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Norman Sieroka

PHILOSOPHIE
DER PHYSIK

Eine Einführung

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Dieser Band bietet eine systematische und allgemeinverständliche Einführung in philosophische Fragestellungen der Physik und ihre historische Entwicklung. Er beginnt mit der Darstellung wichtiger Stationen der Physikgeschichte in der Antike, der Frühen Neuzeit und den vergangenen zwei Jahrhunderten und zeigt an ihnen zentrale erkenntnistheoretische Merkmale der Physik auf. Diskutiert werden typische Erklärungsstrategien, die Rolle von Experimenten und Vorhersagen, das Vorgehen bei der Begriffs- und Theoriebildung und die Bedeutung der Mathematik.

Über den Autor

Norman Sieroka wurde in Physik und in Philosophie promoviert. Er ist Privatdozent für Philosophie an der ETH Zürich.

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Forschungsgegenstand der Physik

Themen und Motive dieses Buches

Teil I: Wichtige Stationen in der Geschichte der Physik

1. Antike: Anfänge physikalischen Erklärens

«Vom Mythos zum Logos»

phýsis als begriffliche Wurzel der Physik

Elementarismus: Thales, Anaximenes, Empedokles, Demokrit

Mathematisierung: Pythagoras, Platon

Kräfte und Zwecke: Empedokles, Aristoteles

Empirie, Erkennen, Eingreifen: Aristoteles und Archimedes

2. Frühe Neuzeit: Mathematisierung der Physik

Symmetrien: Kepler

Sprache der Kinematik: Galilei, Newton

Geometrisierung versus Kräfte: Descartes und Leibniz

Vergleich der aristotelischen mit der frühneuzeitlichen Physik

3. 19./20. Jahrhundert: Verlust der Anschaulichkeit

Elektrodynamik: (Dis-)Analogien zur Mechanik

Vereinheitlichte Feldtheorie: Physik als Geometrie

Quantenphysik: Diskontinuitäten im atomaren Bereich

Neue Herausforderungen und aktuelle Vereinheitlichungsversuche

Teil II: Erkenntnistheoretische Motive und ihr Wandel

1. Begriffs- und Theoriebildung

Begriffe: vom Ausdruck zur symbolischen Konstruktion

Auswahlkriterien für Theorien: Objektivität statt Wahrheit

Theoriezusammenhänge: formale Übergänge und Analogien

2. Kausalität und Mathematisierung

Wandel des Kausalitätsbegriffs

Kausalität als Möglichkeit der Mathematisierung

3. Erklärungsstrategien und ihre Übergänge

Mereologisch: Suche nach den Grundbestandteilen

Explanatorisch: Suche nach den «Verursachern»

Holistisch: Suche nach einer einheitlichen Darstellung

Übergänge: Darstellungsweisen und Symmetrieprinzipien

4. Anschluss an die Empirie

Bedeutung von Vorhersagen

Rolle von Experimenten

Schluss

Einheitlichkeit der Physik

Vergleich mit anderen Naturwissenschaften

 

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Personenregister

Vorwort

Eine kurze Einführung in einen Wissenschaftsbereich zu geben, bedeutet immer auch, sich für bestimmte Schwerpunkte zu entscheiden und – wenn das Ziel eine geschlossene Darstellung sein soll – seinen eigenen «roten Faden» zu finden.

In diesem Sinne versucht der vorliegende Band eine möglichst einheitliche Einführung in philosophische Fragestellungen der Physik zu bieten. Dabei liegt der Fokus auf erkenntnistheoretischen Fragestellungen und auf deren historischer Entwicklung. Der Blick in die entsprechenden Episoden der Geschichte ist wichtig, um die Dynamik der Erklärungsstrategien und der Begriffs- und Theoriebildung, wie sie für die Physik typisch ist, adäquat zu verstehen. Und für diese Entwicklung sind unter anderem diverse antike Autoren relevant, auch wenn die selbstredend keine «Physiker» in unserem heutigen Sinne sind.

