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Vanamali Gunturu

YOGA

Geschichte, Philosophie, Praxis

C.H.Beck


Zum Buch

Die philosophische Lehre des Yoga betrifft den Geist ebenso wie den Körper, ja spannt beide zusammen, um zur Vervollkommnung des Menschen zu führen. Während in manchen traditionellen Schulen die körperlichen Übungen eine rein dienende Funktion hatten, drohen sie heute zum Selbstzweck zu werden. Vanamali Gunturu beschreibt die Geschichte des Yoga vom Yogasutra des Patanjali bis zum modernen Hatha Yoga und zeigt, wie zentral auch heute die Philosophie des Yoga für die Praxis ist.

Über den Autor

Vanamali Gunturu, Dr. phil., studierte Sanskrit-Literatur und Philosophie in Hyderabad und München. Seine Yoga-Ausbildung machte er bei dem indischen Yoga-Meister Suriraghaya Dikshitulu. Er lehrt Religionswissenschaft und Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Tirol und der Universität Salzburg. Mit seinen Einführungen in die indische Kultur und Geisteswelt hat er eine große Leserschaft erreicht.

Inhalt

Yoga: Ein Wort und viele Bedeutungen

1. Ursprünge, Traditionen und heilige Schriften

Yoga, so alt wie die Götter

Der Gehörnte und der Ficusbaum

Kulturerbe der Industal-Zivilisation

Die Indo-Arier und ihre vedische Religion

Paradigmenwechsel: Die Upanishaden

Yoga-Elemente im Jainismus

Buddha und die Vier edlen Wahrheiten

Die großen Epen

2. Yoga als philosophisches System

Gemeinsamkeiten zwischen Yoga und europäischer Philosophie

Samkhya und Yoga – warum man philosophiert

Erkenntnis: Zwischen Materialismus und Idealismus

Urstoff und Bewusstsein: Pakriti und Purusha

Die Evolutionslehre des Yoga

Der Blinde und der Lahme oder Die große Illusion

3. Die philosophische Praxis

Das Yogasutra und der achtgliedrige Erlösungsweg

Yogasutra

Das erste Glied

Das zweite Glied

Das dritte Glied

Das vierte Glied

Das fünfte Glied

Das sechste, siebte und achte Glied

Die Welt löst sich auf

Übersinnliche Kräfte und Heilige

4. Der Yoga in den indischen Traditionen

Jainismus, zur Religion gewordener Yoga

Der Buddhismus und das Leid

Hindu-Mythologie und Gottesverehrung

Advaita-Vedanta und der absolute Geist

Hinduistische Ethik

Strömungen um Vishnu und Shiva

Bhakti Yoga: Liebe zu Gott

Karma Yoga: Handeln

Jnana Yoga: Wissen

5. Hatha Yoga für ewige Jugend, Schönheit und Glückseligkeit

Der Körper als Mittel zum Glück

Nadis und Chakren

Bewegungen der Lebenskraft Prana

Gebote und Verbote

Praktiken: Asanas, Mudras und Pranayama

Sechs Reinigungshandlungen

Trance und Erlösung

Asanas für den Alltag

6. Yoga vom Mittelalter bis heute

Der Yoga im Indien unter islamischer Herrschaft

Widerstandskraft gegen die britischen Kolonialherren

Weltweite Erfolgsgeschichte

Epilog: Unterwegs zum Glück

Grundwortschatz Yoga

Literaturhinweise

Bildnachweis

Register

Für meine Kinder
Priyanka Padmavathi Gunturu
und Aditya Gunturu,
meine zwei Brücken zu Prakriti

Mein Dank gilt Benita von Bonin für ihre sprachliche Betreuung, meinem Yoga-Lehrer Yogasanacharya Suri Raghava Dikshitulu (1904–​2000), Yoga-Lehrer Uppala Balaji, den Professoren Jonathan M. Kenoyer und Asko Parpola für ihre klärende Korrespondenz und vor allem meinem Lektor Dr. Ulrich Nolte für wertvolle Vorschläge und Fragen.

