Stéphanie Hennette | Thomas Piketty
Guillaume Sacriste | Antoine Vauchez
FÜR EIN ANDERES EUROPA
VERTRAG ZUR DEMOKRATISIERUNG
DER EUROZONE
Aus dem Französischen übersetzt von
Michael Bischoff
C.H.Beck
Wie lässt sich die populistische Welle eindämmen, die unsere Demokratien zu destabilisieren droht? Wie lässt sich ein Auseinanderfallen der Europäischen Union verhindern? Thomas Piketty und seine Mitstreiter plädieren für einen Vertrag zur Demokratisierung der Eurozone, damit Europa wieder zu dem wird, was es sein sollte: ein Projekt, das den Wohlstand der Vielen mehrt und nicht den der Wenigen. Seit der Eurokrise ist Europa im Griff der Austeritätspolitik. Doch wer hat darüber entschieden? Während die EU ein europäisches Parlament kennt, bestimmen in der Eurozone allein die Regierungen, in der Regel sogar, ohne die nationalen Parlamente ernsthaft zu fragen. Heraus kommt eine Politik, die einseitig die breite Masse belastet und das große Kapital schützt. Dieses Buch entwirft und begründet einen Vertrag, mit dem eine parlamentarische Vertretung der Eurozone geschaffen würde, um die Bürger einzubinden, den Interessen der Mehrheit Gehör zu verschaffen und das Auseinanderdriften Europas zu stoppen – für ein anderes, ein optimistisches Europa.
Stéphanie Hennette ist Professorin für Öffentliches Recht an der Universität Paris Ouest Nanterre La Défense. Thomas Piketty ist Professor an der Pariser École d’Économie. Bei C.H.Beck erschienen von ihm der Weltbestseller «Das Kapital im 21. Jahrhundert» (82016) sowie «Die Schlacht um den Euro» (2015) und «Ökonomie der Ungleichheit» (22016). Guillaume Sacriste ist Dozent für Politikwissenschaft an der Universität Paris I (Panthéon-Sorbonne). Antoine Vauchez ist Wissenschaftler am Centre national de la recherche scientifique und lehrt am Centre européen de sociologie et de science politique der Universität Paris I (Panthéon-Sorbonne).
Für einen Vertrag zur Demokratisierung der Eurozone
Über die rechtliche Zulässigkeit eines Vertrags zur Demokratisierung der Steuerung der Eurozone
Wie könnte die Parlamentarische Versammlung der Eurozone aussehen?
Was geschähe, wenn unsere Partner den Vertrag ablehnten?
Entwurf eines Vertrags zur Demokratisierung der Steuerung der Eurozone (DemV)
Darlegung der Motive
Vertrag zur Demokratisierung der Steuerung der Eurozone (DemV) – mit Kommentaren
Kapitel I Gegenstand und Anwendungsbereich
Artikel 1
Kapitel II Demokratiepakt der Eurozone
Artikel 2. Die Parlamentarische Versammlung
Artikel 3. Funktionen
Artikel 4. Zusammensetzung
Artikel 5. Neue Mitglieder
Artikel 6. Der Rat der Minister der Eurozone (Eurogruppe)
Kapitel III Kompetenzen und Aufgaben der Parlamentarischen Versammlung der Eurozone
Artikel 7. Eurogipfel und Eurogruppe
Artikel 8. Harmonisierung und Koordinierung der Wirtschafts- und Haushaltspolitik
Artikel 9. Finanzhilfefazilität
Artikel 10. Steuerungsdialog mit der Europäischen Zentralbank
Artikel 11. Untersuchungs- und Kontrollrechte
Artikel 12. Ausübung der Gesetzgebungskompetenz innerhalb der Eurozone
Artikel 13. Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren
Artikel 14. Der Haushalt der Eurozone
Artikel 15. Das Gesetzgebungsverfahren für den Haushalt der Eurozone
Artikel 16. Einnahmequellen der Eurozone
Artikel 17. Ernennungen
Kapitel IV Übereinstimmung mit und Verhältnis zum Recht der Europäischen Union
Artikel 18
Kapitel V Allgemeine und abschließende Bestimmungen
Artikel 19
Artikel 20
Artikel 21
Artikel 22
Glossar
Abkürzungen
Fußnoten
In zehn Jahren Wirtschafts- und Finanzkrise hat sich in Europa ein neues Machtzentrum herausgebildet: die «Regierung der Eurozone». Die Bezeichnung kennzeichnet die Sache allerdings nur unzureichend, lässt sich doch nur schwer jene demokratisch verantwortliche «Institution» erkennen, die heute über die Wirtschaftspolitik in Europa bestimmt. Der bezeichnete Gegenstand ist in der Tat zugleich unscharf und veränderlich. Die seit ihrer Gründung informelle und undurchsichtige zentrale Institution dieser «Regierung», die Eurogruppe der Finanzminister der Eurozone[1], arbeitet außerhalb der Europäischen Verträge und ist daher nicht rechenschaftspflichtig gegenüber dem Europäischen Parlament und erst recht nicht gegenüber den nationalen Parlamenten. Aber schlimmer noch, die Institutionen – von der Europäischen Zentralbank (EZB) über Eurogruppe und Eurogipfel* bis hin zur Kommission, die das Grundgerüst dieser «Regierung» bilden – arbeiten in Zusammensetzungen, die je nach den Politikbereichen wechseln, ob nun von «Memoranden» der Troika die Rede ist, von «Korrekturmaßnahmen», die im Rahmen des Europäischen Semesters* von den Mitgliedsstaaten gefordert werden, von Mechanismen zur Lösung der Bankenkrise innerhalb der Bankenunion oder dergleichen.
