Thomas Vogtherr
Vom Mittelalter bis zur Gegenwart
Verlag C.H.Beck
Die Welfen sind das älteste europäische Fürstenhaus. Vom Aufstieg in der Reichsaristokratie der Karolingerzeit über den Erwerb von Königswürden und Kaisertum bildet die Geschichte der Welfen ein Beispiel für mittelalterliches Fürstentum europaweiter Bedeutung. Die Personalunion mit Großbritannien bildet einen der Höhepunkte. Ein faszinierendes Panorama europäischer Adelsgeschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart.
Thomas Vogtherr ist Professor für Geschichte des Mittelalters an der Universität Osnabrück und Vorsitzender der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen.
Originalausgabe
© Verlag C.H.Beck oHG, München 2014
Umschlaggestaltung: Uwe Göbel, München
Umschlagabbildung: Wappen der Welfen, Holzschnitzerei von Erasmus Grasser, um 1480, © Bildarchiv Hansmann/Interfoto
ISBN Buch 978 3 406 66177 8
ISBN eBook 978 3 406 66178 5
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1. Die Suche nach dem Ursprung im Karolingerreich: Die Älteren Welfen in Burgund und in Schwaben (9.–11. Jh.)
2. Familiärer Neuanfang: Die Jüngeren Welfen in Bayern und Schwaben
3. Welfengeschichten I: Die Historia Welforum
4. «Berühmt durch Siege und im Ruhm erhaben» – Die königsgleichen Herzöge Welf VI. und Heinrich der Löwe
5. Eine unübersichtliche Konkursmasse, der einzige welfische Kaiser und der Weg zum Herzogtum Braunschweig-Lüneburg (1180–1235)
6. Teilungen, Kämpfe, Konsolidierung: Die welfischen Fürstentümer im späten Mittelalter
7. Konkurrenten um die Vormacht, Gegner im Glauben: Welfen im 16. Jahrhundert
8. Calenberg, Celle, Hannover: Der Weg zur Kurwürde (17. Jh.)
9. Welfengeschichten II: Gottfried Wilhelm Leibniz
10. Hannover und London: Das Zeitalter der Personalunion mit Großbritannien (1714–1837)
11. In zweiter Linie: Die Braunschweiger Welfen (17. Jh.–1815)
12. Welfen als Könige in Hannover (1814–1866) und Herzöge in Braunschweig (1814–1918)
13. Enttäuschte Hoffnungen auf Rückkehr: Hannovers Welfen nach 1866
14. Welfengeschichten III: Onno Klopp und Georg Schnath
15. Nachmonarchische Zeiten: Die Welfen seit 1918
Literaturverzeichnis
Personen- und Ortsregister
819 begegnet die Familie der Welfen erstmals in der Überlieferung. In zweiter Ehe heiratet Kaiser Ludwig der Fromme (814–840), Sohn Karls des Großen, Judith, die Tochter eines Grafen oder Herzogs Welf aus Bayern und seiner Frau Heilwig, einer gebürtigen Sächsin. Von großer Schönheit sei Judith gewesen, berichtet ein Zeitgenosse. Vor allem aber gehörte sie besten Kreisen an. Genaueres ist darüber nicht auszumachen, aber die Wahl des verwitweten Kaisers war auf die Angehörige einer Familie gefallen, die am Hofe bekannt, im ausgedehnten Reich der Karolinger begütert war und deswegen wohl auch politisch einflussreich gewesen sein dürfte. Die Familie der Welfen gehörte der Reichsaristokratie an, die die Herrschaft der Kaiserfamilie stützte, den Karolingern gegenüber aber auch politische Mitwirkungsrechte geltend machte: den Konsens zur herrscherlichen Politik oder eben dessen Verweigerung.