Jede Schwerpunktsetzung geht mit Auslassungen einher. Das Folgende ist also nicht als Versuch gemeint, eine allgemeine Geschichte der Physik zu schreiben. Dementsprechend gibt es eine Reihe von wichtigen Epochen, Theorien, Themenfeldern und Personen, die gar nicht oder nur am Rande behandelt werden. Dem einen mag das Mittelalter oder die über viertausend Jahre alte chinesische Astronomie sträflich vernachlässigt vorkommen, dem anderen fehlt bei der Darstellung der Quantenmechanik eine Diskussion der Bellschen Ungleichungen, dem dritten mag die Thermodynamik zu stiefmütterlich behandelt werden oder Einstein zu wenig erwähnt, der vierte hätte sich mehr über die Rolle der Beobachtung und die Entwicklung physikalischer Instrumente gewünscht usw.

Der Grund für diese Auslassungen und Verknappungen ist nicht, dass ich sie für generell irrelevant erachte. Der Grund ist schlicht, dass sie für die philosophische Fragestellung, die ich hier behandeln möchte, nicht so zentral und relevant sind wie bestimmte andere Personen, Epochen, Theorien und Themenfelder. Ebenso würde es den Rahmen des hier Darzustellenden sprengen, wollte man auf die (ohne Zweifel wichtigen) Veränderungen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und wissenschaftlicher Institutionalisierungen eingehen, in und unter denen seit der Antike Naturforschung und Physik betrieben wurde.

Solche Auslassungen und Verknappungen bergen die Gefahr, dass das, was dann dargestellt wird, wie eine lineare und triviale Erfolgsgeschichte der Physik wirken könnte. Dem hoffe ich entgegenwirken zu können u.a. durch die Verwendung von Begriffen wie «Motiv» und «Variation», die allgemeine Abwandlungen, aber nicht notwendigerweise fortlaufende Verbesserungen benennen. Bezeichnend sind in diesem Zusammenhang diejenigen nachfolgenden historischen Beispiele, bei denen neue physikalische Konzepte zunächst eingeführt, dann verworfen und später in ganz anderen Kontexten wieder aufgegriffen werden.

Eine weitere Schwierigkeit, gerade wenn man über eine der am stärksten formalisierten Wissenschaften schreibt, ist die Technikalität der Darstellung – oder, grob gesagt, die Frage: Wie viele Formeln dürfen im Text vorkommen? Im Haupttext kommen sehr wenige formale Ausdrücke vor, und diejenigen, die vorkommen, dienen allein der Illustration und übersteigen nie übliches Schulniveau. Da das Hauptaugenmerk dieser Einführung auf allgemeinen erkenntnistheoretischen Merkmalen und deren historischer Entwicklung liegt, erschien mir eine solch untechnische Darstellungsweise sinnvoll. – Für mathematisch und physikalisch stärker vorgebildete Leser habe ich zu einigen Stellen am Ende Anmerkungen ergänzt, um die formalen Bezüge jeweils etwas zu präzisieren. Für das allgemeine Verständnis des Haupttextes sind diese aber nicht relevant.

Hendrik Adorf, Timon Böhm, Hans Günter Dosch, Pascal Germann, Michael Hampe, Urs Hofer, Samuel Lang, Eckehard Mielke, Robert Prentner und Martin Schüle haben frühere Fassungen dieser Einführung gelesen und viele wertvolle Hinweise und Anregungen gegeben. Ich danke ihnen sehr herzlich.

Einleitung

Wie «funktioniert» eigentlich Physik bzw. physikalische Erkenntnis, und wie hat sie sich historisch entwickelt? Was zählt als gute Erklärung in der Physik? Wie hängen verschiedene Erklärungen (Modelle, Theorien) zusammen, wie hat sich das über die Jahrhunderte geändert, und was ist – mehr oder weniger – unverändert geblieben? Das sind die zentralen Fragen, denen dieser Band gewidmet ist und zu denen er einen kurzen Ein- und Überblick geben soll.

