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Klaus Kreiser

GESCHICHTE DER
TÜRKEI

Von Atatürk bis zur Gegenwart

C.H.Beck


Zum Buch

Die moderne Türkei entstand auf den Trümmern des Osmanischen Reiches. Nach der Gründung der Republik im Jahr 1923 entwickelte sich das Land in wenigen Generationen zum bevölkerungsreichsten und wirtschaftlich stärksten Staat der Region. Klaus Kreiser beschreibt die politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung des Landes und erklärt die wichtigsten innen- und außenpolitischen Spannungsfelder, die das Land heute in Atem halten: der wachsende Einfluss des Islams, der Umgang mit Minderheiten und Flüchtlingen, die Rolle der Türkei im syrischen Bürgerkrieg sowie das Verhältnis zu den europäischen Nachbarn.

Über den Autor

Klaus Kreiser ist Professor em. für Türkische Sprache, Geschichte und Kultur. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. «Atatürk. Eine Biographie» (C.H.Beck Paperback, 2. Aufl. 2014) sowie «Geschichte Istanbuls» (2010).

Inhalt

Vorbemerkung

Karten

Vorwort

1. Das Osmanische Reich in einer Nussschale?

2. Die Republik vor der Republik (1920–1923)

3. Revolutionen und Reformen (1923–1928)

4. Von der Überzeugung zum Zwang (1928–1938)

5. Zwischen Wölfen: Erfolgreiche Neutralität (1938–1945)

6. Ein demokratisches Experiment (1945–1960)

7. Verlorene Jahrzehnte? (1960–1980)

8. Vom Putsch des Generals Evren bis zu den Wahlsiegen Erdoğans (1980–2020)

Zeittafel

Literaturhinweise

Personenregister

Geographisches Register

Karten

Die Türkei beim Tod Atatürks 1938

Vorbemerkung

Vorbemerkung: Türkische Familiennamen werden im Interesse eines besseren Verständnisses auch bei der Darstellung von Ereignissen vor ihrer Einführung (1934/35) verwendet. Mustafa Kemal wird dementsprechend schon vor 1935 als Atatürk bezeichnet.

Vorwort

Die Gründung der Republik Türkei im Jahr 1923 war gewiss das wichtigste Datum zur historischen Abgrenzung gegenüber dem über 600 Jahre alten Osmanischen Staat. Aber auch die jungtürkische Revolution von 1908, mit der viele Reformen eingeleitet wurden, der Beginn des anatolischen Widerstands gegen die griechische Besatzung (1919) und das 1925 erlassene «Gesetz zur Wiederherstellung der Ordnung» bildeten einschneidende Wendepunkte. Von der türkischen und ausländischen Historiographie wurde diese Vor- und Frühgeschichte der Republik lange unter der Überschrift Widerstand, Rebellion und Revolution vermittelt. Die von Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938) und seinen Mitstreitern angestoßenen Umwälzungen kann man, je nach Einstellung, als zivilisierende und demokratische Revolutionen bewerten, als wohlwollende Erziehungsdiktatur oder als jakobinische Exzesse – die wichtigste Zäsur stellten sie unbestritten dar. Jedenfalls waren es weder bürgerliche noch bäuerliche, schon gar nicht proletarische Revolutionen, die aus der Konkursmasse des Osmanischen Reiches wieder den wichtigsten Staat zwischen Südosteuropa und dem Nahen Orient gemacht haben, sondern die Projekte einer Elite aus Militärs und Bürokraten. Die Türkei hat sich nach 1922 an keinem bewaffneten Konflikt mehr beteiligt, wenn man von der Korea-Mission unter der Ägide der Vereinten Nationen (1950–1953) und der Besetzung von Teilen Zyperns (1974) absieht. Die von Atatürk und seinem Nachfolger İsmet İnönü (1884–1973) verfolgte Balancepolitik, die eher auf Sicherheitspakte als auf Aufrüstung setzte, bestand ihre Belastungsprobe im Zweiten Weltkrieg. Ab den 1950er Jahren trieb das Land konsequent die Integration in westliche und globale Bündnissysteme voran. Die kemalistische Einparteien-Herrschaft wurde fast reibungslos in eine parlamentarische Demokratie übergeführt.

