Unter Mitwirkung von
Christine Lemke-Matwey
C.H.BECK
«Ich weiß nicht mehr, was zuerst da war in meinem Leben: der Gedanke an Wagner oder der ans Dirigieren.» Christian Thielemann kennt Richard Wagner wie kaum ein anderer. In diesem Buch schildert er seinen Lebensweg mit dem Komponisten von seinen Berliner Anfängen über Venedig, Hamburg, Chicago bis nach Bayreuth. Er führt persönlich durch die Opern, stellt deren mythisch-menschliche Helden vor und schaut in Wagners Giftküche, wo die narkotischsten Klänge der Welt gemischt wurden. Daneben lässt er uns in die Werkstatt des Dirigenten blicken: Was muss er alles beachten, wenn sich Wagners Zauber am Abend von neuem entfalten soll? Vor welchen Fallen muss er sich hüten? Und worin besteht die Einzigartigkeit von Bayreuth? Wagner wurde seit seinem Tod leidenschaftlich verehrt und leidenschaftlich verabscheut. Auch damit beschäftigt sich dieses Buch. Am Ende aber macht es allen, Kennern wie Debütanten, klar, warum sich ein Leben mit Wagner lohnt.
Christian Thielemann wurde 1959 in Berlin geboren. 1988 wurde er in Nürnberg Deutschlands jüngster Generalmusikdirektor. Von 1997 bis 2004 war er Generalmusikdirektor der Deutschen Oper Berlin, von 2004 bis 2011 leitete er die Münchner Philharmoniker. Seit September 2012 ist er Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden und übernahm im Frühjahr 2013 die Künstlerische Leitung der Salzburger Osterfestspiele. Er hat an den wichtigsten Opernhäusern der Welt dirigiert und ist ein regelmäßiger Gast bei Spitzenorchestern wie den Wiener und Berliner Philharmonikern. Im Jahr 2000 gab er sein enthusiastisch gefeiertes Debüt bei den Bayreuther Festspielen, deren Musikdirektor er seit 2015 ist.
Wolfgang Wagner
in großer Bewunderung
und Dankbarkeit
Vorwort
I «Du spielst doch nicht etwa Orgel?» Mein Weg zu Wagner
II Wagners Kosmos
1 «Wagalaweia» und «Hojotoho!»: Eine erste Annäherung an Wagners Musikdrama
Das Wagner-Orchester
Wort und Ton
Die Stoffe
2 «Wenn Ihr nicht alle so langweilige Kerle wärt»: Wagner und seine Dirigenten
Wagner am Dirigentenpult
Die Wagner-Schule
Die Bayreuther «Verbrechergalerie»
3 Spinnweben, Weihe, Wurstsalat: Bayreuth und sein Grüner Hügel
Das Haus
Der Graben
Die Akustik
Meine einzige Dirigentenschule
Die Wagners
Der Mythos
4 Ein sehr deutsches Thema: Das sogenannte Weltanschauliche
Ist C-Dur noch C-Dur?
Exkurs: Wagner und Mendelssohn
Pathos und Politik
5 «Wollen wir Wagner, dann wollen wir Wagner» oder: Was ist eine gute Aufführung?
Architektonisches
Die Beherrschung der großen Form
Exkurs: Der Kapellmeister
Wagner lesen
Regiefragen
Wagner singen
Interpretation
6 Geld oder Liebe: Wagner für Anfänger
Nur keine Angst!
Die Botschaft
Das Personal
III Wagners Musikdramen
1 «Die Feen» oder ein erster Blick in Wagners Botanisiertrommel
2 Jugendsünde und Karnevalshymne: «Das Liebesverbot oder Die Novize von Palermo»
3 Die Grand Opéra mit ihren eigenen Mitteln schlagen: «Rienzi, der letzte der Tribunen»
4 Schmucklos, dürftig, düster? «Der fliegende Holländer» oder der Fluch des Willens
5 «Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg» – von der Kunst des Maßhaltens und dem Scheitern daran
6 Flutlicht aus dem Jenseits, Liebe ohne Reue: «Lohengrin»
7 «Tristan und Isolde» oder der Akkord des Lebens
8 Ein Plädoyer für Toleranz: «Die Meistersinger von Nürnberg»
9 Geld, Macht oder Liebe? Ein Weltengemälde in Sonnenuntergangsfarben: «Der Ring des Nibelungen»
10 Ein Anti-«Tristan», mit violetter Tinte komponiert: «Parsifal»
Schluss
Dank
Anhang
Literatur
Bildnachweis
Personenregister
Bis ich 15 oder 16 war, habe ich neben der Musik Richard Wagners auch viel Gustav Mahler gehört. Pubertierenden fällt seine Musik ja buchstäblich in den Schoß. Irgendwann aber kam mir Anton Bruckner in die Quere, der Mahler-Antipode, der so viel mit Wagner zu tun hat, und ich spürte, dass sich diese beiden Herzen in meiner Brust auf Dauer nicht vertragen würden. Ich musste mich entscheiden: zwischen dem eher Lebensbejahenden und dem mehr Lebensverneinenden, zwischen der Utopie und den Verlockungen des Abgrunds, zwischen Wagner und Mahler. Ich habe mich für Wagner entschieden (und für Bruckner). Und ich würde es immer wieder tun, wenngleich sich auch die Mahler-Lust inzwischen wieder leise in mir regt.
Die Konsequenzen dieser Entscheidung haben mein künstlerisches Leben geprägt, und davon möchte ich in diesem Buch erzählen. Warum lohnt sich ein Leben mit Wagner? Und was kann einen an diesem Komponisten ärgern? Was heißt es, Wagner zu dirigieren, im Bayreuther Festspielhaus und anderswo? Was muss für eine gelungene Aufführung alles zusammenkommen? Was macht das Besondere der einzelnen Opern aus, wo stehen sie jeweils im Wagner-Kosmos? Solche Fragen und andere mehr habe ich mir gestellt. Ich möchte sie möglichst von der Praxis her beantworten, aus meinem Leben und aus meiner beruflichen und persönlichen Erfahrung.
Dirigenten äußern sich gemeinhin nicht schriftlich. Wagner selbst hat geschrieben, in leidenschaftlicher, ausufernder Weise, hat sich so gesucht und gefunden. Wilhelm Furtwängler hat geschrieben, sehr klug, von Sergiu Celibidache ist gar eine «musikalische Phänomenologie» überliefert, auch von Michael Gielen, Pierre Boulez, Daniel Barenboim und Ingo Metzmacher existieren Bücher zur Musik. Dass ein Dirigent sich einem einzigen Komponisten verschreibt (im wahrsten Wortsinn), dürfte eher selten sein. Ich will das hier aus zwei Gründen tun. Den ersten habe ich schon genannt: Durch Wagner ist mein musikalisches Denken und Empfinden geworden, was es heute ist. Wagner hat mich mit mir selbst konfrontiert. Das war als Erfahrung nicht immer nur nett, schweißt emotional aber ungeheuer zusammen. Dieser Prozess unterscheidet ihn von vielen anderen, die mir ebenfalls sehr nahe stehen: Bach natürlich, Beethoven, Bruckner, Richard Strauss.
