Uwe Schultz

Jongleur der Macht

Kardinal Mazarin, der Lehrmeister des Sonnenkönigs

 

 

 

Für Johannes Willms

Impressum

wbg THEISS ist ein Imprint der wbg.

© 2018 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.

Lektorat: Daphne Schadewaldt, Wiesbaden

Gestaltung und Satz: Anja Harms, Oberursel

Einbandabbildungen: links: Kardinal Mazarin, Gemälde von Nicolas Mignard (1606–1668);

© akg-images/Nimatallah

rechts: Jean-Baptiste Colbert stellt Ludwig XIV. die

Mitglieder der Königlichen Akademie der Wissenschaften vor, Gemälde von Henri Testelin; © Bridgeman Images

Inhalt

Vorzeichen: Ein Königsmord und 25 Jahre Frieden

1. Großer Auftritt eines Unbekannten

2. Von Rom nach Paris

3. Zwei Kardinäle – eine Politik

4. Cinq-Mars auf dem Schafott

5. Die Regentin und der Kardinal

6. Die erste Etappe zum Siegfrieden

7. Fronde I – Defensive

8. Fronde II – Offensive

9. Fronde III – Exil

10. Die grenzenlose Bereicherung

11. Sieben Nichten und drei Neffen

12. Der Frieden auf der Fasaneninsel

13. Herrschaft bis zum Tod

Epilog: Ein großer König und fünf Kriege

Anhang

Zitatnachweise

Bildnachweis

Literaturverzeichnis

Vorzeichen

Ein Königsmord und 25 Jahre Frieden

Am 14. Mai 1610 kam die Karosse Heinrichs IV. in der engen Straße La Ferronnerie zum Stillstand, weil zwei Wagen, einer mit Heu, der andere mit Wein beladen, die Weiterfahrt blockierten. Der König hatte den Louvre verlassen, um im Arsenal seinen Finanzminister, den Herzog de Sully, zu besuchen. Die ihn begleitenden Edelleute und Diener nahmen eine Abkürzung über den nahen Kinderfriedhof („Les Innocents“), und der Kutscher des Königs versuchte, sich mit Schlägen auf die Pferde freie Fahrt zu verschaffen.

Heinrich IV. war mit dem Herzog d’Épernon ins Gespräch vertieft, als ein groß gewachsener, kräftiger, rothaariger Mann, der der königlichen Karosse schon seit der Ausfahrt aus dem Louvre gefolgt war, auf die Hinterachse der Karosse sprang und mit einem Messer dreimal auf den König einstach. Der erste Stich drang durch sein Wams und verletzte ihn nur leicht an der zweiten Rippe, der zweite drang zwischen fünfter und sechster Rippe in die Brust ein und verletzte die Aorta – es war eine tödliche Verletzung –, der dritte glitt am Körper des Königs ab und traf nur den Ärmel des Herzogs de Montbazon. Blut floss aus dem Mund des Königs, der noch sagen konnte: „Ich bin verletzt“,1 dann zogen die Pferde die königliche Karosse im Galopp zurück in den Louvre. Dort angekommen, war Heinrich IV. bereits tot, er war das Opfer des siebzehnten Attentats auf ihn geworden – nach sechzehn Attentaten, die er mehr oder weniger verletzt überlebt hatte.

François Ravaillac, der Heinrich IV. am 14. Mai tötete. Zeitgenössischer Stich mit den ovalen Porträts von Heinrich IV., Maria de’ Medici und dem jungen König Ludwig XIII.

Sein Mörder hieß François Ravaillac. Er hatte ein sozial und geistig ungeordnetes Leben geführt, war wie sein Vater in Rechtsgeschäften im Lande unterwegs, und in die Hauptstadt, wohin ihn vor allem seine Frömmigkeit getrieben hatte, war er zu Fuß gelangt. Sowohl beim Orden der Feuillanten, wo er als Laienbruder gedient hatte, wie bei den Jesuiten war er auf Zurückweisung gestoßen. Man misstraute ihm, da er, von Visionen getrieben, aus dem seelischen Gleichgewicht geraten war. Vor seiner Vierteilung, die auf der Place de Grève mit grausamer Härte vollzogen wurde, gab er als Motiv für seine Tat an: „Der König wollte Krieg führen gegen den Papst … den Heiligen Stuhl nach Paris bringen und die Häresie triumphieren lassen.“2 Zwar hatte der König im Jahr 1598 mit dem Edikt von Nantes für einen friedlichen Ausgleich zwischen Katholiken und Hugenotten gesorgt, aber nicht zuletzt katholische Theologen sahen in ihm weiterhin einen Ketzer und hatten die Theorie des Tyrannenmords gegen ihn entwickelt.

In der Tat war Heinrich IV., als ihn der tödliche Messerstich traf, mit Épernon im Gespräch über die Planung eines unmittelbar bevorstehenden Krieges und auf dem Weg ins Arsenal, wo sich die gut gefüllte Kriegskasse befand: „Im Arsenal werde ich Ihnen den Plan zeigen, den Escures (der Generalmarschall für Stationierung und Verpflegung der Armeen) entworfen hat, um den Durchmarsch unserer Armee zu sichern. Sie werden damit zufrieden sein.“3 Es ging dem König nicht nur um die militärische Stärke, für die große finanzielle Aufwendungen notwendig waren. Seine Truppenkontingente erreichten die Mannschaftsstärke von 280 000 Mann – derartige Heeresstärken waren seit den Kreuzzügen nicht mehr erreicht worden. Das in Savoyen für den Einmarsch in Italien bereitstehende Kontingent wies 12 000 Infanteristen und 200 Reiter auf, und das verbündete Venedig hatte die Truppenstärke auf 14 000 Mann erhöht – deren Bezahlung leistete die französische Staatskasse. An der Südgrenze Frankreichs stand ein Heer von 25 000 Mann, bereit, in Spanien einzufallen. Der König selbst wollte das Kommando über ein in der Champagne aufgestelltes Heer von 35 000 Mann übernehmen, um in nordöstlicher Richtung in Deutschland einzudringen.

Es ging ihm aber auch und vor allem um die politische und diplomatische Offensive – den „Befreiungskrieg“, der die geopolitische Umklammerung Frankreichs durch Habsburg und Spanien aufbrechen sollte. So unterstützte Frankreich den seit 1571 schwelenden Aufstand der „Geusen“ in den Spanischen Niederlanden. Die Allianz mit England unter Elisabeth I. war während des französischen Religions-krieges für Heinrich IV. von größter Bedeutung gewesen, auch hatte der Untergang der spanischen Armada im Jahr 1588 den Seeweg von Spanien in die Spanischen Niederlande unterbrochen, und den Landweg über die Alpenpässe versuchte Frankreich durch einen Vertrag mit Graubünden zu blockieren, der die Zahlung von 1,2 Millionen Livres einschloss – insgesamt verschlangen die Subsidienverträge mit seinen Koalitionspartnern nicht weniger als zwanzig Prozent des französischen Staatshaushalts. Und schließlich betrachtete Heinrich IV. den 1598 mit Spanien geschlossenen Vertrag von Vervins nur als einen Waffenstillstand.

