Michael Stausberg
DIE HEILSBRINGER
Eine Globalgeschichte der Religionen
im 20. Jahrhundert
C.H.Beck
Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Religionen. Der bekannte Religionswissenschaftler Michael Stausberg beschreibt anhand von 47 Porträts, wie Heilsbringer aller Couleur – von Rudolf Steiner bis zum Dalai Lama, von Mary Baker Eddy bis zu den Beatles – religiöse Energiewellen um den Globus schickten, die geographische und oft sogar konfessionelle Schranken überwanden und das schillernde religiöse Multiversum schufen, in dem wir heute leben.
Das 20. Jahrhundert war auch in religiöser Hinsicht ein Zeitalter der Extreme. Heilsbringer aus aller Welt verkündeten religiöse Neuaufbrüche, die eingespielte Muster überwanden. Leo Tolstoi schuf den Prototyp einer ethischen Universalreligion. Östliche Lehrer verbreiteten im Westen ihre postreligiösen Konzepte von Zen, Yoga oder Achtsamkeit. Für Mahatma Gandhi, Martin Luther King und Bob Marley war Religion der Ausgangspunkt für politische Befreiung, während die Beatles Erlösung durch kosmische Liebe besangen und mit Transzendentaler Meditation experimentierten. Neben den friedliebenden Welt- und Selbstverbesserern gab es gewaltbereite Prediger wie Osama bin Laden oder Jim Jones, deren Taten für Entrüstung sorgten. Billy Graham und Papst Johannes Paul II. füllten weltweit Stadien, und der Dalai Lama spricht Menschen jenseits traditioneller religiöser Bindungen an. Das gilt erst recht für die Literaten, Filmregisseure, Psychologen und Physiker, die als religiöse Sinnstifter auftraten. Michael Stausberg zeigt in seinem fulminanten Panorama, wie im 20. Jahrhundert neue Heilsbotschaften nicht nur die etablierten Religionen veränderten, sondern auch Politik, Kultur und nicht zuletzt unsere Wahrnehmung der Welt.
Michael Stausberg ist Professor für Religionswissenschaft an der Universität Bergen, Mitglied der Norwegischen Akademie der Wissenschaften und europäischer Herausgeber der internationalen Fachzeitschrift Religion. Bei C.H.Beck erschien von ihm «Zarathustra und seine Religion» (3. Auflage 2018).
Einleitung – Das Jahrhundert der Religionen
Das Weltparlament der Religionen
Dunkle Seiten einer Religionsgeschichte
des 20. Jahrhunderts
Auftakt und Abschluss des Weltparlaments
Weltausstellungen
Vom 11. September 1893
zum 11. September 2001
Ein multibiographisches Epochenporträt:
Ziele und Grenzen
1: Mary Baker Eddy – Befreiung durch Christliche Wissenschaft
Eine neue Mose
Von der chronisch Kranken
zur wissenschaftlichen Entdeckerin
Science and Health, ein Lehrbuch
Die Mutterkirche: Church of Christ, Scientist
Gerichtsverfahren und der Faktor Geschlecht
Profit, Wachstum, Stagnation
2: Quanah Parker – Die Peyote-Religion der Comanche-Indianer
«The Religion of the North American Indians»
Die Quahadi und Cynthia Ann Parker
Macht und Ohnmacht der Schutzgeister
Peyote: Der Kaktus und die Zeremonien
Vom drohenden Verbot zur Gründung
der Native American Church
3: Swami Vivekananda – Das spirituelle Indien und die Wiederentdeckung des Yoga
Rekonstitution des Hinduismus
Brahmo Samaj, Shri Ramakrishna und die Göttin Kali
Indien als spirituelles Gebilde
Ausstrahlung
Intellektuelle Kontakte
Die Popularisierung des Yoga
Projekte, Mönchsorden und Laien-Organisation
Ans andere Ufer
4: Kang Youwei – Konfuzius und die Vision der Großen Gleichheit
Reformen des Kaiserreichs
Eine Staatskirche und die Umwandlung
der Tempel
Aberglaube und Religionsfreiheit
Himmlische Wanderschaft
Eine egalitäre Utopie
5: Lew Tolstoi – Eine entzauberte Universalreligion
Mediale Inszenierungen von Leben und Sterben
Sinnkrise und «zweite Geburt»
Eine «praktische Religion», die Liebe
und das Gottesreich
«Suche Gott nicht in den Kirchen»
Weltweite Bewunderung, weltumfassende Religion
Entzauberung
Widersprüche und Marginalisierung
6: Annie Besant – Theosophie als eine neue Weltreligion
Abkehr vom Christentum
Hinwendung zu Atheismus und Säkularismus
Frauenrechte und Ko-Freimaurerei
Vom Sozialismus zur Theosophie
mit Helena Petrovna Blavatsky
Vom Wiedererwecken Indiens zur Home Rule
Eine neue Weltreligion und der neue Weltenlehrer
Der «Mutter Indien»-Tempel in Haridwar
7: Rudolf Steiner – Höhere Erkenntnis durch Anthroposophie
Mit Goethe und Nietzsche zur Theosophie
Rassenspekulationen und drei Dimensionen
des Menschlichen
Der Bruch mit Annie Besant
und die Anthroposophische Gesellschaft
Dornach und das Projekt der Dreigliederung
«Eine hypnotische Kraft»
Erdengeist in der Christengemeinschaft
Alternative Medizin, Waldorfschulen, Landwirtschaft
8: Henry Steel Olcott
und Anagarika Dharmapala – Synthese eines neuen Buddhismus
Buddhismus, Christentum und
die Theosophical Society
Olcotts Buddhistischer Katechismus
Die Flagge einer Weltreligion wird gehisst
Ein theosophischer Entsager
mit internationalem Radius
Bodhgaya: Die Wiederaneignung
eines Wallfahrtsorts
Trennung und Versöhnung
Buddhistische Mission und der Traum
vom Mönchsein
Taixu: Der neue Buddhismus in China
9: Pierre de Coubertin – Olympische Spiele und die Religion des Sports
Die Olympische Idee
