Von der Antike
bis zur Gegenwart
Verlag C.H.Beck
Istanbul, das alte Konstantinopel, gehört wie Rom oder Jerusalem zu den ältesten Metropolen der Welt. Die Hauptstadt dreier Großreiche – des Oströmischen, des Byzantinischen und des Osmanischen – konnte auch nach der Verlegung der Regierung nach Ankara ihre kulturelle und wirtschaftliche Vorrangstellung behaupten. Klaus Kreiser beschreibt die Entwicklung der Stadt am Bosporus von der frühesten Besiedlung bis heute. Damit liegt erstmals ein Überblick über die gesamte Geschichte der Stadt vor.
Klaus Kreiser, geb. 1945, Professor em. für Turkologie an der Universität Bamberg, gehört zu den besten Kennern der Geschichte Istanbuls. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. «Istanbul. Ein historischer Stadtführer» (2013) sowie «Atatürk. Eine Biographie» (2. Aufl. 2014).
Vorwort
1. Eine Stadt mit vielen Gesichtern
Eine unvergleichliche Lage
Byzantion, Konstantinopel, Istanbul und andere Namen
Vorgeschichtliche Funde und Befunde
2. Von Byzantion bis Konstantin XI.
Griechen und Römer
Die Gründung Konstantinopels
Der Ausbau unter Theodosius I. und seinen Nachfolgern (379–527)
Überfluss und Mangel: Konstantinopel unter Justinian
Die Bedrohung durch Awaren und Araber
Blütezeit in jeder Hinsicht
Die Kreuzfahrer in der Stadt
Die letzten Tage von Byzanz
Die osmanische Eroberung 1453
3. Zentrum eines islamischen Imperiums (1453–1789)
Die Verwandlung in eine islamische Stadt
Süleymân der Prächtige: ein glanzvoller Höhepunkt
Die Stadt als Bühne im 16. und 17. Jahrhundert
Die Janitscharen: Revolten, keine Revolutionen
4. Die Bewohner und ihr Umfeld
Die Bevölkerung in byzantinischer und osmanischer Zeit
Verkehrsmittel und Verkehrswege
Vom Hippodrom zum At Meydanı
Wasserversorgung, Bäder, Wohnhäuser
Die Sichtbarkeit der Religionen
5. Das lange osmanische Jahrhundert (1789–1923)
Militärreformen unter Selîm III. und Mahmûd II.
Die Zeit der wohltätigen Verordnungen (1839–1876)
Abdülhamîd II. und das Regime von Yıldız
«Revolution» und «Konterrevolution»
Kaffeehäuser und Zeitungleser
Von den Balkankriegen bis zum Ende des Weltkriegs (1912–1918)
Die Verwestlichung des Stadtbildes
6. Megalopolis ohne Hauptstadtfunktion (seit 1923)
Istanbul unter alliierter Besatzung
Ankara wird zur Hauptstadt
Der Zweite Weltkrieg und das Menderes-Jahrzehnt (1938–1960)
Politische Polarisierung
Die Veränderung des Stadtbildes
Gecekondus und Asphaltierung
Das kulturelle Leben
Rückblick und Ausblick
Anhang
Zeittafel
Literaturhinweise
Die Geschichte Istanbuls in der griechisch-römischen Antike, in der tausendjährigen byzantinischen Epoche, als Hauptstadt des Osmanischen Reiches zwischen 1453 und 1923 und als moderne Metropole hat zahllose Forscher und Liebhaber beschäftigt. Istanbuls grenzenlose Vielfalt in Zeit und Raum auf wenigen Seiten zu erfassen, ist eine Aufgabe, der man sich vielleicht nur deshalb stellt, weil die alte Stadt und ihre modernen Besucher einen Anspruch darauf haben. Natürlich drängt sich auch die Frage auf, welche Gemeinsamkeiten das über 12 Millionen Einwohner zählende moderne Istanbul mit der römisch-byzantinisch-osmanischen Vorgängerstadt hat, abgesehen von der geografischen Lage. Der Bürgermeister von Groß-Istanbul trägt heute für mehr Menschen Verantwortung als Kaiser und Sultane in bestimmten Epochen Untertanen in ihren Reichen hatten.
