlichkeit der Verlegung der amerikanischen Botschaft infrage. Sie sind das Ergebnis des langjährigen Zerwürfnisses zwischen Israelis und Palästinensern und der Unfähigkeit aller Beteiligten, eine Lösung zu finden, um das Leiden auf beiden Seiten zu beenden.

Am gleichen Tag erschien ein Bericht in der Tageszeitung Haaretz über den Besuch von Zehntklässlern im Kulturzentrum der säkularen Stadt Kfar Saba. Die Schüler sahen sich ein Theaterstück zur Thematik der aktuellen Migration junger Israelis nach Berlin an. Zu ihrer Überraschung wurden die Jungen und Mädchen angehalten, getrennt voneinander zu sitzen. Neben säkularen Gymnasien waren auch Kinder aus zwei religiösen Schulen gekommen, deren Gefühle durch die unmittelbare Nachbarschaft von Schülerinnen und Schülern nicht verletzt werden sollten. Dieser Vorfall löste bei Eltern und Kindern heftigen Protest aus und machte wieder einmal die langjährige Spannung zwischen Religion und demokratischem Staat sichtbar.

Hinzu kam noch die sogenannte Tzafit-Katastrophe in der Negev-Wüste am 26. April des gleichen Jahres. Der tragische Vorfall offenbarte auf dramatische Weise das zerstörerische Potential des Klimawandels für die Region. Obwohl, ungewöhnlich für die Jahreszeit, stürmisches Wetter angekündigt war, unternahm an diesem Tag eine Gruppe von 25 Schülern und Schülerinnen eine Wanderung in ein Wadi, einen ausgetrockneten Flusslauf, der sich nach starken Regenfällen in kurzer Zeit in einen reißenden Wildbach verwandeln kann. Eine mächtige Flutwelle überraschte die Gruppe, durch die zehn Kinder ums Leben kamen, wobei die Ursache für die Fehleinschätzung nicht endgültig zu klären war. Aufgrund des Klimawandels werden solche Stürme in den letzten Jahren immer heftiger und treten ungewöhnlich spät in der Regensaison auf. Israels ökologisches System ist inzwischen sehr labil geworden, und die aktuellen Veränderungen, wie das allmähliche Austrocknen des Toten Meeres, erhöhen den Druck, die gesamte Region als eine geographische Einheit wahrzunehmen, trotz der politischen Grenzen, die sie zerteilen.

Diese völlig unterschiedlichen Ereignisse, die beinahe parallel stattfanden, stehen für die Spannungen, die Israel seit siebzig Jahren begleiten, und markieren die Herausforderungen, mit denen sich die israelische Gesellschaft konfrontiert sieht. Das Ziel des vorliegenden Buches ist es auch, diese Dissonanzen, Unüberbrückbarkeiten und paradoxen Intentionen in den Vordergrund zu stellen und zu analysieren.

1. Erste Schritte in Europa

Die Geschichte des Staates Israel beginnt im Europa des 19. Jahrhunderts mit dem Aufstieg des Zionismus zur jüdischen Nationalbewegung. Der Begriff «Zionismus» beinhaltet einen der biblischen Namen Jerusalems – «Zion» – und reflektiert die traditionelle religiöse Sehnsucht der Juden nach Jerusalem, die in ihren Gebeten täglich mehrfach und an Festtagen in rituellen Formeln ihren Ausdruck findet. Gleichzeitig wurden diese Beteuerungen fast zweitausend Jahre lang aber nie als Aufruf zur Aktion verstanden, vielmehr blieb Jerusalem, von einzelnen Fällen abgesehen, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zumeist ein imaginärer Ort in der jüdisch-religiösen Welt.