Hymnen für die Spiele der Moderne
Neutral und überkonfessionell
Berlin 1936: Neue Rituale und Symbole
Die athletische Religion
10: William Seymour
und Aimee Semple McPherson – Die Pfingstbewegung – Ekstase und Entertainment
Zungenrede und Geistestaufe
Die Wiederkehr des Pfingstwunders
Missionseifer
Bibel-Absolutismus und Gemeindeordnung
Schwester Aimee
Krankenheilungen, Tourneen
und der Angelus Temple
Neue Medien und illustrierte Predigten
Selbstinszenierung mit Sex-Appeal
Die Unersetzlichkeit von Religion
und Amerika als der «Hammer Gottes»
Eine eigenständige Denomination
11: Mahatma Gandhi – Wahrheit als Lebensexperiment
Wahrheitssuche einer «großen Seele»
Rama und frühe Gelübde
Multireligiöse Prägungen in London und Südafrika
Wahrheit und Widerstand: Satyagraha
Briefe an Hitler
Gewaltlosigkeit, Verzicht, Selbstbeherrschung
Öffentliches Fasten für ein politisches Anliegen
Die zwei Ebenen der Religion
Inspiration und Erinnerung
12: Theodor Herzl
und Muhammad Iqbal – Zwei Staatsgründungen und ihre geistigen Väter
Pakistan und Israel
Herzls Judenstaat und seine Utopie des Altneuland
Reaktionen auf das zionistische Projekt
Messianische Ausstrahlung
Iqbal: Koran und West-Östliches Denken
Islamischer Staat und spirituelle Demokratie
Mobilisierung des Islams: Streben, Tat, Veränderung
13: Veer Savarkar – Hindutva – Heiliges Indien
Säkularismus als Schutz von Religion
Eskalationen religiös motivierter Gewalt
Hindutva, sein Erfinder und ein Mord
Indien als heiliges Land der Hindus
Hindu-Nationalismus, politisiert und militarisiert
Ein areligiöser Sozialreformer
14: Aleister Crowley – Magick, Wille, Sex
Die Entdeckung der wissenschaftlichen «Magick»
Hermetic Order of the Golden Dawn
Weltreisen und eine Offenbarungsschrift
Vermeintliche Nazi-Verbindungen
und das Gesetz des Willens
Die Macht von Sexualität und Rauschmitteln
Magie für ALLE
Nachruhm in der Popkultur
Wicca und Satanismus
15: Tirumala Krishnamacharya
und B. K. S. Iyengar – Vom Yoga zur post-religiösen Wellness
Raja-Yoga und Hatha-Yoga
Krishnamacharya in Tibet und Mysore
Anwendungsbereiche und Nutzen des Yoga
Iyengar: Markenzeichen und Menuhins Yoga-Lehrer
Rückbezug auf das Yogasutra
16: Daisetz Teitaro Suzuki – Zen – Universalformel des Gelingens
Ein Zen-Mönch und ein Evangelist des Buddhismus
Suzukis Mahayana-Studien
und die «Große Schlichtheit»
Grundmuster des Zen
und der «Buddha des Nordens»
Shin-Buddhismus versus Staats-Shinto
im japanischen Kaiserreich
Eine kosmopolitische Celebrity
Spiritualität und Zen als Schlüsselerfahrung
Coda: Eugen Herrigel
17: Carl Gustav Jung – Psychologie als Heilsweg
Freuds Religionskritik und das Unbewusste
Esoterischer Religionsstifter
oder empirischer Wissenschaftler?
Vereinnahmung durch die Nazis
Visionen und zwei Persönlichkeiten
Philemon, das «rote Buch» und der Gnostizismus
Das Refugium am See und das New Age
Nahtoderfahrung und die Therapie
des Christentums
Späte Gedanken: Synchronizität, Alchemie,
Archetypen
18: Adolf Hitler – Politik als Glaube, Vernichtung als Erlösung
Dämonisierung und Magie als Entlastung
Sakralisierung durch Zeitgenossen
und Geschichtsschreibung
Christliche Kritik am Neuheidentum
Hitlers religiöser Kosmos
Karriere eines Antisemiten mit Charisma
Glaubensbekenntnis und Erlösung
19: Solomon Schechter
und Mordechai Kaplan – Gelehrte Rekonstruktionen des Judentums
Reformierte und orthodoxe Juden in New York
Schechter: Von den Chassidim
zum Konservativen Judentum
Das Ostjüdische bei Martin Buber
und Gershom Scholem
Kaplan: Von Vilnius nach Amerika
Glaubensverlust und liturgische Innovationen
Rekonstruktion: Religion als Zivilisation
20: Bhimrao Ambedkar – Vom Hinduismus zum Buddhismus – Religionswechsel als Emanzipation
Die Diskriminierung der Dalits
Der Buddhismus als Religion
des «guten» und modernen Indien
Gegen Gandhi und gegen religiöse Ausgrenzung
Das Recht auf religiöse Selbstbestimmung
Religionswechsel, nicht Religionsverzicht
Die Überlegenheit des Buddhismus
und dessen Rekonstruktion
Bodhisattva Ambedkar
21: Anandamayi Ma – Mutter, Göttin, Guru, Heilige
Begegnungen im Medium Buch
Das Spiel mit den Rollen und
die Überwindung der Tradition
Rituale und Umherreisen
Der göttliche Körper
Geschlechterordnungen
Globale Umarmungen: Ammachi
22: Hasan al-Banna
und Sayyid Qutb – Märtyrer der Brüderlichkeit
Sayyid Qutb, die Landbevölkerung und der Koran
Hasan al-Banna und die Muslimbrüder
Eine moralische Solidargemeinschaft
Qutbs Widerstand gegen die ägyptische Republik
Der Islam als umfassendes Ordnungssystem
23: Norman Vincent Peale – Religion als Lebenshilfe
Antikommunismus als religiöser Nationalismus
Religion als wissenschaftliche Heilmethode
Vom New Thought zum Prosperitätschristentum
Jim Bakker: Von der Prosperität zur Endzeit
24: C. S. Lewis
und J. R. R. Tolkien – Mythos und Fantasy
Eine religiöse Autobiographie
Mythos als Wahrheit der Religion
Narnia und Mittelerde
C. S. Lewis und das Christentum
Tolkiens Katholizismus
Experimentalreligionen von Tolkien bis Star Wars
25: L. Ron Hubbard – Geschäftsmodell für die totale Befreiung
Was gilt als Religion?