Auch wenn diese Fragen selbst philosophische sind, muss sich ihre Beantwortung doch eng am tatsächlichen «Tagesgeschäft» und an der Geschichte der Physik orientieren. Das unterscheidet die vorliegende Einführung von diversen anderen, in denen oft entweder eher innerphilosophische Fragestellungen im Vordergrund stehen (Begriff des Naturgesetzes, Status der Raumzeit u.ä.) oder auch die populäre Darstellung moderner physikalischer Theorien, insbesondere der Relativitätstheorie und Quantenmechanik.

Forschungsgegenstand der Physik

Wie sich im Folgenden zeigen wird, ist die Physik erkenntnistheoretisch in ihrer geschichtlichen Entwicklung stärker durch allgemeine Methoden und Erklärungsstrategien geprägt als durch konkrete Inhalte. Um das zeigen zu können und eben besser zu verstehen, wie Physik in diesem Sinne «funktioniert», ist es sinnvoll, mit einer Arbeitshypothese über den Untersuchungsgegenstand der Physik zu beginnen – auch wenn es schwerfällt, eine allgemeine und für alle verbindliche Antwort auf die Frage, womit sich «die Physiker» beschäftigen, zu geben. Denn die Breite physikalischer Subdisziplinen reicht von der Elementarteilchen-, über Tieftemperatur- und Festkörper- bis hin zur Medizinphysik; von der Quantengravitation über die Quantenoptik bis zur Theorie komplexer Systeme usw.

Für die Zwecke dieses Buches wird die Physik aufgefasst als diejenige Wissenschaft, die den grundlegenden Aufbau (die Struktur und Zusammensetzung) und das Verhalten (die Wechselwirkung) von Materie untersucht. Dabei ist der Materiebegriff selbst allerdings bis zu einem gewissen Grade offen bzw. unterstand und untersteht einem historischen Wandel.

Der Annahme, die Physik untersuche möglichst allgemein die Bestandteile materieller Objekte und die zwischen ihnen wirkenden Kräfte, wird wohl ein Großteil der heutigen Physiker folgen können – auch wenn diese Annahme sicherlich eher auf die Teilchenphysik passt als etwa auf die Medizin- oder Biophysik.

An dieser Annahme orientiert sich ab nun die Beantwortung der eingangs gestellten Fragen. Insbesondere eröffnet sie einen weiten Horizont über die historische Entwicklung der Physik. Denn, salopp formuliert, hatte es weder Aristoteles noch Newton mit spezifischen Fragen der Tieftemperaturphysik oder Quantenoptik zu tun, wohl aber mit aus ihrer Sicht jeweils grundlegenden Fragen des Aufbaus, der Struktur und des Verhaltens von Materie.

Zugegeben: Ginge es allein um das historische Alter von Theorien, so müsste man sicherlich mit Fragestellungen zu den Himmelsbewegungen beginnen. Allerdings – das wird hoffentlich im Verlauf der nachfolgenden Kapitel deutlich werden – würde sich von dort aus nur schwerlich eine Perspektive entwickeln lassen, die die gesamte erkenntnistheoretische Breite der modernen Physik in ähnlicher Weise abdeckt.

Themen und Motive dieses Buches

Es gibt einige zentrale erkenntnistheoretische Merkmale, die sich durch die gesamte Disziplingeschichte der Physik ziehen und um die es in den folgenden Kapiteln gehen wird.

Da ist zum einen die Mathematisierung, die historisch immer mehr zugenommen hat und die eng verknüpft ist mit dem Bedürfnis, eine Wissenschaft zu etablieren, die sich erfolgreich an die Empirie anschließt. Zunächst werden vor allem Alltagserfahrungen qualitativ beschrieben, dann aber auf der Grundlage gezielter Beobachtungen und Experimente immer mehr Phänomene auch quantitativ zunehmend präzise gefasst und erfolgreich vorhergesagt. Zugleich ist diese Mathematisierung verbunden mit einem eigentümlichen Wandel, den die Rolle der Anschauung oder Anschaulichkeit und den auch der Begriff der Kausalität im Laufe seiner Geschichte innerhalb der Physik durchlaufen hat.