Es stand also eine Neuauflage der permanenten Kriege bevor, in die sich im 16. Jahrhundert Kaiser Karl V. und Franz I. verstrickt hatten. Dem habsburgisch-spanischen Herrscher ging es seinerzeit um die „Monarchia universalis“, die in der Einheit des katholischen Glaubens den Frieden und seine Herrschaft in Europa sichern sollte. Der französische König, der nicht zögerte, sogar mit dem Osmanischen Reich ein Bündnis zu schließen, um das Habsburgerreich auch im Rücken angreifen zu können, verfolgte sowohl eine Verteidigungspolitik seiner vorgeblich eingekreisten Lande wie eine offensive Strategie gegen den universalen Machtanspruch des deutschen Kaisers – schließlich ging es beiden um die Dominanz in Europa.

Für die Wiederaufnahme des Kampfes um die europäische Hegemonie fehlte Heinrich IV. bis zum Jahr 1610 nur der wie auch immer legitimierte Kriegsgrund, der sich nun fand. Bereits Franz I. hatte Frankreich zur Schutzmacht für mehrere deutsche Reichsfürsten protestantischer Konfession erklärt, nun schaltete sich der französische König in die Erbfolge im Herzogtum Kleve und Jülich ein. Dessen Herzog Johann Wilhelm war am 25. März 1609 ohne männlichen Erben gestorben, sodass entsprechend den Reichsrechten das Herzogtum als Reichslehen an den Kaiser zurückfiel. Die Schwiegersöhne des verstorbenen Herzogs, der Markgraf von Brandenburg und der Sohn des Grafen von Pfalz-Neuburg, sahen in diesem kaiserlichen Recht nur den Versuch des Kaisers Rudolph II., das Herzogtum seinem Parteigänger, dem Kurfürsten von Sachsen, zukommen zu lassen.

Der zweite Messerstich Ravaillacs ließ die grandiose Kriegskulisse Heinrichs IV. einstürzen und gewährte Frankreich eine Friedensfrist von 25 Jahren, während bereits acht Jahre später der Dreißigjährige Krieg in Deutschland ausbrach. Es sollte im Westfälischen Frieden die Frage der Vorherrschaft in Europa beantwortet werden – zugunsten Frankreichs. Dieser Friedensvertrag wurde die politisch-diplomatische Meisterleistung seines Ersten Ministers Kardinal Mazarin.

1. Großer Auftritt eines Unbekannten

Neuer Schauplatz des Machtkampfes zwischen Habsburg-Spanien und Frankreich war zwei Jahrzehnte später Norditalien – es ging um die mantuanische Erbfolge. Vincenzo II. Gonzaga, Herzog von Mantua, war im Dezember 1627 kinderlos gestorben. In seinem Testament hatte er sein Herzogtum einem Verwandten jener Nebenlinie vermacht, die seit Langem in Frank reich lebte – Karl I. Gonzaga, Herzog de Nevers.

Kaiser Ferdi nand II., der mit Eleonora Gonzaga, der Schwester des letzten Herzogs, verheiratet war, versuchte, das Herzogtum als erledigtes Reichslehen einzuziehen und danach an Ferrante II. Gonzaga zu geben, der der jüngeren Linie der Gonzaga-Guastalla angehörte und auf der Seite Spaniens stand. Auch Spanien machte seinen Machtanspruch geltend und forderte das Erbe für eine Nichte des Verstorbenen, die zudem Enkelin des Spanien zugeneigten Herzogs Karl Emanuel von Savoyen war. Karl Emanuel von Savoyen, der ein Militärbündnis mit Frankreich und dessen Verbündetem Venedig abgeschlossen hatte, wurde alsbald zum zwielichtigen Verräter gegenüber Frankreich, wollte er doch sein begrenztes Herrschaftsgebiet vergrößern und besetzte deshalb das Herzog tum Mantua. Spanien, das schon Herr des Herzogtums Mailand war, ließ ihn gewähren und wollte sich nur die Festung Casale sichern, deren zentrale Lage sie zum Sperrriegel in Norditalien machte. Das Kriegstheater baute sich in kleinen Schritten auf. Dem Herzog de Nevers gelang es, mit französischen Freiwilligen die Stadt Mantua zu erobern. Auch die Festung von Casale wurde zu einer französischen Enklave, die ihrerseits von Spanien belagert wurde. Noch war Kaiser Ferdinand II. in die wechselvollen militärischen Konflikte des Dreißigjährigen Krieges verstrickt, und Kardinal Richelieu, der 1624 in Frankreich zum dominierenden Ersten Minister aufgestiegen war, kämpfte vor La Rochelle die widerständigen Hugenotten nieder, um zunächst die innenpolitische und konfessionelle Einheit Frankreichs für König Ludwig XIII. zu sichern, bevor sich beide der außenpolitischen Offensive zuwenden konnten.

Die heraufziehende Gefahr einer weiteren Konfrontation der beiden europäischen Großmächte beunruhigte den Papst Urban VIII., der vor allem den Frieden erhalten und die fremden Mächte von Italien fernhalten wollte. Er schickte als außerordentlichen Nuntius seinen Vertrauten Giovanni Francesco Sacchetti nach Mailand, der Giulio Mazarini als Hauptmann des päpstlichen Friedenskorps an seiner Seite hatte. Dieser, erst 26 Jahre alt, war weder Geistlicher noch Soldat, sondern Jurist in diplomatischer Mission.

Nach dem Fall von La Rochelle war Kardinal Richelieu nicht länger gewillt, den französischen Herzog de Nevers zum militärischen Opfer von Savoyen und Spanien werden zu lassen. Im Februar 1629 überquerten, trotz widriger Winterverhältnisse, die französischen Truppen den Pass Montgenèvre und griffen die Stadt Susa an, die zum Herrschaftsgebiet des Herzogs von Savoyen gehörte. In dem Vertrag von Susa einigten sich Frankreich und Savoyen darauf, dass französische Truppen savoyisches Gebiet durchqueren durften – sie konnten somit ungehindert in die Po-Ebene eindringen. Nun sah sich Spanien in seiner Ehre herausgefordert und schickte seinen größten Heerführer und Belagerungstaktiker Antonio Spinola nach Mailand, dem 1625 die Eroberung von Breda gelungen war und der nun mit den „Tercios“, den gefürchteten spanischen Infanteristen, vor Casale erschien. Er sollte die Festung erobern, die trotz wiederholter spanischer Angriffe noch immer in französischer Hand war – verteidigt von Jean de Saint-Bonnet de Toiras.