Das türkische Parteiensystem ist durch zwei große, nicht allzu starre Blöcke charakterisiert, deren Wurzeln in die spätosmanische Zeit zurückverfolgt werden können und deren Gegensätze nur in der Phase der Einheitspartei (1926–1946) kaschiert wurden. Auf der einen Seite stehen die laizistische «Volkspartei» und ihre Nachfolger, mit der sich Städter im Westen des Landes, Militär, Bürokratie, Hochschulangehörige und ein Teil der Arbeiterschaft identifizieren und die letztlich in der jungtürkischen «Gesellschaft für Einheit und Fortschritt» ihren Vorgänger hat. Auf der anderen Seite befinden sich die konservativen Kräfte, die von der anti-zentralistischen, in religiösen Fragen versöhnlichen sogenannten «Zweiten Gruppe» bzw. den kurzfristig geduldeten Oppositionsparteien im Kemalismus ausgingen. Sie repräsentieren die Achse «Demokratische Partei», «Gerechtigkeitspartei», «Partei des Rechten Wegs» und «Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung». Die Führer beider Richtungen waren freilich zwischen 1960 und 2002 gezwungen, Koalitionen mit kleineren Parteien einzugehen. Als Schnittmenge aller relevanten Gruppen (mit Ausnahme der Kurden) bildet indes der türkische Nationalismus die wichtigste Voraussetzung für das Fortleben des Systems nach über 60 Regierungswechseln seit 1920.

Die neue Türkei verschrieb sich von Anfang an keiner starren Wirtschaftsdoktrin. Zu ihrem Erfolgsrezept gehörte, dass sie sich – nicht ohne ausländische Beratung und Unterstützung – letztlich selbst entwickeln musste. Da keine nennenswerten Erdölressourcen vorhanden sind, blieb ihr das Schicksal erspart, zum Renten-Staat zu verkommen. Ihre Wirtschaft, deren Industrialisierung auf schmalster Basis erfolgte, ist längst nicht mehr einseitig von Erträgen aus Ackerbau und Viehzucht abhängig. Der Tourismus ist eine wichtige, aber keine tragende Säule. Transferleistungen der türkischen Diaspora haben nicht mehr die Bedeutung wie in früheren Jahrzehnten.

Neben den zivilen Regierungen bewahrten die Streitkräfte auch nach einem letzten autoritären Zwischenspiel (1980–1983) ihre Sonderrolle bis in die unmittelbare Gegenwart. Militärische Interventionen und Ausnahmezustände prägten fast ein Drittel der republikanischen Periode. Seit 2002 gibt es eine Regierung, die auf islamische Werte setzt. Damit endet eine Epoche, in welcher der Staat gegenüber seinen muslimischen Bürgern die Rolle des Religionslosen einnahm. Freilich fährt er fort, gegenüber den Nichtmuslimen und den heterodoxen Aleviten, deren Anteil an der Bevölkerung 10, höchsten 20 % betragen mag, sein sunnitisches Gesicht zu zeigen. Angesichts einer anhaltend günstigen wirtschaftlichen Entwicklung wächst in Ankara die Überzeugung, dass die Türkei beim Jubiläum zum hundertjährigen Bestehen der Republik im Jahr 2023 global eine aktive Rolle einnehmen wird.

In diesem Buch bemühe ich mich, den Weg der Türkei und ihrer Menschen zwischen 1920 und der Gegenwart darzustellen. Ohne zentrale Gegenstände wie die Integration in westliche Bündnissysteme, die Rolle des Islams oder die Kurdenfrage zu vernachlässigen, wende ich mich auch Themen zu, die in vielen Überblickswerken zu kurz kommen, wie zum Beispiel der Entwicklung im ländlichen Raum, dem West-Ost-Gefälle und dem Bildungswesen. «Voraussagen» über die Zukunft gehören ebenso wenig in eine historische Darstellung wie Lob und Tadel.