Zum anderen gibt es auch konkretere Merkmale bei den Beschreibungen des Aufbaus und des Verhaltens der Materie, die sich ebenfalls durch die gesamte Disziplingeschichte ziehen. Es sind dies insbesondere die bereits erwähnten Erklärungsstrategien. So wird beispielsweise seit der Antike auf Symmetrieprinzipien zurückgegriffen; es wird der Aufbau der Materie aus einfachsten Bestandteilen und über Ganzes-Teil-Relationen erklärt; und es gibt seither eine Tradition, die versucht, die gesamte Physik geradezu zu einer Teildisziplin der Geometrie zu machen.

In Anlehnung an die Musik lässt es sich bei diesen Merkmalen von «Motiven» sprechen, da sie zwar immer wieder, aber doch in jeweils leicht veränderter Form – also in «Variationen» – auftreten. So können die physikalischen Theorien von Platon, Descartes und Einstein nicht formal eins zu eins aufeinander abgebildet werden, gleichen einander aber dennoch in wichtigen Aspekten ihrer Erkenntnisziele und Erklärungsstrategien. Die Mathematisierung selbst kann ebenfalls als ein «Motiv» begriffen werden. Trotz eines allgemeinen Trends hin zu immer größerer Formalisierung gibt es nämlich kein konkretes und einheitliches mathematisches Kalkül, auf das die Physik als Ganzes seit Jahrhunderten zusteuern würde. Auch hier wird «variiert».

Zum Begriff «Erklärungsstrategie» ist noch anzumerken, dass damit nicht notwendig ein bewusstes oder reflektiertes Verfolgen einer bestimmten Methode oder Zielsetzung des Erklärens gemeint ist. Man kann Strategien durchaus unbewusst verfolgen – ähnlich wie man von einem Rudel Wölfe bei der Jagd sagen mag, sie verfolgten (unbewusst) eine Strategie. Bemerkenswert ist allerdings, wie stark und schnell sozusagen der «Jagderfolg» durch eine Bewusstwerdung von Strategien ansteigen kann. Wie sich zeigen wird, rührt die beeindruckende und beschleunigte Entwicklung der Physik seit der Frühen Neuzeit vielleicht auch daher, dass den Forschenden selbst die Möglichkeiten bestimmter Erklärungsstrategien und auch der Mathematisierung zusehends bewusst wurden und von ihnen somit präziser und pointierter eingesetzt und angewandt werden konnten.

Alle genannten erkenntnistheoretischen Motive werden unten in Teil II genauer dargestellt und daran anschließend Fragen nach der Einheit und Einheitlichkeit der Physik behandelt. Denn wenn es tatsächlich solch allgemeine Merkmale gibt, so die naheliegende Frage, sind dann die verschiedenen grundlegenden Theorien der Physik nicht auch inhaltlich miteinander verbunden? Lassen sich Quantenmechanik, Elektrodynamik, Relativitätstheorie, Thermodynamik usw. zu einem einheitlichen Theoriegebäude zusammenschließen, in dem man mathematisch exakt von einer Theorie zur anderen übergehen kann, in dem sich die eine Theorie auf die andere zurückführen lässt?

Der bereits erwähnte Anschluss an die Empirie wird ebenfalls genauer und systematischer zu betrachten sein. Denn auch die Rolle des Experiments und die Bedeutung von Vorhersagen haben sich historisch stark gewandelt.

Ganz am Schluss wird dann diskutiert werden, inwiefern all diese Motive Besonderheiten der Physik sind und dazu taugen, die Physik von anderen Wissenschaften abzugrenzen.

Doch um all das herausarbeiten zu können, benötigt man ein gewisses Ausgangsmaterial, eine «Datenbasis». Deshalb gibt Teil I zunächst einen Überblick über die Geschichte der Physik. Das geschieht allerdings immer schon mit Blick auf die Motive, um die es anschließend gehen soll. Auch wird die eben genannte Annahme vorausgesetzt, die Physik habe es mit der grundlegenden Struktur und dem Verhalten von Materie zu tun. Nicht zuletzt daran liegt es dann auch, wenn im Folgenden die Anfänge der Physik zurückdatiert werden ins antike Griechenland, und zwar in die Zeit der Vorsokratik und zum Ursprung des Wortes «Physik» selbst.