Der Papst, um Neutralität bemüht, obgleich eher Frankreich zugeneigt, das in Italien als Befreier von Spanien begrüßt wurde, ließ den jungen Hauptmann Mazarini die Friedenschancen in dem sich aufbauenden Konfrontationsfeld erkunden. Es fand gleichsam ein Wettlauf zwischen den langsam sich aufeinander zu bewegenden Truppen und den schnellen Ritten des päpstlichen Emissärs statt. Mazarini suchte in permanentem Wechsel den Kontakt zu den drei Hauptakteuren der Heereskontingente – dem spanischen Feldherrn Spinola, dem Herzog Karl Emanuel von Savoyen und dem Marschall Créqui, der die in Norditalien vordringenden französischen Truppen befehligte. Um die französischen Kriegsziele genauer zu erkunden und möglichst zu beeinflussen, zögerte Mazarini nicht, im Eiltempo über die winterlichen Alpen nach Lyon zu reiten, um den persönlichen Kontakt mit Kardinal Richelieu zu suchen, der den militärischen Oberbefehl übernommen hatte. Im Rückblick ist diese erste Begegnung der Beginn einer langen, intensiven Kooperation beider mit dem Ziel, Frankreich zur dominierenden Macht in Europa aufsteigen zu lassen.

Der Konflikt zwischen den Kriegsparteien spitzte sich zu. Am 4. September 1630 gelang es, in Rivalta einen vierzigtägigen Waffenstillstand auszuhandeln. Am 26. September starb Spinola, der, als Genuese Italiener wie Mazarini, von dem jungen Römer in eine fast freundschaftliche Beziehung gelockt worden war, die zur Verzögerung der Kriegsentscheidung führte, wie ihm in Madrid vorgeworfen wurde – er hätte vor dem Fall von La Rochelle, solange der Kardinal Richelieu dort festgehalten war, angreifen sollen. Aus verletztem Stolz soll er plötzlich gestorben sein.

Papst Urban VIII. (1623–1644), der gestrenge Dienstherr des jungen Mazarin, in dessen Pontifikat 1633 die Verurteilung Galileis durch die Inquisition fiel.

Aber am 15. Oktober war der Waffenstillstand abgelaufen, und am 26. Oktober kam es zur dramatischen Zuspitzung. Die französischen Truppen unter dem Marschall Schomberg standen zum Angriff bereit, doch Mazarini ritt mit einem neuen Kompromissvorschlag des kaiserlichen Generals Rambaldo Collalto zu ihm: Ein Waffenstillstand sei noch möglich, wenn der Vorschlag zum Frieden von den Franzosen gemacht werde. Dem französischen Marschall skizzierte er einen völlig offenen Schlachtausgang, da die spanisch-habsburgischen Truppen sich inzwischen in Verschanzungen eingegraben hätten – die Folge könne ein langer mörderischer Stellungskrieg mit hohen Verlusten auf französischer Seite sein. Währenddessen aber setzten sich die französischen Truppen bereits in Marsch, und der französische Offizier Toiras auf der Festung Casale signalisierte mit einem Kanonenschuss seine Bereitschaft zum Ausbruchsversuch. Die spanischen Kanonen begannen zu feuern, und die spanisch-habsburgischen Soldaten standen gefechtsbereit in Erwartung des französischen Angriffs. Am Nachmittag um vier Uhr hielt Schomberg eine patriotische Aufputschrede vor seinen Soldaten. Dann knieten die Soldaten zum Gebet nieder, bevor sie sich in die Schlacht stürzen würden.

In diesem hochdramatischen Augenblick tauchte in wildem Galopp aus den spanischen Linien ein einzelner Reiter auf und rief lauthals, seinen Hut schwenkend, mit letzter Lungenkraft nur das Wort „Frieden“ – „Pace! Pace!“ sowie auch „La paix! La paix!“. Den militärisch waghalsigen und zugleich theatralisch grandiosen Auftritt hat der französische Marschall La Force geschildert: „Die ganze Reiterei hatte den Degen schon in der Hand, da erschien der besagte Mazarini, aus den Reihen der Feinde auf uns zukommend, und schrie ‚Halt!‘.“1

Auch Mazarini hat acht Jahre später, als er seinen Name bereits in „Mazarin“ französisiert hatte – was ab sofort hier auch geschehen soll –, seinerseits die entscheidenden Minuten, als er die Schlacht noch verhindern konnte, in einem Brief geschildert:

„Ich kann Ihnen keinen detaillierten Bericht über das schicken, was bei Casale an jenem Tag geschah, als ich die Schlacht zwischen den beiden Armeen verhinderte. Ich werde Ihnen in aller Kürze sagen, dass, als ich die spanischen Reihen verließ und im Galopp auf den Marschall von Schomberg zuritt, der an diesem Tag kommandierte, einige Musketenschüsse auf mich abgefeuert wurden … Ich schwenkte als Zeichen, um auf mich aufmerksam zu machen, meinen Hut und rief ihnen zu, sofort den Angriff zu stoppen, denn ich brächte die Konditionen, die zum Frieden führen würden. Sie taten es, und ich gelangte vor den Marschall und unterbreitete ihm meine Mission. Ich erlangte seine Zustimmung und kehrte zu dem Marquis von Santa Croce (dem spanischen General) zurück, damit er seinerseits seinen Soldaten befehle, nicht länger mit den Schanzarbeiten an ihren Verschanzungen fortzufahren, die noch nicht vollendet waren. Als ich erhalten hatte, was ich wollte, ritt ich ein zweites Mal zum Marschall von Schomberg. Als alles geregelt war, schlug ich vor, dass sich zwanzig der wichtigsten Offiziere aus jedem Lager zu einer Stelle, die gleich weit von beiden Armeen entfernt wäre, begeben sollten: Ich erläuterte ihnen die Konditionen des Friedens, die von den jeweiligen Generalen ratifiziert seien, es habe nur an Zeit und Gelegenheit gefehlt, um sie schriftlich niederzuschreiben. So geschah es, und ich sprach vor ihnen ungefähr eine Viertelstunde. Alle stimmten dem zu, was ich sagte, und begannen, sich zu umarmen, so vollständig, dass man den Franzosen nicht von dem Spanier unterscheiden konnte …“2

Mögen die Einzelheiten dieser Szene, die Mazarin gleichermaßen zum Regisseur wie zum Hauptdarsteller hatte, vielleicht nicht ihre volle historische Richtigkeit haben, das Resultat eines in letzter Minute geretteten Friedens zwischen Habsburg-Spanien und Frankreich war eine grandiose diplomatische Leistung, erbracht mit hohem persönlichem Risiko. Über die Konditionen dieses Friedens wurde man sich in groben Zügen schnell einig: Spanier und Franzosen hatten die Stadt Casale zu verlassen. Der von Frankreich unterstützte Herzog de Nevers sollte mit dem Herzogtum Mantua belehnt werden. Der neue Herzog musste garantieren, dass in Casale auf der Festung eine französische Garnison errichtet werde. Die genaue Festlegung der Details in einem Vertragswerk sollte einem Kongress vorbehalten bleiben, wie es dann auch geschah, aber schon der Frieden, den der junge Hauptmann des Vatikans gestiftet hatte, wies deutlich mehr Vorteile für Frankreich als für Spanien auf.