Scientology: Religion oder Betrug?
Karriere eines Science-Fiction-Autors
Dianetik: Die Klärung des Geistes
Der Thetan, das geistige Kraftzentrum
Eine Religion machen und durchsetzen
Rückzug, Tod und Nachfolge
Stars als Markenbotschafter
26: Mao Zedong – Religionsdemontage und Vergötterung
Kulturrevolution: Die Überwindung der Religion
Glaubensfreiheit und Religionsregulierung in China
Aufstieg zum absoluten Lehrer mit Personenkult
Der Maoismus als Religion: Kitsch, Kunst, Gott
27: Martin Luther King – Der unvollendete Kampf gegen den Rassismus
«I have a dream»: Predigt und Politik
Pfarrer, Bürgerrechtler, Märtyrer
Der neue Mose
Das Ende des amerikanischen Traums
28: Alfred Loisy
und Gustavo Gutiérrez – Vom Modernismus zur Befreiungstheologie
Loisy, der exkommunizierte Modernist
Kampf gegen den Modernismus
Befreiungstheologie und Antikolonialismus
29: Karl Barth
und Paul Tillich – Zwischen Kultur und Offenbarung
Erster Weltkrieg und Religiöser Sozialismus
Karl Barths Religionskritik
Paul Tillich und die Theologie der Kultur
Nationalsozialismus und Emigration
Symbol, Korrelation, Analogie
Wahre Religion und Ökumene
30: Billy Graham – Die individuelle Glaubensentscheidung als globales Medienereignis
Von der Südstaatenfarm in die weite Welt
Mission als Gesamtkunstwerk
Crusades für Christus und gegen den Kommunismus
Kalter Krieg, Rassismus und «Amerikas Pastor»
Der Cary Grant der evangelikalen Welt
31: Sathya Sai Baba – Göttliches Geben und Nehmen
Wundertäter und Rationalist
Beziehungen, Nähe, Bilder
Vom Werden eines Avatar
Die Mitte der Religionen
Pilgerzentrum, Ashrams und Krankenhäuser
Ein globaler Guru und seine Schatten
32: The Beatles – Musik, Rausch, Meditation
«Love, love, love …»
Help! Tempelklamauk und Gegenreligion
Psychedelische Religion
Christentum oder Rock’n’ Roll
Von Ravi Shankar zur Transzendentalen Meditation
Marahishi Mahesh Yogi
und die «vedische Wissenschaft»
Paul McCartney und Ringo Starr:
Religion als musikalisches Material
John Lennon und George Harrison:
Religiöses Patchwork
Von der Pharmazeutik zum Krishna-Bewusstsein
33: Bob Marley – Positive Vibrations
Haile Selassie: Vom heiligen Kaiser
zum lebendigen Gott
Zurück nach Afrika: Apostel des Rastafarianismus
und der Kimbangismus
Ganja und Dreadlocks
Befreiung durch Musik
Karriere eines Rasta
Exodus, Babylon, Zion
Christlicher Rastafarianismus und die Zwölf Stämme
34: Carl Sagan, Stanley Kubrick,
Steven Spielberg – Außerirdische Erlöser
Sagan: Auf der Suche
nach extraterrestrischer Intelligenz
Clark und Kubrick: Eine neue Odyssee
Spielberg: Religiöse Urszenen
35: Menachem Mendel Schneerson – Der Messias und seine Ausgesandten
Lebensstationen
Chabad-Lubawitsch und die Shoah
Frömmigkeit: Mitzwah-Kampagnen
Sunday Dollars und Lichterfest
Audienzen, Farbrengen
und die Aussendung von Getreuen
Moshiach an der Zeitenwende
36: Ruhollah Musavi Chomeini – Die Herrschaft des Rechtsgelehrten
Mystischer Philosoph und Dichter
Die Theorie der Islamischen Regierung
Aus dem Exil in die Islamische Republik
Krieg und Revolutionsexport
Gesamtislamischer Führungsanspruch
eines Übervaters
37: Johannes Paul II. – Weltreisender an der Jahrtausendwende
Der Ausnahmepapst
Charisma, Amt, Person
Globale Präsenz: Reisen und Medien
Attentat, Wunder von Fátima und sichtbares Leiden
Menschenrechte und Kapitalismuskritik
Dialog der Religionen unter katholischen Vorzeichen
An der Jahrtausendschwelle: Vergebungsbitten
und hybride Megaevents
Selig- und Heiligsprechungen
38: Mutter Teresa – Heiligkeit am Abgrund
Von Skopje nach Kalkutta
Hingabe und göttlicher Auftrag
Ordensgründung und Gottesverlassenheit
Der Hagiograph und der Kritiker
39: Der 14. Dalai Lama – Jenseits von Tibet
Verkörperungen und Nachfolgerwahl
Kindeswegführung, Orakel und Inthronisierung
Maos zwei Gesichter
Indien: Spirituelle Heimat und Zufluchtsort
Tibet-Aura, buddhistische Ökumene
und der Kontakt zur Wissenschaft
Politische Initiativen für eine verfahrene Situation
Masseninitiation und das künftige Friedensreich
Glücksstreben, säkulare Ethik und das Lachen
Demokratie: Die Entflechtung von Religion und Politik
40: Jim Jones, David Koresh,
Asahara Shoku – Endzeiterwartungen und Gewaltexzesse
Jim Jones, der Peoples Temple und Jonestown
David Koresh, die Davidianer und Mount Carmel
Asahara Shoku und Aum Shinrikyo
Entsager und Ermordete
Kommunen, Mission und Giftstoffe
Apokalypse
Nachwehen
41: Bhagwan Shree Rajneesh – Die Lächerlichkeit der Erleuchtung
Philosoph, Provokateur, Lehrmeister
Unterwerfung und Befreiung:
Der Ashram als Experimentierfeld
Religiöses, philosophisches
und therapeutisches Patchwork
Eine Kommune zwischen Erfolg und Scheitern
Eine religionslose Religion
Sheela: Das Ende einer Liebesbeziehung
Luxusresort in Poona
