image

Walter Grasskamp

ANDRÉ MALRAUX
und das
IMAGINÄRE MUSEUM

Die Weltkunst im Salon

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

 

image

Maurice Jarnoux: André Malraux, 1954

Some books have pictures
and some pictures have books.
R.B. Kitaj

ZUM BUCH

Wie «Die Bibliothek von Babel», die Jorge Luis Borges erfand, ist «Das imaginäre Museum» eine Jahrhundertmetapher. Sie stammt von André Malraux (1901–1976), der als Romancier und Dandy, als Kulturminister und Kunstschriftsteller zu den herausragenden Repräsentanten des 20. Jahrhunderts zählt. Ebenso prominent wie umstritten, verstand Malraux es glänzend, sich öffentlich zu inszenieren, wofür bis heute eine Fotografie von 1954 steht, die ihn mit den ausgelegten Seiten eines Kunstbuches in seinem Pariser Salon zeigt. Sie bildet den Mittelpunkt des Buches von Walter Grasskamp, das Malraux als Autor und Gestalter vorstellt, der das moderne Kunstbuch profiliert und zugleich die Idee der Weltkunst popularisiert hat. Das Buch diskutiert die Beziehungen des musée imaginaire zur Kunsttheorie von Walter Benjamin und präsentiert Vorläufer und Vorbilder, bekannte und weniger bekannte, an die Malraux anknüpfen konnte. Dabei gerät ein vergessenes Pionierunternehmen wieder in den Blick – die großartige Encyclopédie photographique de l’art, die der vielseitige Künstler und Autor André Vigneau zwischen 1935 und 1949 geprägt hat – eine lohnende Wiederentdeckung!

Von der ersten documenta in Kassel (1955) bis in die Kunst- und Ausstellungspraxis der Gegenwart wird der Erfolg des musée imaginaire nachgezeichnet und damit auch das Nachleben eines produktiven Kunstschriftstellers, dem der New Yorker Künstler Dennis Adams 2012 den Film Malraux’s Shoes gewidmet hat.

ÜBER DEN AUTOR

Walter Grasskamp ist Kunstkritiker und Professor für Kunstgeschichte an der Akademie der Bildenden Künste in München. Bei C.H.Beck ist zuletzt von ihm erschienen: Sonderbare Museumsbesuche. Von Goethe bis Gernhardt (2006).

INHALT

DAS BUCH AUF DEM BODEN

Ein blendendes Bild

Zimmerreise

Kopfnote

Auf den Knieen

Häuslich

«Der größte zeitgenössische Kunsthistoriker»

Entzauberung

GEDANKENÜBERTRAGUNG

Malraux – Benjamin – Valéry

Malraux – Salmony

IMAGINÄRES MUSEUM UND FOTOGRAFIERTE ENZYKLOPÄDIE

André Vigneau und die Encyclopédie photographique de l’art

Bildnachweis

«Die Logistik des Geistes»

«Das totale Museum für Daheim»

Bild und Text

Eingefrorene Skulpturen

Typografie als Suggestion

DAS LAYOUT DER WELTKUNST

Die Entgrenzung des Kunstbegriffs

Im Rausch der Reproduktionen

Agenten der Weltkunst

Die «anthropologische Wende»

Parallelwelten des Kunstbegriffs

Das Universum der Formen

WIRKUNGSGESCHICHTEN

Die Rückkehr der Weltkunst nach Deutschland

Das imaginäre Museum der documenta I

Topik der Rezeption

Aktualisierung

IMAGINÄRE MUSEEN

Gemalte Gemäldegalerien

Abgusssammlungen

Musées des études

Papiermuseen

Der imaginäre Museumsdirektor

DAS MUSEUM ALS VORSTELLUNGSRAUM

Jahrhundertmetapher

Künstlermuseen

Marcel Broodthaers

Dennis Adams oder die Wiederauferstehung Malrauxs

ANDRÉ VIGNEAU

Ein Mediennomade

Ein Phantom der Mediengeschichte

Vigneau – Benjamin

CODA: DER BODEN ALS AUSSTELLUNGSFLÄCHE

Anmerkungen

Bibliographie

Abbildungsnachweis

Nachbemerkung

DAS BUCH AUF DEM BODEN

Die Fotografie, die André Malraux in seinem Salon mit den ausgelegten Doppelseiten eines Bildbandes zeigt, ist eine geläufige Ikone der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts; weniger geläufig sind dagegen Format und Datum. Meist erscheint sie als Hochformat, und als Herstellungsjahr wird 1947 favorisiert, aber auch 1948 oder 1950 sind üblich. Diese Fotografie besitzt legendäre Züge also schon allein darin, dass sie sich einer korrekten Datierung gerne entzieht. Entsprechend vage bleiben dann auch die Bildunterschriften, die sich meist mit dem Hinweis begnügen, Malraux arbeite hier an seinem musée imaginaire, womit man nie ganz falsch, aber auch nie ganz richtig liegt.[1]

In ihrer Printkarriere hat diese Fotografie eine eher dekorative Rolle angenommen und ist durch viele Aufsätze und Bücher gewandert, ohne dort näher analysiert worden zu sein; manchmal schmückt sie sogar an prominenter Stelle einen Text, der überhaupt nicht auf sie eingeht.[2] Was aber soll die Funktion eines Bildzitats sein, wenn es im Text keine Rolle spielt? Es wird zur Bildungsbrosche, die sich Aufsätzen und Büchern anstecken lässt, um zu signalisieren, dass man die Idee des musée imaginaire wohl als bekannt voraussetzen darf, ohne eigens auf sie eingehen zu müssen. Markant ist manchmal aber auch das Fehlen dieser Fotografie. So geht Jean-François Lyotard in seiner ausführlichen Malraux-Biografie an keiner Stelle auf sie ein, was umso auffälliger ist, als er die enorme Bedeutung, die Malraux dem Fotoportrait beimaß, durchaus würdigt.[3] Das ist insgesamt eine unbefriedigende Diagnose, aus der die folgende Bildbetrachtung das Recht zu einer gewissen Ausführlichkeit und Genauigkeit ableitet.