Während der Zuspitzung des Konflikts zwischen den beiden dominierenden Mächten Europas war die Konfrontation vor und um Casale zu einem Brennpunkt der Aufmerksamkeit geworden, und als die Furcht vor einem erneuten Krieg sich in die Überraschung eines sogar stabilen Friedens verwandelte, war das europäische Interesse auf diesen Friedensstifter gerichtet. Wer war er, wie vermochte ein junger, unbekannter Hauptmann des Papstes das große Kriegstheater zum Stillstand zu bringen, welcher hohen Herkunft war er, über welche außergewöhnlichen Talente verfügte er, würde er Einfluss auf die politischen Abläufe in Europa nehmen?

Doch bald war nur zu erfahren, dass er ein noch unbeschriebenes Blatt war – wohlgestaltet, klug, wendig, nicht adlig, nicht reich, aber ausgestattet mit der vitalen Energie eines zu allem entschlossenen Aufsteigers. Seine Familiengeschichte ist kurz, obwohl sie später gründlich erkundet und vielfältig ausgeschmückt wurde, nicht zuletzt von einem seiner ersten Biographen namens Abbé Elpidio Benedetti, der in den letzten Lebensjahren des Kardinals Mazarin sein Vertrauter war. Ein langes Halbdunkel liegt über der Herkunft, die später sogar bis ins 12. Jahrhundert aufgehellt werden konnte – wenngleich Zweifel bleiben. Seine Vorfahren lebten zunächst in Genua, waren sogar von niederem Adel, verließen aber im 16. Jahrhundert den Norden Italiens, um auf Sizilien, das seinerzeit als Region für schnellen Reichtum eine große Faszination ausübte, das Glück zu suchen.

Mit der Mentalität eines Abenteurers, der auf seinen geringen Adel verzichtete, zog es den jungen Hieronimo Mazarini auf die Insel im Süden Italiens, wo er in Palermo Handwerker oder Händler wurde – Genaueres ist nicht überliefert. Er hatte zwei Söhne: Giulio, 1544 geboren, trat in den Jesuitenorden ein und stieg zu einem gefeierten Prediger auf, dessen theologische Rhetorik ihm Auftritte in ganz Italien erlaubte und der erst 1622 starb, und dessen Bruder Pietro, mehr als zwanzig Jahre jünger und wohl aus einer zweiten Ehe des Vaters hervorgegangen. Er hat im Wesentlichen das Verdienst, der Vater des später berühmt gewordenen anderen Giulio zu sein. Inwieweit sizilianisches Blut in den Adern des Vaters floss, ist schwer abzuschätzen, was die Verächter seines Sohnes nicht hinderte, diesen als „Briganten aus Sizilien“3 zu bezeichnen – schon damals stand die Insel in dem Ruf, dass überdurchschnittlich viele Kriminelle auf ihr zu finden seien.

Gelegentlich ist der Name von dem Ort Mazara auf Sizilien abgeleitet worden, und der Herzog von Saint-Simon hat hochmütig diese angeblich topographische Herkunft des Familiennamens bespöttelt:

„Nie hat man weiter zurückgehen können als bis zum Vater der berüchtigten Eminenz; auch weiß man nicht, wo sie geboren worden ist … Man weiß nur, dass die Familie aus Sizilien stammt. Es sollen Bauern aus dem Mazara-Tal gewesen sein, die den Namen Mazarini angenommen haben, wie es auch in Frankreich Leute gibt, die sich Champagne oder Bourgogne nennen.“4

Die Unterstellung, man habe nicht gewusst, wo Giulio Mazarini geboren wurde, ist erwiesenermaßen falsch, auch wenn der spätere Kardinal eifrig bemüht war, den Ort seiner Geburt zu verheimlichen und gegen einen berühmten Ortsnamen auszutauschen – gegen Rom. Zwar war Pietro Mazarini nach Rom gezogen, um dort den sozialen Aufstieg zu versuchen, aber das erste Kind, das aus seiner Ehe mit Hortensia Buffalini hervorging, kam wegen der Hitze in den Sommermonaten nicht in Rom zur Welt, sondern der frischen Luft wegen am Fuciner See in den Abruzzen, wo der Bruder der Mutter Abt in der Abtei Pescina war. Die dortige Region stand unter spanischer Herrschaft, sodass er als spanischer Untertan geboren wurde.

Später hat er mit Nachdruck darauf bestanden, ein Römer zu sein, sei er doch in Rom getauft worden. Zusätzlich ließ er in den Jahren 1646 bis 1650 im vornehmen Stadtteil Trevi die Kirche Santi Vincenzo e Anastasio errichten, an deren Giebelfront sein Name in großen Lettern prangt – in ähnlich strengen Buchstaben wie an dem Frontispiz des Institut de France in Paris. Schließlich wurde der mächtige Gebäudekomplex, in dem auch die von seinem Vorgänger Richelieu gegründete Académie française ihren Sitz hat, posthum aus Mitteln seines immensen Reichtums errichtet, und in dessen Vorhalle unter der vergoldeten Barockkuppel steht auch noch heute sein Sarg, über dem die von Antoine Coysevox gestaltete Statue des mächtigen Kardinals würdevoll ins Weite blickt. Eine weitere hochsymbolische Linie zieht sich von dem Anfang seines Lebens zum Ende seines Lebenswerks, war er doch am 14. Juli 1602 geboren, und ebenfalls an einem 14. Juli, doch fast zwei Jahrhunderte später, fand im Jahre 1789 die absolute Monarchie Frankreichs ihren Untergang – mit der Erstürmung der Bastille.

Zurück zu seiner Familie. Der Vater war in die Dienste des Hauses Colonna getreten, eines hochrangigen Adelsgeschlechts, das mit Stolz darauf bestand, dass seine Abstammung bis auf Julius Cäsar zurückreiche. Das Geschlecht der Colonna war der Kurie besonders verbunden, waren aus ihm doch nicht weniger als fünf Päpste hervorgegangen. Noch heute ist der Name mit der Piazza Colonna und dem Palazzo Colonna – beides an der Hauptachse Via del Corso im Zentrum Roms gelegen – überaus präsent. Unklar ist, in welcher Stellung Pietro Mazarini für den Fürsten Filippo Colonna, der zugleich Konnetabel des Königreichs Neapel war, tätig wurde – waren es niedere Haustätigkeiten oder höhere administrative Aufgaben?

Galleria im Palazzo Colonna in Rom, Gemälde von Giovanni Paolo Pannini (1691/2-1765).