Der zweite Grund betrifft die Hörer. Ich denke, alle Wagner-Hörer (und alle, die es werden wollen) haben ein berechtigtes, ja notwendiges Interesse daran zu erfahren, wie es in der Wagner-Werkstatt zugeht: in der Werkstatt des Komponisten und in der Werkstatt des Interpreten. Es ist dort nicht alles nur Mirakel oder Event, es gibt auch viele Dinge, die man wissen, beherrschen und erklären kann. Und die möchte ich erklären, aus meiner Sicht. Um neuen, falschen Mythen entgegenzuwirken. Und damit die Inhalte nicht noch mehr mit ihren Oberflächen verwechselt werden. Die Wagner-Literatur füllt ganze Bibliotheken. Ich bin weder Musikwissenschaftler noch Soziologe oder Historiker, ich bin Musiker. Doch manchmal habe ich das Gefühl, den Schlüssel zu Wagner gefunden zu haben. Und das Schönste wäre, wenn im Lauf der Lektüre dieses Buches sich auch für andere die Tür zu Wagner etwas weiter öffnete.
Richard Wagner wurde mir in die Wiege gelegt. Ich bin in einem bürgerlichen Elternhaus groß geworden, damals sagte man auch «gutbürgerlich», und das meinte nicht nur den Majoran zur Weihnachtsgans, sondern etwas Verlässliches, Grundsolides, auf das man im Leben bauen konnte, etwas Behütetes und Bewahrendes. Ich habe das genossen und sicher sehr gebraucht. Für die Erziehung in den frühen Sechzigerjahren bedeutete der «gutbürgerliche» Hintergrund: Das Kind wuchs mit Musik auf, mit Bach, Beethoven, Brahms, Bruckner. Und, in meinem Fall, mit Richard Wagner. Die Musik war einfach da, von Anfang an, wie das Essen auf dem Tisch, wie der Schlachtensee im Sommer zum Schwimmen. Bachs Oratorien, Bruckners Symphonien, Sonaten von Mozart und Schubert, Lieder, Kammermusik, Opernarien, all das erreichte vom ersten Tag an mein Ohr, über die gut bestückte Plattensammlung zuhause, über Konzertübertragungen im Radio und vor allem über das Klavier: Meine Eltern spielten beide sehr gut. Und ich dankte es ihnen, indem ich früher singen konnte als sprechen. Meine Mutter notiert das einmal in ihrem Tagebuch, als sie zufällig hörte, wie ich die Gute-Nacht-Lieder, die sie mir gerade vorgesungen hatte, vor dem Einschlafen noch einmal nachsang – ohne Text natürlich. Da war ich ungefähr ein Jahr alt. «Scheint musikalisch zu sein», schreibt meine Mutter vorsichtig.
Die Musikalität liegt bei uns in der Familie. Mein Vater hatte das absolute Gehör (das er mir vererbte), und schon von seinem Vater, meinem Großvater, der als Konditormeister von Leipzig nach Berlin ging und sich dort sehr schnell sehr gut stand, gibt es viele Geschichten, die mit Musik zu tun haben. Im Ersten Weltkrieg wurde er als Kulissenschieber in die Hofoper Unter den Linden abkommandiert, damals war Richard Strauss dort Intendant, und während sich die anderen Bühnenarbeiter nach getaner Arbeit verdrückten, blieb mein Großvater in der Gasse stehen, um zuzuhören, und war ganz berauscht. «Die Meistersinger» zählten zu seinen Lieblingsopern – auch das hat sich über meinen Vater auf mich übertragen. Allerdings erst nach einer längeren Inkubationszeit. Anfangs, mit 12 oder 13 Jahren, fand ich den dritten Akt sterbenslangweilig: Dieses doofe Festwiesengedöns, das olle Meistergeschwätz!, so dachte ich. Mein Vater war entrüstet. Leider hat er meine ganz besondere Liebe zu Wagners einziger komischer Oper dann nicht mehr miterlebt, er starb, als ich 26 war. An diesem Abend habe ich in Düsseldorf Smetanas «Verkaufte Braut» dirigiert. Das Klavier, an dem mein Vater Klavierspielen gelernt hat, ein altes Blüthner mit einer bewegten Geschichte, besitze ich noch heute.
Meine Begabung wurde glücklicherweise früh entdeckt. Ich bekam Klavier- und Geigenunterricht, und wir gingen viel ins Konzert. Meine Eltern hatten bei den Berliner Philharmonikern ein Abonnement, und ich weiß noch, wie die Sitznachbarn mich mitleidig tätschelten: Der arme Junge, muss er wieder so geduldig sein! Ich glaube, ich war das einzige Kind weit und breit, und es hat niemand verstanden, wie ein Fünfjähriger mit roten Backen auf der Stuhlkante sitzen konnte, während vorne Beethoven gespielt wurde. Ich wollte das aber. Ich wollte nicht zuhause bei meinem ostpreußischen Kindermädchen bleiben, ich wollte Orchestermusik hören, das Schillern der Farben, diese Wogen und Wellen, in denen man sich zugleich verlieren und wiederfinden konnte. Den Dirigenten übrigens, wer immer es war, fand ich eine eher lachhafte Figur: Was soll das, habe ich mich gefragt, wieso ballt der die Fäuste, wieso führt der einen solchen Veitstanz auf? Erst bei Karajan bekam ich langsam das Gefühl, dass Dirigieren auch organisch aussehen kann, ja sogar richtig schön.
Ich habe in der Musik das Überbordende von Anfang an mehr geliebt als das Schmallippige und Sparsame. Für mich musste es die große Besetzung sein, der volle Klang – von den Fortissimi im «Heldenleben» von Richard Strauss kann ich bis heute nicht genug bekommen. So wie mich von Anfang an die langsamen Sätze fasziniert haben, nicht die schnellen, schnurrigen Sachen. Schnell ist leicht, dachte ich, das kann jeder. Aber langsam ist schwer, das musst du füllen mit deinen Ideen und Gedanken, mit Farben und Nuancen. Insofern war es nur eine Frage der Zeit, bis ich von der Geige auf die Bratsche umstieg, des wärmeren, samtigeren, dunkleren Timbres wegen – und vom Klavier auf die Orgel kam. An Heiligabend sind wir meist in die Kaiser-Friedrich-Gedächtnis-Kirche ins Hansaviertel gefahren, zur Orgelmesse, da hat Peter Schwarz den dritten Teil der «Clavierübung» von Johann Sebastian Bach gespielt, mit dem herrlichen Es-Dur-Präludium und der Tripelfuge, Vater, Sohn, Heiliger Geist. Wenn die Orgel so richtig dröhnte, war ich selig, dann war Weihnachten. Bach hatte für mich einen Reichtum, eine innere Monumentalität, die mich ungeheuer anzog.