Ein blendendes Bild

Hält man einen Abzug in Händen, der die quadratische Fotografie vollständig wiedergibt, lässt sich ein hoch auflösendes Bild von einer solchen Detailtreue bewundern, dass man als Aufnahmegerät eine Plattenkamera vermuten möchte. Es kann sich aber auch um eine 6 × 6-Kamera mit einem feinkörnigen Film gehandelt haben. Nahezu alle Abbildungen auf dem Boden sind zu identifizieren und damit auch das Buch, dem sie entstammen. Es ist der Tafelband Des Bas-reliefs aux grottes sacrées, der zweite Band der zweiten Buchtrilogie Malrauxs, die den Gesamttitel Le Musée imaginaire de la sculpture mondiale trug und zwischen 1952 und 1954 bei Gallimard erschien.

Laut Impressum ist er im Mai 1954 gedruckt worden; die Fotografie ihrerseits wurde von Maurice Jarnoux für eine Reportage der Illustrierten Paris Match angefertigt, die am 19. Juni 1954 erschienen ist.[4]Malraux hat sich demnach im Frühjahr 1954 mit den Doppelseiten seines aktuellen Buches für eine Illustriertengeschichte so souverän in Szene gesetzt, dass ihm die Kunstgeschichte dabei buchstäblich zu Füßen lag. Es gibt wohl kaum ein Portrait der Moderne, in dem die Heldenrolle des Kunsthistorikers so gelassen imperial, intellektuell kokett, zurückhaltend pompös und inszenatorisch raffiniert zur Geltung käme wie in dieser Fotografie. Auch wenn andere Kunsthistoriker versucht haben mögen, sich zu Kulturhelden zu stilisieren, ist es doch wohl keinem gelungen, sich so einprägsam und beiläufig zugleich zu präsentieren wie hier Malraux, der – wie mancher in dieser Hinsicht zu kurz gekommene Ordinarius grollen mag – das Fach noch nicht einmal studiert hatte!

image

Das Buch auf dem Boden

Hier geht es aber nicht nur um die Heroisierung eines Kunstpublizisten, sondern auch um eine moderne Variante des Sammlerportraits. Die Sammlungsstücke sind zwar nur als reproduzierte Fotografien präsent, mit ihnen sind aber Bildwerke aus allen Kontinenten und aus drei Jahrtausenden versammelt – in einem selbstbewussten Zugriff auf das, was bis heute, wie problematisch auch immer, «Weltkunst» heißt. Dieser Zugriff gelang nur mit Hilfe der Fotografie, welche die Tradition der Museumssammlung zugleich aufgreift und aussetzt, indem sie die Lokalgebundenheit der Objekte in Reproduktionen aufhebt und diese untereinander beliebig kombinierbar macht – genau das war die Pointe des musée imaginaire. Die imaginäre Musealisierung besteht in einer mediengestützten Levitation, bei der die schwersten Steinskulpturen in eine Buchillustration verpflanzt werden können, sogar solche, die sich überhaupt nicht bewegen lassen, weil sie als Denkmäler oder Architekturschmuck ortsfest sind.

An der Idee eines musée imaginaire war zudem bestechend, dass sich der Reichtum der Kunst auf den Seiten eines Buches umfassender darstellen und ordnen ließ als in wirklichen Museen: In Fotografien kann man nebeneinander stellen und vergleichen, was ansonsten weltweit auf verschiedene Häuser verstreut ist. Der Triumph der beweglichen Fotografie über die Schwerfälligkeit der Bildwerke, den wir hier inszeniert sehen, war zugleich einer über die Kontingenz der Museumslandschaft. In Zeiten digitaler Bildspeicher, in denen viele Museen ihre Exponate ins Internet stellen, mag ein solcher Auftritt nicht mehr als besonders triumphal erscheinen. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts konnte Malraux sein musée imaginaire aber mit einem gewissen Recht als Paradigmenwechsel in der Tradition des Sammelns ausgeben – als einen Durchbruch des Geistigen im Umgang mit der materiellen Erscheinung des Kunstwerkes, als eine Intellektualisierung der Kunstwahrnehmung durch die Reproduktion. Auch wenn Malraux weder die Fotografie noch das Buch erfunden hatte, noch deren Kombination zum Bildband, vereinte seine Idee des imaginären Museums diese Elemente zu einer Erfolgsformel der Kunstvermittlung; das mit fotografischen Reproduktionen illustrierte Kunstbuch erhob er zum Zentralorgan des musée imaginaire.[5]

Wie das musée imaginaire die passende Formel für eine Apotheose der modernen Kunstpublizistik lieferte, stellte die Fotografie von Jarnoux die passende Ikone: Mit ihr konnte sich Malraux, im Alter von 53 Jahren, in seinem Salon als der prominenteste Kunsthistoriker seiner Zeit präsentieren. Dabei setzte er sich wie ein Autor in Szene, der gerade mit dem Layout seines jüngsten Buchprojektes beschäftigt ist. Auf den ersten Blick meint man jedenfalls, Zeuge einer Arbeitssituation zu sein, in der es um die Festlegung der Bildstrecke geht. Nimmt man aber das fertige Buch, dessen Druckseiten hier ausgelegt sind, zur Hand, bemerkt man, dass sich die Reihenfolge der Abbildungen auf dem Boden keineswegs mit der des Buches deckt. Auf dem Boden liegen sie in Bildnachbarschaften, in denen sie gedruckt wurden, und nicht in jenen, die sie erst bei der Bindung des Buches eingehen, wenn die gefalzten Doppelseiten bündig ineinander gelegt und geheftet worden sind. Offensichtlich hat Malraux die Druckseiten einem Aushänger entnommen, wie man in der Branche die schon in der richtigen Reihenfolge ineinander gelegten, aber noch nicht gebundenen Doppelseiten nennt.