Teil I:
Wichtige Stationen in der Geschichte der Physik

Dieser erste, historische Teil skizziert einige, aus heutiger Sicht wichtige Stationen in der Geschichte der Physik. Der Fokus der Darstellung liegt dabei auf der Antike, der Frühen Neuzeit sowie dem 19. und 20. Jahrhundert. Vor dem Hintergrund der erkenntnistheoretischen Fragestellungen, die in Teil II behandelt werden, erweisen sich diese drei Epochen als besonders prägend für die Physik: die Antike, weil die Erklärungsstrategien, die auch in der heutigen Physik wichtig und gebräuchlich sind, dort bereits auftreten; die Frühe Neuzeit, weil sie die Gestalt der modernen Physik insbesondere durch ihre Mathematisierung nachhaltig geprägt hat; und die vergangenen gut 150 Jahre, weil sich durch sie der Realitätsbezug und die Frage der Anschaulichkeit physikalischer Theorien sehr stark verändert haben.

1. Antike: Anfänge physikalischen Erklärens

«Vom Mythos zum Logos»

Die abendländische Geistesgeschichte in der Zeit zwischen ca. 600 und 350 vor Christus wird oft beschrieben als eine Zeit des Übergangs «vom Mythos zum Logos».

Das griechische Wort lógos, von dem sich u.a. der heutige Begriff «Logik» ableitet, entspricht dem Lateinischen ratio und bedeutet ursprünglich so viel wie «Lehre», «Vernunft», «Begriff». Mit dem Ausdruck «vom Mythos zum Logos» ist dementsprechend eine Entwicklung im antiken Griechenland gemeint, bei der Alltags- und Naturphänomene mehr und mehr «rational» erklärt wurden, statt in Mythen und göttlichen Abstammungsgeschichten etwas über sie zu erzählen.

Die Protagonisten dieser frühen Entwicklung werden in der Literatur als «Vorsokratiker» bezeichnet, wobei sich dieser Ausdruck allein auf den Zeitraum ihres Schaffens bezieht, und selbst das nur grob (Sokrates starb 399 v. Chr.). Inhaltlich sind sie eher als «Naturphilosophen» zu beschreiben. Phänomene wie Blitze, Erdbeben und Regenbögen wurden von ihnen nicht mehr, oder zumindest nicht mehr vornehmlich, als Äußerungen oder Erscheinungen einzelner menschenähnlicher Götter aufgefasst. Stattdessen entwickelten sich aus ihren Beschreibungen im Laufe der Zeit erste stabile wissenschaftliche Begriffe.

Was bei dieser Entwicklung «vom Mythos zum Logos» vielleicht noch wichtiger war als die jeweils konkrete Abkehr von einer bestimmten Göttin oder einem Gott als Erklärung für dieses oder jenes Naturphänomen, war die Entstehung von etwas, das man heute als «wissenschaftlichen Diskurs» bezeichnen würde. Die neuen, rationalen Erklärungen machten es möglich bzw. erforderten es, auf die jeweiligen Vorgänger und deren Erklärungsansätze zu reagieren. Bei Mythen war eine solche Reaktion nicht im gleichen Maße gefordert. Vereinfacht gesagt, konnte man einfach «eine andere Geschichte» erzählen und musste diese nicht zu anderen Mythen in direkte Verbindung setzen. Mythische Erzählungen widersprechen sich in diesem Sinne nicht, rationale Erklärungen dagegen schon. Kommt man hier zu einer anderen Erklärung eines Phänomens als sein Vorgänger oder Zeitgenosse, so muss man seine Position – «rational» – begründen.

Es kam dementsprechend zunehmend zu Auseinandersetzungen darüber, wie die Natur möglichst adäquat und in systematischer Weise zu beschreiben sei. Und so konnte sich in der Folge ein kulturelles Unternehmen ausbilden, das wir heute als Physik bezeichnen und mit dessen Hilfe wir mittlerweile verschiedenste Naturphänomene auch quantitativ sehr genau beschreiben und vorhersagen können.

phýsis als begriffliche Wurzel der Physik

Die Vorsokratiker haben sich mit Naturphänomenen aller Art auseinandergesetzt. Eine Trennung in verschiedene naturwissenschaftliche Subdisziplinen, so wie man heute zwischen Physik, Chemie, Biologie usw. unterscheidet, gab es nicht. Selbst zwischen theoretischen und ethischen Fragestellungen über die Natur wurde nicht getrennt.

