Eine Geschichte der Gewalt
C.H.Beck
Dieses Buch liefert eine Anatomie des Terrors von rechts seit den 1970er Jahren. Es seziert rechtsterroristische Anschläge ebenso wie die alltägliche Gewalt gegen Andersdenkende, Obdachlose, Migranten und Juden. Dabei kommen sowohl die Täter als auch die Opfer zu Wort. In Gesprächen und Fallanalysen, die zeigen, wie und warum Neonazis töten. Eine erschütternde Chronik rechter Gewalt in Deutschland.
Lange Zeit ist der Terror von rechts in Deutschland verharmlost worden. Viele Opfer werden in den offiziellen Statistiken nicht erfasst, weil sie die Übergriffe aus Angst nicht anzeigen oder weil die ermittelnden Stellen das politische Tatmotiv nicht erkennen. Seit dem Auffliegen der Zwickauer Terrorzelle hat sich dies geändert. Doch droht erneut eine Unterschätzung des Phänomens. Denn die Gefahr geht nicht nur von geplanten Terroranschlägen aus, wie sie das NSU-Trio verübte. Sie sind nur die höchste Eskalationsstufe der alltäglichen rechten Gewalt, die sich aus denselben ideologischen Wurzeln speist. Jeder Schlag gegen einen Linken, jeder Molotowcocktail gegen ein von Migranten bewohntes Haus, jeder Tote auf der langen Liste ihrer Opfer rechts dient dem politischen Ziel der Rechtsextremen: der Einschüchterung und Beseitigung von Migranten und Andersartigen, die ihrem Ideal eines «völkischen Staates» im Wege stehen. Eindringlich schildert Olaf Sundermeyer die konkreten Formen rechter Gewalt in beklemmenden Nahaufnahmen, von dem Anschlag auf das Münchner Oktoberfest im Jahr 1980 über Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda, Mölln und Solingen bis hin zu den Anschlägen des NSU. Dabei wird eines deutlich: dass der Staat bislang nicht in der Lage war, seine Bürger wirksam vor Angriffen von rechts zu schützen.
Olaf Sundermeyer, geb. 1973, studierte Journalistik und Jura und recherchiert seit Jahren im rechtsextremen Milieu. Als Experte für Rechtsextremismus ist er regelmäßig in Presse, Funk und Fernsehen vertreten. Bei C.H.Beck liegen von ihm vor: In der NPD (zusammen mit Christoph Ruf, 2009), Der Pott (2009).
Weitere Informationen auf www.olaf-sundermeyer.com
Für Antje
Einleitung: Taten statt Worte – warum Neonazis töten
I. Teil – Demokratie in Flammen
Das rote Vorbild – die RAF und die Neonazis
Beim Vater des Terrors
Gewaltige Vorgeschichte – rechter Terror in der alten Bundesrepublik und der DDR
Der Gefühlsstau, die Wende und der Tod – als der Mob die Macht übernahm
II. Teil – Orte der Gewalt
Die Opfer des Terrors
Wo die Gewaltkultur zu Hause ist – die «national befreiten Zonen»
Terror im Westen – die gewaltbereiten «Autonomen Nationalisten»
Die Gewaltkarriere eines Skinheads
Nazi-Anwalt oder Anwalt der Nazis?
III. Teil – Das Erbe des NSU
Das elfte Opfer – deutscher Rechtsterrorismus unter Verdacht
Der Niedergang der NPD
Der hilflose Staat oder: Wie begegnet man rechter Gewalt?
Anmerkungen
Weiterführende Literatur
Dank!
«Die haben ja das umgesetzt, von dem die meisten anderen in der Szene nur träumen, weil sie selbst zu feige sind, es ihnen gleichzutun. Aber grundsätzlich sehnen viele eine Endlösung für Ausländer herbei.»[1]
Der das über die Mitglieder des so genannten «Nationalsozialistischen Untergrund» (NSU) sagt, wie sich eine Gruppe thüringischer Rechtsterroristen selber nannte, war einst Stellvertreter des langjährigen Kreisvorsitzenden der rechtsextremen NPD in Jena, Ralf Wohlleben, einem der mutmaßlichen Mitverschwörer. Es ist – zugespitzt formuliert – einer der Gründe, warum Neonazis töten. Auch wenn es nicht nur Migranten sind, die in ihr Visier geraten. Sondern alle schwachen Gruppen, die aus Sicht der Rechtsextremisten nicht in ihr Weltbild passen: also auch Obdachlose, Homosexuelle, Juden und Moslems, alternative Jugendliche, Linke. All diese Menschen sollen endgültig vertrieben werden, notfalls mit Gewalt. Das ist das Ziel von Neonazis, dem in den vergangenen Jahren in Deutschland niemand mit einem größeren Maß an hasserfüllter Konsequenz gefolgt ist als die Mitglieder des NSU.
Weder in der Wissenschaft noch in der Politik besteht Einigkeit darüber, was unter Rechtsextremismus eigentlich zu verstehen ist. In diesem Buch wird er als Ideologie begriffen, die von der Ungleichwertigkeit der Menschen ausgeht und Gewalt als Mittel der Politik sieht. Im Zentrum des rechtsextremen Denkens stehen rassistische und nationalistische Ideen. Das Menschenbild der Aufklärung wird genauso abgelehnt wie das westliche Gesellschaftsmodell und die Idee der Demokratie. An die Stelle einer pluralistischen und selbstbestimmten Gesellschaft soll ein autoritärer Staat treten, dessen Bewohner nach «natürlichen» Kategorien ausgewählt und dessen innere Organisation nach «natürlichen» Führerprinzipien gestaltet wird.
Rechtsextremisten sehen sich in einer permanenten Notwehrsituation gegenüber der drohenden Überfremdung durch Menschen, die nicht ihrem Bild von der überlegenen weißen arischen Rasse entsprechen. Sie haben Angst und handeln in ihrer Wahrnehmung aus Notwehr, wenn sie einen türkischstämmigen Kioskbesitzer erschießen, ein Asylbewerberheim anstecken, eine Rohrbombe auf einem jüdischen Friedhof zünden, ein alternatives Wohnprojekt mit Hakenkreuzen beschmieren oder bei einem SPD-Wahlkreisbüro die Fensterscheiben einschmeißen. Denn neben der direkten Bedrohung durch Überfremdung sehen sie ihre Gruppe, die «weiße Rasse», durch Linke und so genannte «politisch korrekte Gutmenschen» bedroht, die der verhassten multikulturellen Gesellschaft Vorschub leisten und sich zugleich ihrem politischen Kampf in den Weg stellen. Aus diesem Motiv hat der norwegische Neonazi Anders Behring Breivik im Sommer 2011 unter den Teilnehmern eines Zeltlagers der sozialdemokratischen Jugendorganisation in seinem Heimatland ein Massaker angerichtet und Dutzende von Jugendlichen erschossen. Gleich nach der Bluttat sagte er, dass er die regierenden Sozialdemokraten «so hart wie möglich» habe treffen wollen, da sie zum «Massenimport von Moslems» nach Norwegen stark beigetragen hätten. Das Motiv, aus dem Neonazi töten, ist immer das gleiche: Hass!