Durch den mühsamen Prozess von Aufklärung, Säkularisierung und Modernisierung der jüdischen Gemeinden in Ostmitteleuropa kam es nur langsam zu Veränderungen. Der Aufstieg der Vernunft als Maßstab für die Wahrnehmung der Realität öffnete schließlich auch für Jüdinnen und Juden Wege in die Mehrheitsgesellschaft. Sie wurden nun allmählich als Bürger und Bürgerinnen ihrer jeweiligen Staaten akzeptiert und ihr Judentum als eine Konfession unter anderen betrachtet. Doch hierin begründet lag auch ein Problem, da die jüdische Religion sich nicht als eine Konfession im üblichen Sinne versteht. Traditionell reglementieren 613 Gebote alle Bereiche des jüdischen Alltags und dienen als unsichtbare Mauer zwischen Juden und Nichtjuden. Säkulare Juden, die die traditionelle Welt verlassen hatten, gerieten in einen inneren Zwiespalt: Oft wurden sie ermutigt zu konvertieren, oder aber sie blieben trotz fortschreitender Säkularisierung im Kontakt zur eigenen Tradition und damit auch innerhalb der unsichtbaren Mauern der jüdischen Gemeinschaft. Mit wachsendem Nationalismus fanden Juden und Jüdinnen immer weniger Platz in der Gesellschaft. Immer wieder wurde von ihnen verlangt, ihre Loyalität als Individuen zum nationalen Kollektiv zu beweisen.

Während Juden in Westeuropa vor einer geistigen und kulturellen Krise standen, die aus der Desillusionierung über den Prozess der Emanzipation resultierte, traf es diejenigen im Osten viel direkter. Im Zarenreich durften sich Juden seit dem Ende des 18. Jahrhunderts nur im sogenannten Ansiedlungsrayon an der Westgrenze des russischen Kaiserreiches niederlassen. Da Aufklärung und Modernisierung die meisten dieser Gebiete nur langsam und eingeschränkt erreichten, behielten jüdische Gemeinden ihre traditionellen gesellschaftlichen Strukturen. Als 1881 Zar Alexander II. ermordet wurde, kam es im südlichen Teil des Rayons von April 1881 bis Mai 1882 zu heftigen Pogromen. Dadurch entstand an verschiedenen Orten parallel eine Bewegung, die sich Chibbat Zion (Zionsliebe) nannte. Die Initiatoren waren jüdische Intellektuelle aus dem Mittelstand, welche die Idee vereinte, Palästina – das Land Israel – zum Ziel einer jüdischen Migrationsbewegung zu machen, nachdem ein jüdisches Leben in Osteuropa nicht mehr möglich schien. Eine der zentralen Figuren war Leon Pinsker, ein junger Arzt aus Odessa, der 1882 das Pamphlet «Autoemanzipation» veröffentlicht hatte. In deutscher Sprache verfasst, ermutigte es die jüdischen Gemeinden, mit der Auswanderung nach Palästina ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Tatsächlich lösten die Pogrome von 1881/82 eine massive Migrationswelle aus, in deren Verlauf ca. 2,5 Millionen Jüdinnen und Juden den Ansiedlungsrayon verließen. 99 Prozent wanderten allerdings nach Nordamerika, Südamerika, Südafrika und Westeuropa aus, nur ein Prozent entschied sich für das Land Israel. Hierbei handelte es sich um die ersten Anhänger eines politisch motivierten Zionismus.

Die Idee, dem europäischen Judentum eine nationale Heimstatt im Land Israel aufzubauen, existierte in verschiedenen Formen im Europa des 19. Jahrhunderts. Doch allein Theodor Herzl ist es zu verdanken, dass aus der Idee des Zionismus eine Bewegung wurde. 1860 in Budapest geboren, zog er schon im jugendlichen Alter nach Wien, wo er Journalist wurde. Ab 1894 und bis zum Ende seines Lebens widmete er sich obsessiv seinem zionistischen Wunschtraum. Beeinflusst von dem Antisemitismus, den er in Wien und in Paris erlebte, zog er unermüdlich von Ort zu Ort und von Treffen zu Treffen und versuchte auf der Grundlage von Diplomatie und Verhandlungen ein Territorium als «Heimstätte» für das jüdische Volk zu erkämpfen. Wie andere zionistische Denker befasste sich Herzl intensiv mit der Frage nach dem einenden jüdischen Element. Nach so vielen Jahrhunderten in der Diaspora schien ihm, als gebe es wenig, was etwa Juden in Mitteleuropa mit Juden im Jemen verbinde. Dies betraf die Sprache, das traditionelle Essen und sogar die Physiognomie. Aber um eine Nation, ein Volk aus dieser Vielfalt zu schaffen, musste man das verbindende Element finden. Für Herzl war jede Definition von Natur aus negativ: Juden werden als solche von außerhalb etikettiert, durch Antisemitismus und Hass. In seinem programmatischen Buch von 1896 Der Judenstaat schrieb er: «Wir sind ein Volk – der Feind macht uns ohne unseren Willen dazu, wie das immer in der Geschichte so war. In der Bedrängnis stehen wir zusammen, und da entdecken wir plötzlich unsere Kraft.» Während die Gründe für Herzls Festlegung unter den historischen Umständen verständlich waren, kann man im Blick zurück ein beunruhigendes Element darin erkennen: Wenn die Definition nur durch den Feind erfolgt, braucht man immer einen Feind, um das verschiedengestaltige Kollektiv als eine Einheit zu erhalten.