Gewiss aber ist, dass er sich in seiner Stellung wenig geachtet und schlecht bezahlt fühlte. Einen Gratisausgleich erhielt er nur dadurch, dass ihm die Gunst gewährt wurde, eines der Patenkinder des Fürsten namens Hortensia Buffalini heiraten zu dürfen. Mochte der Fürst auch generös zahlreiche Kinder aus den Familien seiner Bediensteten übers Taufbecken gehalten haben, meist persönlich nicht anwesend und nur mit seinem Namenszug die Patenschaft gewährend – Hortensia Buffalini stellte eine Bereicherung für Pietro Mazarini dar. Sie war sogar von Adel, zwar nicht vermögend, aber von besonderer Schönheit und zudem die Tochter einer gebildeten Römerin, die mit Gedichten auf sich aufmerksam gemacht hatte und deren Bruder Baron Paolo als Gründer der „Akademie der Humoristen“ geachtet wurde. Pietro und Hortensia führten ein glückliches Familienleben, aus dem außer Giulio noch ein weiterer Sohn Michele sowie vier Töchter namens Laura Margareta, Anna-Maria, Cleria und Hieronima hervorgingen.

Die Vorliebe der Eltern für ihren ältesten Sohn wurde gerechtfertigt durch dessen besondere geistige Gaben – im Alter von fünf Jahren begleitete er seine fromme Mutter in die Kirche Sant’Onofrio und konnte danach die Predigt wortgetreu wiederholen. Ob es nur eine mechanische Gedächtnisleistung war oder gar ein erfassendes Verständnis, muss ebenso offen bleiben wie die Frage, ob nicht bereits seine ersten Lebensjahre zur Legendenbildung verleitet haben.

Mit sieben Jahren trat er ins römische Kolleg der Jesuiten ein, das in unmittelbarer Nähe des Palazzo Colonna lag – hier dürfte der Einfluss seines Onkels Giulio wirksam gewesen sein, dem er auch seinen Vornamen verdankte. Die Jesuiten, die ein theologisch-pädagogisches Offensivprogramm gegen die sich in Europa ausbreitende Glaubenserneuerung von Luther und Calvin entwickelt hatten, offerierten auch Musik und Theater in ihrem weit gefächerten Bildungsprogramm. Den Höhepunkt bildeten für den jungen Mazarin die Festlichkeiten zur Kanonisierung des Ordensgründers Ignatius von Loyola und des Paters Franz Xaver, der für seine Missionsarbeit in Indien zum Heiligen erhoben wurde – sie dauerten drei Tage vom 22. bis zum 24. Mai 1622. Der für die Rolle des Ignatius vorgesehene Schüler fiel aus, Giulio Mazarin übernahm unvorbereitet den zentralen Part und gestaltete aus dem Stegreif die Figur – es wurde ein glanzvoller Auftritt. Die Kunst, in eine andere Identität zu schlüpfen, mittels Kostümen und Kulissen eine Scheinwelt zu errichten und mit musikalischen Finessen in verführerische Emotionen zu verlocken – Mazarin sollte lebenslang von den Maskeraden und Täuschungen des opulenten Barocktheaters fasziniert sein.

In jener Zeit zeigte der Orden eine große Offenheit für die neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse. So unterstützten die Jesuiten im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts noch Galilei und sein heliozentrisches Weltbild, etwa anlässlich der Veröffentlichung von dessen „Sidereus nuncius“, bevor es 1616 zur Verurteilung des Astronomen durch das Heilige Officium kam und seine Himmelsforschungen auf den Index gesetzt wurden. Ähnlich verlief die Entwicklung in Frankreich, wo der 1596 geborene Descartes auf das von Heinrich IV. initiierte Jesuitenkolleg von La Flèche geschickt wurde, dort zu ersten Kenntnissen von Galileis Kosmossystem gelangte, aber nicht dessen Schicksal der kirchlichen Verurteilung erleiden wollte, weshalb er 1632 seine Schrift „Traité de l’homme“ mit denselben astronomischen Erkenntnissen nicht veröffentlichte und in die calvinistischen Niederlande auswich.

Wie nah der junge Mazarin der gefährlichen Materie des heliozentrischen Weltbildes kam, verrät die These seines Doktorats – ihr Thema war der Komet. Im großen Saal des Jesuitenkollegs brillierte er bei der Verteidigung seiner These, offenbar ohne Anstoß zu erregen. Ob es ihm gelang, die Kometen so durch den Weltraum rasen zu lassen, dass sie die Himmelsschalen des ptolemäischen Systems nicht zertrümmerten, oder ob er wagte, die mechanisch autonomen Gravitätsgesetze des Kopernikus zu verteidigen, ist nicht überliefert. Dabei dürfte seine früh entwickelte geistige Geschmeidigkeit zur Anwendung gekommen sein. Derselben bediente er sich auch, als die Jesuiten des Kollegs, die „von seinem brillanten Geist, seinen vielfältigen Fähigkeiten und seinen eleganten Manieren begeistert“5 waren, mit großem Nachdruck bemüht waren, ihn für ihren Orden zu gewinnen. Diese Versuche erhöhten nur seinen Widerstand – er wollte, wie er es lebenslang tat, sich möglichst alle Optionen offenhalten.

Nach dem glanzvollen Abschluss seiner Schuljahre im Collegium romanum stand ihm die Welt offen, ohne dass er selbst ein bestimmtes Tätigkeitsfeld anstrebte. Das Studium der Rechte, zu dem ihn der Vater zu überreden verstand – es war wohl auch damals oft die Wahl aus einer Verlegenheit, wenn über den konkreten Berufsweg noch nicht entschieden war –, fesselte kaum seine geistigen und vitalen Kräfte. Er schrieb sich in der berühmten Universität „Sapientia“ ein, an der juristische Berühmtheiten wie Cosimo Fideli glänzten, aber nun verlockte ihn die flirrende Vielfalt des sehr weltlichen Lebens. Er stürzte sich in Bälle und den Karneval, stieg zum Gesellschaftslöwen auf und verfiel dem Glücksspiel bis zu jener Spielsucht, die ihn Schmuck und sogar seine kostbar drapierte Kleidung verpfänden ließ. Seine Zukunft war offen und unklar.

Um dem ziellosen Treiben seines Sohnes in der Fülle der römischen Versuchungen ein Ende zu bereiten, sprach der Vater mit seinem Herrn Filippo Colonna. Die beiden fanden eine Lösung, denn der spanische Konnetabel wollte seinen zweitältesten Sohn Girolamo nach Spanien schicken – er sollte an der berühmten Universität Alcalá studieren und am Hof von Madrid die Anfänge der Diplomatie erlernen, was vor allem einschloss, sich am spanischen Hof, an dem sein Vater eine bedeutende Rolle spielte, einführen zu lassen. Die beiden Männer – der junge Colonna war zwei Jahre älter – hatten gemeinsam studiert und waren durch den täglichen Umgang im Palazzo Colonna freundschaftlich miteinander vertraut. So lag es nahe, dass Mazarin nicht als „cameriere“ (Kellner), sondern als „camerata“ (Kamerad) von Girolamo Colonna auf die Reise ging.

