Verlag C.H.Beck
Immanuel Kant gehört zu den bedeutendsten Philosophen des Abendlandes. Klar und verständlich beschreibt Höffe Kants philosophische Entwicklung und Wirkungsgeschichte und entfaltet die Grundgedanken Kants von der Kritik der reinen Vernunft über die Ethik, Rechts- und Geschichtsphilosophie bis zur Philosophie der Religion und der Kunst. In kritischer Auseinandersetzung zeigt Höffe, warum Kants Denkentwurf auch heute noch herausfordert.
Otfried Höffe, em. Professor für Philosophie, leitet die Forschungsstelle Politische Philosophie an der Universität Tübingen. Bei C.H.Beck sind von ihm erschienen: Demokratie im Zeitalter der Globalisierung (1999, als Paperback 2002), Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger (2004), Kants Kritik der reinen Vernunft (42004, als Paperback 2011), Kleine Geschichte der Philosophie (2001, als Paperback 2005), Lesebuch zur Ethik (52012), Gerechtigkeit (42010), Lebenskunst und Moral oder: Macht Tugend glücklich? (2007), Lexikon der Ethik (Hrsg., 72008), Ist die Demokratie zukunftsfähig? (2009), Thomas Hobbes (2010), Kants Kritik der praktischen Vernunft (2012), Ethik (2013), Aristoteles (42014) und Die Macht der Moral (2014).
Otfried Höffe ist Träger des Bayerischen Literaturpreises (Karl Vossler Preis) für wissenschaftliche Werke von literarischem Rang.
Zitierweise
Abkürzungen
Einleitung
A. Der Lebensweg und die
philosophische Entwicklung
I. Die vorkritische Zeit
1. Elternhaus, Schule, Universität
2. Hauslehrer, erste Schriften
3. Der erfolgreiche Lehrer und elegante Magister
II. Die kritische Transzendentalphilosophie
1. Auf dem Weg zur Kritik der reinen Vernunft
2. Die Ausführung der kritischen Transzendentalphilosophie
3. Der Zensurkonflikt
4. Das Alterswerk
B. Was kann ich wissen? – Die Kritik der
reinen Vernunft
III. Das Programm einer transzendentalen Vernunftkritik
1. Der Kampfplatz der Metaphysik («Vorrede» zur ersten Auflage)
Gliederung der Kritik der reinen Vernunft
2. Die kopernikanische Revolution («Vorrede» zur zweiten Auflage)
3. Die Metaphysik als Wissenschaft oder Über die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori («Einleitung»)
A priori – a posteriori; analytisch – synthetisch
4. Enthält die Mathematik überhaupt synthetische Urteile a priori?
5. Der Begriff des Transzendentalen
IV. Die transzendentale Ästhetik
1. Die beiden Erkenntnisstämme Sinnlichkeit und Verstand
2. Die metaphysische Erörterung: Raum und Zeit als Anschauungsformen a priori
3. Die transzendentale Begründung der Geometrie
4. Empirische Realität und transzendentale Idealität von Raum und Zeit
V. Die Analytik der Begriffe
1. Die Idee einer transzendentalen Logik
2. Empirische und reine Begriffe (Kategorien)
3. Die metaphysische Deduktion der Kategorien
4. Die transzendentale Deduktion der Kategorien
Die Aufgabe – Der erste Beweisschritt: das transzendentale Selbstbewußtsein als Ursprung aller Synthesis – Exkurs: Transzendentale Argumente – Der zweite Beweisschritt: die Beschränkung der Kategorien auf mögliche Erfahrung
VI. Die Analytik der Grundsätze
1. Die Schematismuslehre
2. Die Grundsätze des reinen Verstandes
3. Die mathematischen Grundsätze
4. Die Analogien der Erfahrung
Die Beharrlichkeit der Substanz – Das Kausalitätsprinzip
5. Die Postulate des empirischen Denkens
VII. Die transzendentale Dialektik
1. Die Logik des Scheins
2. Die Kritik der spekulativen Metaphysik
2.1 Die Kritik der rationalen Psychologie
2.2 Die Kritik der transzendentalen Kosmologie
2.3 Die Kritik der natürlichen Theologie
Der ontologische Gottesbeweis – Der kosmologische Gottesbeweis – Der physikotheologische Gottesbeweis
3. Die Vernunftideen als Prinzipien der Vollständigkeit des Erkennens
C. Was soll ich tun? – Die Moral- und
Rechtsphilosophie
VIII. Die Kritik der praktischen Vernunft
1. Sittlichkeit als Moralität
2. Der kategorische Imperativ