1897 fand auf Herzls Initiative hin der erste zionistische Kongress in Basel statt, eine Einrichtung, die seitdem wie ein Parlament im Exil funktionierte und unregelmäßig in verschiedenen europäischen Städten tagte. Dort wurden die Möglichkeiten und Probleme im Prozess der Verwirklichung des Zionismus unter Delegierten und Parteien diskutiert. Am Ende des ersten Kongresses stand das «Basler Programm» und darin als Ziel des Zionismus «die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina».

Die Gründung des Staates Israel 1948 verlieh Herzl, der 1904 mit 44 Jahren an einer Herzkrankheit gestorben war, die Rolle eines Propheten, der – wie der biblische Moses – das jüdische Volk bis an die Tore des verheißenen Landes geführt hatte, doch selbst nicht hinein durfte. Nur seine Gebeine wurden seinem Wunsch entsprechend nach Israel überführt und auf einem Hügel bestattet, der seitdem seinen Namen trägt und bis heute ein Erinnerungsort und Militärfriedhof ist. Die Nachricht von Herzls Tod hatte die zionistische Bewegung jäh und unerwartet getroffen und tiefe Trauer ausgelöst. Aber gleichzeitig sahen viele seinen frühen Tod als Appell, die zionistische Vision in die Realität umzusetzen und nach Palästina auszuwandern.

2. Die Etablierung des Jischuws in Palästina

Im zionistischen Narrativ wird die Einwanderung in das Land Israel «Alija» (Aufstieg) genannt. Diesem Namen wohnt eine moralische Botschaft inne, denn sie ist so etwas wie ein Mandat für jeden Juden. Schließlich ist in der jüdischen Tradition die Rückkehr zum Land Israel mit der messianischen Zeit verknüpft. Von Beginn der zionistischen Bewegung bis heute gibt es Spannungen zwischen den messianisch-religiös motivierten Einwanderern und denjenigen, die sich die Ziele des säkularen Zionismus auf die Fahne geschrieben haben. Die Geschichtsschreibung zählt fünf jüdisch-zionistische Migrationswellen nach Palästina vor der Gründung des Staates im Jahr 1948. Wie jede Periodisierung ist auch diese künstlich, ein historiographisches Konstrukt, das aber hilft, die verschiedenen Phasen beim Aufbau des Jischuws – der jüdischen Gemeinschaft in Palästina – besser zu verstehen.

Die erste Alija (1882–​1904) begann als Reaktion auf die Pogrome in Russland und als Teil der massiven Auswanderungsbewegung aus Osteuropa in den Westen. Nach Palästina gelangten in dieser Zeit ca. 30.000 Juden. Palästina war damals unter der Kontrolle des Osmanischen Reiches, das sich in einem langen Prozess des Verfalls befand. Die Ankömmlinge waren in der Regel einfache, religiöse Familien, die weder das Land kannten noch Erfahrung mit landwirtschaftlicher Arbeit hatten. Während sich viele in den Städten niederließen, gründeten einige, vor allem diejenigen, die der zionistischen Chibbat-Zion-Organisation angehörten, eine neue Siedlungsform – die «Moschawot». Darin ging es um Landwirtschaft und ländliches Leben auf der Basis zionistischer Ideale, und der dafür benötigte Boden wurde arabischen Besitzern abgekauft. Die erste Moschawa war Petach Tikwa («Beginn der Hoffnung»), heute eine Großstadt östlich von Tel Aviv. Weitere 30 Moschawot-Projekte folgten in den Jahren der ersten Alija. Die Siedler, die sich mit vielen finanziellen Schwierigkeiten konfrontiert sahen, wurden von Baron Edmund de Rothschild massiv unterstützt. Als dies schließlich zum Verlust ihrer Souveränität führte, kehrten etliche von ihnen nach Europa zurück.