Yoga: Ein Wort und viele Bedeutungen

In den westlichen Ländern hat das Wort Yoga eine einfache Bedeutung. Sagt jemand, dass er Yoga «macht», so weiß man, dass er Leibesübungen indischen Ursprungs praktiziert oder lernt. Man weiß auch, dass diese sich von den abendländischen darin unterscheiden, dass beim Yoga keine Gewichte wie Hanteln oder andere Geräte zum Einsatz kommen, dass es sich nicht um Bodybuilding handelt und keine Musik gespielt wird, die die Gruppen zu rhythmischen Bewegungen antreibt. All das erwartet man nicht bei Yoga. Selbst wenn viele Menschen in einem Raum Yoga üben, scheinen sie keine Gruppe zu bilden. Man bekommt den Eindruck, dass jeder Teilnehmer als Individuum bei sich ist. Nicht selten sind das Menschen, die sich für eine «alternative» Lebensführung entschieden haben, wozu auch der Vegetarismus und der Verzicht auf überflüssigen Konsum gehören können. Sie scheinen einer friedfertigen Weltanschauung anzuhängen, obwohl man ab und zu auch von Power Yoga hört, der die Menschen anscheinend dynamisieren soll.

In Indien, dem Land seines Ursprungs, hat das Sanskrit-Wort dagegen mehrere Bedeutungen und stammt aus zwei verschiedenen Wurzeln: yuj mit der primären Bedeutung «Konzentration» und yujir, was «Verbindung» meint und mit dem deutschen Wort «Joch» verwandt ist. Es hat wie die meisten Sanskritwörter viele Bedeutungen – als würde jedes Wort dieser uralten Sprache die vielen Schichten der Geschichte in sich tragen.

So bedeutet «Yoga» Körper, ein Kettenhemd, das Rüsten wie das eines Heeres, Vorbereitung, das Gespann (eines Wagens) – worin wir den Anklang des indoeuropäischen Wortes anjochen wiederfinden –, Anwendung oder Gebrauch, Stabilität, Strategem, Spion, Geld, Gewinn, Gelegenheit, Unternehmen oder Geschäft, Erwerb und sogar Betrug. Nach der Sanskrit-Enzyklopädie Sabdakalpadruma bedeutet es aber auch Liebe, Vereinigung, Mischung, Gemisch, Arzneimittel und Kur.

Yoga steht auch für Anspannung der Kräfte, Fleiß oder Eifer. Im sprachwissenschaftlichen Sinn bedeutet es Etymologie – Worterklärung aus seiner Wurzel heraus (wie yujir oben) – sowie eine Regel der Grammatik.

In bestimmten Kontexten erscheint das Wort Yoga in der Alltagsprache mit einer anderen Konnotation. Reitet jemand auf einer Glücks- oder Erfolgswelle, dann sagt man: Ihn hat guter Yoga gepackt! Erleidet er aber Unglück, so ist die Rede von duryoga, schlechtem Yoga. Der Yoga kann so punktuell auf ein Ereignis bezogen sein oder auch auf einen Zeitabschnitt. Sei es positiv oder negativ, Yoga bezeichnet hier eine nicht rational erklärbare Kraft, die das Menschenleben beeinflusst.

Indische Astrologie versucht, diese Kraft rational zu erklären und ihre Wirkung im Voraus zu bestimmen. So ergeben sich siebenundzwanzig verschiedene Yogaarten, Hinweise auf günstige oder ungünstige Tagesabschnitte im traditionellen Kalender der Hindus, die anhand der Position des Mondes am Himmel unterschieden werden. Diese werden heute noch beim Antritt einer Reise, eines Jobs oder beim Beginn einer neuen Aufgabe besonders von der ländlichen Bevölkerung beachtet. Der Ananda Yoga zum Beispiel führt zum Geldgewinn, der Dhumra Yoga (Rauch-Yoga) in Gefahren. Der Manasa Yoga unterstützt Liebeserfolg, während Mudgara Yoga einen in den Tod stürzen lässt.

Mit dem Wort Yoga meinen Astrologen auch verschiedene Verbindungen von Planeten im Horoskop, die auf einen besonders guten oder schlechten Einfluss auf das Leben des Menschen hindeuten – auf politische Macht und Einfluss, Reichtum, Philanthropie, Askese, Leid, Feigheit oder Korruption in einem ungewöhnlich großen Ausmaß. Der Astrologe berücksichtigt diese Yogas, bevor er Vorhersagen trifft. So zum Beispiel sorgt Chamara Yoga dafür, dass die Person von den Herrschern und Aristokraten respektiert wird; sie wird ein großer Gelehrter und gewandter Gesprächspartner. Aus dem Daridra Yoga ergeben sich dagegen Geldverluste, Armut und niedere Motive.