Der Begriff des kategorischen Imperativs – Maximen – Verallgemeinerung – Beispiele
3. Die Autonomie des Willens
4. Das Faktum der Vernunft
IX. Die Rechts- und Staatsphilosophie
1. Der Vernunftbegriff des Rechts
2. Das Privatrecht: die Begründung des Eigentums
3. Das öffentliche Recht: die Begründung des Rechtsstaates
4. Die staatliche Kriminalstrafe
D. Was darf ich hoffen? Die Geschichts- und
Religionsphilosophie
X. Die Geschichte als Rechtsfortschritt
XI. Die Religion der praktischen Vernunft
1. Die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes
2. Das radikal Böse
E. Die philosophische Ästhetik und die Philosophie des
Organischen
XII. Die Kritik der Urteilskraft
1. Die doppelte Aufgabe: Sachanalyse und Systemfunktion …
2. Die kritische Begründung der Ästhetik
Das Schöne – Das Erhabene
3. Die kritische Teleologie
Zwischen universaler Teleologie und universalem Mechanismus – Die Zweckmäßigkeit von Organismen – Die regulative Funktion der Teleologie
F. Zur Wirkung
XIII. Aufnahme, Weiterentwicklung
und Kritik Kants
1. Erste Ausbreitung und Kritik
2. Der Deutsche Idealismus
3. Kant im Ausland
4. Der Neukantianismus
5. Phänomenologie, Existentialismus und andere Strömungen
6. Nach dem zweiten Weltkrieg
Anhang
Zeittafel
Bibliographie
A. Werke – B. Hilfsmittel – C. Literatur
Bildquellenverzeichnis
Personenregister
Sachregister
Kant wird nach der Akademieausgabe zitiert, z.B. VII 216 = Bd. VII, S. 216.
Bei der Kritik der reinen Vernunft werden die Seitenzahlen der ersten (= A) oder der zweiten Auflage (= B) angegeben, z.B. A 413 = 1. Aufl., S. 413.
Bei den Briefen (z.B. Briefe, 744/406) bezeichnet die erste Zahl (744) die Briefnummern der Akademieausgabe (Bd. X–XIII), die zweite Zahl (406) die Nummern der Auswahl in der Philosophischen Bibliothek (hrsg. v. O. Schöndörffer, Hamburg 21972).
Auf die im Anhang kapitelweise aufgeführte Literatur wird durch Verfassername (sofern nötig: zusätzlich mit Erscheinungsjahr) und Seitenzahl Bezug genommen; bei mehreren Ausgaben oder Auflagen wird nach der nicht in Klammern stehenden Ausgabe zitiert.
Anfang |
Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (VIII 107–123) |
Fak. |
Der Streit der Fakultäten (VII 1–116) |
Frieden |
Zum ewigen Frieden (VIII 341–386) |
Gemeinspruch |
Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (VIII 273–313) |
GMS |
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (IV 385–463) |
Idee |
Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (VIII 15–31) |
KpV |
Kritik der praktischen Vernunft (V 1–163) |
KrV |
Kritik der reinen Vernunft (A: IV 1–252, B: III 1–552) |
KU |
Kritik der Urteilskraft (V 165–485) |
Log. |
Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen, hrsg. v. G. B. Jäsche (IX 1–150) |
MAN |
Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (IV 465–565) |
MS |
Die Metaphysik der Sitten (VI 203–493) |
Prol. |
Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (IV 253–383) |
Refl. |
Reflexionen (XIVff.) |
Reh |
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (VI 1–202) |
RL |
Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (= 1. Teil der MS: VI 203–372) |
TL |
Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (= 2. Teil der MS: VI 373–493) |
Ist Kant nur eine geschichtliche Figur der Philosophie, oder verdient er auch heute noch unser systematisches Interesse? Kant zählt zu den größten Denkern des Abendlandes und hat wie kaum ein anderer die Philosophie der Neuzeit geprägt. Aber auch Galilei und Newton gelten in ihrem Fach als weit herausragende Wissenschaftler. Trotzdem stehen sie heute für eine vergangene Gestalt der Physik, die durch die Relativitäts- und die Quantentheorie eindeutig überholt worden ist. Trifft dies auch für Philosophen zu? Repräsentiert Kant eine hervorragende, gleichwohl überholte Gestalt menschlichen Denkens?