Gut die Hälfte der Abbildungen des Buches ist hier zu sehen, die andere liegt mit dem Gesicht zum Boden. Rätselhaft ist jedoch, warum die Bildseiten für Malraux nur auf dem Kopf zu sehen waren. Zwar ist für ihn eine Lücke freigeräumt worden, als befände sich dort der Kommandoposten für fällige Layout-Entscheidungen; ein solcher Überblick ist aber nur von der Galerie möglich, deren Handlauf am rechten unteren Bildrand zu erkennen ist. Auch die enge Reihung der Doppelseiten spricht gegen eine Arbeitssituation: Jeder, der einmal die Bildstrecke für ein Buch ausgelegt hat, weiß, dass man so nicht arbeiten kann, denn es fehlt jener Abstand zwischen den Bilderreihen, der es erlauben würde, sich unter ihnen zu bewegen und Konstellationen zu prüfen oder sogar abzuändern.

Um die Festlegung einer Bildstrecke kann es hier also nicht gegangen sein; das Arrangement der Buchseiten ist vielmehr auf den Fotografen und damit auf den späteren Betrachter hin inszeniert worden. Da man die Aussparung zu Füßen Malrauxs nicht als Kommandostellung für eine Layoutprobe betrachten kann, erscheint der zackige Halbkreis nun wie ein optischer Sockel, wie eine wohnliche Variante in der Ikonografie des Heroischen. In solchen und anderen Details verrät sich das Konstruierte dieser Arbeitssituation: Hier wird nicht gearbeitet, sondern Arbeit repräsentiert – diese Aufnahme ist nicht nur eine großartige Fotografie, sie ist zugleich ein blendendes Bild.

Zimmerreise

Hat man die Fotografie von Jarnoux als Inszenierung durchschaut, gerät der gesamte Raum in Verdacht, ein Bühnenbild zu sein, und lädt zu einer genaueren Betrachtung ein. Beginnt man damit am oberen Bildrand, so sind dort zwei übereinander gestaffelte Buchreihen zu sehen, welche die Fensterbank und die Abdeckung über dem Heizkörper in Beschlag nehmen. Die obere Reihe lässt sich als Auswahl aus der Bibliothèque de la Pléiade identifizieren. Die Reihe wurde seit 1930 bei Gallimard verlegt; drei Jahre nach dieser Fotografie, 1957, sind auch Malrauxs frühe Romane der späten 1920er und 1930er Jahre in sie aufgenommen worden. Als Kanon der Weltliteratur, mit einem Schwerpunkt in der französischen Nationalliteratur, lässt sich die Pléiade übrigens auch als Gegenstück zum Kanon des imaginären Museums der Skulptur verstehen, das auf dem Boden ausliegt. In der Buchreihe direkt auf der Heizkörperabdeckung, die nicht eindeutig zu identifizieren ist, könnten die handlichen Bildbände aus dem Genfer Verlag von Albert Skira stehen, in dem Malraux zwischen 1947 und 1950 seine erste Kunstbuch-Trilogie Psychologie de l’art publiziert hatte, die er mit dem Band Le Musée imaginaire eröffnet hatte, der die mediale Zauberformel zum ersten Mal verwendete.

Im Innenraumbild kommt der Fensterbank erst seit dem frühen 19. Jahrhundert eine besondere Bedeutung zu. In zahlreichen Interieurs der Zeit ist sie der Ort, wo die Topfpflanze als domestizierte Natur gedeiht; in der bürgerlichen Stadtwohnung vertrat sie den entbehrten Garten und bildete eine florale Schranke zur urbanen Steinwüste. Lässt sich die Topfpflanze auf der Fensterbank als domestizierte Natur verstehen, dann repräsentieren die Bände der Pléiade die zum Kanon domestizierte Kultur. Wie eine apotropäische Schranke grenzen sie das moderne studiolo gegen die jenseits des Fensters liegende Welt der Unkenntnis ab.

Die obere Buchreihe wird durch die Porträtbüste einer Buddhafigur auf einem kleinen Sockel geteilt. Sie korrespondiert mit einer größeren Buddhabüste, die links oben in der Zimmerecke erscheint; eine dritte ist auf dem Flügel platziert, der sich nur auf einem vollständigen Abzug als Besonderheit, nämlich als Doppelflügel herausstellt. Eine Tastatur ist geöffnet und mit einem Notenblatt versehen, als sei gerade noch Musik in diesem Raum erklungen, in dem man sich nun der Kunst zugewendet hat. Am Klavierstuhl lehnt die vergrößerte Fotografie eines Skulpturenkopfes – ein weiterer Hinweis, dass wir es hier mit Kopfarbeit zu tun haben.