Diese Erläuterung des Wortes Yoga wäre unvollständig ohne seinen Bezug zu Esoterik oder Spiritualität. So ist Yoga ein übernatürliches Mittel, ein Zauber, oder er bezeichnet bestimmte übersinnliche Kräfte, mit deren Hilfe eine Seele willentlich Besitz vom Körper eines anderen Menschen ergreift und ihn lenkt. Im wohl bekanntesten indischen Epos Mahabharata gibt es ein interessantes Beispiel dafür: Der Guru Deva Sharma bittet seinen Schüler Vipula, seine schöne Frau vor dem bösen Götterkönig Indra zu schützen, und verlässt die Eremitage. Der Schüler besetzt daraufhin den Geist der Ehefrau seines Lehrers durch seine yogische Kraft paradeha praveshaka und herrscht über ihre Gemütsregungen. So bleibt die Frau des Gurus immun gegen die Verführungsversuche des Götterkönigs (Lanman 1918: 370f.). Besonders dramatisch erscheint diese Kraft dann, wenn durch sie auch Leichen in Bewegung gesetzt und gelenkt werden, wie es in den Gruselgeschichten der Sanskritliteratur vorkommt.

Yoga bedeutet vor allem auch tiefe abstrakte Meditation, Meditation auf den absoluten Geist.

Im Altertum bezeichnete Yoga eine langfristige Vorbereitung auf einen sanften Tod, die Methode eines planmäßigen Sterbens im hohen Alter, wobei die Seele des Menschen friedlich den Körper verlässt und sodann eins wird mit dem absoluten Bewusstsein.

Der Sanskrit-Dichter Kalidasa erzählt in seinem Klassiker Raghuvamsha, dass die Könige der Raghu-Dynastie am Ende ihres Lebens durch yogische Übungen dahinschieden. Die heilige Schrift Shri Bhagavatam nennt diese Methode sadyomukti-Yoga und hat ausführliche Anleitungen für den Sterbenden: Er soll in einer bequemen, aber stabilen Körperhaltung sitzen. Dann soll er sein Gemüt von den Sinnesorganen lösen und nach innen auf seinen Geist lenken und durch Atemübungen, genannt Pranayama, die Lebenskraft vom Wurzelchakra (muladhara) hinauf durch die anderen Chakren, die Energiezentren im Körper, zum tausendblättrigen Chakra im Schädel bewegen. Dort vereinigt sich die Seele des Menschen mit dem Absoluten, erreicht also die Erlösung. Hier bedeutet Yoga auch Aufmerksamkeit, Meditation, Kontemplation und Sammlung; ferner Anspannung der Kräfte, Bemühung, Fleiß und Eifer sowie die davon geprägte Lebensführung.

Yoga bezeichnet auch den Weg zu Gott, etwa in den Formen Jnana, Karma und Bhakti Yoga. Der Jnana Yoga ist die erkenntnismäßige Suche nach Gott. Beispiele für diese Form sind der Monismus des Philosophen Shankara (siehe S. 78) und die Samkhya-Schule der Philosophie (siehe Kap. 2). In beiden spielen Meditation und philosophische Spekulation eine wichtige Rolle. Karma Yoga ist dagegen ein Weg der Handlungen, worunter vor allem die rituellen zu verstehen sind. Durch in höchster Präzision vorschriftsgemäß vollzogene Feueropfer (yajnas), Gottesdienste (pujas), beschwerliche Pilgerreisen oder das Baden in heiligen Flüssen erhofft sich der Fromme, Gott zu erreichen. Bei diesem Weg besteht die Gefahr, dass die Rituale mit der Zeit komplexer werden und einen mechanischen Zug annehmen. Das Gegenteil davon ist der Bhakti Yoga, der Weg der emotionalen Bindung an Gott. Wer diesen Weg wählt, der sieht in Gott die Mutter, den Vater, den Sohn, die Tochter oder den Geliebten und gibt sich ihm anheim. Das Ziel ist, durch Liebe Gott so nah wie möglich zu kommen, seine Nähe, sannidhya, zu erleben, aber nicht eins mit ihm zu werden – wie eine Biene am Rand des Kelches zu sitzen und den Nektar zu genießen, ohne darin zu versinken –, also ohne die eigene Identität zu verlieren.