Warum es solche Trennungen nicht gab – bzw. warum es sie in gewisser Weise gar nicht geben konnte –, verdeutlicht ein kurzer Blick auf das altgriechische Wort phýsis, das allgemein mit «Natur» übersetzt wird und von dem sich unser heutiger Begriff «Physik» ableitet.

Die älteste überlieferte Verwendung des Wortes phýsis findet sich im zehnten Buch der Odyssee von Homer. Hier reißt der Gott Hermes eine Pflanze aus dem Boden und zeigt Odysseus deren phýsis, und dabei insbesondere ihre schwarze Wurzel und milchfarbene Blüte. D.h., was er ihm zeigt, ist der Aufbau der Pflanze; genauer: Er zeigt, wie sie gewachsen ist. Das Verb phýein, von dem sich phýsis ableitet, bedeutet nämlich so viel wie «wachsen», «hervortreiben».

Die ursprünglichen Assoziationen, die mit dem Wort phýsis einhergehen, sind also aus heutiger Perspektive eher biologische als physikalische. Man merkt dies noch am Begriff des «Physiologen», der der Wortbedeutung nach denjenigen meint, der sich mit der Lehre von der phýsis beschäftigt. So bezeichnet Aristoteles die vorsokratischen Naturphilosophen als «Physiologen», während wir heute dieses Wort nicht mehr allgemein auf Naturwissenschaftler beziehen, sondern nur auf Vertreter einer bestimmten biologischen bzw. medizinischen Fachrichtung.

Die Natur im Sinne der phýsis ist also zunächst das, was gewachsen ist, was einen bestimmten Aufbau hat und sich von dorther verstehen lässt. Dabei wird die Natur nicht als ein bloßes Objekt verstanden, sondern als eine lebendig handelnde Einheit oder ein allgemeines Prinzip des Entstehens und Vergehens.

Mit dem Untersuchungsgegenstand der Physik, wie er in der Einleitung eingeführt wurde, trifft sich dieser Begriff der phýsis also insofern, dass es in beiden Fällen um den Aufbau und die Struktur der uns umgebenden Natur geht. Dabei werden Aufbau und Struktur als prinzipiengeleitet angenommen. Dementsprechend hielten die vorsokratischen Naturphilosophen Ausschau nach «allgemeinen Gesetzmäßigkeiten» in der Natur, mit denen sie die althergebrachten mythischen Erklärungen, die auf einzelne Handlungen der Götter Bezug nahmen, in immer größerem Maße ersetzen konnten.

Hierbei machte es für die Vorsokratiker keinen entscheidenden Unterschied, ob es sich bei der betrachteten Natur um belebte oder unbelebte Materie handelte, um organische Lebewesen oder «tote» physikalische Objekte. Sie behandelten beispielsweise die Entstehung des Weltalls und atmosphärischer Phänomene ebenso wie die des Lebens. Denn in allen Fällen ging es ja um die phýsis, um die jeweils spezifische Zusammensetzung, die typische «Eigenwüchsigkeit» des Betrachteten.

Nach diesem kurzen Abriss zum allgemeinen geistes- und begriffsgeschichtlichen Hintergrund kann nun zur inhaltlichen Darstellung einiger vorsokratischer und dann auch klassischer griechischer Autoren übergegangen werden. Dabei geht es nicht darum, diese möglichst umfassend und in ihrem historischen Kontext adäquat zu präsentieren. Vielmehr ist an dieser Stelle relevant, inwiefern ihre Ansätze und Einsichten als richtungsweisend aufgefasst werden können für die weitere Entwicklung der Physik.