Dabei ist der Terrorismus nur die höchste Eskalationsstufe rechtsextremer Gewalt. Er wird durch dieselbe ideologische Energie gespeist wie beispielsweise die Politik der NPD. Sie ist der parlamentarische Arm der rechtsextremen Bewegung. Mit strategischer Rücksicht auf die Anerkennung, die sie für Wahlen benötigt, spricht sie bloß von einer «Ausländerrückführung»; dabei ist das politische Ziel identisch mit dem der Rechtsterroristen. Nur, dass die NPD den parlamentarischen Weg für erfolgsversprechender hält.
Will sie doch den Parlamentarismus über die Parlamente abschaffen. Nach dem historischen Vorbild der NSDAP, für die der spätere Reichspropagandaminister Joseph Goebbels schon fünf Jahre vor der Machtergreifung genau diese Strategie ausgegeben hatte (in der NSDAP-Zeitung «Der Angriff», 30. April 1928):
«Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen. […] Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist das ihre eigene Sache. […] Uns ist jedes gesetzliche Mittel recht, den Zustand von heute zu revolutionieren.»
Weil diese Strategie der NPD allerdings nicht aufgeht – das hat sich innerhalb der rechtsextremen Bewegung längst rumgesprochen –, wenden sich nicht nur immer mehr Sympathisanten von ihr ab. Denn gleichzeitig wächst die ideologisch aufgeladene Ungeduld. Und in dieser Situation entwickelt sich Deutschland seit einigen Jahren zu einem demokratischen Einwanderungsland europäischen Zuschnitts, also in die gegenteilige Richtung, nach der sich die rechtsextreme Szene ausrichtet, die den völkischen Staat herbeisehnt. Damit wächst die Angst der Rassisten vor Überfremdung weiter. Den Glauben an die parlamentarische Überlistung der Demokratie und der mit ihr verbundenen verhassten Zustände aber haben die meisten Rechtsextremisten längst verloren. Und so suchen viele, die von einer völkischen Ordnung träumen, die Rassisten sind, Antisemiten, fremdenfeindliche Fanatiker, die das nationalsozialistische Vorbild verinnerlicht haben, längst nach anderen Wegen, um ihrem Ziel näherzukommen. Sie sehen Deutschland in einem Besatzungszustand, wenn auch nicht mehr durch die Siegermächte, gegen die sich der rechte Terror noch in den 1970er und 1980er Jahren der alten Bundesrepublik wandte. Inzwischen kommen die Besatzer aus dem eigenen Volk. In der Summe stellen sie das dar, was Rechtsextremisten das «System» schimpfen, zu dem außer dem Staat vor allem die Wirtschaft gehört, der sich alles unterordnet, die Medien, auch die Parteien, Verbände, Kirchen und Gewerkschaften.
Gegen all das haben Neonazis den «Nationalen Widerstand» gegründet, der sich längst in einer «nationalistischen Internationale» zusammengeschlossen hat. Nach diesem Verständnis wollen militante griechische Rechtsextremisten ihr Land ebenso vom Joch der EU befreien, wie bulgarische, ungarische oder englische Neonazis das ihre. Das Ziel ist die nationale Revolution. Auch die ist von dem Gewaltmotiv geleitet, das seine Umsetzung bereits in dem aggressiven Raumkampf findet, den junge «Autonome Nationalisten» des «Nationalen Widerstands» in deutschen Großstädten führen – gegen ihre politischen Gegner. Jeder Schlag gegen einen Linken, jeder Molotowcocktail gegen ein von Migranten bewohntes Haus, jeder Tote auf der langen Liste der Opfer rechtsextremer Gewalt wird als Schritt wahrgenommen, diesem Ziel näherzukommen. Auch wenn sich die meisten Rechtsextremisten öffentlich nicht als Nationalsozialisten bekennen, entspricht das doch ihrer Identität. Es bleibt die Frage, was sie bereit sind, für diese Identität zu tun.
Die meisten Rechtsextremisten glauben, eine stille Mehrheit hinter sich zu haben. Tatsächlich sind fremdenfeindliche Einstellungen hierzulande weit verbreitet, trotz aller zivilgesellschaftlichen Bemühungen der vergangenen zwei Jahrzehnte: «Die Menschen haben alle gesagt, die Ausländer müssen weg, die sollen hier nicht leben, sie haben das alle so gewollt», erinnert sich Patrick Wieschke im Gespräch für dieses Buch an die Zeit in den 1990er Jahren, als er gemeinsam mit anderen Mitgliedern des neonazistischen Kameradschaftsnetzwerkes «Thüringer Heimatschutz» (THS) gegen Asylbewerber vorging. «Da wurde man in seiner Haltung bestärkt, das eben dann so zu machen. Man hat sich gefühlt, als wenn man den Volkswillen exekutiert hätte», sagt Wieschke, der in der Zeit, als sich die THS-Mitglieder Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in den Untergrund abgesetzt hatten, um zu bomben und zu töten, wegen einer Beteiligung an einem versuchten Sprengstoffanschlag auf einen türkischen Imbiss im Gefängnis saß. «Der Staat war am Zustrom von Ausländern schuld. Da wollte man eben etwas dagegen tun», sagt Patrick Wieschke, der inzwischen Landesvorsitzender der NPD in Thüringen ist. Der Neonazi weiß, warum Neonazis töten: Weil sie etwas «dagegen tun» wollen.
So gesehen war der martialische Kampfname, den sich die terroristischen Mitglieder der «Zwickauer Zelle» selbst gegeben haben, «Nationalsozialistischer Untergrund», vor allem eines: nämlich zutreffend. Sie haben etwas getan: Nach ihrem Motto «Taten statt Worte» haben sie über Jahre systematisch Migranten ermordet und damit Angst unter denen verbreitet, die aus ihrer Sicht Nicht-Deutsche sind und deshalb verdrängt, vertrieben, getötet werden müssen, nicht bloß «rücküberführt» in ihre Heimatländer. Längst ist dieses Motto für viele Neonazis das Hauptargument gegen den Kurs ihrer eigenen Partei, gegen die NPD. So sieht es auch Christian Worch, seit langem einer der führenden Köpfe der gewaltbereiten Kameradschaftsszene, der sich für seine Kritik am parlamentarischen Weg gar eines Goethe-Zitates bedient:
«Der Worte sind genug gewechselt, laßt mich auch endlich Taten sehn!» (Faust I).[2]
Und Taten, dafür weist die Geschichte der Bundesrepublik genügend Fälle auf, Taten sind Gewalttaten. So steigt die Zahl der durch Angriffe von Neonazis zu Tode Gekommenen seit der Wende unaufhörlich. Für die Jahre davor gibt es keine verlässlichen Daten, bislang hat niemand diese Toten gezählt. Weder die Polizei noch zivilgesellschaftliche Einrichtungen haben das Ausmaß der rechtsextremen Gewalt vor der Wiedervereinigung erfasst. Das gilt auch für die DDR, wo der Rechtsextremismus wegen des staatlich verordneten Antifaschismus und der angeblichen Völkerfreundschaft offiziell nicht existierte.