Wenn Inder mit Yoga die Körperstellungen und damit verbundene Verfahren meinen, die gegen Gelenkschmerzen, Migräne, Hautkrankheiten, Schlaflosigkeit oder Ähnliches helfen und die Gesundheit von Leib und Seele fördern sollen, dann nennen sie dies nicht Yoga, sondern Yogasanas.

In diesem Buch geht es überwiegend darum, wie der Yoga im klassischen Yoga des Gelehrten Patanjali, im Hatha Yoga und in anderen Yoga-Traditionen verstanden wird.

1. Ursprünge, Traditionen und heilige Schriften

Yoga, so alt wie die Götter

Hindu-Götter sind mit Yoga eng verbunden. Auskunft darüber bekommen wir von ihren Tausend Sanskrit-Namen, die in den Epen und der Mythologie Indiens, z.B. in den Puranas, den heiligen Schriften, enthalten sind. Diese haben ihre heutige Form zwischen dem 4. Jahrhundert vor und dem 11. Jahrhundert nach Christus angenommen. Den Lobpreisungen der Götter mit Tausend Namen zufolge praktizieren alle Gottheiten Yoga, sie lehren ihn oder regulieren seine positiven Früchte, die den Yoga-Praktizierenden zugutekommen sollen.

Die wichtigste dieser Gottheiten ist Shiva, der Glückverheißende, der auch für das Vergehen des Universums zuständig ist. Historisch-archäologisch gesehen hat er die längste Verbindung zum Yoga. Seine Tausend Namen preisen ihn als Yoga-Kenner (Yogaparanga und Yogavid), Yoga-Lehrer (Yogacarya) und als einen, der im Yoga Vollkommenheit erreicht hat. Auch in seiner Erscheinungsform als Lehrmeister (Dakshinamurti) übt er sich im Yoga. Lobpreisungen berichten uns, er sitze unter der Banyan-Feige (ficus benghalensis) und übe Yoga; er sei der Beste unter den Yogaübenden.

Bei Vishnu, dem Beschützer des Universums, scheint der Yoga als Ziel und als Mittel ineinanderzufließen – seine Tausend Namen nennen ihn Yoga und auch jemanden, der durch Yoga zu erreichen ist. Mehr noch: Vishnu ist auch der Anführer von Yoga-Kennern, Yogavidamneta. Seine Löweninkarnation Narasimha gilt als personifizierter Yoga (Yogarupa). Krishna, eine andere Inkarnation von Vishnu, wird von seinen Tausend Namen als der Herr der Yogis gepriesen und als der Beherrscher des Yoga-Wissens.

Die Tausend Namen des Elefantengottes Ganesha preisen ihn ebenfalls als «den Herrn über den Yoga» (der 109. Name), den die Frommen nur durch Yoga erkennen können (der 596. Name) – Yoga hat hier eine Erkenntnisfunktion. Ganesha sei auch der Verwalter der Früchte eines Lebenswandels, der vom Ashtanga Yoga, also von den acht Gliedern des klassischen Yogawegs, geprägt wird – so lobt ihn der 888. Name. Der Affengott Hanuman wird nicht nur als Meister und Kenner des Yoga gepriesen, sondern auch als Garant für den Erfolg der Schüler, die den klassischen Yoga üben.

Nicht anders ist es bei Dattatreya, in dem die Götter Brahma, Vishnu und Shiva zu einer Gottheit verschmelzen. Er gilt als der Lehrmeister schlechthin, der seine Schüler in verschiedenen Wissensbereichen unterweist, wobei er selbst als der große Herr des Yoga und als der größte Exponent dieses Wissens – Yoga Prakashanah – gepriesen wird. Als Lehrer haben Dattatreya und Dakshinamurti die größte Affinität zum Yoga.

Nach der indischen Mythologie haben Hindu-Göttinnen ebenfalls eine große Nähe zu Yoga. Griechische Quellen vorchristlicher Zeit wie Strabos Geographie berichten über das Indien von damals, Reisende, die Alexander den Großen auf seinem Feldzug dorthin begleiteten, lernten Yogis kennen und erzählen nicht nur von weisen Männern, sondern auch von Frauen, die ihr Leben nach asketisch-yogischen Prinzipien gestalteten (Roller 2014: 669, 671).