Mit elf versuchte ich, mir heimlich das Orgelspielen beizubringen. Das heißt, der Küster schloss mir die Johanneskirche in Schlachtensee auf, und ich übte dort Choralvorspiele – was natürlich nicht funktionierte. Die verschiedenen Manuale, die Pedale, die Koordination von Händen und Füßen, all das klappte nicht. Was ich aber merkte, war, dass man die Finger völlig anders übersetzen musste als am Klavier. Und das hat mich letztlich verraten. Meine Klavierlehrerin, die Frau des Philharmoniker-Flötisten Fritz Demmler, wurde mit meiner Technik immer unzufriedener und rief eines Tages aus heiterem Himmel: «Du spielst doch nicht etwa Orgel?» In diesem Augenblick war meine Karriere als Organist beendet. Das Orgelspiel wurde mir verboten, man war da rigoros – und ich musste mir für meine ungebärdigen Klangphantasien ein neues Ventil suchen. Das fand ich schnell, in gewisser Weise lag es ja nahe: im Orchester. Und im Wunsch zu dirigieren. Und bei Richard Wagner. Ich weiß nicht mehr, was zuerst da war: der Gedanke an Wagner oder der ans Dirigieren. Das ist in meiner Erinnerung extrem stark miteinander verquickt. Beim Wagner-Orchester jedenfalls, so man überhaupt von dem Wagner-Orchester sprechen kann, denke ich bis heute an die Register einer Orgel.
In musikalischen Dingen musste mich niemand zu irgendetwas anhalten oder ermuntern, ganz im Gegenteil. Meine Großmutter lag mir oft in den Ohren, «nun komm doch endlich raus, es ist so schönes Wetter!» Das schöne Wetter aber interessierte mich nicht, ich wollte üben, und zwar bis sechs Uhr abends. Ich sollte die Arbeit einstellen, nur weil draußen die Sonne schien? Das kam mir völlig absurd vor. Meine Sonne, mein Vergnügen, meine Erfüllung war Bachs «Wohltemperiertes Klavier». Ich spürte, dass dies mein Weg war. Für mich hat es nie eine Alternative zur Musik gegeben und niemals auch nur den leisesten Wunsch danach.
Das Erlebnis Wagner hat diesen Autismus noch verstärkt. Einerseits war da die Musik, die ich hörte: die «Walküre», sehr früh, 1966 unter Karajan, oder meinen ersten «Lohengrin» an der Deutschen Oper, in der alten Wieland-Wagner-Inszenierung, die ich später lustigerweise selber repetiert habe – jedes Mal war ich wie erschlagen. Ortrud und Telramund im zweiten Akt, im Halbdunkel des Bühnenbilds, «Erhebe dich, Genossin meiner Schmach!», das hat mir tagelang die Sinne geraubt (ohne dass ich verstanden hätte, worum es ging). Andererseits war Wagner auch in Gesprächen zuhause immer präsent, und mir hat sich vor allem der Ton eingeprägt: Da schwang eine Bewunderung mit, eine Ehrfurcht – ganz anders als bei Haydn oder Verdi oder Debussy. Haydn und Verdi wurden durchaus geschätzt. Wagner aber musste etwas Besonderes sein, das spürte ich, und es machte mich neugierig. Außerdem umgab ihn natürlich die Aura des Nicht-Kindgerechten, was die Sache doppelt attraktiv machte. Lange Zeit hieß es, für den «Tristan» bist du zu jung, mit dem «Parsifal» warten wir noch. Das führte dazu, dass mich diese beiden Stücke, als sie mich dann ereilten, mit 13, 14 Jahren, bis ins Mark erschüttert haben. Als wäre ich in einem Vakuum groß geworden, einem wartenden Nichts, das die Musik Richard Wagners nun sukzessive füllte.
Dabei war ich nicht nur von der Atmosphäre, den Farben, der Instrumentierung hingerissen, sondern vor allem von der Idee, durch Musik überwältigt zu werden – und zu überwältigen. Dass ich der aktive Teil in diesem Spiel sein wollte, war mir schnell klar. Und also würde ich wohl Dirigent werden. Wie Karajan, dessen Schallplatten ich zuhause auflegte, wieder und immer wieder, die Partituren auf den Knien, vorzugsweise den «Ring», den er Ende der Sechzigerjahre in der Dahlemer Jesus-Christus-Kirche aufgenommen hat, mit dem fabelhaften Thomas Stewart als Wotan und Régine Crespin als Brünnhilde. «Nun komm doch endlich raus, es ist so schönes Wetter!», rief es von irgendwoher. Nein. Lasst mich in Ruhe. Was war das schöne Wetter gegen Siegfrieds Rheinfahrt in der «Götterdämmerung»!
Mit Wagner hat mich regelrecht der Schlag getroffen, und ich wusste: Das ist es. Das musst du tun. Inzwischen hatte ich auch begriffen, dass meine Eltern veritable Wagnerianer waren. Überhaupt bin ich in meiner Jugend nur von Menschen umgeben gewesen, die von Wagner begeistert waren. An andere und anderes kann ich mich jedenfalls nicht erinnern. Das ging bis zu unserem Musiklehrer im Gymnasium, der erzählte, als die Rede auf die Bayreuther Festspiele kam, wie er als junger Mensch durch ein Klofenster ins Festspielhaus eingestiegen sei, um sich Zutritt zu den Generalproben zu verschaffen. Ich habe dieses Fenster später vergeblich gesucht, aber das muss nichts heißen. Am Festspielhaus wird seit jeher viel herumgewerkelt und -gebastelt. Der Enthusiasmus des Lehrers aber, dieses Dabeiseinwollen um jeden Preis, leuchtete mir sofort ein.
Der Gedanke ans Dirigieren hat meine Pubertät beherrscht. Insofern habe ich auch nie groß rebelliert, ich hatte viel zu viel zu tun und keineswegs den Eindruck, dass mir etwas fehlte. Ich steckte meine ganze Energie in die Musik, ins Klavier, in die Bratsche, in die Partituren, die ich studierte, in Konzerte und Opernaufführungen. Das Gefühl, auf diese Weise etwas verpasst zu haben im «richtigen» Leben, will sich bei mir bis heute nicht einstellen. Es heißt, die Adoleszenz müsse sich im Widerspruch erfahren, im Auf begehren, im Rütteln an dem, was ist (und sei es um des Rüttelns willen). Ich kann das für mich nicht recht bestätigen. Zumindest waren meine Widersprüche immer andere, ich bin kein Barrikadenstürmer. Ich musste keine Häuser besetzen oder in zerlumpten Klamotten auf der Straße hocken. Ich habe auch nicht Fußball gespielt oder die Beatles gehört wie die meisten meiner Klassenkameraden. Die Musik, mit der ich mich exzessiv beschäftigte, schien der Wirklichkeit sehr fern zu sein und eröffnete mir doch Welten, eigene Welten. Das war mir Widerstand und Abgrenzung genug.