Hilfreiche Anmerkungen verdanke ich Wolf-Dietrich Hutter, Heike Jung, Christoph K. Neumann und Maurus Reinkowski.

1. Das Osmanische Reich in einer Nussschale?

Die amtliche Eigenbezeichnung Türkei bzw. Türkiye ist neu, obwohl der Name Turchia und davon abgeleitete Formen seit den Kreuzzügen außerhalb des Landes allgemein gebräuchlich waren. Die vorrepublikanische Türkei führte in staatlichen Dokumenten, auf Geldscheinen, Münzen und Briefmarken die Benennung «Erhabener Osmanischer Staat» (Devlet-i Aliye-i Osmaniye). Nach der kurzlebigen Variante Türkiya entschied man sich mit der Schriftreform von 1928 für Türkiye, eine Form, die zwischen einer arabisierenden Wortbildung und dem französischen Turquie vermittelt, das seit jeher als gleichbedeutend mit «Osmanisches Reich» verwendet wurde. Die Türkei war das erste islamische Land, das die Staatsform einer Republik (aus arab. Cumhuriyet, bis 1938 in der Form Cümhuriyet) annahm; ihr voller offizieller Name ist deshalb Türkiye Cumhuriyeti, abgekürzt T. C. Alle Bewohner dieser Republik waren im Sinne der Verfassung von 1924 «Türken», wobei ihre «Gleichheit vor dem Gesetz» bis heute eng ausgelegt wird. So verweigert das Verfassungsgericht beispielsweise Angehörigen von Minderheiten die Führung von Vor- und Nachnamen in ihren angestammten Sprachen (wie Kurdisch oder Aramäisch).

Die am 29. Oktober 1923 in Ankara ausgerufene Republik Türkei stellt sich dem Betrachter der Landkarte als ein Staat dar, der in größtenteils natürlichen Grenzen zwischen dem Schwarzen Meer, der Ägäis und dem Mittelmeer eingeschlossen ist. Manche Historiker erkennen in der Republik ein Osmanisches Reich en miniature, eine Art Kondensat nicht nur seiner Menschen, sondern auch von deren Sitten und Gebräuchen; andere sehen in ihr den nationalen Torso des ehemaligen Vielvölkerstaates. Entsprechend uneinheitlich sind die Antworten auf die Frage, ob auf dem Boden Anatoliens ein Schmelztiegel der religiösen und sprachlichen Gruppen entstanden ist oder ob wir vielmehr ein Mosaik aus den (nur sprichwörtlichen) «72 ½ Volksgruppen» vor uns haben.

Mit einer Fläche von 783.562 km² übertrifft die heutige Türkei sowohl das Staatsgebiet Frankreichs (674.843 km²) als auch Spaniens (504.645 km²). Angesichts der Größe der asiatischen Türkei erscheint der nach den Balkankriegen (1912/13) verbliebene europäische Anteil (3,04 %), wenn man allein die geographische Ausdehnung im Auge hat, als eher unbedeutend. Die Türkei hat seit 1923 mit Ausnahme des 1939 beigetretenen, in Europa als «Sandschak von Alexandrette» (İskenderun) bezeichneten Gebiets keine territorialen Veränderungen erlebt. Die Bevölkerung dagegen wandelte sich in den Jahrzehnten nach der Gründung sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht radikal. Die junge Republik zählte etwa 14 Millionen Einwohner und hatte mit ca. 18 Menschen pro Quadratkilometer eine geringere Bevölkerungsdichte als alle europäischen Staaten. Nach einem halben Jahrhundert (1970) hatte die Türkei mit 34,8 Millionen Einwohnern Spanien, nach weiteren 25 Jahren (1995) mit 61,9 Millionen auch Italien überholt. Im Jahr 2010 ermittelte die amtliche Zählung 73.722.938 Bürger.