Inzwischen haben sich die von Rechtsextremisten verübten Gewalttaten in den vergangenen Jahren in einzelnen Bundesländern verdoppelt. Und ihre Zahl wächst weiter. Dabei erfasst die amtliche Statistik bei weitem nicht alle Angriffe. Denn erfahrungsgemäß zeigen die meisten Opfer neonazistischer Gewalt die Täter nicht an. Aus Angst, häufig aber auch aus mangelndem Vertrauen in den Staat, in Polizei und Justiz, denen sie die Aufklärung der Straftaten nicht zutrauen. Schlechte Erfahrungen sprechen sich eben schnell herum, und so stellen die meisten Opfer derart politisch motivierter Körperverletzungen nicht einmal eine Strafanzeige gegen die Täter.
Unterdessen werden die potenziellen rechtsextremen Gewalttäter immer mehr, von denen derzeit rund 10.000 unter uns in Deutschland leben. So die Schätzungen des Verfassungsschutzes, der es in den vergangenen Jahren nicht vermocht hat, die qualitative Gefährdung durch militante Rechtsextremisten richtig einzuschätzen. Das Auffliegen der Zwickauer Zelle kam da einem politischen Erweckungserlebnis gleich. Diese wachsende Gruppe radikaler Demokratie- und Menschenfeinde stellt ein großes Sicherheitsrisiko dar, das lange Zeit unterschätzt wurde. So warnt das Bundesamt für Verfassungsschutz inzwischen vor Neonazis, die das Motto von den Taten, die Worten vorzuziehen seien, ebenfalls verinnerlicht haben: «Der unvermittelte Angriff auf Menschen, die dem Feindbild der rechtsextremistischen Szene entsprechen, könnte von potenziellen Nachahmern als Strategie nach der vom NSU verwandten These ‹Taten statt Worte› verstanden werden.»[3] Außerdem erhöhe sich wegen der vielfältigen Möglichkeiten der Internetkommunikation «die Gefahr von Gewalttaten durch selbst radikalisierte Einzeltäter oder Kleinstgruppen».
Zwar sind heute Vertreibungen von Migranten durch pogromartige Ausschreitung, wie Anfang der 1990er Jahre in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen unter dem Beifall eines entfesselten Mobs geschehen, kaum noch vorstellbar. Aber dennoch zählt die Bundesregierung immer mehr Verletzte durch rechtsextreme Gewalttaten. Die Brutalität der Täter nimmt zu, heißt es in einer vom Bundesinnenministerium veröffentlichten Studie.[4] Demnach haben deutschlandweit die meisten politisch motivierten Straftaten einen rechtsextremen Hintergrund.
Aber die Ermittlungspannen im Zusammenhang mit den NSU-Terrorakten und der damit einhergehende bislang größte Geheimdienstskandal in der Geschichte der Bundesrepublik zeigen eines ganz deutlich: Dass dieser Staat bislang nicht dazu in der Lage ist, seine Bürger – und damit sich selbst – wirksam vor den Angriffen von rechts zu schützen. Auch deshalb ist es umso wichtiger, das staatliche Vorgehen bei der Bekämpfung rechtsextremer Gewalt ständig in Frage zu stellen und zu verbessern. Gab es schließlich schon vor dem Auffliegen der terroristischen Zelle massives behördliches Versagen im Umgang mit rechtsextremer Gewalt. Diese Unwirksamkeit beschreibt gleichsam einen Zustand staatlicher Wehrlosigkeit gegenüber Rechtsextremisten, der schon seit Jahrzehnten anhält. Dafür gibt es genügend Beispiele: sei es bei den Ausschreitungen gegen Asylbewerber und ehemalige vietnamesische DDR-Vertragsarbeiter in Rostock-Lichtenhagen, bei den Ermittlungen zu den Terroranschlägen, die aus dem Umfeld der zerschlagenen «Wehrsportgruppe Hoffmann» verübt wurden, wie der Bombenanschlag auf das Münchener Oktoberfest am 26. September 1980, der als der schwerste rechtsextreme Terrorakt in der deutschen Nachkriegsgeschichte gilt. Das betrifft aber auch jährlich hunderte rechtsextreme Angriffe, die von Polizei und Justiz nicht als solche erkannt werden. Aus bloßer Unkenntnis oder aus Desinteresse am Rechtsextremismus, der in der Vergangenheit von offiziellen Stellen gerne als «Medienthema» diffamiert – und damit abgetan wurde.
Dabei ist dieser Staat mitnichten auf dem rechten Auge blind; wer dieses strapazierte Bild in die politische Auseinandersetzung trägt, unterstellt in der Regel eine gewisse vorsätzliche Rechtslastigkeit, also quasi eine Sympathie staatlicher Akteure für rechtsextreme Gewalttäter. Etwa so wie sie die «Stützen der Gesellschaft» in der berühmten gleichnamigen Karikatur von George Grosz aus dem Jahr 1926 zur Schau tragen. Zwar herrschen im heutigen Deutschland längst noch keine Weimarer Verhältnisse, und es gibt keine, über Einzelfälle hinausgehende aktive Unterstützung für Rechtsextremisten durch staatliche oder zivilgesellschaftliche Entscheidungsträger, die bekannt wäre, aber dennoch fehlt es am Durchblick: Es mangelt den erwähnten Akteuren schlicht am Erkenntnisinteresse für dieses politische Phänomen, das wiederum stets mit Gewalt einhergeht. Vor allem bei Polizei und Justiz ist das Wissen um die rechtsextremen Gewaltstrategien häufig erschreckend gering. Das ergibt sich aus vielen Gesprächen mit Amtsträgern, etlichen Prozessbeobachtungen in deutschen Gerichten sowie aus der Rekonstruktion von Gewaltfällen. Dabei wäre es doch gerade dort so wichtig, gerade bei denen, die gegen rechtsextreme Gewalt ermitteln und schließlich im rechtstaatlichen Rahmen darüber urteilen sollen. Nicht, dass die dafür erforderlichen Erkenntnisse nicht verfügbar wären: Werden die Strategien von Neonazis doch längst von Wissenschaft und Medien in großen Teilen ausgeleuchtet. Aber was bringt das, wenn der Blick darauf von entscheidender Stelle als unwichtig abgetan wird?