So ist es nicht verwunderlich, dass mindestens dreißig Namen aus dem Skandapurana, das die Familiengeschichte von Shiva erzählt, der Gelehrsamkeitsgöttin Saraswati, der Gemahlin des Schöpfergottes Brahma, eine Affinität zum Yoga zuschreiben. Diese Göttin, zuständig für Sprache, Wissen und bildende Künste, wird als Kennerin des Yoga, als Garant für die Früchte der Yoga-Praktiken gepriesen. Sie sei Yogini, die Yoga in Person, eine, die vom Yoga durchdrungen sei, die Mutter vom Herrn des Yoga, die Mutter des Yoga überhaupt!

Lakshmi, die Göttin des Reichtums, wird als jemand gepriesen, der den achtgliedrigen Yoga übt. Auch können Menschen in der Endphase ihrer Yoga-Übung sie erblicken. Parvati, die Gemahlin Shivas, wird in mehreren Schriften die Herrin des Yoga genannt.

Hindu-Gottheiten üben Yoga, sie sind Experten auf diesem Gebiet, sind Yoga-Lehrer und gewähren den Aspiranten die Früchte des Yoga. Diese Beziehung zwischen Göttern und Yoga wirft zwei wichtige Fragen auf: Wozu benötigen Götter Yoga? Und warum üben sie Yoga? Nach der Definition sollten Götter eigentlich allwissend und auch allmächtig sein – für sie sollte es nichts geben, was durch Übungen noch zu lernen oder zu beherrschen wäre. Trotzdem üben sie Yoga, um den Menschen ein gutes Beispiel zu geben, so die Erklärung heiliger Schriften.

Die zweite Frage betrifft das Alter von Yoga. Götter sind per Definition ewig da. Wenn das so ist, üben sie auch Yoga seit Ewigkeit. Dann müsste man fragen, ob auch der Yoga die gleiche zeitliche Dimension hat wie die Götter – eine sich bis in die Ewigkeit hinausdehnende Vergangenheit.

Wie alt ist der Hinduismus, wenn Götter ewig da sind? Gibt es auch ihn ewig? In der Tat nennt sich der Hinduismus sanatana dharma, die ewige Religion. Könnte auch Yoga eine ewig lange Vergangenheit haben?

Der Gehörnte und der Ficusbaum

Bis vor hundert Jahren haben die Wissenschaftler geglaubt, dass der Hinduismus mit der Ankunft der sogenannten Indo-Arier um 1800 v. Chr. in Indien entstanden sein müsste. Dann wäre mit der Suche nach den Anfängen des Yoga in den Veden, den ältesten Schriften der sogenannten Indo-Arier (der späteren Hindus) zu beginnen. Mit der sensationellen Entdeckung uralter Städte im nordwestlichen Teil des Subkontinents, im Einflussgebiet des Indus, war diese Annahme im Jahr 1921 schlagartig überholt. Nach hundert Jahren archäologischer Arbeit an mehr als tausend Orten weiß man heute, dass diese hochentwickelten Städte einer Zivilisation angehörten, die mit einer Fläche von rund 1,3 Millionen Quadratkilometern als die weltweit größte Kulturzone im 3. und 2. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung gilt. Aufgrund dieser Entdeckung schätzte man nun, dass die Geschichte Indiens und des Hinduismus mehr als fünftausend Jahre zurückreicht.

In den Ausgrabungen der Städte und umliegender Dörfer der Indus-Zivilisation fand man nicht nur zahlreiche Terrakotta-Figuren, Werkzeuge, Tontöpfe, Kupferplatten und Gewichte für den Handel, sondern auch viele Siegel und Terrakotta-Platten, in die Schriftzeichen sowie Darstellungen von Tieren, Menschen und Bäumen eingraviert waren. Diese verraten uns u.a. religiöse und spirituelle Vorstellungen jener Menschen, die vor Tausenden von Jahren auf dem Subkontinent gelebt haben.