Geistesgeschichtlich gehört Kant in die Epoche der europäischen Aufklärung. Deren tragende Einstellung ist in vielem brüchig geworden: die Vorstellung, alle Dinge seien beherrschbar, der Glaube an den beständigen Fortschritt der Menschheit, überhaupt der Vernunftoptimismus. Als historische Bewegung ist die Aufklärung vergangen. Doch sind deshalb all ihre Leitideen wertlos geworden? Oder bezeichnen Vernunft und Freiheit, Kritik und Mündigkeit eher menschliche Grundhaltungen und Aufgaben, die, recht verstanden, über das 17. und 18. Jahrhundert hinaus gültig sind?
Kant hat ein Verständnis der Aufklärungsideen entwickelt, das von einer naiven Aufklärung ebensoweit entfernt ist wie von einer gegenaufklärerischen Attitüde, nach der alles Bestehende gut und schön ist. Die Philosophie Immanuel Kants stellt nicht nur den intellektuellen Höhepunkt, sondern auch eine Umgestaltung der europäischen Aufklärung dar. «Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!» – dieser Wahlspruch der Epoche wird von Kant aufgenommen (Was ist Aufklärung? VIII 35) und ins Prinzipielle gewendet. Die Aufklärung als Prozeß: die durch den Entschluß zum Selbstdenken in Gang kommende Aufhebung von Irrtümern und Vorurteilen, die allmähliche Loslösung von Einzelinteressen und die schrittweise Freisetzung der «allgemeinen Menschenvernunft» – dies ist ein gemeinsamer Grundgedanke der Zeit. Bei Kant führt er zur Kritik aller dogmatischen Philosophie und zur Entdeckung des letzten Grundes der Vernunft. Ihr Prinzip liegt in der Autonomie, der Freiheit als Selbstgesetzgebung. Zugleich nimmt Kant einen ungetrübten Optimismus, der schon durch Rousseaus Ersten Diskurs (1750), aber auch durch das «sinnlose» Erdbeben von Lissabon (1755) erschüttert worden ist, aus Grundsätzen zurück. Im Ausgang von innerphilosophischen Problemen stößt Kant nicht nur zu den Ursprüngen, sondern auch zu den Schranken reiner Vernunft vor, der theoretischen ebenso wie der praktischen.
Kant ist vom neuzeitlichen Fortschritt der Naturwissenschaften (Galilei, Newton) sowie der noch älteren Entwicklung der Logik und Mathematik tief beeindruckt. Um so unerträglicher erscheint es ihm, daß in der Ersten Philosophie, die traditionell Metaphysik heißt, ein nicht abzusehender Streit um die Fragen nach Gott, Freiheit und Unsterblichkeit tobt. Diesen Grundlagenstreit hält Kant für einen Skandal, den die Philosophie beseitigen muß, sofern sie ernsthaft ihren Platz unter den Wissenschaften behaupten will.
Um die Metaphysik in den sicheren Gang einer Wissenschaft zu versetzen, stellt Kant die Untersuchung von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zuerst einmal zurück. Er setzt eine Stufe tiefer an und fragt, ob es die Erste Philosophie, die Metaphysik, überhaupt als Wissenschaft geben kann. Vor der Aufgabe, unsere natürliche und soziale Welt aus ihren Prinzipien zu erforschen, erhält die Philosophie den Auftrag, ihre eigene Möglichkeit zu untersuchen. Die Philosophie fängt nicht länger als Metaphysik an; sie beginnt als Theorie der Philosophie, als Theorie einer wissenschaftlichen Metaphysik.
Die Frage nach der Metaphysik als Wissenschaft bringt eine bislang unbekannte Radikalität in die philosophische Diskussion. Die verschärfte Radikalität wird nur durch eine neue, gründlichere Denkweise möglich. Kant entdeckt sie in der transzendentalen Vernunftkritik. Mit ihrer Hilfe erörtert er die Leistungsfähigkeit der Vernunft und begründet ein autonomes wissenschaftliches Philosophieren, aber auch dessen prinzipielle Grenze. Wer in Kant nur den Ursprung einer neuen Metaphysik sieht, hat daher ebenso ein einseitiges Verständnis wie derjenige, der ihn im Anschluß an Mendelssohn bloß als ‹Alleszermalmer der Metaphysik› betrachtet.