In der Vergangenheit beteuerten die Sicherheitsbehörden stets, es gäbe keine rechtsterroristischen Gruppen in Deutschland. Man hatte die Radikalisierung der rechtsextremen Szene einfach aus den Augen verloren. Da hilft nicht als Entschuldigung, dass es bislang auch keine anderweitigen Studien zum Rechtsterrorismus gibt. Bei dessen Durchdringung stoßen bislang Wissenschaft und Medien ebenso an ihre Grenzen. So stellt beispielsweise das «Institut für Gewalt- und Konfliktforschung» an der Universität Bielefeld fest, dass «es aktuell keine Zahlen oder konkrete Hinweise auf aktive oder passive rechtsterroristische Zellen gibt. Zu betonen ist jedoch, dass das Modell der Zellenbildung und die Strategie des konspirativen Untergrundkampfes keineswegs neu sind und bereits bei der Gründung der Zwickauer Zelle in vielen rechtsextremen Gruppen diskutiert wurde.»[5] Allerdings bemerken die Wissenschaftler dort zu Recht, dass sie nicht über die Möglichkeiten geheimdienstlicher Informationsbeschaffung verfügen und dass die Terrorzellen «abgedichtete Außengrenzen im Untergrund haben, also öffentlich nicht zugänglich sind». Aber selbst mit solchen Möglichkeiten waren die Sicherheitsbehörden noch nicht einmal in der Lage, den NSU überhaupt wahrzunehmen.
Natürlich verdient es Anerkennung, wenn ehrenamtliche politische Aktivisten, Kirchen- und Gewerkschaftsvertreter sich des Rechtsextremismus als Thema annehmen, sich in Bündnissen für Demokratie und an runden Tischen für Toleranz organisieren, um der rechtsextremen Gewalt – vor allem auf lokaler Ebene – zu begegnen. Aber solange Behörden und Regierungspolitiker sich nicht aktiv um Erkenntnisse zu rechtsextremen Strategien bemühen, wird die Zahl der unbekannten und ungeklärten Fälle rechtsextremer Gewalt genauso wenig zurückgehen, wie die der bekannten Fälle «politisch motivierter Kriminalität (PMK) rechts», wie sie auf Amtsdeutsch heißt. Immerhin hat sich die «Ständige Konferenz der Innenminister und -Senatoren des Bundes und der Länder» – kurz Innenministerkonferenz (IMK) – 2001 auf eine Definition für diese besondere Art der Gewalt verständigt.
«Als politisch motiviert gilt eine Tat insbesondere dann, wenn die Umstände der Tat oder die Einstellung des Täters darauf schließen lassen, dass sie sich gegen eine Person aufgrund ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft, sexuellen Orientierung, Behinderung oder ihres Erscheinungsbildes bzw. ihres gesellschaftlichen Status richtet.»[6]
Weil aber die meisten derartig motivierten rechtsextremen Gewalttaten ungeahndet bleiben, kommt es seitens der Opfergruppen zu einem weiteren Vertrauensverlust gegenüber dem Staat. Vor allem die Vertrauenskrise zwischen den in Deutschland lebenden Migranten und dem Staat wird so verschärft. Zum Beispiel bei den 2,5 Millionen hier lebenden Menschen türkischer Herkunft, denen nicht erst durch den Mord an acht Kleingewerbetreibenden aus ihrer Mitte durch die NSU-Terroristen die Lebensgefahr bewusst wurde, die Neonazis für sie darstellen können. Spätestens seit dem feigen Brandanschlag auf das Haus der türkischstämmigen Familie Genç in Solingen, bei dem fünf Familienmitglieder starben, zu einer Zeit, als in Deutschland die Demokratie in Flammen stand, wissen sie, dass der Hass mancher Deutscher tödlich sein kann. «Seit diesem 29. Mai 1993 gibt es im kollektiven Bewusstsein der Türken ein Deutschland vor Solingen und eines nach Solingen», schrieb dazu treffend die «Zeit».[7]
Durch die NSU-Affäre wurde das Vertrauen der Zuwanderer in den Staat, das bei vielen ohnehin nur noch schwach ausgeprägt war, weiter erschüttert. Zu diesem Ergebnis kam eine gemeinsame Studie des Instituts für Migrations- und Politikforschung der Hacettepe-Universität Ankara sowie des Berliner Meinungsforschungsinstituts SEK-POL/Data4U, die einige Wochen nach dem Auffliegen der Terrorzelle im November 2011 veröffentlicht wurde: Demnach befürchten etwa drei von vier Umfrageteilnehmern weitere rassistisch motivierte Morde in Deutschland. Und fast 40 Prozent haben Angst davor, dass sie selbst oder Freunde und Bekannte Opfer ähnlicher Morde durch Neonazis werden könnten.[8] Eine weitere repräsentative Umfrage, die auf den Aussagen von 1011 Deutschtürken beruht, kam etwas später zu dem Ergebnis, dass immer mehr von ihnen rassistisch angegriffen werden. Das Meinungsforschungsinstitut Info stellte fest, dass die Zahl derer, die angab, bereits körperlich «wegen ihrer türkischen Abstammung» angegriffen worden zu sein, von acht Prozent auf 16 Prozent angestiegen sei. Gleichzeitig kam die Studie zu dem Schluss, dass sich immer mehr Deutschtürken abschotteten.[9] Rechtsextreme Gewalt wirkt also der Integration von Migranten auch deshalb entgegen, weil diese sich nicht willkommen fühlen. Zumal die Gewalt sie besonders dort trifft, wo viele von ihnen leben: in den Großstädten Westdeutschlands.
«Bisher haben wir fast nur nach links geschaut, das war halt die Vorgabe, und an die neue Blickrichtung müssen wir uns erst gewöhnen», sagte ein Staatsschützer, also ein für politische Straftaten zuständiger Polizeibeamter, kurz nachdem der NSU aufgeflogen war. Das ist umso bemerkenswerter, als die Kommune, in der sein Schreibtisch steht, nicht nur ein erhebliches Problem mit rechtsextremer Gewalt hat. Hier wurde auch eines der Mordopfer von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt getötet, und auch ihr Freund, der Kameradschaftsaktivist Ralf Wohlleben, hatte gute Kontakte in die lokale rechtsextreme Szene. Häufig also wurde der Blick nach rechts vernachlässigt, weil der nach links als wichtiger empfunden wurde.
Aber jetzt, nach dem Auffliegen der «Zwickauer Zelle», schalteten auch die staatlichen Stellen auf rechts um, die bei der Problematisierung des Linksextremismus zuletzt als Impulsgeber agiert hatten, allen voran der Verfassungsschutz. Dabei hatte die Bundesregierung in den zurückliegenden Jahren die Gleichsetzung von Links- mit Rechtsextremismus noch vorangetrieben: Die beiden Regierungsfraktionen CDU/CSU und FDP hatten es so in ihrem Koalitionsvertrag vom 26. Oktober 2009 vereinbart. Dort war die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus in einer umfassenden Extremismusbekämpfung aufgegangen: «Gewalttätige und extremistische Formen der politischen Auseinandersetzung nehmen wir nicht hin. Extremismen jeder Art, seien es Links- oder Rechtsextremismus, Antisemitismus oder Islamismus, treten wir entschlossen entgegen. […] Die Aufgabenfelder des Fonds für Opfer rechtsextremistischer Gewalt sowie des Bündnisses für Demokratie und Toleranz sollen auf jede Form extremistischer Gewalt ausgeweitet werden.»[10] Dahinter stand die Gleichsetzung des politischen Extremismus. Demzufolge also auch der verstärkte Kampf gegen den Linksextremismus. Die Auseinandersetzung mit dem Islamismus war bereits nach dem 11. September 2001 in den Fokus der Sicherheitsbehörden gerückt. Und im Bundesamt für Verfassungsschutz wurden 2006 die bis dahin separaten Einheiten zur Bekämpfung von Rechts- und Linksextremismus zusammengelegt. Auf Wunsch des damaligen Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble (CDU).