Die offenbar auf Karton aufgezogene Fotografie zeigt eine unvollendete Madonna von Michelangelo.[6] Die teilreproduzierte Figur bestreicht mit einem melancholischen Übersichtsblick die ausliegenden Kulturreichtümer; Malraux dagegen scheint völlig in die Betrachtung einer herausgefischten Abbildung versunken zu sein. Die Fokussierung auf das Bild in seiner Hand wird als Bildungsandacht auch dadurch intensiviert, dass er seine Brille, halb zusammengeklappt, aber gut sichtbar, in der anderen Hand hält, als habe er sie gerade abgenommen – was sich gut dazu eignet, den Moment der inneren Sammlung zu akzentuieren. So erscheint der Protagonist dieses Arrangements, als sei er sich des Fotografiertwerdens überhaupt nicht bewusst. Es dürfte purer Zufall sein, dass die Verstrebung des liegenden Notenständers hinter dem Rücken Malrauxs den ersten Buchstaben seines Nachnamens wie eine serifenlose Majuskel markiert, aber sie fügt sich bestens in diese durchkomponierte Apotheose eines eleganten Mannes, der sehr genau weiß, was um ihn herum vorgeht, dass er nämlich gerade für die wichtigste Illustrierte Frankreichs fotografiert wird.

Es wäre natürlich interessant zu wissen, auf wen die Initiative zurückging – ob auf eine redaktionelle Entscheidung oder auf Betreiben Malrauxs. Da dieser gerade acht Jahre der politischen Öffentlichkeitsarbeit für Charles de Gaulle hinter sich hatte – zunächst als dessen Informationsminister, dann bis 1953 als Pressesprecher des gaullistischen Rassemblement du peuple français – wird er wohl kaum darauf gewartet haben, dass sich ein Reporter in seinen Salon verirrte. Der Zeitpunkt für die Fotografie ist jedenfalls gut gewählt, denn der Verlag wollte die drei dicken Bände der Trilogie Le Musée imaginaire de la sculpture mondiale mit ihren rund 1800 Seiten innerhalb von nur zwei Jahren auf den Markt bringen – da konnte ein Auftritt des Autors in einer Illustrierten nicht schaden.

So kam zustande, was man eine Homestory nennt – allerdings nur in der deutschen Publizistik, denn ebenso wie Handy ist Homestory ein Pseudo-Lehnwort aus dem Englischen für eine Gattung, die man im angelsächsischen Illustriertenwesen ein «personal profile» nennen würde. Im redaktionellen Teil einer Illustrierten war das Buchprojekt jedenfalls so optimal platziert, wie Verlage sich das ansonsten nur erhoffen können. Und so sehen wir Malraux hier in zwei seiner vielen Lebensrollen, bei der Buchherstellung wie bei der Öffentlichkeitsarbeit.

image

Yale Joel: Madeleine und André Malraux, März 1948

image

Inge Morath: André Malraux, 1956

Es war weder die erste noch die einzige Fotoaktion, für die sich Malraux in seinem Salon zur Verfügung stellte. Bereits im März 1948, als bei Skira gerade sein erstes Kunstbuch mit dem schlagartig prominenten Titel Le musée imaginaire erschienen war, hatte er dort für Yale Joel posiert, einen Fotografen von Life – weltweit das Vorbild vieler Illustrierten, auch für die 1949 gegründete Paris Match. Als Minister der ersten, kurzlebigen Nachkriegsregierung de Gaulles hatte sich Malraux für Life an fast genau dieselbe Stelle gestellt wie später für Paris Match. 1956 fotografierte ihn auch Inge Morath in diesem Raum für die Agentur Magnum.[7] Der Salon diente also als repräsentativer Raum für Besucher wie für die Medien, eine Art halböffentlicher Ort der Selbstdarstellung, ein bewohntes Bühnenbild. Selbst wenn es nicht eigens für die Fotografen durcharrangiert worden ist, hat es doch immer schon auf sie gewartet.

In der Aufnahme, die Maurice Jarnoux 1954 machte, wird die Räumlichkeit des Salons durch ein Licht akzentuiert, das zu dieser Tageszeit tief durch die Fenster und Vorhänge fällt. Unterstreicht das Sonnenlicht die Tiefe, so markieren die Vorhänge die Höhe dieses Raumes, ebenso wie der Handlauf, der die Größe einer mehrstöckigen Halle aufscheinen lässt, die auch eine Galerie aufweist, also nicht nur ein Musikzimmer ist, sondern auch eine Bibliothek. Auf dem Doppelflügel steht ein Blumenstrauß, weitere Andrucke liegen herum, eine aufgeschlagene Mappe ist zu sehen sowie ein kleiner Stapel leicht gewellter Fotoabzüge und eine irgendwie unpassend erscheinende Stofftasche.

Dagegen vermisst man einen Aschenbecher, der aber nötig wäre, weil die Asche der gerade entzündeten Zigarette sich bald lockern dürfte. Vielleicht war ein Aschenbecher zu profan, um ein Auftrittsrecht in dieser Idylle soignierter Bildung geltend machen zu können. Wer alt genug dazu ist, fühlt sich hier vielleicht an die Gauloises-Werbung der 1960er Jahre erinnert, in deren Motiven die Freude variiert wurde, mittels einer Zigarette aus stressigen Arbeitssituationen in den Genuss einer kulturgesättigten Pause wechseln zu können. Diese Lebenskunst wird hier nicht nur durch die brennende Zigarette – ohnehin das Markenzeichen Malrauxs –, sondern auch durch ein Trinkglas mit dem Rest einer dunklen und, wie man sehen wird, alkoholhaltigen Flüssigkeit akzentuiert. Es ist also eine gepflegte Kombination aus Kunst, Musik und Literatur, die diesen Salon durchwirkt; Tabak und Alkohol konterkarieren dabei die formelle Kleidung eines streng gescheitelten Mannes mit einem seriösen Zweireiher und einer gut gebügelten und gut ausgeleuchteten Anzughose.