Rückblickend hat die Situation durchaus etwas Schizophrenes: Halb West-Berlin ruft Ende der Sechzigerjahre die Revolution aus – und der Kleene aus Zehlendorf trottet weiter brav in die Klavierstunde, als wäre nichts passiert. Nun bin ich in der Hochzeit der APO, der Notstandsgesetze und der akademischen «Busenattentate» auf Adorno wirklich noch ein Kind gewesen, und meine Eltern haben diese Ereignisse sicher nicht am Abendbrottisch diskutiert. Gleichwohl gehöre ich einer Generation an, die es gründlich gelernt hat oder es zumindest hat lernen sollen, sich selbst und alles Deutsche zu hassen, natürlich auch die deutsche Musik und allen voran Richard Wagner. Gegen diese political correctness habe ich mich erst intuitiv und später dann ganz bewusst gewehrt. Dabei halte ich es, wie in manch anderen Dingen auch, mit Daniel Barenboim: Wer politisch korrekt sein will, sagt er, möchte nicht selber denken. Und dagegen war ich allergisch. Gar nicht so sehr, weil mein Elternhaus politisch konservativ war, das auch, oder ich politisch eine andere Meinung vertrat (dazu hätte ich erst einmal eine formulieren müssen). Ich wehrte mich, weil mir etwas aus dem Herzen gerissen werden sollte, das ich um keinen Preis mehr herzugeben bereit war. Und so habe ich mich innerlich erst recht auf meine Idole geworfen.
Das schulische Miteinander hat darunter zwangsläufig gelitten. Mir war klar, dass ich anders war als die anderen und dass meine Begabung wohl etwas Besonderes darstellte. Da neigt man leicht zur Arroganz. Halb galt ich als Wundertier, halb als Aussätziger, und was das Schlimmste war, weder das eine noch das andere hat mich groß bekümmert. «Du und dein blöder Bach», solche Sätze habe ich mir oft anhören müssen – sollte ich darauf etwa mit «Ihr und euer blöder Fußball» reagieren? Was die anderen trieben oder über mich dachten, war für mich nie Gegenstand einer ernsthaften Reflexion. Auch war ich nicht ganz allein. Ein paar Mitschüler spielten ebenfalls Instrumente, Cello, Geige, Trompete. Mit denen konnte ich feixen, wenn die Popfraktion mal wieder fragte, na, was für ein «Lied» spielst du gerade? Und dann gab es noch die Opernclique, fünf, sechs eingeschworene Leute, die zusammen in die Oper fuhren, nach Charlottenburg natürlich, aber auch in den Osten, in die Lindenoper. Man kam abends dann sehr spät ins Bett und musste morgens früh raus, weil man in der nullten Stunde Französisch hatte, nachmittags Hausaufgaben und die beiden Instrumente – das war jedoch alles kein Problem. Ich wusste, warum ich es tat. Ein besonders toller Schüler war ich allerdings nicht.
Bayreuth ist für mich immer ein Mythos gewesen. Das kam durch die Erzählungen zuhause – meine Eltern sind x-mal zu den Festspielen gefahren – und durch Dirigentennamen, die in meinem Kopf herumzuspuken begannen: Furtwängler und Knappertsbusch, aber auch Hermann Abendroth, Heinz Tietjen oder Joseph Keilberth. 1980 bin ich als Stipendiat des Berliner Wagner-Verbandes zum ersten Mal selbst in Bayreuth gewesen. An die «Götterdämmerung» – in der legendären, bis heute wegweisenden Inszenierung von Patrice Chéreau, mit Pierre Boulez im Graben – kann ich mich seltsamerweise kaum erinnern. Umso eindrücklicher fand ich den «Parsifal» (Horst Stein dirigierte, Wolfgang Wagner zeichnete für Regie und Bühnenbild verantwortlich): Dieses Gefühl, dass die Musik aus den Stühlen quillt, hat mich ungeheuer fasziniert. Das Licht geht aus, das Vorspiel beginnt – und die Streicher spielen nicht irgendwo da vorne, sondern unter mir, über mir, rechts, links, im Himmel und in der Hölle, im ganzen Raum. Der Klang hat keine Quelle und keine Richtung, er ist überall. Der Klang ist der Raum, die Musik ist die Welt – und ich bin mittendrin. Als ich da saß mit meiner glühenden Begeisterung, war das eine einzige Bestätigung: Ich hatte es eigentlich nicht anders erwartet als genau so. Im Grunde hatte ich Wagner nie anders gehört, weder vor dem Plattenspieler noch am Klavier, wenn ich versuchte, mir die eine oder andere Partitur zusammenzubuchstabieren.
In diesen Jahren überschlugen sich die Ereignisse, mein Leben glich einem Dominospiel. Mit 18 legte ich an der Berliner Musikhochschule mein Konzertexamen im Fach Klavier ab (bei Helmut Roloff), trat gleichzeitig als Bratscher in die Orchester-Akademie der Berliner Philharmoniker ein und nahm bei Hans Hilsdorf Unterricht in Partiturspiel und Dirigieren. Mit 19 machte ich Abitur und bekam noch im selben Jahr, mit der Spielzeit 1978/79, einen Vertrag an der Deutschen Oper Berlin. Das hätte niemand für möglich gehalten, ich selbst am allerwenigsten. Ich hatte im Sommer eine Reise gemacht und kam gerade wieder zuhause zur Tür herein, da klingelte das Telefon und Hilsdorf war dran: Ein Korrepetitor wolle raus aus seinem Vertrag zu Beginn der Spielzeit, und ich möge doch Heinrich Hollreiser vorspielen. Das tat ich natürlich, die erste Szene der «Meistersinger» und ein Stück aus «Elektra», worauf der alte Hollreiser sagte, den Kleenen könnt ihr nehmen, der wird sich als Anfänger schon irgendwie einfügen. Und so hatte ich zum 1. November 1978 einen Vertrag über 900 Mark pro Monat in der Tasche und war selig! Ich übte und spielte wie ein Berserker, mehr als alle meine Kollegen, denn die Arbeit am Theater war genau das, was ich wollte. Zu Ostern 1980 assistierte ich Herbert von Karajan in Salzburg beim «Parsifal», in seiner eigenen Inszenierung – und ein Jahr später wurde ich Assistent in Bayreuth. Ich sehe mich noch in einem winzigen Stübchen im obersten Stockwerk des Festspielhauses das Orchestermaterial einrichten, Bogenstriche hineinmalen, die Dynamik anpassen und dergleichen mehr, für Daniel Barenboims Debüt auf dem Grünen Hügel mit «Tristan und Isolde» (in der Regie des großartigen Jean-Pierre Ponnelle). Aufgeregt war ich, stolz, rote Ohren hatte ich. Wenigstens in den ersten Tagen.
Im Nachhinein kann dieser Weg geradezu gespenstisch konsequent erscheinen. Und innerlich war er auch unausweichlich, schließlich war ich mir sicher, dass ich Dirigent werden wollte. Äußerlich aber lief beileibe nicht alles nur glatt. Da gab es mit 16 beispielsweise ein Probedirigat bei Herbert Ahlendorf, der am Städtischen Konservatorium unterrichtete (dem ehemaligen Stern’schen Konservatorium). Ahlendorf legte eine Platte mit dem «Meistersinger»-Vorspiel auf und bugsierte mich vor einen raumhohen Spiegel. Ich weiß nicht, was mich mehr verwirrte, die Aufnahme, die mir nicht gefiel, oder mein höchst ungelenkes Ebenbild. Die Chose ging jedenfalls gründlich daneben, Ahlendorf befand, Wille allein genüge nicht und ich sei völlig untalentiert. Ich war am Boden zerstört, immerhin hatte mir kein Geringerer als Herbert von Karajan zu diesem Versuch geraten: Karajan, bei dem ich kurz zuvor eine Audienz ergattert hatte und von dem ich nur eines wissen wollte: Wie wird man Dirigent? Naja, so offenbar nicht.