Trotz seiner komplexen ethnisch-linguistischen Gemengelage erwies sich Anatolien letztlich als ein Kulturraum, der etwa 4 Millionen Einwanderer aus dem Kaukasus, von der Krim, aus Kreta und den Balkanländern nach mehreren Generationen zu Türken machte. Im historischen Gedächtnis der Bevölkerung bleibt aber als Ergebnis von Vertreibungen und Bevölkerungsaustausch mit Griechenland die Dreiteilung in «Flüchtlinge», «Ausgetauschte» und «Einheimische» haften. Flüchtlinge und «Ausgetauschte» bilden mit ihren Nachkommen etwa ein Drittel oder Viertel der heutigen Bevölkerung.

Nach den Kriegen, die der Osmanische Staat zwischen 1911 und 1918 und danach das Regime der Großen Nationalversammlung von Ankara zwischen 1919 und 1922 fast ununterbrochen führten, war die Bevölkerung Anatoliens von geschätzten 13,7 Millionen auf 11,2 Millionen gesunken. Der Verlust von 2,5 Millionen Menschen in Anatolien verteilte sich folgendermaßen: Etwa zwei Drittel wurden Opfer von Kriegen, Epidemien, aber auch von mörderischen Verfolgungen, ein weiteres Drittel verließ das Land als Flüchtlinge oder im Rahmen des Bevölkerungsaustausches mit Griechenland. 1923 waren von den einst 2,8 Millionen Nicht-Muslimen (20 %) nur 300.000 im Lande geblieben. In Istanbul lebten vor dem Krieg 910.000 Menschen, davon 350.000 Nichtmuslime. Für 1920 werden Zahlen von einer Million bis 1,2 Millionen genannt. Zu den Einheimischen und aus den osmanischen Ländern gekommenen Flüchtlingen drängten sich im November 1920 allein 167.000 «Weiße Russen», die vor der Roten Armee geflohen waren.

Muslimische Einwanderer konnten das demographische Defizit nur zum Teil ausgleichen. Schon am Vorabend des Ersten Weltkriegs hatten Einschüchterungen und Anschläge auf Griechen im Ägäis-Raum dazu geführt, dass annähernd 150.000 von ihnen die Osmanischen Länder verließen. Ihre Häuser und Grundstücke wurden muslimischen Flüchtlingen aus Makedonien und dem Kosovo übergeben. Diese Form von «demographic engineering» konnte als Vorzeichen für die Massaker an den Armeniern und Assyrern des anatolischen Ostens gesehen werden. Die armenische Katastrophe von 1915–1916 bedeutete die Vernichtung eines Drittels der armenischen Bevölkerung und die «ethnische Säuberung» von sechs Ost-Provinzen, in denen sie einen erheblichen Prozentsatz der Bevölkerung gebildet hatten. Ein großer Teil wurde durch Zwangsheiraten und Adoptionen Minderjähriger an die Mehrheitsbevölkerung assimiliert. Nach dem Waffenstillstand (Oktober 1918) scheiterten alle Versuche der Kriegsgewinner, die enteigneten und vertriebenen Armenier nach Anatolien zurückzuführen. Lediglich in Kars und in dem von alliierten Truppen kontrollierten Kilikien gelang es vorübergehend, Armenier bis Anfang 1919 wieder anzusiedeln. Von den etwa 120.000 Personen verließen mindestens 50.000 diese Landesteile vor bzw. unmittelbar nach einem türkisch-französischen Abkommen von 1920. Die Einladung der Kemalisten im Oktober 1922 an alle einheimischen Christen, zurückzukehren, war eine leere Geste.