Abb. 1: Kant. Zeichnung von Puttrich um 1798.
Die Frage nach einer autonomen wissenschaftlichen Philosophie kann nicht abstrakt, sondern nur im Durchgang durch eine Untersuchung zentraler Sachprobleme beantwortet werden. Denn eine autonome Philosophie, die Philosophie als Vernunftwissenschaft, setzt voraus, daß es im menschlichen Erkennen und Handeln, in Recht, Geschichte und Religion, in ästhetischen und teleologischen Urteilen Elemente gibt, die unabhängig von aller Empirie gültig sind; denn nur dann können sie nicht erfahrungswissenschaftlich, sondern müssen philosophisch erkannt werden. Kants Grundfrage nach einer autonomen wissenschaftlichen Philosophie ist daher keine Vor-Frage; sie führt mitten in die Erörterung substantieller Probleme hinein. In Untersuchungen von beispielgebender Originalität und begrifflicher Schärfe sucht Kant nachzuweisen, wie die verschiedenen Sachbereiche tatsächlich durch erfahrungsunabhängige Elemente konstituiert werden. Damit erklärt er, wie trotz der Endlichkeit (Rezeptivität und Sinnlichkeit) des Menschen die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit des wahren Wissens, des sittlichen Handelns usw. möglich werden.
Eine wissenschaftliche Philosophie wiederum kann es nur dort geben, wo sich die erfahrungsunabhängigen Elemente methodisch finden und systematisch darstellen lassen. Für Kant geschieht dies in der transzendentalen Vernunftkritik. Die Entdeckung der erfahrungsunabhängigen Elemente und der sie freilegenden Vernunftkritik hat wahrhaft Epoche gemacht. Sie hat die bisherige Art des Denkens revolutioniert und die Philosophie, so glaubt Kant, endlich auf ein wirklich sicheres Fundament gestellt. Auch wer gegen den Grundlegungsanspruch skeptisch bleibt, kann nicht bestreiten, daß Kant die philosophische Szene: die Erkenntnis- und Gegenstandstheorie, die Ethik, die Geschichts- und Religionsphilosophie, auch die Philosophie der Kunst, grundlegend verändert hat. Ob wir an Erkenntnisse a priori und a posteriori, an synthetische und analytische Urteile, an transzendentale Argumente, an regulative und konstitutive Ideen, an den kategorischen Imperativ oder die Autonomie des Willens denken – die Zahl der Begriffe und Probleme, die auf Kant zurückgehen, ist ungewöhnlich groß. Höchst unterschiedliche Richtungen haben Kant als Bezugspunkt gewählt, an dem sie bald kritisch, bald affirmativ das eigene Denken orientieren.
Die Schlüsselbegriffe der Kantischen Philosophie: Kritik, Vernunft und Freiheit, sind die entscheidenden Stichworte des «Zeitalters der Französischen Revolution» (etwa 1770 bis 1815). So ist Kant nicht bloß einer der herausragenden Klassiker der Philosophie und ein wichtiger Gesprächspartner der Gegenwart. Er ist zugleich einer der bedeutendsten Vertreter jener Epoche, die Jaspers’ Titel «Achsenzeit» verdient und die bis heute unser Denken und unsere gesellschaftlich-politische Lebenswelt wesentlich mitbestimmt. Zusätzlich entfaltet Kant einen Kosmopolitismus, der unserem Zeitalter der Globalisierung hochwillkommen ist. Er reicht sogar weit über das hinaus, was die Schrift Zum ewigen Frieden als Weltbürgerrecht entwickelt. Nach Kant ist der Mensch zu einem vielfachen, sogar siebendimensionalen Weltbürgertum berufen. Denn er soll Bürger in der Weltgemeinschaft des Wissens und der der Moral sein, in der Weltgemeinschaft der Erziehung und der der Geschichte, der einen Naturordnung, die den Menschen als Moralwesen zum Endzweck hat, ferner in der ästhetischen Welt und nicht zuletzt in einer globalen Rechts- und Friedensordnung.