Oben rechts ist ein großes, schmal gerahmtes Bild angeschnitten. Zwischen zwei Fenstern wirkt es improvisiert aufgestellt, auf einem Sockel, auf dem es vermutlich kurzfristig gegen eine Skulptur ausgetauscht wurde, um das Gegenlicht der halbverglasten Doppeltür zu mildern. Es zeigt ein Gemälde von Piero della Francesca, das im Original kein Tafelbild ist, sondern aus einem Fresko stammt, aus dem Zyklus der «Legende des heiligen Kreuzes» («Leggenda della vera croce», 336 × 747 cm), der um 1460 in San Francesco in Arezzo entstanden ist. In einem nach allen Seiten gekappten Ausschnitt sehen wir hier die Szene «Die Königin von Saba in Anbetung des Holzes», wobei die schadhaften Stellen ausgespart bleiben. Womöglich handelt es sich um eine Reproduktion im Verhältnis 1:1. Schon in der Life-Fotografie von Yale Joel war 1948 ein Ausschnitt aus diesem Freskenzyklus an der linken Wand zu sehen, nämlich die «Auffindung und Verifikation des Heiligen Kreuzes»; 1956 hat Malraux sich dann von Inge Morath direkt vor dieser Reproduktion fotografieren lassen, in einem dunklen Einreiher und mit der unverzichtbaren Zigarette in der Hand.[8]

Sieht die große Piero-Reproduktion bei Jarnoux für den flüchtigen Blick so aus, als sei sie auf eine Staffelei gestellt, so hängt die ebenfalls gerahmte Piero-Reproduktion in den anderen Portraitfotografien konventionell an der Wand. Die Rahmung ist halbherzig geblieben, weil auf eine Verglasung offensichtlich verzichtet wurde. Aber auch so sind die Rahmen eine bemerkenswerte Zutat, denn es handelt sich ja um die Reproduktion eines Freskos, das, anders als ein Ölbild, selbst nie einen Rahmen besaß. Die Rahmung erscheint somit als Strategie einer Aufwertung der Reproduktionen, und das umso mehr, als der Fotokarton vor dem Klavierstuhl nicht gerahmt ist.

Kopfnote

1948, in der Fotografie von Yale Joel, hatte an der Tastatur die Witwe des in deutscher Kriegsgefangenschaft umgekommenen Halbbruders Roland Malraux gesessen, die Pianistin Madelaine Lioux, die André Malraux im März 1948 heiratete. Malraux blickte 1948, wiederum im dunklen Zweireiher und mit einer Zigarette in der Hand, direkt in das Objektiv des Fotografen, das auf einer mittleren Stativhöhe zu stehen scheint; auf dem Boden lag ein anderer Teppich. Auf dem Flügel stand ebenfalls eine Portraitbüste asiatischer Herkunft; hinter dem Flügel befand sich auf einem dunklen Sockel ein weiterer Buddhakopf. Neben den Piero-Reproduktionen sind Büsten des Buddha ein stetig wiederkehrendes Motiv der Portraitaufnahmen von Malraux; zwei von ihnen hat der amerikanische Japanologe Gregory P. A. Levine 2011 daher eine eigene Betrachtung gewidmet.[9] Die große Figur auf dem Sockel in der Aufnahme von Yale Joel identifiziert er als Darstellung eines Bodhisattva mit dem zugeschriebenen Titel «Le génie aux fleurs». Auf diese Figur muss Malraux besonders stolz gewesen sein, denn mit ihr hat er sich in verschiedenen Posen und zu verschiedenen Zeiten portraitieren lassen. Bei der Portraitbüste auf dem Piano handelt es sich vermutlich um den von Malraux dem vierten Jahrhundert der Gandhara-Kultur zugeschriebenen Buddhakopf, der in Les Voix du silence (1951) zu sehen ist.[10] In beiden Fällen geht es jedenfalls um Stuckfiguren, wie Malraux sie seit 1930 auf eigens zu diesem Zweck unternommenen Reisen mit seiner ersten Frau Clara besorgt hatte. Solche und andere Stücke wurden dann bei Verkaufsausstellungen der Galerie N. R. F. von Gallimard gezeigt, für die Malraux Texte wie «Œuvres gothico-bouddhiques du Pamir» verfasste.

image

Yousuf Karsh: André Malraux 3. Juni 1954, mit «La génie aux fleurs» in seinem Salon

Der detaillierten Darstellung von Levine zufolge, sorgten diese Figuren für Aufregung unter den Gelehrten, weil Frankreich wissenschaftliche Grabungskampagnen in Afghanistan finanzierte, deren Teilnehmer sich – in Kenntnis des lokalen Schwarzmarktes – einiges dazu gedacht haben werden, auf welchen Wegen Malraux an seine Trophäen gelangt sein mochte. So wurde die Ausstellung der Stuckplastiken in der Kunstgalerie von Gallimard, die wenig später in die New Yorker Stora Art Gallery wanderte, von Vorwürfen und Verdächtigungen begleitet, die deren Leiter Malraux nicht entkräften konnte. Über Zahl, Herkunft, Erwerb und Verkauf dieser Stücke hat er sich nur ausweichend und zum Teil irreführend geäußert. So behauptete er, die Figuren im afghanischen Teil des Pamir entdeckt zu haben, was von Kennern der Region bezweifelt wurde, ebenso wie die Angabe, er hätte sie im Grenzgebiet zu Turkestan selbst ausgegraben.

Nach den Angaben, die Clara Malraux später im vierten Band Voici que vient l’été ihrer sechsbändigen Autobiografie Le Bruit de nos pas machte, muss man annehmen, dass sie in Rawalpindi, im heutigen Pakistan, aufgekauft wurden, Levine zufolge vermutlich von einem einheimischen Händler.[11] Während die offizielle Delegation französischer Archäologen ihre Funde mit dem Museum in Kabul teilte und ihren Anteil in das Pariser Musée Guimet einbrachte, erscheinen die Umstände des Erwerbs und der Ausfuhr im Fall Malrauxs somit fragwürdig.