Einen deutlich spürbaren demographischen Einschnitt löste der Vertrag von Lausanne (24. Juli 1923) aus, der eine Vereinbarung über den Austausch der christlichen Bevölkerung Anatoliens mit den Muslimen Griechenlands mit dem Stichtag 1. Mai 1924 einschloss. Von 1912 bis etwa Oktober 1924 verließen rund 400.000 Muslime Griechenland, während 1,2 Millionen Orthodoxe aus der Türkei auswanderten. Von Letzteren kamen 627.000 aus Kleinasien, 256.000 aus Ost-Thrakien, 182.000 vom Schwarzmeerrand (Pontos) sowie 40.000 aus Istanbul, die übrigen aus nichttürkischen Gebieten wie dem Kaukasus, der Ukraine und von der Krim.

Nach den Kriegen zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Bevölkerung unterernährt und die Kindersterblichkeit dramatisch hoch. Der Kampf gegen Malaria und Syphilis schien aussichtslos. Im Westen Anatoliens wurden beim Rückzug der griechischen Besatzungsmacht mehr als hunderttausend Häuser zerstört, beträchtlich waren auch die Verluste an Tieren. Die «Ausgetauschten» wurden, zumal sie zu einem großen Teil «nur» Muslime (wie Pomaken, Albaner und Kreter) und keine «echten» Balkantürken waren, nicht überall in Anatolien mit offenen Armen empfangen. Nicht selten scheiterte die Zuweisung von Wohnsitzen und Ackerland der früheren christlichen Bewohner daran, dass lokale Notabeln längst die Hand auf wertvolle Grundstücke gelegt hatten. In vielen Fällen passte das Land nicht zu den Erfahrungen der Neuankömmlinge, von denen einer klagte: «Die Bergbewohner siedelte man in der Ebene an, die aus der Ebene in den Bergen.» Die jüdische Bevölkerung der Republik zählte 1927 81.872 Personen (zu 95 % Sephardim). Da immer mehr türkische Juden auswanderten, zunächst nach Israel, wohin allein 1949 26.306 gingen, später nach Europa und in die USA, verringerte sich ihre Zahl fortlaufend. Seit den späten 1950er Jahren verzeichnet die Türkei zunächst temporäre, dann sich verfestigende Bevölkerungsverluste durch Emigration. Die Zahl der nach Deutschland ziehenden «Gastarbeiter» erreichte 1974 mit etwa 650.000 Menschen einen ersten Höchststand. Flüchtlinge, Asylbewerber und Migranten, die aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, dem Nahen Osten und dem subsaharischen Afrika einwandern, nehmen seit den 1980er Jahren stetig zu. Allein zwischen 1996 und 2008 nahm die türkische Polizei etwa 800.000 Personen wegen Verstößen gegen Aufenthaltsbestimmungen fest.

Der Bevölkerungsaufbau der Gegenwart unterscheidet sich stark von dem der Gründerjahre der Republik. Verantwortlich dafür sind eine abnehmende Geburten- und Sterberate, eine geringere Kindersterblichkeit und eine deutlich höhere Lebenserwartung von Männern und Frauen – mit erheblichen Folgen für das Sozialversicherungssystem. Seit 1955 sinkt die natürliche Wachstumsrate, es bleibt jedoch eine breite Grundlage der Bevölkerungspyramide, die von Jugendlichen und Erwerbsfähigen unter 40 Jahren gebildet wird. Die türkische Gesellschaft ist immer noch von konservativen Familienstrukturen geprägt: Um die Wende zum Jahr 2000 lag das Heiratsalter zwischen 18 und 24 Jahren, Zweitehen sind selten (4 %) und unverheiratetes Zusammenleben statistisch nicht signifikant (0,6 %) oder einfach unzureichend erfasst. Die Zahl von Eheleuten, die nach der Ziviltrauung eine Bestätigung durch einen Religionsdiener (imam) wünschen, ist nach einem Tief in den kemalistischen Jahrzehnten auch im städtischen Milieu deutlich gewachsen.