Diese Reise nach Spanien führte den zwanzigjährigen Mazarin in das Machtzentrum Spaniens, wo er erste Einblicke in den politischen und diplomatischen Mechanismus dieser Monarchie gewinnen konnte, die im Zusammenspiel mit dem Kaiser in Wien und der Kurie in Rom die „Monarchia universalis“ anstrebte – gemeinsame Basis war der Katholizismus mit seinem universalistischen Glaubensanspruch. Eher beiläufig, denn es soll in nur drei Monaten geschehen sein, erlernte er die Sprache des Landes, die ihm sowohl im späteren diplomatischen Umgang mit dem Gegner Frankreichs von Nutzen sein sollte wie auch den Zugang zum Vertrauen Annas von Österreich erleichterte. Zudem hatte er in Spanien die Gelegenheit, sich erstmals mit Machiavellis Werk „Il principe“ vertraut zu machen, denn dieses Handbuch des religions- und skrupelfreien Gebrauchs der politischen Macht war in Rom von der Inquisition verboten worden. Natürlich versäumte er nicht, seine Leidenschaft für das Theater auszuleben, waren doch die zeitgenössischen Dramatiker Lope de Vega, Tirso de Molina und Alarcón y Mendoza auf den Bühnen von Madrid überaus präsent.

Aber er wurde auch das glückliche Opfer eines Theatercoups, den sein Freund Girolamo listig inszenierte. Neben der Spielleidenschaft, der sich Mazarin ebenfalls in Spanien hingab, erlag er einer Liebesleidenschaft, die seinem Karriereaufstieg vor dessen Beginn ein abruptes Ende bereitet hätte. Seine grenzenlose Zuneigung fiel auf die Tochter eines würdigen Notars namens Nodaro, der den jungen Römer gern zu seinem Schwiegersohn gemacht hätte – er wäre in den staubigen Pandekten der dortigen Kanzlei zu einem der biederen Honoratioren verkümmert. Girolamo, der diese Gefahr erkannt hatte, brachte eine amüsante Doppelstrategie zur Anwendung. Er lobte die Schönheit der Angebeteten in den höchsten Tönen und gab vor, die Verheiratung zu befürworten. Gleichzeitig aber beauftragte er den Verliebten, ein geheimes Dokument von hohem politischem Informationswert persönlich zum Fürsten Colonna nach Rom zu bringen – es sei zugleich eine günstige Gelegenheit, die väterliche Genehmigung für die Eheschließung einzuholen.

Mazarin ging in die Falle, denn das Geheimdokument enthielt nichts anderes als die Aufforderung, den Heiratssüchtigen um jeden Preis an der Rückkehr nach Spanien zu hindern. Es dürfte einer der sehr seltenen Fälle gewesen sein, in dem Mazarin die Rolle des Geprellten spielen und sich fügen musste. Übrigens ist über einen tragischen Liebeskummer seinerseits nichts be kannt. Ein zusätzliches Motiv des Freundes Colonna, Mazarin zur Rückkehr nach Rom zu veranlassen, könnte gewesen sein, dass sich die Situation von dessen Familie inzwischen desaströs gestaltet hatte. Sein Vater wurde, ohne dass heute die näheren Umstände bekannt sind, des Totschlags angeklagt und flüchtete aus Rom. Er dürfte, da sein gesellschaftlicher Aufstieg ausblieb, Enttäuschung bei seiner Frau ausgelöst haben, die aus besseren Verhältnissen stammte und die eigenen Lebensumstände als beengt und demütigend empfand, zumal die Kinderzahl den sozialen Druck erhöhte. Die Ehe zerbrach für einige Jahre. Durch den Einfluss, den zwei Schwäger Buffalini und die Familie Colonna ausübten, ließ sich die Strafverfolgung und Verurteilung Pietro Mazarinis abwenden. Der heimkehrende Sohn war nun gezwungen, bereits in jungen Jahren die Rolle des pater familias zu übernehmen – eine Position, die wohl ebenfalls dazu beitrug, keinesfalls Priester werden zu wollen. Denn er war, nachdem sein Bruder Michele in den Orden der Dominikaner eingetreten war, das einzige männliche Familienmitglied, das die Fortexistenz des Namens Mazarini hätte sichern können.

Über seinem weiteren Lebensweg liegen zumindest drei Jahre Dunkelheit, die sich erst aufhellt, als er 1625 in den Dienst des Papstes trat. Die Tiara trug seit 1623 Urban VIII. aus dem Florentiner Geschlecht der Barberini, dessen Regierungszeit fast bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges andauerte – bis 1644. Er war ein selbstherrlicher Kirchenfürst, der bereits 1623 den endlich fertiggestellten Peters dom einweihte und in Rom fast ein ganzes Stadtviertel zerstörte, um für den klotzigen Barockbau des Palazzo Barberini Platz zu schaffen. Die Römer spotteten und seufzten: „Quod non fecerunt barbari, fecerunt Barberini“ („Was die Barbaren nicht schafften, schafften die Barberini“). Sogar als dichtender Papst fand Urban VIII. Anerkennung wie auch als Förderer der Wissenschaften, was ihn aber 1632 nicht hinderte, Galilei unter Androhung der Folter zum Widerruf des kopernikanischen Weltsystems zu zwingen. Vor allem aber protegierte er seine beiden Neffen Francesco und Antonio bis zur öffentlichen Schamlosigkeit.

Der junge Mazarin gelangte nicht ohne die Unterstützung des einflussreichen Geschlechts der Colonna – schließlich lagen die jeweiligen Palazzi nur wenige Hundert Meter voneinander entfernt – in die Administration der Kurie. Um seinem Ehrgeiz und seiner politischen Neugier Genüge zu tun, trat er als Hauptmann in das päpstliche Heer ein, das den Frieden im Veltlin sichern sollte.

Der 1626 geschlossene Vertrag von Monzon sah die Neutralisierung des Gebiets der Drei Bünde vor, das nacheinander von den habsburgisch-spanischen und von den französischen Truppen besetzt worden war. Frankreich war bestrebt, den spanischen Truppen den Verbindungsweg über die Alpen nach den Spanischen Niederlanden zu blockieren. Um die militärische Konfrontation zwischen den beiden europäischen Großmächten und damit einen generellen Krieg zwischen ihnen in Norditalien zu verhindern, war die päpstliche Diplomatie um die Neutralität der Region bemüht, was mit dem Vertrag gelang. Die Kurie wurde selbst Garant des Vertrags und musste sich verpflichten, die Neutralität mit eigenen Truppen zu sichern, deren militärische Bedeutung eher symbolischer Natur war.