42: Madalyn Murray O’Hair – Militanter Atheismus als Lebensaufgabe
Zunahme und Stigmatisierung des Atheismus
Eine amerikanische Protagonistin
Unkonventionell und streitlustig
Gegenkirche, Gegenwind und ein schlimmes Ende
43: Benny Hinn
und Reinhard Bonnke – Fernsehprediger, Wunderheiler, Kreuzzügler
Benny Hinn: Vom multireligiösen Jaffa
ins evangelikale Nordamerika
Prosperität, Heilungen und Überwältigungen
Reinhard Bonnke: Von der Flucht aus Ostpreußen zur Afrikamission
Entscheidungskarten und Dämonenaustreibungen
44: Ikeda Daisaku – Das Lotus Sutra und die humane Revolution
Von der Pädagogik zum Nichiren-Buddhismus
Die Etablierung der Soka Gakkai
Religion, Politik und umfassendes Glück
Meister, Universalgelehrter und Feindbild
45: Paulo Coelho – Magier auf dem Weg zum wahren Selbst
Musik und Magie
Begegnungen und Wallfahrten
Die Alchimie und die Erfüllung der Träume
Brasilien und die «Krieger des Lichts»
46: Osama bin Laden – Der globale Krieg der Religionen
Auf dem Weg zum Dschihadismus
Im Kampf gegen Sowjetunion und USA
Von der muslimischen Selbstverteidigung
zur Islamisierung der Welt
47: Thich Nhat Hanh – Engagierter Buddhismus und Achtsamkeit
Selbstverbrennungen als politischer Protest
Der revolutionäre Mönch
Ein post-dogmatischer Orden
Frieden und Ökologie
Achtsamkeit, buddhistisch und medizinisch
«Intersein»
Globaler Aktionsradius und Heimkehr
Schwester Chan Khong, Schülerin und rechte Hand
Zum Schluss – Religion ist auch nicht mehr, was sie einmal war
Das Ende der Nostalgie
Charisma und Medien
Events und Skandale
Grenzüberschreitungen
Anhang
Dank
Zeittafel
Anmerkungen
Einleitung: Das Jahrhundert der Religionen
1 Mary Baker Eddy
2 Quanah Parker
3 Swami Vivekananda
4 Kang Youwei
5 Lew Tolstoi
6 Annie Besant
7 Rudolf Steiner
8 Henry Steel Olcott und Anagarika Dharmapala
9 Pierre de Coubertin
10 William Seymour und Aimee Semple McPherson
11 Mahatma Gandhi
12 Theodor Herzl und Muhammad Iqbal
13 Veer Savarkar
14 Aleister Crowley
15 Tirumala Krishnamacharya und B. K. S. Iyengar
16 Daisetz Teitaro Suzuki
17 Carl Gustav Jung
18 Adolf Hitler
19 Solomon Schechter und Mordechai Kaplan
20 Bhimrao Ambedkar
21 Anandamayi Ma
22 Hasan al-Banna und Sayyid Qutb
23 Norman Vincent Peale
24 C. S. Lewis und J. R. R. Tolkien
25 L. Ron Hubbard
26 Mao Zedong
27 Martin Luther King
28 Alfred Loisy und Gustavo Gutiérrez
29 Karl Barth und Paul Tillich
30 Billy Graham
31 Sathya Sai Baba
32 The Beatles
33 Bob Marley
34 Carl Sagan, Stanley Kubrick, Steven Spielberg
35 Menachem Mendel Schneerson
36 Ruhollah Musavi Chomeini
37 Johannes Paul II.
38 Mutter Teresa
39 Der 14. Dalai Lama
40 Jim Jones, David Koresh, Asahara Shoku
41 Bhagwan Shree Rajneesh
42 Madalyn Murray O’Hair
43 Benny Hinn und Reinhard Bonnke
44 Ikeda Daisaku
45 Paulo Coelho
46 Osama bin Laden
47 Thich Nhat Hanh
Zum Schluss
Literatur
Bildnachweis
Personenregister
Register der religiösen Gruppen und Strömungen
Geographisches Register
Das Jahrhundert der Religionen
Was immer es sonst auch war, das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Religionen. Offiziell eingeläutet – zumindest symbolisch – wurde diese neue Ära am 11. September 1893 auf der Weltausstellung in Chicago. Zu zehn Schlägen einer riesigen Glocke wurde in der mit viertausend Menschen bis auf den letzten Platz gefüllten großen Halle des Art Institute eine Veranstaltung eröffnet, die von ihren Organisatoren schon in ihren Zielsetzungen als epochal beschrieben wurde: The World’s Parliament of Religions.[1]
Die Rede von einem «Weltparlament der Religionen» war ein Novum: Parlamente im Sinne von Volksvertretungen pflegten ja auf einzelstaatlicher Ebene zusammenzutreten. Ebenso neuartig war die Idee, verschiedene Religionen zu einem solchen Parlament zusammenzubringen, zumal die wenigsten Religionen demokratisch verfasst sind, ebenso wie dies seinerzeit relativ wenige Staaten waren. Das Wort «Parlament» leitet sich aus dem Altfranzösischen ab mit der Bedeutung «Unterhaltung» oder «Erörterung». Dieser ältere Wortsinn entsprach dem Anliegen der Organisatoren, die Religionen miteinander ins Gespräch zu bringen.
Das erste der zehn Ziele der Veranstaltung war: «Auf einer Konferenz, zum ersten Mal in der Geschichte, die führenden Repräsentanten der historischen Religionen der Welt zusammenzubringen.»[2] Sechzehn Tage lang wurden zweihundertsechzehn Vorträge gehalten. Einem zeitgenössischen Bericht zufolge soll dabei zeitweise eine rauschartig-enthusiastische Atmosphäre aufgekommen sein.[3]
Sitzung des Weltparlaments der Religionen am 25. September 1893 in Chicago. Das Bild wurde auch separat mit der Liste der Namen als Einzelblatt verkauft. Auf der Tafel stehen die Namen der vier Redner dieser Sitzung: allesamt Christen, darunter ein China-Missionar, der in chinesischer Kleidung auftrat.