Das Zahlenverhältnis zwischen ländlicher und städtischer Bevölkerung erlebte einen grundlegenden Wandel. So lebten in den ersten Jahren der Republik noch etwa 80 % der Menschen in ungefähr 40.000 ländlichen Siedlungen. Bei der ersten allgemeinen Volkszählung von 1927 wurde ermittelt, dass 81,6 % der arbeitenden Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig waren. Diesen 4,3 Millionen Menschen standen nur 15.711 Maschinen zur Verfügung. Auch wenn es in den kommenden Jahrzehnten zu einer optimalen Ausnutzung des agrarischen Potentials kam, war die Verstädterung nicht aufzuhalten. Im Jahr 1975 übertraf erstmals die städtische Bevölkerung die Zahl der Landbewohner. Heute entspricht das Verhältnis von Stadt- (69 %) zu Landbevölkerung (31 %) fast genau dem europäischen Durchschnitt. Von einer Industrialisierung einzelner Produktionszweige kann erst in den 1930er Jahren gesprochen werden. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren weniger als 10 % (etwa 700.000) von 8 Millionen arbeitsfähigen Menschen in Handwerk und Industrie tätig, 2010 sind es 30,3 % der arbeitsfähigen Männer. In der Landwirtschaft ist der Anteil von weiblichen Beschäftigten (42,4 %) noch sehr hoch.

Die Rolle Istanbuls als kulturelle und wirtschaftliche Metropole blieb trotz des Wachstums der neuen Hauptstadt Ankara, deren Einwohnerzahl sich inzwischen der Fünf-Millionen-Grenze nähert, unangefochten. Nach bescheidenen Zuwächsen bis in die 1940er Jahre überschritt Istanbul in den 1950er Jahren die Millionen-Grenze. 1985 zählte die Stadt 5.843.900 Menschen, wobei ein Fünftel der statistisch erfassten Zuwanderer im Schwarzmeerraum geboren war und nur 2,6 % aus dem kurdisch dominierten Südosten stammten. Die Binnenmigration hat die Stadt auf amtlich gezählte 13.355.685 Einwohner anwachsen lassen. Einem jährlichen Nettowachstum von 7,75 % entsprachen zuletzt 102.583 Personen. Der Bau zweier Autobahnbrücken (1973, 1988) über den Bosporus hat den Personen- und Güterverkehr zwischen der europäischen und der asiatischen Seite vervielfacht. Eine seit 2004 im Bau befindliche unterirdische Regionalbahn wird die Meerenge erstmals in einem erdbebensicheren Tunnel unterqueren. In den letzten zwei Jahrzehnten fand ein beachtliches Höhenwachstum statt, vor dem nur die historische Altstadt verschont wurde. Eine Skyline mit Bürotürmen beherrscht die nördlichen Stadtteile.

Bedeutende Fortschritte wurden im Bereich der Bildung erzielt. So sank der Anteil der weiblichen Analphabeten, der bei Ausrufung der Republik weit mehr als 90 % betrug, allein zwischen 1975 und 2010 von etwa 50 % auf knapp unter 20 %. In der Gegenwart liegt der Einschulungsgrad bei Jungen und Mädchen fast unterschiedslos über 98 %. Auch an den Universitäten haben sich die Zahlen von weiblichen und männlichen Studierenden angenähert. Rund 3,5 Millionen Studierende verteilen sich auf über 1600 Fakultäten und Hochschulen.

Am Ende der byzantinisch-osmanischen Imperien hatten sich große Teile Anatoliens durch Überweidung, unkontrollierte Rodung, Holzentnahme und Feuer in eine Steppe verwandelt. So war auch nach der Türkisierung Anatoliens (ab dem 11. Jahrhundert) die Entwaldung fortgesetzt worden, wobei die Eingriffe der Bauern vielleicht größer waren als die der Nomaden. Der extensive Getreideanbau, der im niederschlagsarmen Inneranatolien bis zu 90 % der Anbaufläche einnahm, hatte dabei den Hauptanteil. Die Aufforstung und damit der Kampf gegen die Erosion ist eines der verspäteten republikanischen Projekte. Vor 1937 war nichts geschehen, danach standen die Maßnahmen bis in die 1950er Jahre fast nur auf dem Papier. Bis 2009 gelang schließlich die Aufforstung von fast 2 Millionen Hektar, ein immer noch zu geringer Anteil bei rund 21 Millionen Hektar Staatswald, von denen die Hälfte stark degradiert ist.