Während der zweiten Alija (1904–​1914) wanderten etwa 35.000 Juden aus Osteuropa nach Palästina aus, zum einen aufgrund neuer Pogromwellen in Russland, zum anderen aber auch von zionistischem Enthusiasmus getrieben, der sich nach dem Tod Herzls 1904 noch verstärkte. Die zweite Alija brachte ein neues Element ins Land, weil sich darunter junge Frauen und Männer befanden, die neben ihrer zionistischen Überzeugung auch vom Sozialismus geprägt waren. Sie strebten danach, eine gerechtere jüdische Gesellschaft aufzubauen und ein neues Ideal des jüdischen Menschen zu erschaffen, das dem Bild des Exiljuden gänzlich zuwiderlaufen sollte: stark, aktiv, selbstversorgend – ein Proletarier. Einige von ihnen siedelten in noch unkultivierten Gegenden Palästinas, die an der Peripherie des Jischuws lagen. In diesen kleinen Siedlungen, die «Kwuza» (Gruppe) hießen, lebten die Mitglieder ohne Privatbesitz und folgten – in Kombination mit landwirtschaftlicher Arbeit – Idealen von sozialer Gerechtigkeit. Mit den Jahren sind die «Kwuzot» zu Kibbuzim geworden, deren Gründung oft auch der militärischen Sicherheit dienten. Der erste Kibbuz, Degania, entstand 1910 an den Ufern des Sees Genezareth. Hier entfaltete sich das Ethos des «Chaluz», des jüdischen Pioniers, der das Land durch seine Arbeit erobert. Doch das schwierige Leben in den neuen Siedlungen hatte auch seinen Preis. Harte Arbeit, schlechte Ernährung, Krankheiten wie Malaria und der Verlust der Privatsphäre bildeten einen direkten Gegensatz zur Herkunft der jungen Migranten, die oft aus bürgerlichen Familien kamen. In den «Kwuzot» gab es vergleichsweise viele Fälle von Depression und Selbstmord, und mehr als die Hälfte der Chaluzim verließ Palästina wieder.

Eines der zentralen Elemente in der zionistischen Verwirklichung war zudem die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache, um aus den zerstreuten jüdischen Gemeinden eine Gesellschaft zu schaffen. Im Gegensatz zum Jiddischen, das als die Sprache des Exils wahrgenommen wurde, arbeiteten zionistische Intellektuelle an der Erneuerung und Modernisierung der hebräischen Sprache. Für viele Migranten war Jiddisch die natürliche Umgangssprache, was häufig zu Konflikten führte. Im Zusammenhang mit der Etablierung des Hebräischen als Sprache des Jischuws war die Gründung der ersten jüdischen Technischen Hochschule in Haifa – des Technions – ein wichtiger Schritt. Aus praktischen Erwägungen hatte man sich zwar für Deutsch als Unterrichtssprache an der neuen Institution entschieden, nach heftiger Kritik und Boykottdrohungen diverser zionistischer Organisationen wurde die Entscheidung 1914 jedoch zurückgenommen und die Unterrichtssprache auf Hebräisch umgestellt. Diese (ur-)alte Sprache im Alltag zu sprechen wurde zu einem Ideal, und so mussten sich diejenigen, die in der Öffentlichkeit noch Jiddisch oder eine der europäischen Sprachen benutzten, kritische Bemerkungen wie «Iwri – daber Iwrit!» («Hebräer, sprich Hebräisch!») anhören. Gleichzeitig fehlten im Hebräischen allerdings viele Fachbegriffe, die man aus dem Deutschen entlieh und die bis heute angewendet werden. So finden sich im hebräischen Wörterbuch Bezeichnungen wie «Dübel», «Isolierband» oder «Spachtel».