Als Roland Jahn, ehemaliger Bürgerrechtler aus Jena, Journalist und heute Bundesbeauftragter für die Stasiunterlagen, noch Redakteur eines Politmagazins im deutschen Fernsehen war, kommentierte er die Themenauswahl zum Rechtsextremismus im Gespräch mit den Autoren der Sendung häufig wie folgt: Man solle ihm erst einmal zeigen, wo die Nazis demokratische Spielregeln verletzten. Nur dann sei es auch ein Thema. Neonazis in Parlamenten? Gehören zur Demokratie, weil sie von Menschen – in freien Wahlen – dorthin gewählt worden sind! Neonazis bei Aufmärschen auf deutschen Straßen? Auch für sie gilt das Recht der öffentlichen Meinungsbekundung! Aber die Grenze der Demokratie heißt Gewalt. Daraus folgt, dass die Antwort auf Gewalt keine ideologische Frage sein darf, die sich auf einen Kampf «links» gegen «rechts» beschränkt. Es geht vielmehr darum, dass Menschen beleidigt, verletzt oder gar getötet werden, und es geht darum, Demokratie und Menschenrechte zu wahren, weil sie die Unversehrtheit aller Menschen garantieren. So sehen es auch der Politikwissenschaftler Claus Leggewie und der Jurist Horst Meier, die daraus eine Formel für den Republikschutz ableiten: «Wo immer also Gewalt ins politische Spiel kommt, ist eine Grenze erreicht, die niemand ungestraft überschreitet. Republikschutz ist so weit wie möglich liberal, an der Gewaltgrenze aber rigoros und kompromisslos: Wer die demokratischen Spielregeln verletzt, handelt ‹verfassungswidrig› – einerlei, auf welche Ideologie er sich beruft.»[11] Von Rechtsextremisten wird diese Grenze laufend überschritten. Denn Gewalt ist Teil ihrer Ideologie der Ungleichwertigkeit, für die sie töten.
Dieses Buch liefert eine Anatomie rechtsextremer Gewalt anhand beispielhafter Fälle, die über Jahrzehnte in Traditionslinien zusammenlaufen: Angefangen auf beiden Seiten des geteilten Deutschlands, in dem sich im Westen Rechtsterroristen im Widerstand gegen fremde Besatzer sahen und sich im Osten rechtsradikale Skinheads in der Rebellion gegen eine Gesellschaftsordnung, die sie ablehnten. Es erklärt im ersten Teil die Gewalt der Nachwendejahre, in denen mit den Asylbewerberunterkünften auch die Demokratie in Flammen stand, der Mob zeitweise die Macht auf den Straßen übernahm und die Radikalisierung der rechten Szene bis hin zum Rechtsterrorismus des NSU begann. Es geht um die Gewalt und um ihre Ursachen. Dabei zeigt dieses Buch die Gewalt aus nächster Nähe – als festen Bestandteil der rechtsextremen Ideologie. Dies ist der entscheidende Zusammenhang, den die Sicherheitsbehörden, den Polizei und Justiz häufig übersehen, weil sie das politische Motiv hinter der Gewalt nicht erkennen, zumal sie an Straftatbestände gebunden sind. Auch weil sich zumindest an Letzterem nichts ändern wird, ist die Bekämpfung der rechtsextremen Gewalt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Ohne gegen menschenfeindliche Einstellungen vorzugehen, die anschlussfähig zur rechtsextremen Gewalt sind, und ohne die schwachen gesellschaftlichen Gruppen aufzuwerten, ist diese Aufgabe nicht zu bewältigen. Migranten werden zu Opfern von Neonazis, weil sie eine gesellschaftliche Randgruppe sind, nicht trotzdem. Den Ermittlern in der NSU-Mordserie fehlte es jedenfalls an Vorstellungskraft, dass ihre Opfer aus genau diesem Grund getötet worden sein könnten.
Auch deshalb gelang es ihnen nicht, den bekenntnislosen Rechtsterrorismus des NSU zu erkennen, der sich nicht unmittelbar gegen den Staat wandte, sondern die Vernichtung seiner Opfergruppe – vorrangig türkischstämmige Migranten – zum Selbstzweck erhob. Dabei folgen Neonazis in ganz Deutschland täglich dieser Strategie in ihrem Kampf um Deutungshoheit auf Straßen und Plätzen, wo sie «national befreite Zonen» erkämpfen: Ihre Gewalt richtet sich direkt gegen ihre Opfer und nur sehr mittelbar gegen den Staat. Das unterscheidet sie grundsätzlich von linksextremer Gewalt, die das Denken der Zuständigen in der Bundesrepublik seit dem Ende der 1960er Jahre dominiert hat. Die rechtsextreme Gewalt konnte auch deshalb wüten, weil Politik und Gesellschaft den Kampf gegen den linken Terror zu einem Dogma erhoben und weil die Opfer von Neonazis kaum eine Lobby haben. Ebenso konnte sie sich in den vergangenen Jahren in Westdeutschland zunächst fast unbemerkt ausbreiten, weil sie – den Erfahrungen der 1990er Jahre folgend – vor allem in Ostdeutschland verortet wurde. Dabei ist rechtsextreme Gewalt ein gesamtdeutsches Phänomen, so wie der Rechtsextremismus selbst, der aber in regional unterschiedlicher Ausprägung erscheint. Darauf wirft vor allem der zweite Teil dieses Buches einen genauen Blick, auf unorganisierte rassistische Gewalttäter in Brandenburg wie auf strategisch ausgerichtete «Autonome Nationalisten» in Nordrhein-Westfalen. Er versucht das Wesen der rechtsextremen Gewalt aus unterschiedlichen Perspektiven zu durchdringen, von Seiten der Täter ebenso wie von Seiten der Opfer, ihres jeweiligen Umfelds, der Polizei und der Gerichte.
Zu Grunde liegen etliche Gespräche und Interviews mit Neonazis, Opfern rechtsextremer Gewalt, mit Polizisten, Juristen, Wissenschaftlern und Mitarbeitern zivilgesellschaftlicher Einrichtungen, die sich mit rechtsextremer Gewalt beschäftigen. Als Quellen dienten ferner wissenschaftliche Literatur, journalistische Texte und Fernsehbeiträge, parlamentarische Anfragen, rechtsextremistische Veröffentlichungen, Prozessbeobachtungen und Akten. Am Ende bleibt immer die rechtsextreme Ideologie als Tatmotiv, auf die alles zuläuft. Den Rechtsextremismus zu verstehen ist deshalb die Voraussetzung zur Eindämmung der Gewalt, die ihm immanent ist. Dazu soll dieses Buch einen Beitrag leisten. Denn es zeigt die rechtsextreme Gewalt vor allem als das, was sie ist: eine politische Strategie, die mit Parolen einsteigt und vor dem Töten nicht Halt macht. So bleibt als Erbe des Rechtsterrorismus des NSU – wie es im dritten und letzten Teil beschrieben wird – vor allem die Lehre aus dem bisherigen Unverständnis gegenüber rechtsextremer Gewalt: nämlich endlich eine politische und gesellschaftliche Empfindsamkeit dafür zu schaffen.