Das Weltparlament der Religionen manifestiert die grundlegende Konstellation, die die Religionsgeschichte des 20. Jahrhunderts prägen sollte: die öffentlich kommunizierte und weithin geteilte Annahme, dass es auf der Welt eine Vielzahl Religionen gibt, die sich untereinander als Mitglieder einer Klasse wahrnehmen. Die Existenz von Religionen als Exemplare einer Gattung wird somit spätestens 1893 als globale Realität ausgerufen und anerkannt – zumindest in bestimmten Schichten einer sich formierenden globalen (wenngleich noch westlich dominierten) Elite. Diese pragmatische Universalisierung des Religionsbegriffs legt eine globale Perspektive auf eine Religionsgeschichte des 20. Jahrhunderts nahe.
Globalisierung meint nicht nur die sich beschleunigende weltumspannende Verflechtung von vormals getrennten Kulturen, Gesellschaften oder Märkten, sondern auch das Bewusstsein von diesen Verflechtungen, die manchen als Verheißung und manchen als Bedrohung erscheinen. Religionen gab es bereits seit Jahrtausenden, aber jetzt erst wurden sie routinemäßig unter diesem Oberbegriff zusammengefasst und damit vergleichbar. Religion ist damit durch Vielfalt gekennzeichnet, mit den großen Weltreligionen als den bekanntesten Ausprägungen. Außerdem trat Religion nun als distinkte Kategorie neben Wirtschaft oder Politik, Kunst oder Wissenschaft.
Die universelle Anerkennung von Religion hat sich seit dem 19. und verstärkt im 20. Jahrhundert in einer zunehmenden Berücksichtigung von Religionsfreiheit in den Verfassungen vieler Länder und im Völkerrecht niedergeschlagen. 1948 wurde Religionsfreiheit von der UN-Generalversammlung im Rahmen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sogar als universales Menschenrecht proklamiert. In Artikel 18 heißt es: «Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht schließt die Freiheit ein, seine Religion oder seine Überzeugung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder seine Überzeugung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Praxis, Gottesdienst und Observanz zu bekunden.» Religion erhielt damit den Status einer anthropologischen Universalie und wurde zugleich, zumindest theoretisch, zum Gegenstand der autonomen Entscheidung jedes Menschen.
Ein Streitpunkt der vorbereitenden Verhandlungen war das Recht auf Religionswechsel. Dafür sprach sich neben dem libanesischen Christen Charles Malik auch der pakistanische Außenminister Muhammad Zafrullah Khan aus. Khan gehörte einer prominenten Familie der Ahmadiyya-Gemeinschaft an, einer messianischen Gruppierung, die Ende des 19. Jahrhunderts in Britisch-Indien von Gulam Ahmad begründet wurde. 1974 wurde sie vom pakistanischen Parlament als unislamisch eingestuft, ihre Mitglieder müssen seither Einschränkungen ihrer Religionsausübung hinnehmen. Das ist zugleich ein Beispiel für die faktischen Grenzen der Religionsfreiheit. Vehement gegen das Recht auf Religionswechsel sprach sich Saudi-Arabien aus. Das Land gehörte aus diesem Grund neben Südafrika, der Sowjetunion und fünf osteuropäischen Staaten zu den acht Ländern, die sich bei der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte am 10. Dezember 1948 der Stimme enthielten.[4] Im 1966 aufgesetzten und 1976 nach Ratifizierung durch dreiundfünfzig Staaten in Kraft getretenen Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, der die Erklärung von 1948 völkerrechtlich verbindlich implementieren sollte, blieb das explizite Recht auf Religionswechsel auf der Strecke: In Artikel 18(1) ist nun von der «Freiheit, eine Religion oder eine Überzeugung eigener Wahl zu haben» die Rede. Diese Formulierung scheint auch die Abkehr von Religion außen vor zu lassen. Als «Apostasie» steht die Loslösung vom Islam in einer Reihe von Ländern mit islamisch geprägter Gesetzgebung unter Strafe. Die Erklärungen von 1948 und 1966 haben dagegen gemeinsam, dass keine bestimmte Form von Religion privilegiert wird. Von daher gilt: «Die Prinzipien von Freiheit der Religion und Gleichheit aller Religionen sind unzertrennlich.»[5]
Mit dem Weltparlament von 1893 traten die USA eine Vorreiterrolle auf dem Gebiet globaler religiöser Kommunikation an, nicht zuletzt durch die Festsetzung des Englischen als ausschließlicher Tagungssprache. Zu einem Parlament gehören normalerweise gewählte Volksvertreter. In dem Weltparlament der Religionen traten hingegen Religionsvertreter in Erscheinung, die teilweise formell angefragt, eingeladen oder entsandt wurden, im Einzelfall aber auch auf eigene Initiative anreisten – so etwa der hinduistische Mönch und Gelehrte Swami Vivekananda (Kap. 3).
Ein wichtiges Kriterium für die Auswahl der Teilnehmer war ihre «Kompetenz», die «wichtigen distinkten Wahrheiten» ihrer jeweiligen Religion für ein gebildetes Publikum zum Ausdruck zu bringen. Hier artikuliert sich das grundlegende, auch heute noch vielerorts geteilte Religionsverständnis der Organisatoren: Religionen sind in erster Linie Wahrheitsrepositorien, was Religionen, die über keine explizit artikulierten Doktrinen und keine extern anschlussfähigen Sprecherfiguren verfügten, irrelevant erscheinen ließ. Die schiere Vielfalt der vorgetragenen Wahrheiten würde – so die unausgesprochene Hoffnung – einzelne Wahrheitsansprüche zu bändigen helfen. Oder aber das Christentum würde sich als die letztlich überlegene Wahrheit durchsetzen.