Wie sehr die Familie der Judith im Zentrum des karolingischen Adels stand, wird an einer zweiten, nicht weniger spektakulären Hochzeit deutlich. Judiths jüngere Schwester Hemma heiratete etwa 825/827 Ludwigs des Frommen Sohn, den späteren König Ludwig II. «den Deutschen» (833/840–876). Bemerkenswert daran ist nicht nur, dass ihre ältere Schwester gleichzeitig zur Stief-Schwiegermutter Hemmas wurde, sondern wichtiger ist, dass in kaum zehn Jahren eine zweite Heirat der Welfen in die Familie der Karolinger zustande kam. Die Welfen, eben aus dem Nichts der frühmittelalterlichen Quellenüberlieferung aufgetaucht, muss man sich als eine der führenden Familien vorstellen, aus denen Ehepartner zu gewinnen für die Angehörigen des Kaiserhauses ebenso attraktiv wie naheliegend gewesen sein muss.
Nahezu zwölf Jahrhunderte später hat eine geschichtswissenschaftlich avancierte Forschung die Voreingenommenheit früherer Vermutungen über die Herkunft der Welfen beiseite geräumt. Man hat gelernt, sehr verschiedene und scheinbar unvereinbare Detailinformationen zu einem plausiblen Bild der Herkunft dieser Familie zu verdichten. Immer noch bleibt manches spekulativ, aber es hat sich ein Konsens herausgebildet, wonach zwei verhältnismäßig gut belegte Grafen namens Ruthard und Warin aus der Mitte des 8. Jahrhunderts zu den Vorfahren Welfs und seiner Töchter Judith und Hemma zu zählen sind. Sie amtierten in Alemannien und mögen dort auch zu Hause gewesen sein, jedenfalls waren sie dort ebenso begütert wie in Franken und Thüringen. Und nimmt man noch die Tatsache hinzu, dass sich welfischer Besitz und Einfluss im 9. Jahrhundert konzentriert um das mittelfranzösische Auxerre an der Yonne findet, dann dürften die Welfen ihren Anfang im jungen Karolingerreich als Hochadelsfamilie von europäischem Rang genommen haben. Eine dynastische Geschichte, gekennzeichnet vom ständigen Auf und Ab in den politischen Parteiungen und Verwicklungen des 9. und 10. Jahrhunderts, beginnt sich zu entwickeln, jedoch keineswegs bruchlos in der familiären Kontinuität.
Es ist eine der Eigentümlichkeiten von Verwandtschaftsverbänden jener Zeit, dass sie eben nicht im Sinne späterer Jahrhunderte als Familien, als Dynastien erkennbar werden und dass die Folge ihrer Angehörigen in der Abfolge von Vätern auf Söhne nicht immer eindeutig zu rekonstruieren ist. Auch die Welfen machen dabei keine Ausnahme. So gut die beiden Generationen um die Mitte des 9. Jahrhunderts greifbar sind, so wenig wird deutlich, in welchen verwandtschaftlichen Beziehungen die Angehörigen späterer Generationen zu ihnen standen.
Vieles spricht dafür, dass sich die Welfen in zwei Zweige aufteilten. Beide gehen auf den jüngeren Bruder der beiden genannten Ehefrauen karolingischer Herrscher zurück, auf einen Grafen namens Konrad (I.) der Ältere (†nach 862), der im schwäbischen Schussengau amtierte. Drei Söhne hatte dieser Graf: Konrad (II.)den Jüngeren, dessen Sohn als Rudolf I. König von Hochburgund (888–912) werden sollte, Hugo «den Abt» (Abbas) (†886), der gegen Ende seines Lebens faktisch der Herrscher des Westfrankenreiches war, und Welf I. (†nach 858), der als Graf in Alemannien zum Stammvater der schwäbischen Welfen wurde. Drei Brüder mit bedeutenden Positionen in den fränkischen Teilreichen der ausgehenden Karolingerzeit: Die Welfen waren eine wahrhaft reichsumspannende Familie.