Wenn Odfried Hepp rückblickend über seine Zeit als Rechtsterrorist in der Bundesrepublik der frühen 1980er Jahre spricht, dann fällt in seinen Antworten regelmäßig die Abkürzung der linksterroristischen «Roten Armee Fraktion» (RAF), auch die «Revolutionären Zellen» tauchen in dem Gespräch gelegentlich auf. Er nennt die organisierten Linksterroristen ein «Vorbild» an Entschlossenheit, Organisation und Wirksamkeit. Tatsächlich sind viele rechtsextremistische Gewalttäter bis heute von dem Mythos der RAF gebannt.
Während der Terror der RAF und anderer linksterroristischer Gruppen die Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden, der Regierungspolitiker und der Medien in der alten Bundesrepublik absorbierte, entwickelte sich der rechte Terror zu einer ebenso Tod bringenden Gefahr, die am 26. September 1980 ihren Höhepunkt erlebte. Bei dem Anschlag auf das Oktoberfest in München starben 13 Menschen, darunter der mutmaßliche rechtsextreme Täter. Der rechte Terror verschwand allerdings nach jedem Anschlag wieder aus dem Blick der Öffentlichkeit. Aber mit der RAF beschäftigt sie sich fortwährend – bis heute. Viele linke Kritiker behaupten, dass dies etwas über die politische Grundausrichtung der bundesrepublikanischen Gesellschaft aussage. Daraus lässt sich möglicherweise eine interessante Fragestellung formulieren. Aber eine greifbare Ursache für die einseitige Gewichtung des linken Terrors ist ganz sicher die Prominenz der meisten RAF-Opfer aus Politik, Wirtschaft und Justiz. Sie nehmen bis heute in der Öffentlichkeit wesentlich mehr Raum ein als beispielsweise die neun migrantischen Kleinunternehmer, die von den Mitgliedern des NSU erschossen wurden. Zwar verbietet sich eine Opferhierarchie, aber die von der RAF verübten Morde etwa an dem Generalbundesanwalt Siegfried Buback oder dem Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer lösten in Politik und Medien eine ungleich größere Dynamik aus als später die NSU-Morde an dem türkischen Dönerladenbesitzer Ismail Yaşar oder an dem griechischen Mitinhaber eines Schlüsseldienstes, Theodoros Boulgarides. Im Unterschied zum RAF-Terror, nach dem vor allem die Opfer – und das völlig zu Recht – ins kollektive Gedächtnis der (West-) Deutschen eingingen, ist die Beschäftigung mit dem NSU-Terror nunmehr eine mit den Tätern: Präsent sind die Bilder von Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, nicht die von Ismail Yaşar oder Theodoros Boulgarides. Das hat auch mit dem Wesen rechtsextremer Gewalt zu tun, die sich inzwischen vorwiegend gegen schwache Gruppen richtet. Das ist der wesentliche Unterschied zwischen rechtsextremer und linksextremer Gewalt, die den Staat, beispielhafte Vertreter des kapitalistischen Systems und inzwischen auch Neonazis trifft. Noch bis zur Wiedervereinigung entlud sich die rechtsextreme Gewalt in beide Richtungen gleichermaßen: gegen Migranten und politische Gegner einerseits, andererseits aber gegen den Staat, so wie der RAF-Terror.
Das Phänomen der linksextremistischen Gewalt ist heute immer noch präsent, aber längst keine tödliche Gefahr oder existenzielle Bedrohung mehr für den Staat oder das allgemeine friedliche Zusammenleben in Deutschland. Das letzte Todesopfer der RAF gilt auch als das letzte der linksextremen Gewalt in Deutschland insgesamt: der Polizist Michael Newrzella, der am 27. Juni 1993 infolge einer Schießerei bei der Festnahme des RAF-Terroristen Wolfgang Grams in Bad Kleinen ums Leben kam. Newrzella, Beamter der Antiterroreinheit des damaligen Bundesgrenzschutzes, GSG9, war das 33. Todesopfer der RAF.
Unterdessen morden rechtsextreme Gewalttäter bis in die Gegenwart. Allein in der Zeit, als Odfried Hepp aktiver Rechtsterrorist war, starben mehr Menschen durch rechtsextreme Täter als in allen Jahren zusammen, in denen die RAF aktiv war. Odfried Hepp verübte Ende 1982 mit fünf weiteren Mitgliedern seiner rechtsterroristischen Gruppe mehrere Bombenanschläge auf Autos von US-Soldaten, in Frankfurt/Main, Butzbach, Gießen und in Darmstadt. Dort wurde ein Soldat lebensgefährlich verletzt. Bei insgesamt sieben Banküberfällen erbeuteten die Rechtsterroristen über 600.000 D-Mark. Die Gruppe orientierte sich früh am Beispiel der RAF, die sich ebenfalls durch Banküberfälle finanzierte und auch das Militär der alliierten Siegermächte zum Ziel ihrer terroristischen Anschläge erhob. Odfried Hepp wollte die Strategie der RAF allerdings weiterentwickeln, wie er heute sagt: «Selbst mit einer professionellen Struktur und einer konspirativen Unterstützerszene, besten Verbindungen ins Ausland und ein paar Dutzend zu allem entschlossener Aktivisten war sie trotz einer Reihe schwerster Anschläge auf oberster politischer und militärischer Ebene nicht in der Lage, den Staat wirklich ins Wanken zu bringen.»
Die Hepp-Kexel-Gruppe, benannt außerdem nach Hepps Weggefährten Walter Kexel, war aus dem militanten Geist des politischen Extremismus der 1970er Jahre entstanden. «Wir haben uns als 100-prozentige Nationalsozialisten verstanden, als Patrioten und sahen uns in diesem Zustand der Besatzung, der Ausbeutung unseres Volkes», sagt Hepp, der in der völkischbündischen «Wiking-Jugend» groß geworden war, beeinflusst von ehemaligen Mitgliedern der Waffen-SS. «Nun war es unsere Sache, gegen die Besatzung Widerstand zu leisten.» Auch damals ging es diesen Neonazis schon um Taten statt Worte. Und wie andere rechtsextreme Gewalttäter auch, sahen sie ihr Handeln durch eine Notwehrsituation gerechtfertigt: «Wir hatten ja in Notwehr jedes Recht uns zu wehren, wie jedes andere Volk auch, das besetzt ist und ausgebeutet wird», sagt Odfried Hepp heute. Sein Freund Walter Kexel war schon früh Mitglied der Wehrsportgruppe-Hoffmann (WSG), in der viele Neonazis in den 1970er Jahren ihre militärische Ausbildung erhielten.