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges versiegte die Einwanderung nach Palästina und setzte erst 1918 mit der dritten Alija wieder ein. Die größte Veränderung im Land in den Jahren des Krieges war die Eroberung der Region durch die englische Armee. Von 1923 bis 1948 galt das britische «Mandat» des Völkerbundes über die Gebiete des heutigen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde sowie Jordanien.

Demographisch betrachtet war die dritte Alija eine Fortsetzung der vorigen Migrationswelle. Durch die russische Oktoberrevolution 1917 motiviert, strebten jüngere Frauen und Männer danach, eine neue, jüdische und sozial gerechte Gesellschaft aufzubauen. Die infrastrukturelle Basis, die durch die Vertreter der zweiten Alija gelegt worden war, diente als Grundlage für die Verbreitung und Stärkung der Kibbuzim-Bewegung und bildete die Voraussetzung für die Schaffung einer neuen landwirtschaftlichen Siedlungsform, des Moschaw. Anders als die Moschawa aus der Zeit der ersten Alija, die ein privates Unterfangen war, war der Moschaw eine Kooperative mit gemeinsamer wirtschaftlicher Basis, in der aber im Gegensatz zum Kibbuz jede Familie eine wirtschaftliche und soziale Einheit für sich blieb. Im Moschaw Nahalal, der 1921 gegründet wurde, reflektiert die Architektur die Ideologie. Das vom deutsch-jüdischen Architekten Richard Kauffmann nach dem europäischen Ideal der Gartenstadt geplante Dorf sieht von oben wie eine Sonne aus. In deren Fokus steht das Zentrum des Dorfes, im ersten Kreis um den Kern sind die Häuser der Mitglieder der Kooperative angeordnet, hinter denen sich ein breiter werdender Streifen Land mit Feldern und dem landwirtschaftlichen Besitz jeder Familie erstreckt.

Luftbild des Moschaw Nahalal. Die 1921 gegründete Siedlung wurde von dem deutsch-jüdischen Architekten Richard Kauffmann nach dem europäischen Ideal der Gartenstadt geplant.

Dieses Dorf ist zum Symbol der zionistischen Verwirklichung geworden, unter anderem auch, weil einer der Söhne der Gründergeneration Moshe Dayan war, der als General und Verteidigungsminister während des Sechs-Tage-Krieges eine zentrale Rolle spielte. Nahalal befindet sich im Jesreeltal, das zwischen dem Carmel-Gebirge und den Bergen Galiläas liegt und das Mittelmeer mit dem Jordantal verbindet. Die Besiedlung dieser Region war eine der zentralen Bestrebungen der zionistischen Bewegung in den 1920er-Jahren. Neben Nahalal wurden Kibbuzim wie Ein Charod (1921), Beit Alfa (1922) und Mishmar Haemek (1921) gegründet. Eine wichtige Rolle dabei spielte die Schaffung einer territorialen Sequenz von jüdischen Siedlungen, die die geopolitische Realität beeinflussen sollte. So wurden die Ideale der Besiedlung des Landes mit dem Bedürfnis nach Sicherheit unter dem Motto zusammengebracht: Eine Hand hält den Pflug und die andere das Gewehr.

Die sogenannte Balfour-Erklärung, ein Brief, den der britische Außenminister Lord James Balfour im November 1917 an Lord Lionel Walter Rothschild richtete mit der Bitte, ihn an die zionistischen Organisationen weiterzuleiten, verstärkte die Emigration nach Palästina. Die darin ausgedrückte wohlwollende Haltung der britischen Regierung gegenüber der «Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina» weckte trotz ihrer diplomatischen und formalen Reduktion – mehr als Sympathie für die zionistischen Ziele wurde nicht geäußert – fast messianische Gefühle in den Herzen der zionistischen Aktivisten und stellt einen Wendepunkt in der Vorgeschichte des Staates Israel dar. Auf der anderen Seite trug die Erklärung aber auch zu wachsenden Spannungen mit den Arabern bei, die darin eine Begünstigung der jüdischen Sache durch die Briten zu erkennen glaubten.