Trotzdem können wir Kant nicht als Wegbereiter der Gegenwart feiern. Denn zum einen ist die Kritik vieler Gegenwartsphilosophen an Kant nicht gering. Zum anderen ist Kant weder ein Ahnherr der modernen Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften noch einer der Begründer der zeitgenössischen Wissenschaftsphilosophie. Auch taugt Kant nicht als Kronzeuge für die Entwicklung der rechtsstaatlichen Demokratien zu Sozialstaaten. Der logische Positivismus und die analytische Philosophie bestreiten streng erfahrungsfreie Elemente und fordern ebenso wie der Strukturalismus einen Verzicht auf jede Letztbegründung. In der Ethik wird Kant durch den Utilitarismus, dann durch die Diskursethik, in seiner Philosophie der Freiheit durch den Determinismus und Behaviorismus, in der Rechtsphilosophie durch den Positivismus herausgefordert. Kurz: zu wichtigen Tendenzen in Philosophie, Wissenschaft und Politik steht Kant im Widerspruch.
Soweit Kant mit dem Bewußtsein unserer Epoche nicht übereinstimmt, stößt die Lektüre seiner Schriften leicht auf einen inneren Widerstand. Die folgende Einführung in den Lebensweg, die philosophische Entwicklung und das Wirken, vor allem aber in das Werk, sucht den Widerstand gegen Kant abzuschwächen, den Leser für Kants Denken wenn nicht zu gewinnen, so doch zu interessieren und den ungebrochenen Einfluß dieser Philosophie seit ihrer Entstehung bis zum heutigen Tag verständlich zu machen.
Eine Einführung in Kants Denken kann als Leitfaden die Entwicklungsgeschichte oder die Wirkungsgeschichte wählen. Für beide Wege sprechen gute Gründe. Deshalb werden zuerst die Entwicklung (Kap. 2–3) und abschließend die Wirkung (Kap. 14) skizziert und auch in die Vorstellung des Werkes gelegentlich einige geschichtliche Hinweise eingestreut. Doch im Mittelpunkt stehen die Hauptschriften. Denn in ihnen erreicht Kants Denken nach jahre- und jahrzehntelanger Vorarbeit jene Gestalt, die der Philosoph selbst für entscheidend gehalten hat. Zweifelsohne legt Kants Nachlaß geschichtliche und sachliche Wurzeln frei, ohne die manches Theoriestück unklar bleibt oder lebensfern anmutet; sicherlich erschließen die Vorlesungen wichtige Voraussetzungen und Ergänzungen, und der Nachlaß aus der Spätzeit, das sog. Opus postumum, weist auf Weiterführungen und Veränderungen, die eine umfassendere Kant-Darstellung nicht übergehen darf. Aber der sachliche Vorrang gebührt den kritischen Hauptschriften: ihren Leitfragen und Grundbegriffen, ihren Lösungsvorschlägen und deren Argumentationstruktur.
Eine Einführung liefert keinen ins einzelne gehenden Kommentar, der die Fülle der sachlichen Schwierigkeiten in die Mitte stellt. Hier darf ich exemplarisch auf die kooperativen Kommentare verweisen, die zu den meisten Hauptwerken Kants in der von mir herausgegebenen Reihe «Klassiker Auslegen» erscheinen, ferner auf meine Studien Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie (42004) sowie Kants Kritik der praktischen Vernunft. Eine Philosophie der Freiheit (2012). Die Einführung richtet eher den Blick auf das hohe Reflexionsniveau, die differenzierte Begrifflichkeit und die weitgehende Konsistenz, die man in Kants Denkentwurf trotz mancher Unklarheiten und Widersprüche finden kann. Andererseits mischen sich in die kritische Transzendentalphilosophie zuweilen wissenschaftliche und politische Vormeinungen, beispielsweise die Ansicht, es gebe nur die Euklidische Geometrie, oder die Überzeugung von einer politischen Vorrangstellung des Selbständigen vor dem wirtschaftlich Unselbständigen. Es ist die Aufgabe einer gründlichen Darstellung, auf solche Elemente hinzuweisen, aber auch auf den Umstand, daß sie nicht auf der Ebene einer transzendentalen Prinzipienreflexion stehen. Das schließt freilich nicht aus, daß an anderer Stelle eine grundsätzliche Kritik an Kant angebracht ist. Aufs Ganze gesehen fühlt sich aber diese Einführung in Kants Leben, Werk und Wirkung der Maxime verpflichtet: weil Kant ohnehin nicht mehr sprechen kann, ist es sinnvoll, ihn dynamisch und zu seinem Vorteil auszulegen.