Das Parlament sollte keine Weltmeisterschaft der Religionen sein, kein Jahrmarkt exzentrischer Einzelwahrheiten, sondern eher ein symphonisches Festkonzert, bei dem alle Teilnehmer freudig in die Ode auf die positive kulturelle und zivilisatorische Bedeutung von Religion einstimmen sollten. Ihr gegenüber standen die Gefahren des interreligiösen Konflikts, innerreligiöser Auflösungserscheinungen und der «Irreligion», womit wohl Materialismus, Gleichgültigkeit, Agnostizismus oder Atheismus gemeint waren.[6] Die Organisatoren wagten sich auf den schmalen Pfad zwischen der Beschwörung einer brüderlichen Verbundenheit und prinzipiellen Gleichrangigkeit aller vertretenen Religionen und ihrer faktischen Gleichwertigkeit, die alle Unterschiede nivellieren und Indifferenz Vorschub leisten würde. Die Geschäftsordnung sah vor, dass die Redner von Angriffen auf andere Religionen abzusehen hätten,[7] was allerdings nicht immer konsequent eingehalten wurde.
Das Projekt des Weltparlaments traf nicht überall auf Zustimmung. Die Generalversammlung der amerikanischen Presbyterianer lehnte die Idee ab. Auch einer der seinerzeit weltweit wichtigsten religiösen Würdenträger der Welt sandte eine Absage: Edward White Benson, ab 1883 Erzbischof von Canterbury und damit Oberhaupt der Kirche des 1893 noch expandierenden kolonialen britischen Weltreichs. Die Begründung für seine Verweigerung ließ an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Seine Teilnahme würde die «Tatsache» untergraben, dass das Christentum «the one religion» sei – die einzige wahre Religion! Außerdem war er nicht mit der Rolle einverstanden, welche die römisch-katholische Kirche spielen durfte.[8] Mit Abdülhamid II., von 1876 bis 1909 Sultan des Osmanischen Reiches und damit auch Kalif, blieb ein weiterer wichtiger, transnational anerkannter politisch-religiöser Führer dem Parlament fern.
Das Weltparlament der Religionen stand unter dem Vorzeichen der Förderung des Weltfriedens und war ein Anfangspunkt religionsübergreifender Friedensbemühungen. Das Ereignis fiel allerdings in eine Zeit brodelnder religiöser Gewalt gegen andere Religionen. 1892, im Jahr vor dem Weltparlament, hatte Sultan Abdülhamid II. seinen Generalmajor in den Dschabal-Sindschar-Höhenzug bei Mossul (im heutigen Irak) entsandt, wo die dort ansässigen Jesiden in Anwesenheit von Christen und Muslimen offiziell aufgefordert wurden, zum Islam oder zum Christentum überzutreten. Als die Jesiden dieser Aufforderung nicht Folge leisteten, kam es zu Strafexpeditionen, Massenvergewaltigungen, Massakern und Plünderungen; ihr zentrales Heiligtum in Lalisch wurde überfallen und muslimischer Kontrolle unterstellt.[9] Kurze Zeit später, 1894, begannen im Osmanischen Reich unter Sultan Abdülhamid II. Massaker an Armeniern. Dies war der Auftakt einer Vertreibungs- und Vernichtungspolitik gegen christliche Bevölkerungsgruppen, die sich über drei Jahrzehnte, bis 1924 und damit in die frühen Jahre der türkischen Republik, hinzog. Schon die erste Welle der Massaker von 1894 bis 1896 wurde von Zeitzeugen und Journalisten in New York und Paris als «Holocaust» bezeichnet. Das Wort ist zwar ein Terminus für Brandopferpraktiken im Alten Israel, war aber schon seit dem Mittelalter auch für Brandkatastrophen verwendet worden. Obwohl Religion nicht der einzige handlungsleitende Faktor war, lassen sich die Angriffe auf Jesiden und Armenier als Religiozid bezeichnen: Die Gewalthandlungen und Morde, von religiösen Prinzipien legitimiert, geschahen unter aktiver Beteiligung religiöser Autoritätspersonen und richteten sich gegen andersreligiöse Gruppen, die ihrem Schicksal nur durch Übertritt zum Islam entgehen konnten.[10]
Auch in Indien ereigneten sich im Jahr des Weltparlaments Ausschreitungen zwischen verschiedenen religiösen Gruppen. Im Juli 1893 kam es bei der Muharram-Feier in einem Ort in der westindischen Provinz Gujarat zu Unruhen, bei denen einige Hindus ums Leben kamen. Dies war der Auslöser für Kämpfe zwischen Hindus und Muslimen in der indischen Hafen- und Industriestadt Bombay, bei denen im August des Jahres fast hundert Menschen das Leben verloren. Bombay sah durch das gesamte 20. Jahrhundert Wellen interreligiöser Gewalt, davon fünfzehn allein bis 1944.[11] Auf spätere Ausschreitungen in den Jahren 1992/93 werden wir im Zusammenhang mit dem indischen politischen Agitator Veer Savarkar (Kap. 13) noch kurz zurückkommen.
Im russischen Zarenreich war es im Zeitraum von 1881 bis 1884, in einer zweiten Welle von 1903 bis 1906, zu zahlreichen anti-jüdischen Pogromen gekommen. Ausläufern der dadurch in Gang gesetzten Auswanderungswellen begegnen wir bei Mordechai Kaplan (Kap. 19), der die Assimilierung der amerikanischen Juden – wie später auch Menachem Mendel Schneerson (Kap. 35) – für eine ebenso große Gefahr für den Fortbestand des Judentums betrachtete. Adolf Hitler (Kap. 18) sah die Vernichtung des Judentums als einen göttlich sanktionierten Auftrag – und der Holocaust bleibt das tragische Zentrum jeder Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Eine globale Gewalt- und Verbrechensgeschichte der Religionen – von und gegen religiöse Gruppen begangene Gewalttaten – im 20. Jahrhundert wäre Gegenstand eines eigenen Buches. Hier streifen wir verschiedene Fälle, so etwa die Religionsausmerzung unter Mao (Kap. 26). Unter Ayatollah Chomeini (Kap. 36) mussten die Bahai in Iran Diskriminierung und Verfolgung erdulden, und es kam zu Hinrichtungen und Zerstörungen von Gebäuden. Eine besondere Form der Gewalt, der wir im Kapitel über den amerikanischen Pastor Jim Jones (Kap. 40) begegnen werden, sind kollektive Selbsttötungen. In der von ihm gegründeten Siedlung Jonestown in Guyana starben 1978 über neunhundert Menschen bei einem, teils wohl erzwungenen, Massensuizid. Seit den späten 1980ern kam es in vielen Ländern, allen voran in Frankreich und den USA, zu einer Welle aggressiver Razzien gegen oft zu Unrecht verdächtigte religiöse Kleingruppen, davon betroffen unter anderem die von David Koresh (Kap. 40) geleiteten Branch Davidians in Texas.[12] Umgekehrt wurden von einigen Gruppen in Japan und den USA brutale Anschläge auf ihre Umwelt verübt, worauf wir in Verbindung mit dem japanischen Religionsgründer Asahara Shoku (Kap. 40), dem indischen Guru Bhagwan Shree Rajnesh (Kap. 40) und Osama bin Laden (Kap. 46) eingehen werden.