Für Befremden sorgten, Levine zufolge, auch die Bruchkanten der Köpfe. Den bohrenden Fragen des Journalisten Gaston Poulain nach den Resten der Figuren begegnete Malraux mit pittoresken Ausflüchten, denen zufolge der Wüstenwind die Figuren zerbrochen oder «hephtalitische Hunnen» die Figuren verstümmelt hätten. Im Übrigen riet er davon ab, am Fundort, angeblich etwa 60 Kilometer außerhalb Kabuls, selbst nachzuforschen, da man dort Maschinengewehre bräuchte, um sich zu verteidigen. Für die Zeitgenossen von Malrauxs Beschaffungsreise war das Bruchstückhafte der Köpfe jedoch schon allein deshalb fragwürdig, weil die koloniale Sitte notorisch war, Köpfe und Hände als die ausdrucksstärksten Teile von asiatischen Ganzfigurendarstellungen abzutrennen und damit für den europäischen und amerikanischen Sammlermarkt transportabel zu machen.

Unter europäischen Sammlungsreisenden waren Skrupel über die Fragmentierung von Kultfiguren damals ebenso wenig geläufig wie über die Dislozierung, wie der Abtransport der vier Meter hohen Buddhastatue belegt, die heute den Hauptsaal des Pariser Musée Cernuschi dominiert. So thematisiert auch Ting Chang in dem Aufsatz «Collecting Asia: Théodore Duret’s Voyage en Asie and Henri Cernuschi’s Museum» die provokante Selbstzufriedenheit der beiden europäischen Sammler, nachdem sie den Bitten der lokalen Gläubigen nicht nachgekommen waren, die Statue an ihrem Kultort zu belassen.[12] «Um seine Buddhaköpfe zu bekommen», so Levine, «hat Malraux vielleicht keine Statuen geköpft, so wie Victor Segalen (1878–1919), der einen Buddhakopf in China absägte; Henri Cernuschi (1821–1896), der einen bronzenen Buddha in Tokio für die Schiffspassage nach Paris auseinandernehmen ließ; oder Thomas Mendenhall (1841–1924), der die Enthauptung einer Steinstatue in Nikko, Japan, veranlasste. Wie die meisten Malraux-Episoden ist die Erwerbung der afghanischen Plastiken jedoch eine beziehungsreiche Mischung aus Tatsache und Erfindung.»[13]

Malraux selbst hat bestritten, bei seiner Erwerbsreise zu vandalistischen Mitteln gegriffen zu haben; in jedem Fall blieb aber die Redeweise von Büsten fragwürdig. Dem europäischen Betrachter wäre das Bruchstückhafte der Köpfe vielleicht nicht eigens aufgefallen, weil die jahrhundertelange Rezeption der Fragmente griechischer und römischer Plastiken schon eine Art negativer Pathosformel herausgebildet hatte, in der das Beschädigte auch die historische Distanz zu seinem Entstehungskontext veranschaulichte.

Hatte man lange Zeit das Bruchstückhafte der Antike durch Ergänzungen und Gipsrekonstruktionen auszugleichen versucht, so war Ende des 19. Jahrhunderts, im Rahmen der Verwissenschaftlichung der Archäologie, der authentische Torso als die einzig legitime museale Bezugsgröße etabliert worden. Danach wurden viele zwischenzeitliche Ergänzungen wieder abgenommen, sogar dann, wenn sie von geschätzten Bildhauern wie Bertel Thorvaldsen stammten; zugleich ließen sich moderne Bildhauer wie Rodin von der neuen Ästhetik des Fragments inspirieren. In diese Ästhetik passten auch Malrauxs Fundstücke, von denen man sagen könnte, dass sie durch ihren Fragmentcharakter eine sehr spezielle Aura bekamen, weil der Verlust an der Bruchkante gleichsam präsent blieb.

Malraux hatte an diesen Büsten nicht nur ein kommerzielles Interesse, sie dienten ihm auch als Demonstrationsobjekte für das Theorem einer «gotisch-buddhistischen» Kunst, das er, wie Levine mit überraschend frühen Beispielen aus dem 18. und 19. Jahrhundert zeigen kann, nicht erfunden, aber entschieden zu seiner Sache gemacht hatte. Nachdem schon bei buddhistischen Skulpturen die Nachwirkung hellenistischer Vorbilder in den einstigen Ostgebieten des Alexanderreiches behauptet worden war, die als «indo-hellenisch» firmierten, kam die These eines universalen gotischen Gestaltungswillens in Mode, der zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten gleiche Formen hervorgebracht haben soll. Als gleichsam kulturindifferente Formel einer allgemeinen menschlichen Spiritualität hatte sie nicht zuletzt 1928 durch Wilhelm Worringers Buch Griechentum und Gotik. Vom Weltreich des Hellenismus Auftrieb erhalten.

Die dritte asiatische Plastik, die auf der Fotografie auf dem Doppelpiano von Jarnoux zu sehen und schwerer zu identifizieren ist, könnte ebenfalls aus der umstrittenen Beschaffungsreise stammen, deren Ertrag von Levine auf rund hundert Stück geschätzt wird. Ihre demonstrative Gegenwart in vielen Portraitfotografien Malrauxs signalisiert, dass ihr Besitzer auch später nicht glaubte, sich für die Art ihrer Beschaffung genieren zu müssen.