Die Könige von Hochburgund, die man nach dem ersten in der Reihe dieser Herrscher die Rudolfinger nennt – womit man gleichzeitig ihre eindeutige Zugehörigkeit zu den Welfen unterschlägt –, amtierten in diesem Reich bis 1032. In einer geographisch ungünstigen Lage zwischen dem West- und dem Ostfrankenreich, zudem in einer verkehrstechnisch schlecht erschlossenen Vorgebirgslandschaft entwickelte sich das Königreich Hochburgund weitaus weniger erfolgreich als die benachbarten Königreiche im Westen und Osten. Zudem waren die welfischen Rudolfinger im Wesentlichen darauf bedacht, durch eine geschickte Heiratspolitik den Bestand ihrer Königsherrschaft gegen äußere Eingriffe abzusichern. Auf diese Weise kamen sie anfangs des 10. Jahrhunderts auch in den Besitz von Niederburgund, im Wesentlichen also der Provence. Zunehmend lehnten sich die Könige an das Ostfränkische Reich an, vor allem seit Konrad (III.) (937–993), der seine Herrschaft nur dank der Unterstützung des ostfränkischen Königs Otto I. (936–973, Kaiser 962) hatte erhalten können. Als König Rudolf III. von Burgund (993–1032) die Nachfolge in seinem Reich regelte, tat er dies im Interesse des Kaisers Heinrich II. (1002–1024) aus der Familie der Ottonen, während als tatsächlicher Erbe des Königreichs erst dessen Amtsnachfolger, der Salier Konrad II. (1024–1039), zum Zuge kommen sollte. Die welfischen Könige von Burgund waren während der Karolingerzeit das einzige Geschlecht, dem die Bildung einer Königsdynastie auf dem Boden des karolingischen Großreiches gelang. Seltsam genug, dass die Erinnerung an diesen königlichen Zweig in der weiteren Geschichte der Welfen kaum mehr gepflegt wurde.
Statt dessen beriefen sich die Geschichtsschreiber späterer Jahrhunderte viel häufiger auf die weniger gut bezeugte und in ihrer Bedeutung hinter den welfischen Rudolfingern zurückstehende gräfliche Linie der Welfen, die man gemeinhin als die «Älteren Welfen» bezeichnet und die man durch diese Bezeichnung von den «Jüngeren Welfen» nach dem genealogischen Bruch des Jahres 1055 unterscheidet. Diese «Älteren Welfen» stellen die Forschung bis heute vor erhebliche genealogische Probleme, denn ihre Stammfolge ist nicht wirklich gesichert. Die heutige Anschauung von diesem Zweig der Welfen basiert zu erheblichen Teilen auf gelehrten Rekonstruktionen, deren Grundlage die keineswegs widerspruchsfreien oder gar lückenlosen Nachrichten von Geschichtsschreibern darstellen, die ihre Werke aus der späteren Rückschau verfassten. Weder in der Angabe von Namen und Verwandtschaftsbezeichnungen ließen sie viel Mühe walten, noch unternahmen sie vor dem frühen 12. Jahrhundert erkennbar den Versuch, das Gesamte einer Familiengeschichte deutlich vor Augen treten zu lassen. Unter diesen Vorbehalt muss man stellen, was man über diesen Zweig der Familie zwischen der Mitte des 9. und dem Beginn des 11. Jahrhunderts zu wissen glaubt. Das Wissen ergibt einen in sich schlüssig erscheinenden Ablauf, der in einzelnen Mitgliedern der Familie geradezu idealtypische Formen adligen Lebens und Wirkens ihrer Zeit spiegelt.
Das beginnt mit Welfs I. Sohn Eticho (†um 910), dem Generationsgenossen des ersten hochburgundischen Königs Rudolf I.: Dass er an dieser Stelle der Stammtafel unterzubringen ist, wird damit begründet, dass seine Großmutter aus der Adelsfamilie der Etichonen stammte und den Namen in der Familie der Welfen weitergegeben haben dürfte, weswegen möglicherweise auch zwei Generationen später dieser Name bei den Welfen noch einmal wieder erscheint. Diese Form der genealogischen Zuordnung aufgrund sogenannter Leitnamen, die oftmals von Großeltern auf Enkel übertragen wurden, basiert auf Forschungserkenntnissen und gilt als plausibel; sicher im Sinne eines Beweises ist sie nicht.