Und dann war da noch die Geschichte mit dem Karajan-Dirigentenwettbewerb. 1985, Hochschule der Künste in Berlin, Wolfgang Stresemann, der Intendant der Philharmoniker, sitzt einer Jury vor, der neben Karajan auch Kurt Masur und Peter Ruzicka angehören. Gefragt ist das «Tristan»-Vorspiel, ich bin die Nummer 21 von 26 Kandidaten, jeder hat 20 Minuten. Ich begreife das als Aufforderung zum Arbeiten, feile am Vibrato der Celli zu Beginn und lasse die Holzbläser sauber intonieren, versuche, das Orchester zum Atmen zu bringen und von meiner Klang- und Tempovorstellung zu überzeugen – und komme über Takt 19 oder 20 nicht hinaus. Am Ende werde ich disqualifiziert und bin fassungslos. Die Tränen schießen mir in die Augen. Ich hätte es nicht geschafft, durch die Partitur durchzukommen, so die Begründung der Jury. Zum Glück fiel die Entscheidung nicht einhellig, sowohl Karajan als auch Ruzicka standen, wie sich später herausstellte, auf meiner Seite.
Wie wird man Dirigent? Die Frage ist berechtigt, schließlich ist der Dirigent der einzige Musiker, der keine eigenen Töne erzeugt. Er ist und bleibt ein «Luftzerteiler», wie mein Freund, der Komponist Hans Werner Henze, so schön sagte. Das heißt, der Dirigent braucht ein Orchester, und das steht ihm nicht an jeder Ecke zur Verfügung. Wie also üben, wie eine Schlagtechnik entwickeln, wie Erfahrung sammeln? Karajans Antwort mir gegenüber lautete damals: Machen Sie Abitur und gehen Sie in die Praxis. Er sagte das mit einer solchen Autorität, ja mit dem ganzen Gewicht seiner Biographie, dass ich sofort verstand. Statt Studium also die Ochsentour: Korrepetitor, Korrepetitor mit Dirigierverpflichtung, Assistenzen bei namhaften Dirigenten, zweiter Kapellmeister, erster Kapellmeister, Generalmusikdirektor in der Provinz oder an einem mittleren Haus, Generalmusikdirektor an einem großen Haus. Und Gastdirigate. Und Plattenaufnahmen, so sich die Gelegenheit bietet. Das Ganze möglichst bis 40. Sonst wird es nicht nur mit den ersten Positionen schwierig (man ist schlicht nicht mehr so attraktiv für den Markt), sondern auch mit der Aneignung des Repertoires. Wer als Seiteneinsteiger zum Dirigieren kommt, wird kaum nach zwei Jahren im Geschäft einen «Lohengrin» oder «Tristan» hinzaubern können, ohne die nötige Erfahrung, ohne gewachsenes Handwerk. Andererseits: Auch eine sehr frühe Dirigentenkarriere, dieser Sprung ins eiskalte Wasser, nur weil jemand ein irrsinniges Talent hat oder wie verrückt gepuscht wird, kann Unglück bringen.
Kurz und gut: Ich bin ein leidenschaftlicher Verfechter der Ochsentour und würde sie auch heute noch jedem jungen Kollegen raten. Meine Stationen waren Berlin, Gelsenkirchen, Karlsruhe, Hannover, Düsseldorf und Nürnberg. Ich musste sehr viel vom Blatt spielen und setzte meine ersten Bühnenmusiken in den Sand, ich lernte, mit Chören zu atmen, und musste Operettenvorstellungen ohne jede Probe dirigieren. Vor allem aber fraß ich mir ein dickes Repertoire an, eine Werkkenntnis, von der ich bis heute zehre: Allein an der Deutschen Oper Berlin hatte ich es in den drei Jahren meiner Korrepetitorenzeit mit 70 Stücken zu tun. Und was ich mir von Kapellmeistern wie Horst Stein oder Heinrich Hollreiser alles abgucken konnte! Stein mit seinen kurzen Ärmchen und dem kurzen Taktstock – ich kenne niemanden, der so unprätentiös, so gestochen scharf geschlagen hat wie er. Hollreiser hingegen benutzte einen langen Stock, seine Einsätze waren Peitschenhiebe, man hörte es regelrecht knallen. Beide habe ich ungeheuer geschätzt. Wie ein Luchs saß ich in den Proben, damit ich nur ja nichts verpasste.
Irgendwann, mehr oder weniger schnell, kriegt man dann eine Ahnung von diesem Beruf. Aber es dauert, und man muss Geduld haben. Auch mit sich selbst, mit der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, zumal wenn man sich, wie in meinem Fall, nicht gar so leicht in ein Kollektiv oder ein Ensemble einfügt. Ich fürchte, der Anfänger Thielemann hatte ein ziemlich loses Mundwerk und musste seine Unsicherheit oft durch Frechheit überspielen. Außerdem sitzt man als Assistent natürlich in so mancher Probe und denkt, na, das kann ich besser! Und dann steht man eines Tages vor dem ersten «Parsifal» seines Lebens (bei mir war das 1998 an der Deutschen Oper Berlin, die Regie hatte Götz Friedrich) und stellt fest, wie schwer das ist und dass die Musik, die man so liebt, sich in eine zähe Soße verwandelt oder zerbröselt – gerade weil man sie so liebt und weil man glaubt, Wagners «Bühnenweihfestspiel» müsse weihevoll sein und sehr, sehr langsam. Erst beim Musizieren in Bayreuth habe ich begriffen, was für ein Trugschluss das ist.
Dirigieren kann man an sich nicht lernen. Der einzige Unterricht, den ich je genossen habe, fand wie gesagt bei Hans Hilsdorf statt, dem Direktor der Berliner Singakademie. Einen Vierertakt schlägt man so, sagte Hilsdorf, ein Dreiertakt geht so, das ist eine Fermate, das ist ein Fünfer, das ein Sechser – und das wär’s im Grunde. Die Hände müssten möglichst unabhängig voneinander sein, das erklärte er mir auch, die rechte sei mehr für den Takt zuständig und die linke für alles andere. Warum? Weil es zum Beispiel vorkommt, dass man mit der Linken einen Sänger festhalten muss, der gerade die Orientierung verloren hat, und ihm solange anzeigt «falsch, falsch, falsch», bis man ihn wieder hineinwinken kann. Dabei darf man sich natürlich nicht irren, und deswegen muss die Rechte wie ein Uhrwerk im Takt weiterlaufen. Mehr als das habe ich eigentlich nicht gelernt.