Die vierte Alija nach Palästina, die auf die Jahre zwischen 1924 und 1931 eingegrenzt wird, änderte Anzahl und Charakter der Einwanderer. Aufgrund der rigiden Einwanderungsquoten der amerikanischen Regierung, der Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation in Osteuropa und des wachsenden Antisemitismus unter Stalin kamen bis 1926 60.000 Menschen ins Land. Allein 1925 absorbierte der Jischuw 285 Neuankünfte auf jeweils 1000 Juden, die schon im Land lebten. Die meisten kamen aus Osteuropa und gehörten dem bürgerlichen Mittelstand an. Sie zogen das Leben in den Städten, vor allem in Tel Aviv, das 1909 als erste jüdische Stadt gegründet wurde, dem Leben auf dem Land vor. Während dieser Jahre verdoppelte sich die Bevölkerung Tel Avivs von 21.000 auf beinahe 40.000 Einwohner, und der jüdische Teil Haifas wuchs von 6000 Einwohnern 1922 auf 14.000 im Jahr 1925. Das Kapital, das die Einwanderer mitgebracht hatten, verhalf dazu, neben dem landwirtschaftlichen Leben in den Kibbuzim auch Industrie und Städtebau als legitime Wege zur Verwirklichung des Zionismus anzukurbeln.

In den 1920er-Jahren vollzog sich der große Durchbruch der hebräischen Sprache und Kultur in Palästina. Die Sprache etablierte sich in der Bevölkerung und ihr Wortschatz wuchs rasch. Unter dem Einfluss des prominenten zionistischen Denkers Ascher Ginsberg (1856–​1927), der unter seinem Pseudonym Achad Haam («einer aus dem Volk») bekannt wurde, entwickelte sich Palästina zum wichtigsten Zentrum hebräischer Kultur. Für ihn kam der Erneuerungsprozess der eher säkularen, jüdischen Kultur in hebräischer Sprache an erster Stelle. Dieser sollte eine gemeinsame Basis für eine vielgestaltige jüdische Diaspora bilden, deren Nationswerdung noch vor der politischen Verwirklichung des Zionismus stehen sollte. Nur so würde in Palästina, «nicht nur ein Staat der Juden [entstehen], sondern auch ein echter jüdischer Staat». Vielleicht das beste Beispiel für eine Erfüllung von Achad Haams Vision ist die Gründung der Hebräischen Universität am Skopus-Berg in Jerusalem am 1. April 1925. Während der Eröffnungszeremonie wurde die Hymne der neuen Institution gesungen, in der sie als «Leuchtturm» für das jüdische Volk und «prachtvoller Tempel des Wissens» gefeiert wurde. Als Hochschule und Forschungseinrichtung sollte die Hebräische Universität Bausteine liefern für den Aufbau zionistischer Kultur.

In den 1930er-Jahren wuchsen die Spannungen zwischen den zwei größten politischen Gruppierungen, der MAPAI und den Revisionisten. MAPAI, die Arbeiterpartei des Landes Israel, entstand 1930 unter der Führung von David Ben-Gurion aus dem Zusammenschluss der beiden sozialistischen Parteien Achdut Haawoda und Hapoel Hazair. Brit Hazionim Harevisionistim (Bund der zionistischen Revisionisten) unter dem Vorsitz von Zeev Jabotinsky wurde 1925 gegründet und plädierte für die Bildung eines Staates mit jüdischer Mehrheit auf beiden Seiten des Jordans, ein Ziel, das mit politischem Druck bis hin zum Einsatz militärischer Gewalt erreicht werden sollte. Die Revisionisten kritisierten heftig die kompromissbereite Haltung der MAPAI, nachdem die britische Mandatsregierung 1930 die jüdische Einwanderung nach Palästina und den Landkauf eingeschränkt hatte. In den folgenden Jahren nahmen die Spannungen zwischen den beiden Parteien zu, mit dem Ergebnis, dass 1935 Jabotinsky mit seiner Partei aus der zionistischen Weltorganisation austrat. Die Dissonanzen zwischen beiden Parteien begleiteten Israel für die folgenden vier Jahrzehnte, in denen MAPAI an der Regierung war. Erst 1977 gewannen die Erben der revisionistischen Partei unter der Führung von Menachem Begin zum ersten Mal die Wahl und regieren mit wenigen Unterbrechungen bis heute.