Verbrechen wurden auch in den Hinterzimmern religiöser Mainstreamorganisationen verübt. Seit den späten 1980er Jahren, vermehrt aber seit Mitte der 1990er Jahre kamen von katholischen Geistlichen und Erziehern flächendeckend begangene, in ihrem ganzen Ausmaß noch nicht dokumentierte sexuelle Übergriffe ans Licht. Zwar hat Papst Johannes Paul II. (Kap. 37) 2001 eine erste Entschuldigung geäußert, aber die für die Betroffenen traumatischen Verbrechen wurden innerhalb der Kirche bislang eher selten und zurückhaltend sanktioniert und kaum aufgearbeitet. Sexueller Missbrauch wurde auch in anderen religiösen Organisationen begangen, unter anderem von protestantischen Geistlichen und evangelikalen Predigern, von Rabbis, hinduistischen Priestern und buddhistischen Autoritätsfiguren, aber auch in neuen Religionsbildungen.
Doch zurück in die interreligiöse Traumfabrik von Chicago. Bei der Eröffnungsveranstaltung marschierten an jenem 11. September «Arm in Arm»[13] neunundfünfzig Würdenträger aus mehr als achtzehn Ländern auf die Bühne. Dort schwenkten sie, soweit vorhanden, ihre Landesfahnen. Durch lokale oder religiöse Trachten bildeten sie einen bemerkenswert bunten Haufen. Im Zentrum thronte mit James Gibbon, dem Kardinal von Baltimore, der dem liberalen Flügel angehörige hochrangigste katholische Geistliche der USA. Um die Teilnahme von Repräsentanten der römisch-katholischen Kirche war aktiv geworben worden, damit die Veranstaltung nicht als rein protestantische Angelegenheit abgetan werden konnte.
Neben den religiösen Persönlichkeiten und Mitgliedern des Organisationskomitees fanden auch einige Diplomaten auf der Bühne Platz: ein Vertreter des deutschen Kultusministeriums, ein russischer Prinz und ein Abgesandter der chinesischen Gesandtschaft. Obwohl viele Frauen im Publikum saßen und Frauen aktiv an der Vorbereitung beteiligt waren, standen bei der Eröffnungsveranstaltung gerade einmal vier Teilnehmerinnen auf der Bühne: eine Parsi-Christin aus Indien (Jeanne Sorabji), deren Vater zum Christentum konvertiert war, eine amerikanische unitarisch-universalistische Geistliche (Rev. Augusta Chapin) und zwei gesellschaftlich engagierte Millionärsgattinnen aus Chicago (Bertha Palmer und Ellen Henrotin).
Die allermeisten Männer auf der Bühne waren Christen unterschiedlicher Glaubensrichtungen: Katholiken, Lutheraner, Methodisten, Episkopale, Griechisch-Orthodoxe, Kongregationalisten und zumindest ein freikirchlicher Anglikaner. Vertretern der armenischen Kirche im Osmanischen Reich war keine Ausreisegenehmigung erteilt worden.[14] Mormonen waren zum Weltparlament der Religionen nicht eingeladen worden, da ihr Glaube den Veranstaltern nicht als Religion galt.[15] Noch mehr ins Gewicht fiel vermutlich aber, dass die Praxis der Polygamie einen unüberwindlichen Widerwillen in den bürgerlichen Kreisen der Organisatoren erregte, obwohl die Leitung der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage das Schließen von Mehrehen 1890 verboten hatte. Wie gefühlsbeladen diese Praxis war, zeigte sich, als die Rede eines amerikanischen Muslims mit schallenden Protestrufen quittiert wurde, während er auf dieses Thema zu sprechen kam[16] – angeblich die einzige lautstarke Unmutsbezeugung des Publikums gegenüber einer bestimmten religiösen Position. Buddhisten stellten mit fünf Männern – vier davon aus Japan – nach den Hindus das zweitgrößte außerchristliche Religionskontingent bei der Eröffnungsveranstaltung. Juden, die – wie wir in Verbindung mit dem Gelehrten Solomon Schechter (s. Kap. 19) noch sehen werden – im Übrigen eine sehr aktive Rolle in dem Weltparlament spielten, konnten nicht an der Eröffnungsveranstaltung teilnehmen, da der 11. September 1893 auf den jüdischen Neujahrstag (Rosh ha-Schana) fiel.
Zu sanfter Orgelbegleitung wurde beim Auftakt der Veranstaltung ein von dem englischen Geistlichen und Hymnendichter Isaac Watts (1674–1748) aus verschiedenen biblisch-alttestamentlichen Stellen zusammengedichteter Psalm angestimmt:
Before Jehovah’s awful throne
Ye nations bow with sacred joy
Know that the Lord is God alone
He can create, and he destroy.
Indem man die interkonfessionelle bzw. interreligiöse und internationale Teilnehmerschar somit gesanglich vor den Thron des Schöpfergottes Jehovah versetzte, wurde die Veranstaltung dramaturgisch-performativ unter monotheistische Vorzeichen gestellt. Die christliche Rahmung des angeblich transreligiösen Ereignisses wurde noch gesteigert, indem anschließend eine christliche Gottesanrufung (ein Te deum) gesungen wurde, in dessen letzter Strophe «Father, Son and Holy Ghost» gepriesen werden. Übertroffen wurde dies alles noch durch das von Kardinal Gibbon feierlich vorgetragene «Lord’s Prayer», das Vaterunser. Die Gebetstexte unterschiedlichen Religionen zu entnehmen oder gar religionskombinatorische oder religionsübergreifende Texte zu komponieren, war 1893 wohl noch nicht denkbar. Dass ein Weltparlament der Religionen mit einem religiösen Akt – dem Vortrag von Hymnen und Gebeten – beginnen musste, verstand sich von selbst. Erst hierauf folgten die programmatischen Ansprachen der Organisatoren Charles Carroll Bonney und John Henry Barrows.