Richard Wagner hat meine Lehr- und Wanderjahre stets «überschattet». Immer wieder pochte er an die Tür, um dann doch (noch) nicht ganz einzutreten: in der Ahlendorf-Episode mit dem «Meistersinger»-Vorspiel, beim Karajan-Wettbewerb, beim Vorspiel vor Hollreiser, bei meiner ersten Karajan-Assistenz mit «Parsifal» und meiner ersten Barenboim-Assistenz mit «Tristan». Selbst George Alexander Albrecht prüfte mich in Hannover mit einer Stelle aus dem dritten Akt «Tristan» («Noch losch das Licht nicht aus»), die ich ihm auswendig vortrug. Und so oder so ähnlich sollte es weitergehen: Wagner, immer wieder Wagner. Wobei ein Anfänger in diesem Fach nichts verloren hat, Wagner war und ist an allen Häusern Chefsache. Meinen Ehrgeiz hat das nur weiter angestachelt.
Ich bin kein Esoteriker, trotzdem frage ich mich, warum es immer wieder Wagner war. Seelenverwandtschaft? Schicksal? Eine besondere feinstoffliche Konstellation? Ich dirigiere Wagner jetzt seit über 30 Jahren, und das Verlangen, sich kopfüber in seine Partituren zu stürzen, mag sich geläutert und verfeinert haben, aber verschwunden ist es nie. Ich disponiere heute anders (das heißt, ich disponiere überhaupt), ich weiß besser hauszuhalten mit meinen physischen und emotionalen Kräften. Mit der Zeit bin ich in den Tempi flüssiger geworden, und mir geht es musikalisch sehr viel mehr als früher um Transparenz, um die von Wagner so eindringlich beschworene «Deutlichkeit». Manche Stücke wie den «Tristan» muss ich von Zeit zu Zeit beiseite legen, um mich davon zu erholen – sie gehen mir zu sehr an die Substanz. Das ist wie ein Drogentrip, bei dem man nicht weiß, ob man je wieder zurückfindet (eine Erfahrung, die ich mir erspart habe). Es ist, als ob die Membran zwischen Kunst und Leben, zwischen Diesseits und Jenseits immer dünner wird. Richard Wagner komponiert mit integriertem Suchtfaktor. Das macht ihn für mich so narkotisch und so gefährlich.
Mein offizielles Wagner-Debüt habe ich in Italien gegeben, 1983, bei einem Konzert zu Wagners 100. Todestag im Teatro La Fenice in Venedig. Der Abend trug den schönen Titel «Liebestrank forever», und ich durfte das «Siegfried-Idyll» und die C-Dur Symphonie dirigieren (bevor der Schweizer Dirigent Peter Maag für die «Wesendonck-Lieder» und Isoldes Liebestod mit Katia Ricciarelli ans Pult trat). Venedig ist für jeden Wagnerianer ein hoch auratischer Ort, schließlich ist der Meister hier im Palazzo Vendramin-Calergi gestorben, und im Fenice hat er zwei Monate zuvor noch sein letztes Konzert dirigiert (mit eben jener C-Dur Symphonie, einem Jugendwerk, zum 45. Geburtstag seiner Frau Cosima). Maag hatte ich an der Deutschen Oper Berlin kennengelernt, wir verstanden uns auf Anhieb: er, der ehemalige Furtwängler-Assistent, und ich, der Grünschnabel mit den hochtrabenden Flausen im Kopf. Maag war es auch, der mich kurz darauf, 1981, ans Fenice holte, als sein Assistent bei einer «Tristan»-Neuproduktion. Dort ließ er mich hin und wieder die Proben leiten, Brangänes Nachtruf etwa durfte ich dirigieren – und das Vorspiel. An jenem Vormittag im Fenice ließ ich das «Tristan»-Vorspiel dreimal hintereinander durchspielen und war danach dermaßen außer mir und bis auf die Knochen nassgeschwitzt, dass ich abbrechen musste und ins Hotel geflüchtet bin. Und weil ich es da auch nicht aushielt, bin ich für den Rest des Tages durch die Stadt getaumelt, wie im Delirium, unter diesem stahlblauen venezianischen Winterhimmel. Völlig verzückt, wunschlos glücklich: Ich hatte – das «Tristan»-Vorspiel dirigiert!
Mein vollständiges Wagner-Debüt folgte 1985 mit einem konzertanten «Rienzi» am Niedersächsischen Staatstheater in Hannover. Dann ging es mehr oder weniger Schlag auf Schlag. Zur Spielzeit 1988/89, mit 29 Jahren, wurde ich Generalmusikdirektor in Nürnberg, dirigierte dort neben Pfitzners «Palestrina», Schumanns «Genoveva» und Webers «Euryanthe» zum ersten Mal «Lohengrin» und «Tannhäuser» und sollte 1990 ebenfalls für «Lohengrin» noch einmal ans Fenice zurückkehren. Innerlich aber fieberte ich meinem «Tristan»-Debüt entgegen. Die Gelegenheit dazu ergab sich unverhofft: Im Herbst 1988 meldete sich Peter Ruzicka, der gerade die Nachfolge von Rolf Liebermann als Intendant an der Hamburgischen Staatsoper angetreten hatte. Ihm war der Eklat beim Karajan-Wettbewerb offenbar im Gedächtnis geblieben. Ob ich einige «Tristan»-Vorstellungen übernehmen wollte, in der Skandalinszenierung von Ruth Berghaus? Und ob ich wollte! Ich wusste, dass ich es konnte, Eklat hin oder her – aber ich wusste natürlich auch, dass es ein enormes Wagnis war. Wenn ich in Hamburg scheiterte, würde ich meine Karriere als Wagner-Dirigent begraben können; und die Gefahr, als Debütant mit nur zwei Sitzproben den Karren an die Wand zu fahren, erschien mir ziemlich hoch. Zwei Sitzproben im NDR-Haus am Hamburger Rothenbaum mit dem Opernorchester sollten über mein Schicksal entscheiden.
Ich weiß gar nicht, was ich gemacht hätte, wenn es schief gegangen wäre. Weiterdirigiert, nur eben keinen Wagner mehr? Eingesehen, dass ich ausgerechnet für den «Tristan», mein Schmerzensstück, noch nicht reif war? Eine Lauf bahn bei der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten eingeschlagen? Ein Flop hätte mich sicher in eine tiefe Krise gestürzt. Dirigieren um des Dirigierens willen hat mich nie interessiert. Ich bin kein Musiker – was mir viele vorwerfen –, der sein Glück in der Vielseitigkeit sucht, von der Alten Musik bis Stockhausen und so weiter. Eher ziehe ich konzentrische Kreise. Ich muss von einem Kern, meinem Kern, ausgehen. Und das bedeutet auch: Ich habe nie an meine Karriere gedacht, sondern immer nur an Wagner. Hätte man mich um vier Uhr morgens geweckt und gefragt: Was willst du dirigieren?, ich hätte Wagner! gerufen, «Tristan»! Insofern habe ich sehr viel auf eine Karte gesetzt, eigentlich alles, obsessiv.