Bis auf wenige Ausnahmen gab es vor 1918 keine planmäßigen Eingriffe in die Landschaft. Heute zeigt ein Blick auf die Landkarte, wie massiv die Türkei ihre Rolle als Oberlieger der großen mesopotamischen Flusssysteme genutzt hat, um Strom zu erzeugen und die Bewässerung von Regionen unterhalb zu sichern. 1984 wurde das in den 1960er Jahren geplante und seit 1976 als «Südostanatolien-Projekt» (Güneydoğu Anadolu Projesi, GAP) bekannte Unternehmen in ein riesiges integriertes Entwicklungsprogramm umgewandelt, das 74.000 km² und damit 10 % der türkischen Landesfläche umfasst und vor allem der Energiegewinnung dient. Zwischen 1971 und 1997 konnte die Türkei aber auch ihre Bewässerungsflächen mehr als verdoppeln und übertraf damit Länder wie Spanien und Ägypten. Ab Ende der 1990er Jahre wurden weitere Entwicklungsregionen ausgewiesen, darunter das Ostanatolien-Projekt und der Regionalplan Östliches Schwarzes Meer. «Diese überaus positive Entwicklung der türkischen Planung wurde entscheidend durch die Verhandlungen mit der EU, den Beitritt zur EU-Zollunion und die Bestätigung der EU-Beitrittsperspektive vorangebracht.» (Ernst Struck).

Die Entscheidung, Ankara zum Sitz von Regierung und Parlament zu bestimmen, war nicht nur als Aufwertung Anatoliens zu verstehen, sondern auch als ausdrückliche Abwendung von der osmanischen Vergangenheit. Nach dem endgültigen Verlust Rumeliens, jener Balkanprovinzen, aus denen große Teile der osmanischen und republikanischen Elite stammten, wurde die mentale Entfernung der anatolischen Menschen von der alten Metropole Istanbul oft thematisiert. Der Erzähler in Yakup Kadri Karaosmanoğlus Roman «Der Fremde» (1932) wählte einen drastischen Vergleich: «Der Unterschied zwischen einem gebürtigen Istanbuler, der die Schule besucht hat, und einem anatolischen Bauern ist gewaltiger als der Unterschied zwischen einem Engländer aus London und einem Inder aus dem Pandschab …». Ankara hatte im Gegensatz zu Kayseri und Sivas zudem den Vorzug eines Eisenbahnanschlusses. Mit der Beschränkung der Republik Türkei auf ihre Territorien östlich des Bosporus und ein kleines Stück Thrakien lag nichts näher als den Namen «Anadolu» auf der Landkarte einzutragen. Ursprünglich verstand man unter Anatolien nur Kleinasien als den westlichen, halbinselförmigen Teil der asiatischen Türkei. Durch die Erfindung von Regionalnamen wie «Ostanatolien», «Südostanatolien» und «Schwarzmeerraum» versprach man sich eine Auslöschung des Gedächtnisses an historische Landschaftsnamen wie Armenien, Kurdistan, Kilikien, Obermesopotamien oder Pontos und mit ihnen verbundene Besitzansprüche. Von den vortürkischen Bezeichnungen wird offiziell außer Anadolu und Ege (Ägäis) nur noch der Thrakiens (Trakya) verwendet.