Odfried Hepp ist ein unscheinbarer freundlicher Mann mit einem sanften Händedruck und dem weichen Idiom der Badener. Er spricht sehr leise, man muss ihm aufmerksam folgen, um seine Worte zu verstehen. Geboren ist er 1958, aber seine äußere Erscheinung wirkt, als hätten die zehn Jahre in deutschen Gefängnissen seinen Körper konserviert. Nach einem Festnahmeversuch 1983 in West-Berlin, bei dem Walter Kexel verhaftet wurde, flüchtete Odfried Hepp nach Ost-Berlin. Unter dem Schutz des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) folgt eine Odyssee durch die DDR, Syrien und Frankreich, bis er schließlich 1985 in Paris vom französischen Geheimdienst verhaftet wird – an der Bar des Hilton Hotels: bei dem Versuch, sich einen falschen britischen Pass zu kaufen. Die Stasi hatte Hepp noch in der DDR mit einem Reisepass ausgestattet, der inzwischen abgelaufen war. Nach der Wende rekonstruierte der «Spiegel» die Beziehung zwischen dem Terroristen und der Stasi anhand der nun einsehbaren Stasi-Akten.[12] Die DDR-Botschaft in Paris schleuste ihm dann noch einen literarischen Gruß ins dortige Gefängnis: ein Buch für die Anstaltsbibliothek, in dem es um die Bekehrung eines Hitlerjungen zum Kommunismus geht. Zwei Jahre nach der Verhaftung an der Hotelbar wurde Hepp schließlich an die Bundesrepublik ausgeliefert, wo er dann vom Oberlandesgericht Frankfurt wegen der Bombenanschläge und Banküberfälle von 1982 zu zehn Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt wurde.
Zuvor gehörte er zu den weltweit am meisten gesuchten Terroristen. In der DDR lebte er zeitweilig in demselben Forsthaus in Briesen bei Frankfurt/Oder, in dem die Stasi bereits einige Mitglieder der RAF untergebracht hatte. Als Rechtsterrorist sah Odfried Hepp sich in der Rolle eines «anti-imperialistischen Nationalrevolutionärs», wie er heute sagt. Den Kampf gegen das kapitalistische System und den Anti-Amerikanismus hatte seine Gruppe mit der RAF gemein. Mit seinem Freund Walter Kexel, der sich nach seiner Verurteilung in der Haft erhängte, verfasste Hepp vor ihren Bombenanschlägen ein terroristisches Manifest («Abschied vom Hitlerismus»), in dem sie der RAF eine Zusammenarbeit anboten. Bis auf ein informelles Treffen mit einem Kontaktmann der RAF in Frankfurt/Main wurde aus dieser Vision allerdings nichts.
Hepp und seine politischen Freunde hatten erkannt, dass vor allem die Bedrohung der einfachen Armeeangehörigen und ihrer Familien für eine große Verunsicherung bei den US-Amerikanern sorgte. Man beschloss also, einmalig einen Mehrfachanschlag nach dem Vorbild der nordirischen Terrororganisation «Irish Republican Army» (IRA) auf die US-Streitkräfte zu verüben. Dazu reiste die Gruppe auch nach Belfast, wo sie sich bei IRA-Mitgliedern informierte. Wie die Aktivisten der RAF, hatten die Rechtsterroristen Kexel und Hepp eine besondere Nähe zur PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation).
Zu diesem Zeitpunkt waren die Beziehungen zwischen der palästinensischen Befreiungsbewegung und deutschen Neonazis allerdings schon etwas älter, was aber dreißig Jahre lang ein Geheimnis des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) bleiben sollte: Erst danach veröffentlichte der «Spiegel» ein Fernschreiben der Dortmunder Kriminalpolizei vom Juli 1972 aus den Akten des BfV, in dem steht, dass sich Saad Walli, ein Mann «arabischen Aussehens», konspirativ mit dem deutschen Neonazi Willi Pohl getroffen habe, der gegenüber seinem damaligen Arbeitgeber mit Kontakten zum radikalen Flügel der PLO geprahlt habe.[13] Saad Walli war ein Deckname des palästinensischen Terroristen Abu Daud, des Drahtziehers des Olympia-Anschlags von 1972, der in einem Dortmunder Hotel Quartier bezogen hatte. Laut «Spiegel» hatte der Neonazi Pohl Abu Daud nicht nur einen im Fälschen von Pässen und anderen Dokumenten versierten Kumpan vermittelt, sondern ihm auch anderweitig geholfen. Das Nachrichtenmagazin zitiert den ehemaligen Neonazi Pohl, der sich inzwischen vom Rechtsterrorismus losgesagt hatte, und als Krimi-Autor arbeitete: «Ich habe Abu Daud quer durch die Bundesrepublik chauffiert, wo er sich in verschiedenen Städten mit Palästinensern getroffen hat.» Die palästinensische Terrororganisation «Schwarzer September» nahm schließlich elf Athleten der israelischen Mannschaft im olympischen Dorf von München als Geiseln. Zwei von ihnen wurden bei der Geiselnahme erschossen. Bei einem gescheiterten Befreiungsversuch der Polizei auf dem Militärflugplatz Fürstenfeldbruck bei München starben alle verbliebenen neun Geiseln, ein deutscher Polizist und fünf der Terroristen. Anschließend hätten die Palästinenser weitere Aktionen geplant, so der «Spiegel»: Im Auftrag des PLO-Geheimdienstchefs Abu Ijad sollte Willi Pohl demnach Geiselnahmen im Kölner Dom und in Rathäusern deutscher Großstädte vorbereiten. Ende Oktober 1972 wurden er und ein Komplize mit Maschinenpistolen, Handgranaten und anderem Kriegsgerät in München festgenommen.
Trotz erdrückender Beweislage wurde Pohl zwei Jahre später nur wegen unerlaubten Waffenbesitzes zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten verurteilt. Vier Tage nach dem Richterspruch war der Terroristenkomplize aber wieder frei – und setzte sich nach Beirut ab. Dazu spekuliert das Nachrichtenmagazin, dass die Behörden womöglich befürchtet hätten, Pohl könne ebenso freigepresst werden wie die drei überlebenden Attentäter von München, die nach der Entführung einer Lufthansa-Maschine 1972 wieder auf freien Fuß gekommen waren.