Vier Jahre später kam es zur geschilderten Schrecksekunde der militärischen Konfrontation vor Casale – sie rückte den jungen Hauptmann des Papstes ins Rampenlicht der europäischen Öffentlichkeit. Doch Papst Urban VIII., den Mazarin während der Krise um Mantua und Casale mit täglichen Berichten über die politisch-diplomatische Entwicklung informiert hatte, verweigerte seinem jungen Diplomaten jede Gunst und jeden weiteren Aufstieg, wohl auch, weil dieser sich trotz wiederholter Aufforderung nicht bereit zeigte, Priester zu werden.

Vertraut mit der Machtbalance zwischen Spanien und Frankreich, die sich, wie er wohl bemerkte, bald zugunsten jenes Landes neigen würde, mit dessen Erstem Minister er im Jahr 1630 dreimal zusammengetroffen war, sah er seine persönliche Zukunft nicht länger in Rom und auch nicht in Madrid. Schließlich hatte schon ein Astrologe aus Parma dem jungen Mazarin im Alter von 24 Jahren die Schicksalsprognose in Gestalt einer Frage gestellt: „Warum er sich so große Mühe mache, den Spaniern zu dienen, anstatt alle seine Vorteile und seine Größe auf der Seite Frankreichs zu erreichen.“6

2. Von Rom nach Paris

Aber wie hatte sich die erste Begegnung zwischen Richelieu und Mazarin gestaltet? War der Erste Minister Frankreichs, dessen Machtposition seit 1624 ständig gewachsen war, indem er seine Gegner mit eiserner Härte dem Henker übergab, bereit, dem jungen Emissär des Papstes Aufmerksamkeit zu schenken? Hatte der diplomatische Sendbote der Kurie, der als Hauptmann eines Friedenskorps nichts anderes als Frieden anstreben konnte, gegenüber jener Eminenz eine Chance, die trotz des kirchlichen Ranges eines Kardinals zum Krieg entschlossen war?

Als Mazarin am 28. Januar 1630 in Lyon eintraf, hatte er zunächst Gelegenheit, die militärische Macht der französischen Truppen in ihrer makellosen Organisation zu bewundern. Nicht weniger als 25 000 Soldaten und 4000 Reiter, kriegserprobt sowie mit Waffen und Nahrungsmitteln wohlversorgt, standen zur Überquerung der Alpen bereit. Und nicht zuletzt die Waffenelite des französischen Adels war dem Aufruf Ludwigs XIII. gefolgt, um den französischen Machtanspruch bis nach Norditalien auszudehnen – war dies doch schon das ehrgeizige Ziel von Franz I. ein Jahrhundert zuvor gewesen.

Am folgenden Tag hatte Mazarin dann Gelegenheit, sich mit einem Beglaubigungsschreiben des Papstes zu legitimieren und dessen Position vorzutragen. Er durfte drei Stunden lang monologisieren, ohne dass Richelieu, den offensichtlich die geistige Wendigkeit und rhetorische Raffinesse des jungen Römers faszinierte, ihn unterbrach – sehr genau dürfte er diesen diplomatischen Artisten einer mentalen Überprüfung unterzogen haben. Auch erstaunte offensichtlich den mächtigen Minister, der stets eine kalte Würde ausstrahlte, dass Mazarin in ruhiger Souveränität seinem Status, der Gesandte einer gleichrangigen Macht Europas zu sein, Geltung verschaffte.

Kardinal Richelieu, Erster Minister Frankreichs von 1624 bis 1642, Vorgänger und Förderer Mazarins. Gemälde (1635) von Philippe de Champaigne.

Sein Konzept, den Frieden zu sichern oder wenigstens in einem Waffenstillstand diese Option offenzuhalten, sah vor, die Monatsfrist des Aufmarsches der französischen Truppen vor Casale zu Verhandlungen über einen Interessenausgleich zu nutzen. Es sollte und müsste doch möglich sein, in direktem Kontakt mit Spinola und Collalto deren Kriegsziele mit denen von Frankreich in einem Kompromiss so zu vereinbaren, dass ein militärischer Konflikt vermieden werden könne. Er, Mazarin, sei bereit, als Unterhändler die jeweiligen Kriegsziele der einen Kriegspartei mit denen der anderen abzugleichen, wenn ihm von allen das Verhandlungsmandat zugestanden würde. Richelieu blieb am Ende des offenen Gesprächs unnachgiebig – er wollte die militärische Auseinandersetzung, um die politische Präsenz Frankreichs in Norditalien zu etablieren und zu sichern.

Weder Annäherung noch Vereinbarkeit der Positionen der kriegsbereiten Mächte, wie er sie mit seinem Mandat zu erreichen hoffte, konnte und wollte ihm Richelieu in Aussicht stellen. Dennoch ließ er es nicht an einer gnädig-günstigen Geste gegenüber dem päpstlichen Gesandten fehlen – man bat ihn zum Diner an den Tisch des Kardinals. In den nächsten zwei Tagen, als der politische Meinungsaustausch fortgesetzt wurde, gelang es Mazarin, wenigstens eine geringe Chance für sein Friedensvotum zu erhalten – als Zeichen seines guten Willens wollte Richelieu Befehl geben, dass der Marschall Créqui eine kurze Erkundungsreise nach Montferrat zu den gegnerischen Feldherrn Spinola und Collalto unternehme. Allerdings könne dies nur unter der Bedingung geschehen, dass Papst Urban VIII. sich offen und eindeutig zugunsten Frankreichs erkläre. Mazarin musste bekennen, dass damit sein Mandat überschritten sei.

Es war dann nicht ein Monat, bis die französischen Truppen vor Casale aufmarschierten, sondern es wurden neun Monate, die Mazarin zu ständigen Verhandlungen mit den Kriegsgegnern nutzte. Vor und dann nach dem geschilderten Friedenskompromiss vor Casale in letzter Minute hatte aber auch eine Annäherung zwischen Richelieu und Mazarin stattgefunden, die zu Beginn des Jahres 1631 ihre Fortsetzung fand, als Mazarin nach Paris eilte, um die Feinheiten des endgültigen Friedensvertrages mit Richelieu abzustimmen. Es wurde ihm dort ein triumphaler Empfang bereitet, und er wurde dem König sowie der Königin vorgestellt. Bei dieser Gelegenheit soll sich Richelieu gegenüber Anna von Österreich die Taktlosigkeit, deren historische Richtigkeit jedoch auszuschließen ist, erlaubt haben, ihr Mazarin mit dem Satz zu empfehlen: „Madame, er wird Ihnen gefallen, er sieht aus wie Buckingham.“1 Es war eine Anspielung auf den Duke of Buckingham, den Günstling der englischen Könige Jakob I. und Karl I. und einflussreichen Politiker, der sich 1625 in einem Park von Amiens Anna von Österreich in unziemlicher Leidenschaft genähert hatte.