Istanbul konnte sich als Mittelpunkt dreier Imperien – des Oströmischen, des Byzantinischen und des Osmanischen – behaupten, weil der Stadt mit wechselndem Glück die Ressourcen so reicher Provinzen wie Ägypten und der Schwarzmeerländer zu Gebote standen; die Früchte der Ägäis waren für Händler nur wenige Tage zu Schiff entfernt; die Reichtümer Thrakiens und Anatoliens trafen mit Kamelkarawanen ein.
Viele Bewohner Istanbuls haben über Jahrhunderte die natürliche Schönheit ihrer Hügel und Hänge, Küsten und Inseln durch Paläste und Gärten, Kirchen und Moscheen gesteigert, aber auch seit mindestens einem Jahrhundert alles getan, um das Gesicht dieser Stadt zu beschädigen. Die Planer schlugen bulvars durch gewachsene Quartiere, die Neureichen zerstörten mit ihren gesichtslosen Villen die Bosporushänge, während sich die Squatter des Staatslands bemächtigten, um über Nacht einfache Häuser zu errichten.
Gleichwohl gibt es gegenläufige Tendenzen, die hoffen lassen. An sämtlichen Ufern sind öffentliche Parks entstanden, die Qualität des Wassers im Goldenen Horn ist viel besser als vor Jahrzehnten und der Sinn für Baudenkmäler aus allen Epochen hat zugenommen. Der Bürgermeister bilanziert nicht nur die Tonnen von Abfall, die er täglich abtransportieren lässt, sondern auch die 36 Millionen Tulpen, das Symbol der Stadt, die er in fünf Jahren hat pflanzen lassen.
Das Wort des Schriftstellers Ahmed Hamdi Tanpınar: «Solange wir Istanbul nicht kennen, wissen wir auch nichts von uns» war zwar um 1935 an ein kulturell verunsichertes türkisches Publikum gerichtet, hat inzwischen aber vielleicht auch Geltung für eine europäische Leserschaft, für die Istanbul schneller auf dem Flugweg erreichbar ist als die Innenstadt für die Bewohner mancher asiatischer und europäischer Stadtteile – jedenfalls bis zur Inbetriebnahme des neuen Schnellbahnsystems Marmaray im Jahr 2011.
Ich hoffe, die Grundlinien der geschichtlichen Entwicklung festgehalten zu haben, gleichzeitig aber auch Kennern Neues zu bieten. Dieses kleine Buch konnte nicht entstehen ohne den kritischen Rat von Freunden und Kollegen aus verschiedenen Fachbereichen, denen ich an dieser Stelle danken möchte: Jürgen Seeher und Akşin Somel (Istanbul), Maurus Reinkowski (Freiburg i. Br.) und insbesondere Günter Prinzing (Mainz).
Berlin, im November 2009 |
Klaus Kreiser |
Istanbuls unvergleichliche Lage hat viele Generationen seiner Bewohner und ungezählte Besucher durch alle Jahrhunderte entzückt. Die Silhouette der mit ihrer Ostspitze (Sarayburnu) in den Bosporus ragenden Halbinsel (heute gerne «Historische Altstadt» genannt), nach römischem Vorbild angeblich auf sieben Hügel verteilt, wurde immer wieder gezeichnet, gemalt und fotografiert. Galata auf der anderen Seite des Goldenen Horns hatte seit dem 14. Jahrhundert mit seinem Genueserturm einen markanten Mittelpunkt. Innerhalb der Altstadt sind die Höhenunterschiede gering, erlauben und erlaubten aber von vielen Punkten prachtvolle Ausblicke. Mitte des 16. Jahrhundert versetzte sich Pierre Gilles (siehe S. 57) in die Lage des Großherrn: «Wenn er in den Gärten oder Gebäuden [des Serails] lustwandelt, erblickt er vor sich den Bosporus und seine beiden begrünten Ufer und die Wälder der Landgüter vor der Stadt. Rechts sieht er das ausgedehnte Feld von Chalcedon [Kadıköy], das mit seinen eigenen Gärten bepflanzt ist; er sieht die Propontis [das Marmarameer] mit ihren zahlreichen Inseln und die bewaldeten Berge von Asien. Wenn er in die Ferne schaut, erblickt er den stets schneebedeckten asiatischen Olympos [Uludağ], aus der Nähe sieht er vor sich den namhaftesten Teil seiner eigenen Stadt, den Tempel der Sophia und das Hippodrom. Wirft er seinen Blick nach links, sieht er die sechs [übrigen] Hügel der Stadt und noch weiter weg die unermesslichen, ausgedehnten Ebenen von Thrakien.»