Wie der Hamburger «Tristan» nun war? Heute möchte ich ihn lieber nicht noch einmal hören. Ehrlich gesagt, kann ich mich auch nur dunkel erinnern. Irgendwie ging es gut, ich fasste trotz aller Nervosität und Hysterie Zutrauen, und am Ende war es ein Erfolg. Danach habe ich die ganze Nacht kein Auge zugetan, so erregt war ich, so erleichtert. Die Bilder der Berghaus-Inszenierung, die berüchtigte Turbine im ersten Akt, der gestrandete Planet im dritten, das habe ich damals gar nicht richtig wahrgenommen. Aber ich sollte noch einmal nach Hamburg zurückkehren, 1993, für eine Wiederaufnahme der Produktion. Berghaus persönlich leitete die szenischen Proben, und das war ein echtes Erweckungserlebnis, gewissermaßen mein Urknall in Sachen Opernregie. Eine Regisseurin, die aus der Musik heraus inszenierte, aus nichts als der Musik heraus. Berghaus hat immer mit der Partitur argumentiert, nie mit irgendwelchen Einfällen oder Zufällen oder dramaturgischen Kopfgespinsten. Von den Regisseuren, mit denen ich bis jetzt zusammengearbeitet habe, konnten das nur Jean-Pierre Ponnelle und Götz Friedrich.
In Hamburg habe ich gemerkt, wie sehr man im Graben davon abhängt, was auf der Bühne geschieht. Solange die szenische Spannung trägt, ist mir die Bühnenästhetik fast egal und ich kann im «Tristan» Liegestühle dirigieren oder eine Turbine oder den Daedalus-Krater auf dem Mond. Es muss ein alchemistisches Verhältnis zwischen Bühne und Graben herrschen, und das konnte die Berghaus erzeugen. Sie hat immer gesagt, ihr müsst da unten Feuer legen, bei uns oben herrscht Eiszeit. Ich glaube, wir beide waren ein gutes Team – gerade weil die Unterschiede gravierender nicht hätten sein können: die kritische Ossi und der kulinarische Wessi, die überzeugte SED-Parteigängerin und der Unpolitische, die Funktionärin und der Flegel, die Brechtianerin und der Karajan-Schüler … die Liste der Etiketten und Klischees ließe sich fortsetzen. Im Übrigen hätte Ruth Berghaus meine Mutter sein können.
Die Berghaus hat mich dazu gebracht, nicht nur zu fragen, wie macht Wagner das, sondern auch, warum? Was bedeutet es, wenn er im dritten Akt «Tristan» die Sonne so flirren lässt, dass man meint, er komponiere die schwarzen Punkte noch mit, die man sieht, wenn man zu lange ins Licht geschaut hat? Was bedeutet es, dass die Liebe, jede Liebe, eine Unmöglichkeit darstellt, eine grandiose Überforderung, die pure Anarchie? Dass Tristan sterben muss, damit die Utopie lebt? In Heiner Müllers Bayreuther «Tristan»-Inszenierung von 1994 lässt der Bühnenbildner Erich Wonder zum Liebestod hinter der Sängerin ein winziges goldenes Quadrat aufscheinen und immer größer und heller werden, bis das Licht den ganzen Saal füllt und Isolde nur mehr im Schattenriss da steht. Was für ein fabelhaftes Bild! Das verzehrende Pathos dieses Schlusses aller Schlüsse, die Auslöschung des Individuellen, die Kraft der Musik, der Trost der Schönheit, die Zeitlosigkeit – alles findet sich darin. Das hätte ich auch sehr gerne dirigiert.
Der Hamburger «Tristan» versetzte meiner Wagner-Karriere und meiner Karriere überhaupt einen kräftigen Schub. Es folgten Engagements in Genf, Rom, Bologna und den USA, und ich begleitete die Deutsche Oper Berlin, an der ich 1991 mit «Lohengrin» meinen Einstand gegeben hatte, auf Japan-Tournee. Nur ein kleines oberfränkisches Städtchen schwieg beharrlich, und das irritierte mich. Von meinem Generalmusikdirektorenamt in Nürnberg schied ich 1992, nach einem überregional stark beachteten «Tristan», im Streit: Man behauptete, ich tanzte auf zu vielen fremden Hochzeiten, was nachweislich nicht stimmte. Bayreuth aber liegt vor den Toren Nürnbergs (oder vielmehr, für den Wagnerianer, Nürnberg vor den Toren Bayreuths) – hätte ich da nicht Wolfgang Wagner, den Festspielleiter, und seine Frau Gudrun in der einen oder anderen Vorstellung sehen müssen?
Diese Frage gehört zu den wenigen blinden Flecken in meinem Verhältnis zu den Wagners. Ich habe nie herausgefunden, ob sie da waren oder nicht, und es ist mir immer peinlich gewesen, danach zu fragen. So oder so: Die Einladung nach Bayreuth ließ auf sich warten. Das änderte sich auch nicht, als ich 1997 GMD an der Deutschen Oper Berlin wurde und wiederum Wagner auf dem Spielplan stand, wie es sich für ein so großes Haus gehört. Hatte ich es mir während meiner Assistentenzeit auf dem Grünen Hügel verscherzt? Ich war sehr streng und genau in meiner Arbeit und sicher nicht immer der Verbindlichste im Ton. Gab es neben Daniel Barenboim, James Levine und Giuseppe Sinopoli keinen Bedarf? Fehlten mir wichtige Befürworter? Im Nachhinein muss ich sagen: In den Jahren des Wartens auf ein Bayreuther Signal habe ich etwas fürs Leben gelernt, nämlich auf gar nichts zu warten. Nichts zu sehr zu wollen. Ob es die Bayreuther Festspiele sind oder die Wiener Philharmoniker oder die Semperoper in Dresden: Solche Dinge passieren immer dann, wenn man nicht daran denkt. Voraussetzung allerdings ist, dass man, wenn sie passieren, innerlich gut vorbereitet ist.
Und genau so kam es. 1999 dirigierte ich an der Chicago Lyric Opera eine Neuproduktion der «Meistersinger von Nürnberg» (mit Jan-Hendrik Rootering als Sachs, René Pape als Pogner, Nancy Gustafson als Eva und Gösta Winbergh als Stolzing). Ich wohnte in einem Wolkenkratzer im 78. oder 88. Stock, wenigstens gefühlt, und konnte aus den Fenstern auf den Michigan See gucken und hinunter in die Magnificent Mile. Draußen schneite es, es war urgemütlich, und ich komme gerade zur Tür herein mit einer Plastikpulle Cola unterm Arm und irgendwelchen Nachos oder Taccos, herrlich ungesundem Zeug – da klingelt das Telefon. Reiner Barchmann ist dran, der Dresdner Kontrabassist, damals Orchesterdirektor in Bayreuth: «Guten Tag, ich rufe im Auftrag von Wolfgang Wagner an, er möchte Sie gerne sprechen. Aber ich kann es Ihnen auch gleich sagen: Herr Wagner wird Sie fragen, ob Sie bei uns die ‹Meistersinger› dirigieren möchten.» Da bin ich mit meinen Nachos und Taccos gepflegt vom Stuhl gefallen. Irgendwie habe ich es noch geschafft, Ja zu stammeln und aufzulegen.