Dass auf Eticho dann wirklich ein Graf namens Heinrich gefolgt ist, den die welfische Geschichtsschreibung als «Heinrich mit dem goldenen Pflug/Wagen» bezeichnete, ist ebenso plausibel und ebenso wenig sicher. Seinen Namen verdankt er einer Anekdote, die verdeutlichen soll, wie nahe seine Familie politisch dem Herrscher stand. Von einem Kaiser Ludwig habe er so viel Land zugesagt bekommen, wie er mit einem Pflug in einer bestimmten Zeit habe markieren können. Heinrich habe sich daraufhin einen Wagen mit einem goldenen Pflug und Reitpferden besorgt, die er in Windeseile immer wieder gewechselt habe, und habe trotz des Widerstrebens des überlisteten Herrschers den offensichtlich riesigen Landbesitz überwiesen bekommen. Über den Wahrheitsgehalt solcher Anekdoten zu streiten, ist müßig. Wichtig ist die dahinter stehende Botschaft. Ein einfallsreicher, dem König wohlbekannter Adliger greift im Interesse seiner Familie zu einer List und obsiegt. Aus diesem Holze geschnitzt sind die Welfen: Das war die Quintessenz.
Die Welfen im frühen und hohen Mittelalter
Wieder eine Generation später taucht unter den schwäbischen Welfen erstmals ein hochrangiger Geistlicher auf: Bischof Konrad I. von Konstanz (934–975). Er war ein klassischer Vertreter jener ottonischen Reichsbischöfe, die in enger Verbindung mit dem König bzw. Kaiser des Reiches – in diesem Falle mit Otto I. dem Großen (936–973, Kaiser seit 962) – in der Reichspolitik wirkten, die als hochgebildete Kirchenfürsten ebenso selbstverständlich für die geistlichen Belange ihrer Bistümer eintraten und die sich schließlich durch individuelle Besonderheiten hervortaten. Im Falle des welfischen Bischofs Konrad von Konstanz war dies eine ausgedehnte Reise- und Bautätigkeit. Er reiste nach Rom und Jerusalem, brachte von dort Anregungen für Kirchenstiftungen und -bauten mit, errichtete nach dem Vorbild der römischen Patriarchalkirchen neue Gotteshäuser in seiner Bischofsstadt und ließ einen Rundbau neben dem Dom erbauen. Der Bau wies die Form der Grabeskirche in Jerusalem auf und wurde auf den Namen des Heiligen geweiht, den Otto I. mit der Gründung eines Klosters am Ort des späteren Magdeburger Doms ehrte und dessen Lanze er 955 bei der Schlacht auf dem Lechfeld gegen die Ungarn mit sich führte: den Märtyrer Mauritius aus der Thebäischen Legion, dessen Hauptverehrungsstätte das Kloster St. Maurice d’Agaune im welfischen Königreich Burgund war. So schließen sich die Kreise der Verwandtschaft noch Jahrzehnte nach der Trennung in verschiedene Linien in der Verehrung desselben Märtyters. Konrad von Konstanz selbst wurde 1123 heiliggesprochen und damit zum ersten Heiligen aus der Familie der Welfen.