Pierre Gilles war der erste westliche Autor, der von sieben Hügeln als geografischem Bezugsrahmen für die Beschreibung der Stadt sprach. Tatsächlich lassen sich sechs Erhebungen auf dem Rücken zwischen der Akropolis bzw. dem Topkapı-Serail und dem Edirnekapı mit der Mihrimâh-Moschee ausmachen. Der siebte Hügel ist der durch den Lykosbach getrennte Xerolophos («Trockener Hügel») im Südwesten beim Arkadius-Forum/Avrettaşı. Der zweite Hügel mit dem Konstantin-Forum war Mittelpunkt der antiken und byzantinischen Stadt, der dritte Hügel wurde mit dem Forum des Theodosius (Beyazıt-Platz) ausgestaltet. Auf dem höchsten Stadthügel wurde das Mausoleum bzw. die Apostelkirche Konstantins des Großen angelegt.
Der 262 Meter hohe Çamlıca auf der asiatischen Seite ist ein idealer Aussichtsberg, um ein noch größeres Panorama zu betrachten, das von den Prinzeninseln im Süden bis zur 1973 fertig gestellten ersten Bosporusbrücke reicht. Von hier aus ist die ganze Skyline mit den Wolkenkratzern zu erkennen, die inzwischen viele nördliche Stadtteile beherrschen. Im Osten des Gebiets von Groß-Istanbul erheben sich, vielfach vom Siedlungsbrei erfasst, am Rande des Industriegürtels der Alem Dağı (442 Meter) und der Aydos Dağı (537 Meter), kleine Berge, die noch im frühen 20. Jahrhundert beliebte Jagdgebiete waren. Die 100 bis 150 Meter hohen Hangzonen des 31,7 Kilometer langen und bei Büyükdere bis zu 3,3 Kilometer breiten Bosporus waren Voraussetzung für die Entstehung einer Kulturlandschaft, die in den osmanischen Jahrhunderten aus isolierten Fischerdörfern die Kulisse eines Canale Grande hat werden lassen. Eine Satellitenkarte zeigt eindrucksvoll den Gegensatz zwischen den dicht besiedelten Wohn- und Industriegebieten, die nur zögerlich entflochten werden, und den Schutzwaldzonen mit seinen Trinkwasserreservoirs im Norden beider Stadthälften.
Durch die Lage Istanbuls am Rand des subtropischen Marmarabeckens treffen sich mediterrane und pontische Einflüsse. Dieses «Sonderklima» beschert der Stadt manchmal reichliche Sommerniederschläge, doch können auch ausgedehnte Trockenperioden auftreten. Die durchschnittlichen Jahresniederschlagswerte von 691,4 Millimeter liegen deutlich höher als etwa die von Ankara (367,0 Millimeter). Für den Wasserbedarf einer großen Stadt reichten diese Niederschlagsmengen freilich ohne den Bau von Fernwasserleitungen zu keiner Zeit aus.
Die mittlere Jahrestemperatur beträgt 13,7 °C, wobei die Mittelwerte im Januar bei 5° und im Juli bei 24 °C liegen. Die Temperatur des Meeres erreicht im Jahresdurchschnitt 14,9 °C und steigt in den Sommermonaten Mai bis September etwas über 20 °C. Mehrfach berichten die Chronisten in byzantinischer (zwischen dem 8. und 13. Jahrhundert) und osmanischer Zeit (1621, 1751, 1849) vom Zufrieren des Goldenen Horns und des Bosporus. Der Bosporus war aber schon wegen seiner starken Strömung kaum je ganz mit Eis bedeckt. Wahrscheinlich handelt es sich in den Berichten (z.B. aus den Jahren 764 und 928) eher um dichtes Treibeis aus dem Schwarzen Meer. Katastrophale Schneefälle werden selten erwähnt. Seit dem Beginn meteorologischer Aufzeichnungen (ca. 1850) werden im Durchschnitt zwischen 3 und 11 Schneetage im Jahr gezählt. Immer wieder ist zudem von Starkregen mit oft verheerenden Folgen für die Häuser in Hanglagen oder an überbauten Bachläufen (zuletzt im September 2009) die Rede.