Zu einem der stark verbreiteten Motive dieser Siegel oder Platten gehört ein gehörnter Mann, der zusammen mit einem Ficusbaum oder seinen Blättern dargestellt wird. Auf dem Siegel Nr. 222 sieht man zum Beispiel, wie ihm der Zweig eines Pipalbaums (auch Pappel-Feige, Bodhibaum, Ficus religiosa) mit drei Blättern aus der Kopfbedeckung herauswächst. Auf einem anderen Siegel wird er von zwei am Boden knienden Verehrern flankiert. Manchmal scheint er zusätzlich zu seiner yogischen Körperstellung drei Gesichter zu haben. Die Frage, wie alt Yoga ist, hängt mit der Bedeutung dieser Figur zusammen.

Yan Dhyansky (1987: 89–​108) geht davon aus, dass die gehörnte Figur, ihrer Sitzhaltung nach zu urteilen, in der Körperstellung Mulabandhasana verharre, es könnte sich aber auch um Gorakshasana handeln (Zeichnungen in Satyananda Saraswati 2008: 351f.). Ein Siegel aus der Stadt Mohenjo-Daro stellt jedoch den gehörnten Mann in einer komplexeren Umgebung dar. Er sitzt in der yogischen Haltung, nackt, mit erigiertem Penis auf einem Podest oder «Thron» (Parpola 2015: 194) und ist umgeben von vier wilden Tieren: Tiger, Büffel, Nashorn und Elefant. Unter dem Podest, zu Füßen des nackten Mannes, sitzen zwei Gazellen. Am oberen Rand des Siegels ist eine Schriftzeile mit Piktogrammen zu sehen.

Darstellung eines gehörnten Mannes in yogischer Körperstellung, umgeben von wilden Tieren, auf einem Siegel der Indus-Kultur, um 2500–1500 v.Chr.

Der Archäologe John Marshall, der als Erster die Ausgrabungen dieser Stätte leitete, war überzeugt davon, dass dieser gehörnte «Yogi» der spätere Hindu-Gott Shiva sein müsse, da Shiva unter anderem den Beinamen «der Herr der Tiere» (Sanskrit pashupati) hat, in der Hindu-Ikonographie mit einem, drei, vier oder fünf Gesichtern dargestellt wird und in der erigierten Phallus-Form (Sanskrit linga) verehrt wird. Auch die Tausend Namen von Shiva geben Hinweise darauf, dass diese Figur Shiva sein muss. Sie nennen ihn nicht nur «den Herrn der Tiere», sondern auch «den Herrn der Elefanten» (Hastishvara, 961. Name) und «den Tiger» (Vyaghra, 962. Name), und wie gesehen, bringen sie ihn mehrfach mit Yoga in Verbindung.

Der Ficusbaum gilt im Hinduismus als heilig und wird heute noch von Menschen in Not zur Wunscherfüllung rituell verehrt. Dieser Baum erscheint im Industal nicht nur auf den Siegeln und Platten, seine stilisierten Blätter und Zweige tauchen auch in der Schrift auf. Dann wird der Ficus von anderen Piktogrammen wie Stern, Fisch oder Krebs begleitet. Der Sindhologe Asko Parpola versucht die Schriftzeichen der Industal-Bewohner durch die sogenannte Rebus-Methode zu entschlüsseln: Er untersucht den Bildgehalt dieser Piktogramme, um deren verbale Entsprechungen im Tamilischen und Proto-Dravidischen zu finden und sie dann mit den Sanskritwörtern in der vedischen Literatur in Verbindung zu bringen. So «beweist» der finnische Wissenschaftler, dass der Ficusbaum im Zusammenhang mit dem Stern auf seine Beziehung zum Kosmos hindeutet; der Krebs verweist auf den Polarstern. Der Ficus wurde aufgrund seiner kräftigen, Halt gebenden, aber auch Mauern sprengenden Wurzeln zur Vernichtung der Feinde angebetet. Dies wiederum ist Parpola zufolge als der mit Bogen und Pfeil bewaffnete Shiva, Jäger und Vernichter der Feinde, zu verstehen.

Diese Deutung beweist Parpola mit einem seltenen «Pictorial bilingual»: Zwei Kupferplatten (aus Mohenjo-Daro) tragen auf der einen Seite die gleiche Reihe der Schriftzeichen (mit Piktogrammen von Ficus, Krebs etc.). Die andere Seite hat jedoch verschiedene Zeichnungen: den bewaffneten Jäger auf der einen Platte, den Ficus mit dem Krebs auf der anderen Platte (Parpola 2015: 278–​283). So steht heute außer Frage, dass diese meditierende, gehörnte Figur Shiva als Yogishvara, Herr des Yoga, ist.