Elementarismus: Thales, Anaximenes, Empedokles, Demokrit

Als erster Vorsokratiker und somit ältester Naturphilosoph gilt Thales, der von ca. 624 bis 547 v. Chr. in Milet lebte, einer kleinasiatischen Stadt an der Mittelmeerküste der heutigen Türkei. Eine Schrift oder auch wörtliche Zitate von ihm sind leider nicht erhalten, aber wiederholt wird ihm von anderen antiken Autoren folgende Behauptung zugeschrieben: Der Ursprung von allem sei Wasser. Eine befriedigende Interpretation dieser knappen und allgemeinen Behauptung ist sehr schwierig, aber zunächst einmal darf man sie wohl wie folgt verstehen: Naturerscheinungen können ihrer phýsis nach – also ihrem Entstehen und ihrer «Eigenwüchsigkeit» nach – als Wasser oder irgendwie als «wässrig» angesprochen und verstanden werden. Und dies soll nicht nur für das Mittelmeer, einen See oder den Inhalt einer Amphore gelten, sondern irgendwie auch für einen Fels, einen Baum oder einen Menschen.

Tatsächlich ist diese Behauptung gar nicht so abwegig, wie sie zunächst erscheinen mag; insbesondere wenn man sich zwei Naturphänomene vor Augen hält, die Thales sicherlich bekannt und die für die Menschen seiner Region besonders relevant waren.

Das eine waren die alljährlichen Überschwemmungen der Flussdeltas, nach denen aus vermeintlich totem und vertrocknetem Schlamm plötzlich wieder Leben emporwuchs und entstand. Insofern war die Bedeutung von Wasser für die Natur im biologischen Sinne und insbesondere für die Entstehung von Leben offensichtlich. Nichts kann ohne Wasser wachsen und gedeihen; mehr noch: Wasser scheint Leben aus dem Nichts erschaffen zu können.

Das andere Phänomen waren Vulkanausbrüche, bei denen aus flüssiger Lava neues Gestein wurde und somit auch neue Landmassen entstehen konnten. Hier geht es zwar nicht um Wasser im engeren Sinne, also nicht um das, was wir heute chemisch mit H2O bezeichnen, wohl aber geht es um etwas, das in flüssiger Form vorliegt. Für Thales, so mag man spekulieren, waren die Landmassen in ähnlicher Weise durch Erstarrung von etwas Flüssigem entstanden, wie Wasser zu Eis werden kann. Das passt zudem auch zu Thales’ Annahmen, die Erde schwimme auf dem Wasser und Erdbeben entstünden als Folgen von Unruhen und Bewegungen in diesem Wasser.

Für Thales können also letztlich alle Naturobjekte mit dem Wort «Wasser» (hýdor) bezeichnet oder angesprochen werden; alles ist irgendwie aus dem Wasser – oder besser: aus dem Flüssigen – hervorgegangen, ist also seiner Natur, seiner «Eigenwüchsigkeit» nach flüssig.

Vor dem Hintergrund allgemeiner physikalischer Erklärungsstrategien, um die es hier gehen soll, ist das Entscheidende an dieser Annahme, dass sie allen natürlichen Gegenständen den gleichen materiellen Ursprung zuordnet. Noch ist das zwar weit entfernt von der modernen Annahme, wonach einige wenige Typen von Elementarteilchen existieren, aus denen dann alles aufgebaut ist. Aber der Weg dorthin scheint durch Thales’ Behauptung doch zumindest der Möglichkeit nach angelegt.

Rund zwei Generationen nach Thales und ebenfalls in Milet lebte Anaximenes (ca. 585–525 v. Chr.). Er behauptete, der Ursprung von allem sei Luft. Das griechische Wort, das er verwendet, ist aér und meint genauer die feuchte Luft oder den Dunst. Außerdem liefert Anaximenes einen Ansatz, um die Übergänge zwischen verschiedenen Erscheinungsformen der Materie zu erklären. Wasser, so Anaximenes, entstehe durch das Verdichten von Luft (Dunst), Erde durch dessen noch weitere Verdichtung, und Feuer entstehe aus der Verdünnung von Luft (Dunst). Dabei gehe das Verdichten immer mit einer Abkühlung einher und das Verdünnen mit einer Erwärmung.