Die Republik Türkei gliedert sich heute in 81 Provinzen (il, früher vilayet), deren Verwaltung unter einem vom Innenministerium eingesetzten vali an das französische Präfekturwesen angelehnt ist. Herkömmliche Provinznamen wurden im Laufe der frühen Republik durch artifizielle türkische Bildungen ersetzt. Bekannte Beispiele sind Dersim (siehe S. 56), das zu Tunceli («Bronzeland») wurde, und der Sancak İskenderun (siehe S. 20), der noch vor seinem Anschluss an die Türkei den pseudo-hethitischen Namen Hatay erhielt. Auch auf der Ebene der Siedlungsnamen wurden massive Umbenennungen vorgenommen, die erst Anfang des 21. Jahrhunderts in kurdischen Landesteilen an einigen Stellen durch zweisprachige Hinweisschilder zurückgenommen wurden.

Hatten die Publizisten der spätosmanischen Zeit noch von Doppelidentitäten – einer imperialen (als Osmane) und einer darunterliegenden sprachlich-religiösen Zugehörigkeit (als muslimischer Albaner oder christlicher Araber) – gesprochen, kam für die kemalistische Staatsdoktrin nur noch eine homogene Form von Türkentum in Frage. Alle Verfassungen der Republik definierten «Türke» als Staatsangehörigen der Türkei. 1924 heißt es ausdrücklich «ohne Ansehung des Glaubens und der Rasse», 1961 lautet der entsprechende Artikel «Türke ist, wer auf Grund der türkischen Staatsangehörigkeit an den türkischen Staat gebunden ist», und 1982 «Jeder, den mit dem Türkischen Staat das Band der Staatsangehörigkeit verbindet, ist Türke». Im Gegensatz zu diesem Inklusivismus, der alle Minderheiten einschließt, lebt jedoch die vom ehemaligen Wirtschafts- bzw. Justizminister Mahmud Esad Bozkurt (1892–1943) geprägte Bezeichnung vom «Türken qua Gesetz» (Kanun Türkü) fort. Dabei gilt die Überzeugung, dass Nichtmuslime allein durch ihre juristische Eigenschaft als Staatsangehörige Türken seien. Tatsächlich hat das oberste Gericht bis in die 1970er Jahre ausdrücklich Nichtmuslimen bestimmte Rechte versagt, darunter das Eigentum an Immobilien durch von ihnen gebildete juristische Personen sowie Kirchenstiftungen. Erst 2011 zeichnete sich eine grundsätzliche Gleichstellung von nichtmuslimischen und muslimischen Stiftungen ab. Widersprüchliche Begriffe wie «einheimische Ausländer» kennzeichnen das Unbehagen. Aus den «zukünftigen Türken» der kemalistischen Doktrin wurden nur dem Wort nach «Mitbürger» (Mesut Yeğen).

Eine Anzahl kleinerer Sprachen, die man noch in der frühen Republik hören konnte, war durch Assimilierung zum Aussterben verurteilt. Manchmal trat ein nichttürkisches Idiom an die Stelle der bisherigen Muttersprache. Ein bekanntes Beispiel ist das Ubychische, das in den 1950er Jahren endgültig durch das Adyge, eine andere nordwestkaukasische («tscherkessische») Sprache, verdrängt wurde. Inzwischen erleidet Adyge dasselbe Schicksal wie das Ubychische. Die Nordkaukasier der Türkei pflegen ihre Tradition nur noch auf Türkisch. Arabophone Menschen aus Siirt, die in die kurdische Kernprovinz Hakkâri einwanderten, übernahmen rasch den dortigen Dialekt, ohne dass man diese Siirtli als Kurden versteht. Am Rande des Schwarzen Meers gibt es noch heute muslimische Dorfgemeinschaften, die einen armenischen bzw. pontisch-griechischen Dialekt sprechen. Neben den Armeniern, von denen die allermeisten Türkisch als Muttersprache verwenden, waren die Karamanlı (siehe S. 55) die größte derjenigen Gruppen, bei denen sich Konfession (griechisch-orthodox) und Sprache (türkisch) nicht deckten. Von dem Bevölkerungsaustausch wurden sie, weil die Religion das Auswahlkriterium war, nicht verschont.