Der ältere Bruder jenes Bischofs Konrad, Rudolf, wurde möglicherweise als erster Welfe im Kloster Altdorf(-Weingarten) bestattet. Er hatte eine vorteilhafte Ehe mit Ita von Öhningen geschlossen. Über die Verwandtschaft dieser Frau ist seit vielen Jahren eine Forschungskontroverse entstanden, die bisher nicht gelöst werden konnte, die aber beispielhaft zeigt, wie wenig detailsicher die zeitgenössischen Quellen des hohen Mittelalters über die genealogischen Verbindungen unterrichten. Sie sei, so heißt es, eine Enkelin Kaiser Ottos I. gewesen, sei mit Königen, Herzögen und Grafen verschwägert, stamme also aus bestem Hause. Das alles hat sich bei genauer Untersuchung nicht widerspruchsfrei klären lassen, zumal nicht einmal deutlich ist, ob es denn nur diesen einen Rudolf oder aber einen Vater und einen Sohn gleichen Namens gegeben hat. Aber wieder kommt es weniger auf die Frage an, ob die Quellen wirkliche Verwandtschaften und Abstammungen wiedergeben, als vielmehr darauf, wie die Welfen und ihre Ehefrauen gesehen werden wollten: als gleichrangig zum Hochadel, ja zu Königen ihrer Zeit. Dass die königsgleichen schwäbischen Welfen folgerichtig auch den Taufnamen Rudolf benutzten, wie dies ihre königliche Verwandtschaft in Burgund tat, passt ebenso in dieses Bild wie die Tatsache, dass der Name bei den schwäbischen Welfen in dem Moment verschwindet, in dem das burgundische Königtum der Welfen mit dem letzten König Rudolf III. endet.
Erst mit Welf II. (†1030), einem in Alemannien und Bayern amtierenden Grafen, und seiner Frau Imiza aus der Familie der Grafen von Luxemburg, die ihren Mann um eine Generation überlebte, betritt man bei der Abfolge der welfischen Familienmitglieder endgültig sicheren Boden. Nun ist keine genealogische Spekulation mehr vonnöten, um das Kernproblem zu erfassen, dem sich die Welfen gegenübersahen. Welf II. hatte zwei Kinder, Welf III. und eine Tochter namens Kuniza/Kunigunde. Welf III., von Kaiser Heinrich III. zum Herzog von Kärnten ernannt und damit mit einer der wichtigsten Aufgaben im Bereich der Südostgrenze des Römisch-Deutschen Reiches beauftragt, starb kinderlos bereits 1055. Damit war der welfische Besitz herrenlos, denn auch seine jüngere Schwester Kuniza war zu diesem Zeitpunkt bereits gestorben.
Dies war die Stunde der immer noch lebenden Mutter Imiza. Sie muss eine strategisch denkende, kluge und willensstarke Frau gewesen sein, die die Interessen ihrer Nachkommenschaft entschieden und erfolgreich vertrat. Das begann mit dem Bruch eines Testaments ihres Sohnes: Welf III. hatte in Angesicht des Todes seinen kompletten Besitz an das Kloster Altdorf vergeben, das zum welfischen Hauskloster geworden war und sich seit langem der Förderung durch die Familie erfreute. Imiza gelang es nun, statt dieser Aufgabe des Familienbesitzes mit der Zustimmung ihres Schwiegersohnes, des italienischen Markgrafen Albert/Azzo (II.) d’Este, dessen Sohn aus seiner Ehe mit Kuniza, Welf IV., als Erben des welfischen Besitzes nach Deutschland zu holen. Mit ihm wurde ein neues Kapitel der welfischen Geschichte aufgeschlagen, das der «Jüngeren Welfen».