Das Goldene Horn, das ursprünglich etwa die doppelte Länge hatte, kennt kaum Strömungen, da es vor Nord- und Südwinden gleichermaßen durch die Hügel der Stadt geschützt ist. Die Wind- und Strömungsverhältnisse in den Dardanellen erschwerten hingegen die Einfahrt der Segelschiffe ins Marmarameer auch im Sommer. Vor dem Aufkommen größerer Wasserfahrzeuge im späten 13. Jahrhundert herrschte in den Häfen Winterruhe. Obwohl sich kontinentale Kaltluft vom Balkan im Winter unangenehm bemerkbar macht, gedeihen in der Stadt Olivenbäume; der Name der Teilstadt Zeytinburnu («Olivenkap») erinnert daran. Ebenso eignet sich die Stadt für den Weinbau, über den es einige Berichte aus byzantinischer Zeit gibt.
Die Istanbuler Bevölkerung hatte ein feines Gespür für den Jahresablauf der Witterung und die wechselnden Windrichtungen. Die alten Namen für den vorherrschenden Nordostwind (boreas aus griech. poyraz) und den im Sommer aus Nordwesten wehenden Landwind (meltem aus roman. maltempo?) sind noch heute geläufig. Das Auftreten bestimmter Fischsorten (lüfer, «Blaubarsch») im Bosporus in den Teşrinler (den Monaten Oktober und November) und das Erblühen des Judasbaums (erguvan) im April sind feste Daten in einem Jahreskalender, der unabhängig von vielen konkurrierenden religiösen und säkularen Zeitrechnungen den Rhythmus der Istanbuler in allen Epochen bestimmte.
In byzantinischer und osmanischer Zeit war der saisonale Wechsel zwischen Sommer- und Winterresidenz fester Bestandteil des höfischen Lebens. Die Kaiser und Sultane hatten ausgedehnte Parks als Rückzugsorte. Alexius III. (1195–1203) besaß einen von den Kreuzfahrern staunend betrachteten Palast in Chalcedon gegenüber von Konstantinopel. Sultan Süleymân I. (1520–1566) ließ ebenfalls auf der asiatischen Seite das Kavak Sarayı bauen, das mit seinen Pavillons und Türmen ein verkleinertes Ebenbild des Topkapı-Serails war.
Das ursprüngliche Relief Istanbuls wurde und wird durch Bauwerke auf Substruktionen (Hippodrom, Foren, Moscheen, moderne Straßenbauten) stark verändert. Auch die Küstenlinien erfuhren durch die Anlage von Häfen und durch ihre zum Teil künstliche Wiederauffüllung eine mehrfache Verschiebung. Die ins Goldene Horn mündenden Wasserläufe von Alibey und Kağıthane sind kaum mehr zu erkennen. Der Lykosbach/Yenibahçe als einziger innerstädtischer «Fluss» war bis Anfang des 20. Jahrhunderts noch oberhalb der Fenari İsa Camii (Lips-Kloster) auf Karten eingetragen, heute läuft er durch den Kulturschutt unsichtbar auf den ehemaligen Theodosius-Hafen am Marmarameer zu.
Zu den von den Historikern und Geographen immer wieder hervorgehobenen «Gunstfaktoren» Istanbuls gehört vor allem die Lage an der Landbrücke zwischen Südosteuropa und Kleinasien, die hier von wichtigen nord-südlichen Schifffahrtsrouten gekreuzt wird. Strategische Vorteile waren damit nicht unbedingt verbunden, ist doch sowohl das thrakische als auch das bithynische Vorland auf beiden Seiten des Bosporus weithin flach und trocken und konnte von feindlichen Heeren verhältnismäßig rasch besetzt werden. Zudem machte das Fehlen von leicht nutzbaren Grund- und Oberflächenwasservorkommen den aufwendigen Bau und Unterhalt von Fernwasserleitungen und Zisternen erforderlich. Darüber hinaus wurde die ost-westlich verlaufende nordanatolische Erdbebennaht für Istanbul viele Dutzende Male zum Verhängnis. Beim Marmara-Erdbeben von 1999, dessen Epizentren bis zu 120 Kilometer vom Westen Istanbuls entfernt lagen, wurde noch der Stadtteil Avcılar erfasst. 978 Menschen fanden dort in unsicheren Wohnblöcken den Tod. Der nur eingeschränkt kontrollierbare Verkehr auf dem vielfach gewundenen Bosporus, der an seiner engsten Stelle bei Rumeli Hisarı nur 350 Meter breit ist, bildet eine latente Gefährdung der Anrainer.