Die definitiven Friedensverhandlungen fanden am 6. April und 19. Juni in Cherasco (Piemont) statt und hatten zur diplomatischen Ausgangslage, dass alle eroberten Plätze ihren ursprünglichen Besitzern zurückerstattet werden sollten. Dadurch konnte der Herzog de Nevers seine neuen Herzogtümer Mantua und Montferrat wieder in Besitz nehmen, die zwischenzeitlich von Spanien besetzt worden waren. Wäre diese Regel auch im Fall von Pinerolo zur Anwendung gekommen, hätte die Stadt an Savoyen zurückfallen müssen. Die Spanier schickten Kontrolleure dorthin, um die Übergabe zu überprüfen, waren aber so unachtsam, nicht in die Kasematten zu schauen, wo sich 227 der besten französischen Soldaten verborgen hielten. Um die endgültige Übergabe der Stadt an Frankreich zu gewährleisten, waren Geheimverhandlungen zwischen Mazarin und dem Herzog Viktor Amadeus erforderlich, die das ganze Jahr 1632 in Anspruch nahmen, bedurfte es doch einer scheinkriegerischen Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Savoyen. Diplomatische Voraussetzung des französischen Scheinsieges war die Zustimmung Savoyens, dass Pinerolo, allerdings gegen eine stattliche Summe für den Herzog, endgültig den Franzosen übergeben wurde, sodass die in der Festung verborgenen Soldaten wieder auf offener Szene erscheinen konnten.

Nicht nur während der sich lange hinziehenden Verhandlungen am Hofe von Savoyen in Turin, der offiziellen wie der geheimen, sondern überall dort, wo er auftauchte, und nicht zuletzt in Paris, setzte Mazarin verführerisch duftende Essenzen für die Damen und überaus elegante Handschuhe für die Herren ein, um mit diesen Geschenken eine ihm und seiner Mission günstige Atmosphäre zu schaffen. Er selbst inszenierte sich in überwältigend kostbarer Garderobe und erwies sich als Meister kunstreich stilisierter Komplimente.

Auch gegenüber Richelieu bediente er sich fein ziselierter Phrasen, die von seiner scheinbar grenzenlosen Unterwürfigkeit zeugen sollten und zugleich von seiner überläuferischen Bereitschaft, seine Talente zwar weiterhin für den Papst zum Einsatz zu bringen, aber zugleich überaus geneigt zu sein, sich dem bewunderten Kardinal in Paris zu verpflichten. Als er Richelieu den Erfolg seiner finessenreichen Manöver in Savoyen melden konnte, tat er es in vorgespielter Bescheidenheit: „Eminentissime und reverendissime Seigneur, mein sehr verehrter Maître … Ich gebe mich damit zufrieden, dass die Ereignisse Euer Eminenz meinen Wunsch offenbaren, Ihnen zu dienen.“2 Er diente in der Tat Frankreich, das mit seiner Hilfe den habsburgisch-spanischen Korridor über die Altenpässe gesprengt hatte und sich in Norditalien fest etablieren konnte.

Aber noch stand Mazarin in den Diensten der Kurie, und fast als Aufforderung an Richelieu, ihn aus dieser Abhängigkeit zu befreien, klang die Klage über seine gefährdete Rolle in Rom: „In Rom sind sehr bösartige Worte gegen mich gefallen, der Grund dafür ist die Ehre, die mir von seiner Majestät und Eurer Eminenz zuteil geworden ist. Daher stammt der Neid, von dem die Böswilligen getrieben wurden, tausend falsche Dinge über mich zu schreiben.“3 Der Hintergrund dieses Lamen tos dürfte eher gewesen sein, dass Papst Urban VIII. zwar seinen so erfolgreichen Unterhändler feiern ließ – sogar eine Münze zu Ehren des Friedens von Casale wurde geprägt –, ihm aber ansonsten jede Gunst verweigerte und nicht zuletzt jede Aufstiegschance nur zögernd gewährte. Auch wollte und musste der Papst vermeiden, jenen Mann zu fördern, der zum Schaden Spaniens so bravourös agiert hatte, und Spanien dominierte in Rom bis zur Überzahl der Kardinäle und bis in den Palazzo des Fürsten Colonna, dem Mazarins Familie besonders verpflichtet war.

Aber das wesentliche Motiv dieser Zurückhaltung war die Absicht Urbans VIII., seinen unruhig-weltoffenen Emissär, der so gern und verführerisch am vergnügungsreichen Hof von Savoyen in Turin als Gesellschafter der Damen agierte, an die Kurie zu fesseln – das Mittel dazu war, ihn zum Kleriker zu machen. So war Mazarin bereits im Dezember 1631 die durch einen Todesfall vakant gewordene Kanonikerstelle an der Kirche Santa Maria Maggiore offeriert worden, freilich mit der Auflage, Kleriker zu werden. Zudem hatte Papst Sixtus im Jahre 1589 in einer Bulle festgelegt, dass der Inhaber einer kirchlichen Pfründe nur über das mit ihr verbundene Geld verfügen könne, wenn er sich der Tonsur unterzogen habe und ein geistliches Gewand trage. Mazarin aber ging es nur um das Geld.

Eine weitere mit 500 römischen Dukaten dotierte Pfründe eines Kanonikers, diesmal an der Kirche San Giovanni in Laterano, offerierte ihm der Papst im Mai 1632 – sogar mit der Konzession, dass Mazarin nur die erste Tonsur („prima tonsura“) absolvieren müsse und sich auch dieser nur in symbolischer Form unterziehen müsse, wie ihm ein Breve mit dem Titel „De non incendendo“ gestattete, dessen Inhalt ihm zudem diskret („per segreta“) mitgeteilt wurde. Auch könne die Prozedur von einem Bischof seiner Wahl vollzogen werden. Für die weitere Ausnahme, nicht die Soutane tragen zu müssen, fand sich im unendlich dehnbaren kanonischen Recht der gewünschte Dispens, der das Datum der Verbindlichkeit in eine unbestimmte Zukunft verlegte. Mazarin, der sich im Sommer 1632 am französischen Hof aufhielt, unterzog sich dieser Minimalzeremonie auf einer Reise, die Ludwig XIII. nach Lothringen unternahm – Mazarin wie der römische Nuntius Kardinal Alessandro Bichi zählten zum Gefolge des Königs.

Am 18. Juni 1632 wurde Mazarin in Sainte-Menehould der fiktiven Tonsur unterzogen – die Schere klapperte über seinem Kopf ins Leere, ohne ein Haar zu berühren, während er vor dem Bischof niederkniete. Psalmen wurden gesungen und eine Messe abgehalten. Der spätere Kardinal und Erste Minister Frankreichs hat über diese Szene nie ein Wort geäußert und sie offensichtlich aus seinem Gedächtnis getilgt.

Doch die Kurie verlangte von ihm, nach Rom zurückzukehren, wo das offizielle Vatikan-Journal am 20. November 1632 vermeldete: „Seigneur Mazarini hat bei seiner Rückkehr aus Frankreich und der Lombardei vor fünf Tagen das kirchliche Gewand angelegt, des Kanonikats von San Giovanni in Laterano wegen, das ihm seine Heiligkeit übertragen hat.“45