Am nächsten Tag meldete sich Wolfgang Wagner persönlich, Gudrun und er hielten sich gerade in Amerika auf, und wir verabredeten uns zu einem Essen in Chicago. Dieser erste Abend war lustig und völlig unkompliziert, mit Geschichten über Knappertsbusch und Tietjen und Wolfgangs Bruder Wieland. Da habe ich noch einmal Ja gesagt zu den «Meistersingern», hatte mir zwischenzeitlich aber überlegt, dass mir das zu wenig war. Selbstverständlich sprang ich gerne für Daniel Barenboim ein, der andere Verpflichtungen hatte, aber eine Neuproduktion … Und weil die Laune so gut war und der Wein auch, habe ich mich irgendwann getraut, das anzusprechen. Da guckte der alte Wagner nur und sagte, «Tannhäuser», 2002, nä (er beendete kaum einen Satz nicht mit «nä»), das wäre doch etwas für Sie. Da war ich platt. Der hatte auf diese Frage nur gewartet.
Bei einer der nächsten «Meistersinger»-Vorstellungen thronten die Wagners direkt hinter mir in der ersten Reihe. Das heißt, auf den Monitoren (für die Sänger und den Inspizienten) waren immer auch Gudrun und Wolfgang Wagner zu sehen. Die Leute hinter der Bühne gerieten völlig aus dem Häuschen: «He looks exactly like his grandfather!» Und das stimmte. Manchmal, wenn er während einer Probe in Bayreuth durch die vorderen Reihen des Festspielhauses tappte, und man sah ihn so im Profil, mit diesen schlohweißen wehenden Haaren und dieser Nase, dachte man unwillkürlich: Da geht Richard Wagner selbst und hört jetzt seine eigene Musik.
Von 2000 bis 2002 also «Die Meistersinger» in Bayreuth, 2001 außerdem «Parsifal» (als Einspringer für Christoph Eschenbach) sowie Beethovens Neunte, von 2002 bis 2005 «Tannhäuser» und, wie sich schon bald abzeichnen sollte, ab 2006 der neue «Ring». Ich war am Ziel. War ich am Ziel? Gibt es so etwas überhaupt?
Ein Wagner-Ziel gibt es in gewisser Weise schon. Wagner in Bayreuth dirigieren zu dürfen, ist für alle, die die Aura des Ortes spüren und das Haus mit seinen akustischen Eigenheiten akzeptieren oder gar lieben, der Gipfel. Es gibt nichts Höheres und für mein persönliches Ausdrucks- und Schönheitsbedürfnis nichts Befriedigenderes (wobei die einzelnen Werke auf das Festspielhaus sehr unterschiedlich reagieren). Mit den Erfolgen sind aber auch meine Zweifel größer geworden. Je mehr man weiß und kann, desto mehr weiß man eben auch, wie viel mehr man noch wissen und können müsste. Dann betrachte ich die großen Alten, den Knappertsbusch im weißen Hemd mit Hosenträgern und seinem langen Taktstock, den alten Karajan, den alten Günter Wand, die gar nichts mehr machen mussten am Pult, und weiß, dass ich davon noch Lichtjahre entfernt bin. Denen war die Musik zur «zweiten Natur» geworden, wie mein Lehrer Helmut Roloff immer sagte. Richard Wagner stellt seine Dirigenten vor derart komplexe Schwierigkeiten, technisch, handwerklich, musikalisch, mental, emotional, physisch und intellektuell, dass jede Form von Selbstzufriedenheit oder Übermut fehl am Platze ist. Man kann auf der Wagner-Leiter weiter und weiter klettern – es wird immer Luft nach oben sein.
Inzwischen sieht man es mir vielleicht nicht mehr so an, aber in den letzten Minuten vor einem Auftritt denke ich oft, nicht nur in Bayreuth, jetzt würde ich am liebsten weglaufen oder tot umfallen. Tschüss, ich kann das nicht, ich bin leider gerade gestorben. Der Magen dreht sich um, der ganze Körper revoltiert, und was da in mir tobt, ist kein einzelner Schweinehund, sondern eine ganze Bastion. Über Carlos Kleiber gibt es viele Geschichten, die alle von dieser Angst handeln. Dass er in einer grünen Minna von München nach Bayreuth geschafft worden sein soll, weil Wolfgang Wagner ihn in letzter Sekunde überreden konnte, die bereits abgesagte «Tristan»-Vorstellung doch noch zu dirigieren. Oder der legendäre Zettel, den Kleiber den Wiener Philharmonikern nach einer verpatzten Probe mit Beethovens Vierter hinterließ: «Bin ins Blaue gefahren.» Das sind herrliche Anekdoten, man lacht darüber, zumal sie gut zu Kleibers sonstigen Eulenspiegeleien passen. Aber ich frage mich: Wie hat es in diesem Menschen ausgesehen? Wie groß muss seine Angst gewesen sein und wie monströs sein Anspruch?
Ich könnte nicht so reagieren wie er, dafür bin ich zu bodenständig und zu pflichtbewusst und wiederum zu ängstlich. In den Momenten, in denen die Schweinehunde toben, sage ich mir: Trotzdem. Ich will das jetzt. Ich will mich überwinden. Es ist nicht schön, auf dem Zehn-Meter-Brett zu stehen und nicht zu springen.
Oder wie reimt der späte Beethoven 1825 in einem Kanon? «Doktor sperrt das Tor dem Tod, Note hilft auch aus der Not.» Das passt eigentlich immer.
Ich möchte Richard Wagner nicht persönlich begegnen. Ich glaube, ich würde mich vor ihm fürchten. Wenn er zur Tür hereinkäme mit seinen 1,66 Metern und hätte vielleicht ungewaschene Haare unterm Samtbarett und hörte nicht auf zu sächseln und zu schwadronieren, über das Wetter und den Nachtschlaf und seine Hunde Russ und Putz und Molly, über Atlasbeinkleider, Zahngeschwüre, Klistiermethoden und bevorzugte Sängerinnen – ich wäre erledigt. Desillusioniert. Nicht, weil ich ein so hehres romantisches Bild von ihm habe, sondern weil ich erkennen müsste, wie stark die Wagner-Welt auseinanderfällt: ins Wirkliche und ins Mögliche, in Musik und Realität, in den Dresdner Hofkapellmeister, zu dem Wagner es brachte, und den handwerklichen Stümper, als den er sich selbst gerne bezichtigte, und in vieles mehr.
Als Dirigent sollte man das sicher alles wissen – aber man darf es auch wieder vergessen. Je älter ich werde, desto weniger interessieren mich die Biographien von Komponisten. Ich habe ja die Partituren, und da steht alles drin. Auch das Ambivalente, das Zwiespältige, gerade das.
Wie ich mir den Menschen Wagner vorstelle? Herrschsüchtig, jähzornig, albern, sehr sendungsbewusst. Demagogisch, getrieben, verrückt. Hans Neuenfels hat einmal geschrieben, als er meinte, ihm in Bayreuth begegnet zu sein (fiktiv natürlich), er habe sich vor dem Angesicht des Meisters «wie eine Motte aufgespießt» gefühlt. Das kann ich gut nachvollziehen: Blicke wie Dolche! Augen, die alles besser wissen! Andererseits: Wagner wusste ja tatsächlich vieles besser, und seine Sehnsucht nach einer Totalität in der Kunst, nach einer Kunst, die alles