Die geographische Lage aber ist es auch, welche die Megacity mit knapp 12 Millionen registrierten Einwohnern im Jahr 2008 trotz aller negativer Folgen für einen großen Teil der Istanbuler bewohnbar macht. Stadt und Provinz Istanbul bilden heute einen Metropolbereich von 5342 Qua drat kilo metern, der mehr als doppelt so groß wie das Saarland ist und dessen Außengrenzen auf der europäischen Seite etwa 55 Kilometer, auf der asiatischen Seite 60 Kilometer vom historischen Stadtzentrum entfernt sind. Das aus 32 Teilstädten (belediye) bestehende Groß-Istanbul (büyükşehir) reicht somit von Avcılar und Küçük Çekmece im Westen bis Pendik und Tuzla an der Grenze der Provinz Kocaeli (İzmit) im Osten. Die Teilstadt Fatih ist identisch mit dem Altstadtdreieck, das historische Galata gehört zu Beyoğlu. Die wichtigsten Teilstädte auf der asiatischen Seite sind Üsküdar (das antike Chrysopolis) und Kadıköy. Heute ist Istanbul zu zwei Dritteln (65,1 Prozent) eine asiatische Stadt, offiziell unterscheidet man aber zwischen der anatolischen (Anadolu yakası) und der europäischen (Avrupa yakası) Seite.
In fast allen Bereichen nimmt Istanbul die führende Stellung unter den türkischen Städten ein. Obwohl es Anfang des neuen Jahrtausends «nur» etwa 15 Prozent der türkischen Wohnbevölkerung stellte, trug es mit 42,4 Prozent zur nationalen Steuerleistung bei. Von den 500 größten Industriefirmen haben hier 48,4 Prozent ihren Hauptsitz. Ein Blick in die Flugpläne der beiden internationalen Airports zeigt, wie viel höher der Anteil der Passagiere ist, die von hier ins Ausland reisen, im Vergleich zu den Direktverbindungen von Ankara aus. Im Bereich von Wissenschaft und Bildung ist die Bedeutung Istanbuls überragend; die Zahl der Universitäten ist auf über 20 angewachsen. Dennoch sind es nur 5 Prozent dieses Stadtraums, die eine von vielen Generationen geprägte Geschichte haben. Ob die übrigen 95 Prozent ihre Gesichtslosigkeit überwinden, wird die Zukunft erweisen.
Dorische Kolonisten übernahmen die Bezeichnung Byzantion für den Ort am Marmarameer von den dort ansässigen Thrakern. Byzantion (lat. Byzantium) sollte bis zur Neugründung unter Konstantin I. der Name der Stadt zwischen den Meeren auch bleiben. Konstantinopolis, wie die Stadt ab dem Jahre 324 hieß, entstand über und neben der alten griechisch-römischen Siedlung. Die Quellen kennen noch eine ganze Anzahl von schmückenden Beinamen, die sich auf ihren Rang als jüngeres, neues oder zweites Rom beziehen. Rhomē erscheint ab dem 6. Jahrhundert neben Konstantinopel. Die Einwohner nannten sich somit nicht nach einem Volk, sondern nach ihrer Hauptstadt Römer. Der Name Istanbul ist zur allgemeinen Bezeichnung für die Stadt in ihrer größten zeitlichen und räumlichen Ausdehnung geworden, auch wenn er in vielen Fällen nur für die «historische Halbinsel» verwendet wurde. Dass verschiedene von «in der Stadt» (ei)s tin poli(n) abgeleitete Formen wie Istanbul oder Astanbul schon vor 1453 existierten, ist vielfach belegt. Der unter Bâyezîd I. 1389 in türkische Gefangenschaft geratene bayerische Knappe Johann Schiltberger erinnerte sich nach seiner Rückkehr: «Constantinopel hayssen die Christen Istimboli und die Thürken hayssends Stambol.»