Diese Feststellung lässt sich zusätzlich mithilfe der Tausend Namen von Shiva untermauern, was bisher auch von Wissenschaftlern unbemerkt blieb. Das Auffallendste an dieser Figur sind die Hörner. Der 981. Name nennt Shiva shrungi, den mit den Hörnern! Gleich der nächste Name, der 982., nennt ihn shrungapriya, Liebhaber der Hörner. Auf seine Haare, die zu Zöpfen gebunden sind, beziehen sich der 15. Name, jati, der mit dem Zopf, und der 143. Name, trijati, der mit drei Zöpfen. Auch zu dem Streit unter den Wissenschaftlern, ob die Figur drei oder vier Gesichter habe, gibt es hier eine Lösung. Sein 890. Name nennt ihn sarvaparshvamukha, der mit Gesichtern auf allen (vier) Seiten. Den überraschendsten Hinweis erhalten wir durch den 325. Namen: Shiva sei selbst der ashvattha, der Ficusbaum. Auch hier das Fazit: Die gehörnte Figur ist Shiva, der Herr des Yoga. Es ist kein Zufall, dass er in den Darstellungen auf den Indus-Siegeln mit dem Ficusbaum in Verbindung steht. Indischen Traditionen zufolge ist Shiva der Verkünder des Yoga.

Kulturerbe der Industal-Zivilisation

Reichen nun diese Feststellungen, dass die gehörnte Figur Shiva ist und dass er in der Körperstellung Mulabandhasana sitzt, aus, um zu behaupten, der Yoga habe seine Ursprünge in der Industal-Zivilisation? Allein der Hinweis auf Shiva und bestimmte Asanas – man fand auch die Position Vajrasana (Dhyansky 1987, Abb. 4) auf einem anderen Siegel – wäre noch kein hinreichender Beweis dafür. Körperstellungen machen nur einen Bruchteil des gesamten klassischen Yoga von Patanjali aus. Vielmehr sind es die Metaphysik und die Ethik, also die abstrakten Begriffe, die dem Yoga seinen eigentlichen Charakter verleihen. Erst wenn sich auch deren Ursprung auf die Indus-Kultur zurückführen lässt, erhält diese These ihre Legitimation. Auch dies gelang einigen Wissenschaftlern. Die Ergebnisse ihrer Untersuchungen der Stadtplanung in Bezug auf die Himmelsrichtungen, der vielen runden Steine (vermutlich Teile von Gnomonen für astronomische Beobachtungen), der Kultobjekte, der Figuren und der Schrift auf den Siegeln weisen darauf hin, dass die wichtigsten Begriffe des Yoga ein altes Kulturerbe der Industal-Zivilisation sind.

Das lässt darauf schliessen, dass die Industal-Bewohner ziemlich fortgeschrittene Kenntnisse und komplexe Vorstellungen von Astronomie und Kosmos hatten, die ihre Religion mitprägten. Darin spielten die Sonne und der Polarstern eine wichtige Rolle, deren irdischer Vertreter der Ficusbaum ist. Während nachts der Polarstern durch seine «Windströmungen oder -seile» (Proto-dravidisch Vata-min) die Planeten und andere Sterne festhält und dafür sorgt, dass sie nicht herabfallen, tut die Sonne dasselbe tagsüber durch ihre verschiedenartigen Strahlen. Einer der Sonnenstrahlen, der den Mond «ernährt», heißt im Rigveda sushumna – ein Begriff, dem man Jahrhunderte später in Indiens Yoga und Tantra wiederbegegnet. Der wichtige Punkt hierbei ist: Der frühen vedischen Literatur (dazu zählt der Rigveda zum größten Teil) ist der Gedanke fremd, der Makrokosmos wohne dem Mikrokosmos (also dem Menschen) inne. Demzufolge sah der Rigveda keine Beziehung zwischen dem Menschen und dem Sushumna-Sonnenstrahl. Diese müssen bereits die Industaler hergestellt haben. Wie deren Siegel und Schriftzeichen bezeugen, haben sie folgerichtig im Menschen den Kosmos gesehen.