Odfried Hepp hatte vor den Bombenanschlägen 1982 im Rhein-Main-Gebiet eine Waffen- und Sprengstoffausbildung in den Trainingslagern der PLO durchlaufen. «Danach waren wir keine ängstlichen Grünschnäbel mehr», stellt er rückblikkend fest. Mit der Beute aus den Banküberfällen wollten Hepp und Kexel in West-Berlin eine «Deutsche Befreiungsorganisation» gründen. «Wir sind in die Banken gegangen und haben uns das Geld geholt, so wie die Sandinisten es auch gemacht haben», sagt der ehemalige Rechtsterrorist Hepp und fügt damit seinen linken Vorbildern gleich noch die Guerillaorganisation «Frente Sandinista de Liberación Nacional» (FSLN) zu, die mit ähnlichen Methoden 1979 die Diktatur der Somoza-Dynastie in Nicaragua gestürzt hatte. Die Verbindung zu palästinensischen Terroristen, wie sie auch die RAF besaß, hielt bei dem Rechtsterroristen Odfried Hepp noch jahrelang. So sollte er schließlich – nunmehr als Gefangener des französischen Staates – bei der Entführung des Kreuzfahrtschiffes «Achille Lauro» vom 7. Oktober 1985 durch die «Palestine Liberation Front» (PLF) freigepresst werden, als Mitglied einer insgesamt 50-köpfigen Gruppe des Terrors bezichtigter Palästinenser sowie einiger Gesinnungsgenossen, darunter als einziger Nicht-Palästinenser der Neonazi und PLF-Offizier Odfried Hepp, der unter dem Kampfnamen Omar Saad Tariq jahrelang für die PLF agierte.[14]
Zu Beginn seiner Karriere als Rechtsterrorist hatte er sieben Jahre zuvor mit Walter Kexel und einigen anderen Neonazis die Befreiung des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß aus dem Kriegsverbrechergefängnis in Spandau, im britischen Sektor Berlins, geplant. Auch eine solche Aktion hatte für den damals 20-jährigen Neonazi Hepp ein reales Vorbild in den erfolgreichen Gefangenenbefreiungen der RAF. Dabei ging es der Gruppe allerdings nicht nur um die Befreiung ihres Idols Rudolf Heß, der seiner Unbeugsamkeit wegen bis heute die wichtigste Ikone der Neonazibewegung ist. Sie wollten am Eingang des Wachgebäudes in Spandau eine Bombe mit «zehn oder 20 Kilogramm Sprengstoff militärischer Herkunft platzieren». Damit wollten sie zum Wachwechsel möglichst viele britische Wachsoldaten töten. Neben Odfried Hepp und Walter Kexel gehörte auch der spätere NPD-Politiker und diplomierte Chemiker Peter Naumann aus Wiesbaden zu den Verschwörern. Der Sprengstoffexperte sollte sich aber unabhängig von seinen beiden Weggefährten zu einem eigenständigen Rechtsterroristen entwickeln. Zu dem Anschlag in Spandau kam es nicht, weil sich die Gruppe der Grünschnäbel zerstritten hatte. Aber Peter Naumann sprengte bereits ein Jahr später gemeinsam mit Komplizen zwei Fernsehmasten, um die Ausstrahlung einer Fernsehserie zu sabotieren: Tatsächlich hatten in Folge des Anschlags 1979 mehrere 100.000 Menschen zeitweilig keinen Bildempfang während der Ausstrahlung einer Folge von «Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiß».
Nach der Wende waren es dann auch ostdeutsche Neonazis, die sich wie Odfried Hepp oder Willi Pohl an der RAF orientieren. Zum Beispiel eine militante Gruppe von Neonazis, die sich nach dem Mauerfall in einem Haus in der Weitlingstraße 122 in Berlin-Lichtenberg verschanzten. Auch dort galt die RAF als Vorbild. So beschrieb es ihr ehemaliger Anführer Ingo Hasselbach, der 1990 mit der «Nationalen Alternative» die erste neonazistische Partei der DDR gegründet hatte und nach seinem öffentlichen Szeneausstieg 1993 vor der Gewaltbereitschaft der Neonazis aus der Weitlingstraße warnte: «Der führende nationale Sozialist von Hamburg, Christian Worch, ermunterte mich, in Berlin ein Haus zu besetzen […] Es war bald in ganz Deutschland medienbekannt, und wir bekamen Zulauf aus der gesamten Bundesrepublik.» Unter anderen von dem Teenager Kay Diesner aus Berlin-Marzahn: «Diesner war jemand, an dessen Entwicklung ich einen konkreten Anteil hatte. Unter meiner Leitung nahm er zwischen 1990 und 1992 an Kameradschaftsabenden, Wehrsportlagern und illegalen Aktionen teil.» Wenige Jahre später passiert es dann: Am 23. Februar 1997 erschießt Kay Diesner mit einer Pumpgun einen Polizisten auf einem Parkplatz an der A 24 in Schleswig-Holstein, ein zweiter Beamter wird bei dem Anschlag schwer verletzt. Der Täter ist jetzt Mitglied der Neonazigruppe «Weißer Arischer Widerstand» (WAW). Er sagt aus, dass er sich «gegenüber dem Staat in einer Notwehrsituation» befinde. Mit einem Handbuch der US-Armee als Unterrichtsmaterial hatte Hasselbach auch Diesner beigebracht, mit scharfen Waffen umzugehen. Und auch beim Polizistenmörder Michael Berger verfing der RAF-Mythos: Nachdem der Dortmunder Neonazi am 14. Juni 2000 drei Polizisten erschossen und sich anschließend selbst gerichtet hatte, stießen Polizisten in seiner Wohnung neben einem Schusswaffenarsenal an einer Wand auf das Logo der RAF.
Über die geschwungene Straße von Erlangen aus hoch nach Ermreuth braust über die Gegenfahrbahn tatsächlich ein schweres Meldekrad, dessen Fahrer einen schwarz lackierten Wehrmachtshelm trägt und auf dem rechten Ärmel seiner Jacke die Applikation eines Eisernen Kreuzes. Es ist mitten im mittelfränkischen Sommer und sehr warm, das Getreide steht hoch. Drinnen, in der Küche von Schloss Ermreuth ist es kühl, noch dazu abgedunkelt. Der Hausherr, Karl-Heinz Hoffmann, zeichnet das Interview mit einer Videokamera auf, über dem Tisch hängt eine provisorische Lampe, um das Gespräch in Szene zu setzen. Sobald die Kamera signalisiert, dass ein Band zu Ende geht, wird Hoffmann stumm. Er will jede Silbe auf Band. Das ist die Bedingung von Wehrsportgruppen-Hoffmann, dem «Chef», diesen Beinamen trägt er bis heute – in Anlehnung an den SA-Chef Ernst Röhm. Inzwischen ist er ein drahtiger alter Mann mit kurz geschorenem lichten weißen Haar und einem spitz zulaufenden Bart. Lange Jahre galt der gelernte Porzellanmaler und Gebrauchsgraphiker als der personifizierte Rechtsterrorismus bundesrepublikanischer Prägung. Mit diesem Bild will er jetzt aufräumen, im Herbst seines bewegten Lebens. Es wird ihm nicht gelingen. Dafür ist das Bild einfach zu stark. Auch wenn nie bewiesen wurde, dass er selbst als Rechtsterrorist Hand angelegt hat, sind doch viele rechtsextreme Gewalttäter durch seine Hände gegangen. Übrigens auch Odfried Hepp, bevor dieser anfing Bomben zu zünden und Banken zu überfallen.