Auch zum Abschluss des Weltparlaments wurde das Vaterunser rezitiert, diesmal von dem reformjüdischen Rabbi Emil Gustav Hirsch. Als Gelehrter hatte sich Hirsch intensiv mit jüdisch-christlichen Beziehungen befasst, und 1894 hielt er vor seiner Gemeinde in Chicago eine Predigt über Paulus, in der er das Christentum als «heidnisches Judentum» bezeichnete. Das Vaterunser konnte ihm somit ebenso als jüdischer wie als christlicher Text gelten.[17] Der Schlusssegen war jedoch einem katholischen Bischof vorbehalten.
Unter den Rednern der Abschlussveranstaltung fanden sich auch der aus Liberia stammende, zum Christentum konvertierte Prinz Momulu Massaquoi, der sich als Repräsentant Afrikas vorstellte,[18] und ein Bischof der afroamerikanischen African Methodist Episcopal Church, was den Willen der Organisatoren zumindest andeutet, auch diesen Teil der Menschheit zu Wort kommen zu lassen, der im Tagungsprogramm im Übrigen ausgeblendet wurde.
Das Weltparlament der Religionen scheint zumindest bei einigen Teilnehmern und Beobachtern religiöse Erfahrungen und Deutungen hervorgerufen zu haben. Die Atmosphäre sei mit «religiösem Enthusiasmus» aufgeladen gewesen, schreibt Barrows, und einige Redner habe ein «heiliger Rausch» überkommen. Er zitiert einen Teilnehmer, der in dem Kongress ein neues Pfingstereignis gekommen sah.[19] Hier sei noch ein Ausblick gestattet: Keine dreizehn Jahre später kam es in Los Angeles ebenfalls zu rauschartigen Gemeinschaftserlebnissen um den Afroamerikaner William Seymour (Kap. 10), die als ein Beginn des Pfingstchristentums gelten.
Wie war es überhaupt zu dieser Veranstaltung gekommen? Das Weltparlament der Religionen fand im Rahmen der «World’s Columbian Exposition» statt – einer Weltausstellung zum vierhundersten Jahrestag der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus 1492, die das imperial-expansionistische Projekt der USA untermauern sollte, wegen Fehlplanung aber erst 1893 eröffnet wurde. Die seit 1851 (London) regelmäßig abgehaltenen great exhibitions, die in Frankreich als expositions universelles und in den USA als world’s fairs bezeichnet wurden, waren die Mega-Events der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.[20] Die Veranstaltungen waren Knotenpunkte der sich ausweitenden Globalisierung: Sie setzten weltweite Verkehrs- und Kommunikationsströme voraus und bündelten diese zugleich. Sie sollten eine Art friedlichen Wettkampf der Nationen um wirtschaftlichen, technischen und zivilisatorischen Fortschritt darstellen und waren ein Schaufenster technischer Errungenschaften: In Chicago wurden erstmals der Reißverschluss, die Geschirrspülmaschine, aber auch der elektrische Stuhl präsentiert. Zugleich stellten die Veranstaltungen, die in der Regel von Kolonialmächten (Großbritannien, Frankreich, Belgien, USA) ausgerichtet wurden, auch fremde, exotische oder «primitive» Völker aus, um dem Publikum den vermeintlichen zivilisatorischen Vorsprung des Westens vor Augen zu führen: Sogenannte Eingeborenendörfer gehörten zum Standardrepertoire. In Chicago waren die brutal unterdrückten indigenen Bevölkerungen Nordamerikas attraktive Exponate, wie wir in einem späteren Kapitel zu dem Comanche-Anführer Quanah Parker (Kap. 2) noch sehen werden.
Die Weltausstellungen boten überdies Raum für Tagungen, Kongresse und Konferenzen, vor allem auf Gebieten wie Maschinenbau, Medizin, Naturwissenschaft und Technik. Im Rahmen der «World’s Columbian Exposition» fanden über hundertfünfzig verschiedene Kongresse und Tagungen zu einer ganzen Reihe von Themen statt, darunter auch Musik, Kunst, Literatur und verschiedene soziale, politische und weltanschauliche Fragen zu Themen wie Bildung, Stellung der Frauen, Presse oder Sonntagsruhe.[21] Dem prominenten Chicagoer Juristen Bonney, der der auf Emmanuel Swedenborg (1688–1722) zurückgehenden Kirche des Neuen Jerusalem angehörte, gelang es 1889, seinem Ziel Gehör zu verschaffen, dass auf der geplanten Weltausstellung die «großen Themen» der Menschheit verhandelt werden müssten – und dazu gehörte eben die Religion, die Barrows als «the greatest fact of History» bezeichnete.[22] Religion war freilich nur eine von zwanzig thematischen Abteilungen der Weltausstellung.
1891 wurde ein Einladungsbrief zu dem Weltparlament an alle erdenklichen Kontaktpersonen und an viele Zeitschriften in der Welt versandt. Schließlich gab es dreißig Teilnehmer aus Asien – darunter viele christliche Missionare. Von den 216 Vorträgen (gehalten von 186 Rednern, darunter 23 Frauen) spiegelte die überwiegende Mehrzahl christliche Perspektiven und Überzeugungen wider, die allerdings durchaus heterogene Positionen vertraten. 16 Vorträge behandelten buddhistische Themen, 13 hinduistische und 11 jüdische. Weiterhin nahmen Hindus der Brahmo-Samaj-Gesellschaft, Jainas, Konfuzianer, Daoisten, Shintoisten, indische Zoroastrier und ein amerikanischer Muslim teil. Mehrere asiatische Teilnehmer verstanden sich als Repräsentanten einer östlichen Zivilisation, die sich dem materialistischen Westen als mindestens ebenbürtig darstellte.[2324