Nach der Einnahme durch die Osmanen im Jahr 1453 kam es zu keinem radikalen Namenswechsel. Auf Münzen und in amtlichen Dokumenten wurde die in der islamischen Welt verbreitete arabisierte Form Kustantiniya oder Kostantiniye von Mehmed II. verwendet, im mündlichen Verkehr setzte sich allerdings Istanbul als übliche Namensform durch. Im 18. Jahrhundert erschien das artifizielle, an Istanbul angelehnte İslâmbol («Vom Islam erfüllt») für einige Zeit als Prägeort auf Geldstücken. Sultan Mustafâ III. (1757–1774) ging noch einen Schritt weiter, als er der Zentralbürokratie den Gebrauch von Kostantiniye auch auf Befehlsschreiben und Diplomen untersagte. Trotz dieser unmissverständlichen Anordnung, deren Motiv vielleicht in der Sorge um den alleinigen Besitztitel auf die Stadt gegenüber der christlichen Welt zu suchen war, kehrten seine Nachfolger wieder zum vertrauten Kostantiniye zurück.
Im 19. Jahrhundert setzte sich im amtlichen Schriftwesen die Bezeichnung Der(-i) Saʾâdet («Pforte der Glückseligkeit») durch. Ein halbes Dutzend anderer Namen wie «Schwelle» (Asitâne), «Haus des Kalifats» (Dârüʾl-Hilâfe) oder «Gute Stadt» (Beldetüʾttayyibe) war damals schon etwas aus der Mode gekommen. Dersaʾâdet blieb bis zum Verlust der Hauptstadtfunktion an Ankara (1923) in Geltung. Die Kurzbezeichnung für den Sitz der osmanischen Regierung lautete ähnlich: die «Hohe Pforte» (Bâb-i Âlî). In der Regel verstanden die Osmanen unter İstanbul die sogenannte Altstadt im Unterschied zu den «Drei Städten» Eyüp, Galata und Üsküdar, die eigene Kadi-Sitze bildeten. Unter den Ausländern war die Bezeichnung Stambul als Gegensatz zu Galata-Pera/Beyo ğlu üblich. Viele Bücher und Zeitungen aber wurden in vorrepublikanischer Zeit – etwas willkürlich – mit dem Erscheinungsort Kostantinye oder Istanbul versehen.
In osmanischer Zeit existierte der Name (unklarer Herkunft) des oberhalb der Mauern von Galata gelegenen Stadtteils Beyoğlu («Sohn des Herrn») neben dem schon früher auch für Galata gebrauchten Pera (griech. «drüben»), während das eigentliche Galata innerhalb seiner Mauern noch immer den alten Namen trug. Nur ein Teil der griechischen Stadtteilnamen (Fener, Samatya, Vlanga) hat sich bis heute erhalten, während andere den republikzeitlichen Umbenennungskampagnen zum Opfer fielen. So erhielt das stark griechisch geprägte Tatavla/Tatau lon nach 1923 den Namen Kurtulus, («Befreiung»), und der durch den russisch-türkischen Vorfrieden von 1877 berühmt gewordene Ort Aya Stefanos wurde zu Yeşilköy («Grünes Dorf»). Ähnlich beschönigende Ortsnamen wurden auch trostlosen gecekondu-Siedlungen (Barackenvierteln; siehe S. 118–119) verpasst. Die Gewässernamen Bósporos («Kuhfurt», türk. Boğaziçi) und Goldenes Horn (Chrysokeras) sind schon in der Antike belegt. Man brachte diesen thrakischen Bosporus mit dem Mythos von der Göttin Io, die in Gestalt einer Kuh über ihn floh, in Verbindung. Die Türken benutzen «Goldenes Horn» allerdings nur auf Touristenprospekten, sonst gebrauchen sie ein aus dem Arabischen stammendes Wort für «Bucht, Golf» (Haliç).
Lange waren die ältesten Zeugnisse einer Siedlungstätigkeit im Großraum Istanbul mit den Namen Yarımburgaz, Pendik (Panteichion) und Fikirtepe verbunden. Aber nur wenige Spezialisten interessierten sich für die in Magazinen und Vitrinen des Archäologischen Museums schlummernden Tierknochen und Artefakte. Anders als antike Zisternen, byzantinische Kirchen oder osmanische Bäder wurden vorgeschichtliche Funde im heutigen Stadtgebiet nur zufällig und hastig bei der Anlage öffentlicher Bauten und Verkehrsanlagen geborgen. Eine prominente Ausnahme sind die am Nordrand der Lagune von Küçük Çekmece gelegenen Höhlen von Yarımburgaz, die beim Bau der Eisenbahn entdeckt und zum ersten Mal von dem in Wien geborenen Naturwissenschaftler Dr. Abdullah Bey (Carl Eduard Hammerschmidt, 1801–1874) in den «Verhandlungen der kaiserlichen und königlichen Geologischen Reichsanstalt» beschrieben wurden.