Der Einschnitt des Jahres 1055 scheint auf den ersten Blick nicht tiefgreifend. Freilich gilt eine solche Feststellung nur dann, wenn man die dynastische, auf genealogische Kontinuität und Erbfolge in männlicher Linie ausgerichtete Sichtweise des Mittelalters unberücksichtigt lässt. Nimmt man genau diese, damals völlig selbstverständliche Sichtweise aber ernst, dann wird der Übergang von den Älteren zu den Jüngeren Welfen zu einem Vorgang, der nahezu jede Form von adliger Kontinuität gefährdete: Das Erbe des in männlicher Linie ausgestorbenen Geschlechts wurde auf einen Nachkommen in weiblicher Linie übertragen, der überdies nicht einmal im nordalpinen Teil des Römisch-Deutschen Reiches aufgewachsen war. Das kam einem familiären Neuanfang gleich und war ausgesprochen unsicher, denn Welf IV. hatte 1055 noch keinerlei eigene Nachkommen, so dass man auf dynastische Kontinuität damals bestenfalls hoffen konnte. Zunächst und aus dem Blickwinkel des Jahres 1055 war nicht viel anderes geschehen, als dass ein hochrangiges europäisches Adelsgeschlecht am Rande seiner Fortexistenz stand.
Welf IV. war südlich der Alpen erwachsen geworden, mag eher durch das Umfeld Italiens geprägt worden sein, hat aber nach seinem Wechsel in den Norden schnell Fuß gefasst und sich als ebenso energischer Vertreter der Familieninteressen erwiesen. Ein Jahr nach seiner Ankunft starb unerwartet früh der damalige Kaiser Heinrich III. (1039–1056), dessen letzte Herrschaftsjahre von zunehmender Opposition aus fürstlichen Kreisen bestimmt waren. Sein Nachfolger Heinrich IV. (1056–1105) war zum Zeitpunkt des Amtsantritts noch minderjährig und kaum zu eigenem Handeln fähig. In den Jahren der Minderjährigkeitsregierung über den jungen König trat Welf IV. zunächst kaum irgendwo außerhalb Bayerns in Erscheinung. Durch eine Heirat mit der Tochter des bayerischen Herzogs Otto von Northeim bald nach 1061 machte er jedoch innerhalb des Herzogtums den Anspruch auf eine führende Rolle geltend. Freilich erreichte er das Amt des Herzogs selbst lediglich im Konflikt: Sein Schwiegervater hatte sich gegen Heinrich IV. gestellt, Welf selbst hatte sich daraufhin von seiner Ehefrau getrennt und damit die Voraussetzungen geschaffen, von Heinrich IV. in der sächsischen Königspfalz Goslar zu Weihnachten 1070 mit dem Herzogtum Bayern belehnt zu werden. Dass die Großen Bayerns dieser Zeremonie fernblieben, war eine politisch begründete Provokation: Sie setzten sich in der Folgezeit ganz offen für den Verbleib Ottos von Northeim im Amt des Herzogs ein. Es sollte bei weitem nicht der letzte Fall offener Auseinandersetzungen um ein welfisches Herzogtum im hohen Mittelalter bleiben, und auch das politische Taktieren welfischer Herzöge gegenüber dem Herrscher sollte sich wiederholen.
Die Jahre nach 1070 gehören zu den bewegtesten Jahren der an Abwechslungsreichtum ohnehin nicht armen Geschichte der Welfen. Welf IV., offensichtlich den Gedanken der Kirchenreform im päpstlichen Sinne nicht fernstehend, gründete 1073 auf eigenen Besitzungen in Rottenbuch ein Kanonikerstift, das einer der wichtigsten Kristallisationspunkte der Reformen im Süden Deutschlands werden sollte. In den Auseinandersetzungen des beginnenden Investiturstreits wurde Welf zum Parteigänger des Papstes, nahm an der Wahl eines Gegenkönigs gegen Heinrich IV. teil, wurde daraufhin geächtet und zur Flucht gezwungen, verlor faktisch den Zugriff auf seine bayerischen Güter, konnte aber an einer wichtigen Stelle die Aktivitäten des Saliers nachhaltig stören: Gemeinsam mit dem Augsburger Bischof Wigold (1077–1088) führte er einen jahrelangen Kleinkrieg mit dem König in der Region zwischen Schwaben und den zentral wichtigen Alpenpässen an der bayerischen Südgrenze, die für jeden mittelalterlichen König von erheblicher strategischer Bedeutung waren.