Die Kampagne in Afghanistan war ohnehin nicht die erste gewesen, mit welcher der junge Malraux dem europäischen und nordamerikanischen Sammlermarkt exotische Ware hatte zuführen wollen. Bereits sieben Jahre zuvor, 1923, war er im französisch besetzten Indochina beim Abtransport von illegal herausgesägten Reliefs aus einem Tempel in Bantaï Srey, in der Nähe von Angkor Wat, aufgegriffen und dafür in Phnom Penh zu drei Jahren Haft verurteilt worden. Aus dieser kam er erst ein Jahr später, 1924, auf Bewährung frei, nachdem seine früher entlassene Frau Clara einflussreiche Pariser Freunde zu einer Intervention bewegt hatte, unter ihnen Louis Aragon, André Breton, André Gide und François Mauriac.[14] Der als archäologische Forschungskampagne getarnte Fischzug inspirierte einige Jahre später Malrauxs erfolgreichen Abenteuerroman La Voie royale (1930), der den gescheiterten Beutezug zum exotischen Rettungsunternehmen im Dschungel verbrämte. Zu den Kunsthändlern, die der Malraux-Biograf Olivier Todd im Zusammenhang mit der Beschaffungsreise in Indochina nennt, gehörte, neben Daniel-Henry Kahnweiler in Paris, in Deutschland Paul Cassirer; Malraux selbst erwähnt in La Voie royale nur Cassirer.

Malrauxs Beschaffungsreise nach Indochina lässt sich leicht banalisieren, indem man zur Verteidigung anführt, dass der entlegene Tempel schon lange nicht mehr in Gebrauch gewesen war und im Dschungel versteckt lag, dass die «Eingeborenen» die Bilder ohnehin irgendwann selbst herausgebrochen und an Kolonialbeamte verscherbelt hätten oder dass sie von Klima und Urwald zerstört worden wären. Im imperialistischen Milieu der Zeit wog der Vorwurf des Kulturraubs in den Kolonien wenig, der heute als illegal und vor allem illegitim erscheinen lässt, was damals nur zu üblich war und sich bestenfalls als rettender Diebstahl verstand. So hat der gleichaltrige Michel Leiris, ein Schwager von Daniel-Henry Kahnweiler, in L’Afrique fantôme 1934 mit einem bemerkenswerten Sündenstolz die robusten Methoden geschildert, mit denen die ethnographische Expedition, an der er drei Jahre zuvor teilgenommen hatte, sich ihrer Beutestücke versicherte, die dann im Pariser Musée de l’homme landeten, dessen Leiter Leiris später wurde.

Aus dem Debakel in Kambodscha zog Malraux allerdings unerwartete Konsequenzen: Das politische Gehabe der französischen Kolonialmacht in Indochina erschien ihm nun skandalöser als sein eigener Bilderdiebstahl, und so kehrte er bald nach seiner Freilassung für einige Monate dorthin zurück, um in Saigon als Mitbegründer der antikolonialistisch ausgerichteten Zeitung L’Indochine zu arbeiten. Später ist Malraux nicht mehr auf das Abenteuer in Kambodscha eingegangen, auch nicht in seinen Antimémoires, wogegen Clara Malraux im zweiten Band ihrer Autobiografie, Nos vingt ans (1966), die Affäre ausführlich schildert, die aus verschiedenen Gründen interessant ist: Erstens, weil sie der späteren Karriere dieses Mannes, der es immerhin zweimal zum Minister brachte, nicht geschadet hat, wofür es, zweitens, nicht unwesentlich gewesen sein dürfte, dass der Beutezug einer kolonialen Erwerbskinetik gefolgt war, was, drittens, an die historischen Verbindungen der Sammeltätigkeit Europas mit der Epoche des Kolonialismus erinnert. Und so macht sich in dem Salon nun auch eine kolonialistische Kopfnote bemerkbar.

Clara Malraux wird übrigens genau gewusst haben, was sie tat, als sie über die turbulente Ehe mit ihrem zwischenzeitlich geschiedenen Mann schrieb: Sie entmystifizierte Malraux zu Lebzeiten, auf dem Höhepunkt seines literarischen Ruhms und seines internationalen Ansehens als Kulturminister, auf dem er sich ebenso Hoffnungen auf den Nobelpreis für Literatur gemacht haben dürfte wie darauf, seinem Förderer Charles de Gaulle eines Tages im Amt des Staatspräsidenten nachzufolgen.

Auf den Knieen

Bei der Sitzung im Frühjahr 1954 sind natürlich weitere Fotografien entstanden. Einige von ihnen sind in der Reportage von Paris Match erschienen; andere tauchen hier und dort in Büchern und Katalogen verstreut auf und zeigen ein weiteres Mal Jarnoux als hervorragenden Fotografen sowie Malraux als begabten Selbstdarsteller. Eine der besten Aufnahmen ist 2001 in einer hochformatig beschnittenen Fassung und ohne Urheberangabe in dem Buch André Malraux et la modernité. Le dernier des romantiques aufgetaucht – wiederum mit dem falschen Datum 1947 und einer irreführenden Unterschrift, mit der sie übrigens auch in die «Diathek online» der Universität Trier und von dort in die Datenbank Prometheus wanderte – Bildwissenschaft ist, was Datierungen und Zuschreibungen angeht, eben auch nicht einfacher als die traditionelle Kunstgeschichte.[15] Auf dieser Fotografie ist Malraux vor einer Sitzgruppe aus Couch, drei Sesseln und Couchtisch auf einem dunkleren Teppich zu sehen; Bücher liegen auf dem Tisch, und ein Strauß aufgeblühter Schnittblumen steht daneben – beinahe jugendstilhaft-expressiv ausgreifende Tulpen, das mit Abstand lebendigste Detail in einem Raum von ebenso kantiger wie kühler Eleganz.