Inzwischen kennt man am Rande des Marmarameers eine ganze Reihe von paläolithischen Fundstellen. In Yarımburgaz – einem der ältesten Fundorte im Nahen Osten – setzen sich die Schichten über das Mittlere (300.000–40.000) und Jungpaläolithikum fort bis zu einem Stratum, das ins 5. Jahrtausend (6200–5500 v. Chr.) fällt und nach Fikirtepe bezeichnet wird. In Fikirtepe bei Kadıköy konnten ab den frühen 1950er Jahren einige Untersuchungen durch Kurt Bittel und Şevket A. Kansu vorgenommen werden, «kurz bevor es von der Metropole Istanbul verschlungen wurde» (U.-D. Schoop, 2005). Die Reste runder bzw. ovaler Behausungen aus Geflecht und Lehm zusammen mit ritzverzierten Gefäßen, unter denen rechteckige besonders auffallen, waren lange die bekanntesten Nachweise für die «Ureinwohner» Istanbuls, die sich zwischen 6000 und 4500 v. Chr. eher als Jäger und Fischer denn als Bauern betätigten. Fikirtepe wurde dann auch der Namensgeber für eine Chronologie, die vom «archaischen Fikirtepe» mit Krügen und eckige Gefäßen mit einfachen Mustern über das «klassische Flkirtepe», jetzt mit komplexeren Motiven, bis zum «entwickelten Fikirtepe» mit textilartigem Dekor reicht.
Die ältesten Nachweise menschlicher Siedlungen innerhalb der «Historischen Altstadt» stammen aus dem späten Chalkolithikum (4500–3500 v. Chr.). Obwohl man schon in den 1920er Jahren und dann wieder 1942 bei archäologischen Untersuchungen im Bereich des Hippodroms auf Keramikfragmente stieß, landeten sie unbearbeitet im Magazin des Museums und wurden erst nach 1987 bekannt und mit ähnlichen Funden aus Nordwestanatolien in Verbindung gebracht. Bei einer Ausschachtung in Çarşıkapı unweit des Basareingangs wurde in den 1950er Jahren eine Tonkanne als das bisher älteste, mit hoher Wahrscheinlichkeit im 7. Jahrhundert v. Chr. in Istanbul geformte und bemalte Objekt freigelegt.
Die genannten Fundplätze treten heute hinter eine Ausgrabung zurück, deren Ergebnisse in der Weltpresse Schlagzeilen machten: Beim Bau der Schnellbahn Marmaray, die den Bosporus ab 2011 unterqueren wird, stieß man 2008 im ehemaligen Hafen von Yenikapı in über 6 Metern Tiefe auf teils viereckige, teils rundliche Steinlagen, zweifellos Fundamente von mit Ästen bedeckten Hütten der Bewohner. Auch diese Ur-Istanbuler lebten von Jagd und Fischfang, Nachweise für Ackerbautätigkeit fehlen vorläufig noch. Vier singuläre Gräber mit menschlichen Skeletten und Opfergaben werden von dem Ausgräber Mehmet Özdoğan in die Zeit von 6400–6200 datiert. Ganz selten sind im Großraum Istanbul bisher Nachweise einer eisenzeitlichen Besiedlung. Dagegen glauben die Archäologen mit einer Weinkanne (oinochoe) aus dem frühen 6. Jahrhundert v. Chr. eine schöne Verbindung zwischen dem Yenikapı-Hafen und der megarischen Kolonie Byzantion freigelegt zu haben.
Um 685 v. Chr. entstand mit Kalchedon (lat. Chalcedon) auf der asiatischen Seite des Bosporus an der Stelle des modernen Kadıköy eine erste bedeutende, von Siedlern aus dem mittelgriechischen Megara gegründete Stadt. Wenige Jahrzehnte später (um 660/658 v. Chr.) erscheint der thrakische Name Byzanz