Doch so unterschiedlich diese Politikfelder auch sein mögen, «regiert» wird darin sehr wohl, denn durch den immer engeren Zusammenschluss der nationalen und europäischen Wirtschafts- und Finanzbürokratien – Leitungsebenen des deutschen und des französischen Finanzministeriums, Direktorium der EZB, für Wirtschaft zuständige hohe Beamte der Europäischen Kommission – hat sich ein harter Kern herausgebildet. Nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge wird die Eurozone von dort aus «regiert», wird dort die eigentliche politische Arbeit der Koordinierung, der Vermittlung und des Ausgleichs zwischen den verschiedenen ökonomischen Interessen der Beteiligten geleistet. Als François Hollande 2012 auf eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts* verzichtete, der einen Eckstein dieser Regierung der Eurozone bildet, trug er zur Festigung dieses neuen Machtblocks bei. Seither eignet sich dieser exekutive Pol Europas unablässig neue Kompetenzen an. Innerhalb eines Jahrzehnts erweiterte sich sein Interventionsbereich beträchtlich und umfasst inzwischen die Politik der «Haushaltskonsolidierung» (Sparpolitik), die verbesserte Koordinierung der Wirtschaftspolitik der beteiligten Staaten (Sixpack + Twopack*), die Erstellung von Sanierungsplänen für Staaten mit Finanzproblemen (Memoranden + Troika), die Überwachung sämtlicher Privatbanken usw.
Die mächtige und zugleich ungreifbare «Regierung» der Eurozone hat sich tatsächlich im toten Winkel der politischen Kontrollmöglichkeiten entwickelt, gleichsam in einem Schwarzen Loch der Demokratie. Wer kontrolliert etwa die Abfassung der Memoranden, die als Gegenleistung für Finanzhilfen aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus* tiefgreifende Strukturreformen verlangen? Wer kontrolliert die exekutive Aktivität der Institutionen, aus denen die Troika besteht? Wer weiß, was in den beiden zentralen Ausschüssen der Eurogruppe, dem Wirtschaftspolitischen Ausschuss und dem Wirtschafts- und Finanzausschuss, verhandelt wird? Weder die nationalen Parlamente, die bestenfalls ihre eigenen Regierungen kontrollieren, noch das Europäische Parlament, das bei der Regierung der Eurozone sorgfältig außen vor gehalten wird. Aufgrund der Undurchsichtigkeit und Abschottung ihrer Arbeitsweise verdient diese «Regierung» der Eurozone sehr wohl die an ihr geübte Kritik, angefangen bei der von Jürgen Habermas vorgetragenen, der hier ganz unumwunden von einer «postdemokratischen Autokratie» spricht.
Dieser Mangel an Demokratie ist keineswegs nur eine theoretische Frage oder eine des Machtausgleichs zwischen den Institutionen. Er hat sehr reale Auswirkungen auf die in der Eurozone verfolgte Wirtschaftspolitik. Er führt zu einer Art Taubheit gegenüber warnenden und anderen abweichenden Stimmen – wie wir es heute noch im Blick auf den nahezu einstimmigen Chor der Ökonomen erleben, die auf die Unausweichlichkeit einer Neuverhandlung der griechischen Schulden verweisen. Außerdem begünstigt er eine beträchtliche Unempfindlichkeit gegenüber durchaus gravierenden Signalen aus nationalen Wahlen, die einen ständigen Anstieg eines rechtsextremen Populismus anzeigen. Letztlich führt diese Machtstruktur dazu, dass man die mit der Finanzstabilität und dem «Vertrauen der Märkte» zusammenhängenden Aspekte überschätzt und jene Themen unterschätzt, die für die Mehrzahl der Menschen von größerem Interesse sein dürften, zum Beispiel Arbeitsmarktpolitik, Wachstumspolitik, fiskalische Harmonisierung, sozialer Zusammenhalt, Solidarität usw.
Daher ist es dringend erforderlich, die demokratische Wachsamkeit zu erhöhen und die repräsentative Demokratie wieder ins Zentrum der europäischen Wirtschaftspolitik zu rücken. Es ist höchste Zeit, aus der Undurchsichtigkeit und politischen Verantwortungslosigkeit, in der diese neue europäische Macht sich entwickelt, herauszutreten und in ihrem Zentrum eine demokratisch gewählte Institution zu etablieren. Denn nur ein Parlament besitzt die nötige Legitimation, um diese «Regierung» der Eurozone an ihre Verantwortung zu erinnern. Manche werden sagen, dazu brauche man eigentlich nur das Europäische Parlament zu stärken, aber die Dinge sind nicht (mehr) so einfach. Denn die Steuerung der Eurozone unterscheidet sich deutlich von anderen Bereichen der europäischen Politik. Es geht nicht mehr nur darum, einen großen Markt zu organisieren, sondern darum, die Wirtschaftspolitik der beteiligten Länder zu koordinieren, die Steuersysteme zu harmonisieren und eine Konvergenz in der Haushaltspolitik herbeizuführen, kurz: tief in die Sozialpakte der Mitgliedsländer einzugreifen. Deshalb kommt man heute nur schwer umhin, die nationalen Parlamente ganz direkt zu beteiligen – sofern man nicht bereit ist, ihre zentralen verfassungsmäßigen Vorrechte immer stärker zu beschneiden und die Institutionen der nationalen Demokratie ins Leere laufen zu lassen. Da nur sie in direktem Bezug zum politischen Leben der Mitgliedsstaaten stehen, verfügen auch nur sie über die nötige Legitimation, um das mächtige intergouvernementale bürokratische Netzwerk zu demokratisieren, das in den letzten zehn Jahren entstanden ist.