Sieben großformatige Fotografien von Skulpturen sind vor den Sesseln, dem Tisch und auf dem Teppich verteilt. Malraux kniet vor ihnen und hält eine achte vor sich, als hätte er sie gerade aus dem Arrangement herausgezogen, um sie näher zu studieren. Das ist nach der dominanten Geste, mit der er zuvor die Bilder um sich versammelte hatte, als ob er sie «zu überblicken und zu beherrschen scheint», eine fast demütige Position.[16] Jedem Hegel-Leser fällt dabei ein, was der Philosoph als eine entscheidende Qualität der modernen Kunstrezeption bestimmt hatte, dass man nämlich im Museum vor einem Madonnenbildnis die Kniee nicht mehr beugt.

image

Maurice Jarnoux: André Malraux, 1954

Doch geht es hier nicht um einen Gestus der religiösen Adoration, der die ganze Modernität des Museums, auch eines imaginären, zurücknehmen müsste. Vielmehr geht es um den Gestus einer kunstreligiösen Adoration: Lässig führt er die sinnliche und intellektuelle Wechselspannung einer kennerhaften Bewunderung vor, die sich ihre Kultobjekte ein weiteres Mal provisorisch auf dem Boden versammelt hat. Die eigentliche Pointe steckt freilich darin, dass es sich hier nicht um ein Madonnenbildnis handelt, sondern um eine Figur aus Nigeria, womit ein Hauch von Frivolität in die Angelegenheit kommt: Europäische Kunstreligion wird vor der profanen Fotografie eines heidnischen Werkes praktiziert.

image

Maurice Jarnoux: André Malraux, 1954

Mit den Fototafeln präsentierte Malraux ganz nebenbei auch einige geografische und historische Eckpfeiler des Einzugsbereichs seines Musée imaginaire de la sculpture mondiale: Es handelt sich um sumerische und persische Beispiele aus frühen Hochkulturen, solche aus dem präkolumbianischen Mexiko sowie aus Nigeria und Neu-Guinea, weiterhin aus dem Vézelay der Gotik wie aus dem Florenz der Renaissance. In einer anderen, ebenfalls sehr aparten Inszenierung dieses Fototermins hatte Malraux die Tafeln vor dem Piano wie eine provisorische Ikonostasis arrangiert, vor der er höchste denkerische Konzentration demonstriert.

Diese Fototafeln sind auf stabilen Karton aufgezogen und genau identifizierbar; mit dem Layout für das Buch, das auf dem Boden liegt, haben sie jedenfalls nichts zu tun. Es handelt sich auch nicht, wie es die Bildunterschrift in André Malraux et la modernité angibt, um «les épreuves des Voix du silence», also um die Probedrucke für ein Buch, das schon drei Jahre zuvor erschienen war. Die Vorlagen dieser großen Abzüge waren vielmehr bereits im ersten, im November 1953 gedruckten Band der Trilogie des Musée imaginaire de la sculpture mondiale verwendet worden.[17] Sie sind offenbar in einer Auflage erschienen, denn der knieende Malraux hält einen Abzug derselben Aufnahme in Händen, die am Sessel lehnt, und zwar so, dass man sie im Licht kaum als Doublette erkennt.

Wozu mögen sie gedient haben? Was suchen sie in Malrauxs Salon und warum rückte er sie mehrfach ins Bild? Waren sie als leicht auszuwechselnder Wandschmuck vorgesehen, als nüchtern gefasster Dekor für die moderne Wohnmaschine, wie er wenig später als Poster erfolgreich sein sollte? Waren sie käufliche Produkte des Reproduktionsunternehmens Gallimard, die ebenfalls der Werbung bedurften, oder waren sie selbst Werbemittel für die Schaufenster der Buchhandlungen? Auffällig ist der Verzicht auf jede Rahmung oder Verglasung, der entweder eine moderne Einstellung zum fotografierten Kunstwerk als Wandschmuck verrät oder aber das Zögern, Fotografien von Skulpturen genauso wie Reproduktionen eines Freskos zu rahmen. Auch diese könnten übrigens zum Wandschmuckangebot oder zum Werbematerial des Verlages Gallimard gehört haben. Es passt jedenfalls zu diesen Fototafeln, dass Gallimard die von Malraux geleitete Galerie N. R. F. 1929 ausdrücklich «für die Publikation von Drucken und künstlerischen Reproduktionen aller Gattungen» gegründet hatte.[18]

Häuslich

Auf einer weiteren Fotografie von Jarnoux sitzt Malraux in einem der Sessel, wiederum mit einer frisch angezündeten Zigarette in der einen Hand, in der anderen eine geöffnete Broschüre, von der er aufschaut und zu erkennen gibt, dass er wahrnimmt, was um ihn herum vorgeht. Statt des Zweireihers trägt er einen weißen Pullover und wirkt dementsprechend häuslich. Für einen entspannten Gesamteindruck sorgt auch das Arrangement auf dem rechteckigen Holztisch, auf dem wir die Tulpen wiederfinden und eine aufgesockelte kleine Figur erblicken, einen Fetisch der Hopi-Indianer. Weiterhin sieht man eine schräge Ablage, auf der ein großer Briefumschlag liegt, sowie eine leere Wasserkaraffe neben einem Aschenbecher. Auf einem Tablett mit zwei Gläsern ist, neben einer kleinen Schale mit Knabberzeug, eine offene Spirituosenflasche der Marke Grierson’s No. 1 Blended Scotch Whisky zu erkennen, womit nunmehr Klarheit in der Getränkefrage herrscht.