Ernsthafte Philosophie wendet sich den Grundproblemen des Menschen zu, nach Kant: soweit in ihnen ein Vernunftinteresse zum Ausdruck kommt. Dieses Interesse vereinigt sich in den drei berühmten Fragen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? (KrV, B 833) Die Einführung übernimmt die Dreiteilung und stellt die Kritik der reinen Vernunft, dann die Moral- und Rechtsphilosophie, als drittes die Geschichts- und Religionsphilosophie vor. Wer die Dreiteilung verabsolutiert, unterschlägt jedoch die wichtige Vermittlungsaufgabe der Kritik der Urteilskraft; wegen ihrer hohen System- und Sachbedeutung wird sie in einem eigenen Teil behandelt.
Eine spannende Biographie läßt sich über Kant schwerlich schreiben; sein äußeres Leben verlief gleichmäßig und einförmig. Wir finden keine Affären, die das Aufsehen der Zeitgenossen erregt hätten, keine Abenteuer, die die Neugierde der Nachgeborenen fesseln könnten. Kant hat nicht wie Rousseau ein unstetes Wanderleben geführt, nicht wie Leibniz mit allen Größen seiner Zeit korrespondiert; anders als Platon oder Hobbes war er nicht in politische Unternehmungen, anders als Schelling nicht in «Frauengeschichten» verstrickt. Auch seinem Lebensstil haftet nichts Extravagantes an: keine auffallende Kleidung oder Haartracht, keine pathetische Geste, wie sie die Sturm- und Drangzeit liebte. Kant war ungewöhnlich zurückhaltend. Obwohl das kritische Werk vielleicht ähnlich wie Augustinus’, Descartes’ oder Pascals Philosophie einer plötzlichen Erleuchtung zu verdanken ist (vgl. Refl. 5037), spricht Kant doch nirgendwo in seinen Schriften von einem philosophischen Erlebnis, das sein bisheriges Denken blitzartig verändern sollte. So finden wir nichts, was der Vorstellung eines Genies entspricht. Sind also die Persönlichkeit und Biographie Kants enttäuschend? War Kant vielleicht kein Genie, wie Heine (83) behauptet hat?
Kant ist nur durch sein Werk zu verstehen, in dem er mit unbeirrbarer Strenge und einer fast unheimlichen Ausschließlichkeit aufgeht. Dieses Werk heißt Wissenschaft, vor allem Vernunftwissenschaft: die Erkenntnis der Natur und Moral, des Rechts, der Religion, Geschichte und Kunst aus Prinzipien a priori. Noch mehr als für andere Philosophen trifft es für Kant zu: Die wirklichen Ereignisse geschehen im Denken; Kant hat keine andere Biographie als die Geschichte seines Philosophierens.
Unter den großen Philosophen der Neuzeit ist Kant (vielleicht nach Chr. Wolff) der erste, der seinen Lebensunterhalt als professioneller Lehrer seines Faches verdient. Im Gegensatz zu den meisten Vertretern der britischen und der französischen Aufklärung hat Kant das zwar arbeitsreiche, an äußeren Ereignissen aber arme Leben eines bürgerlichen Gelehrten geführt. Das bedeutet auch, daß in Kant die Universitätsphilosophie zu bahnbrechender Originalität fähig wird. In Fichte, Schelling und Hegel setzt sich diese Tradition fort, um dann wieder abzubrechen; Schopenhauer, Kierkegaard und Marx stehen den akademischen Denkern nicht weniger fremd, ja ablehnend gegenüber als Comte, Mill und Nietzsche.
Über die weitere Umgebung seiner Vaterstadt Königsberg ist Kant nie hinausgelangt. Trotzdem sprechen aus Kants zahlreichen Schriften, die nicht spekulativer Natur sind, außer Phantasie und Humor eine ungewöhnliche Weltkenntnis. Kant verdankt sie der Lektüre, dem Gespräch und einer selten gestaltungsmächtigen Einbildungskraft.
Unsere Kenntnisse des Lebensganges, der Persönlichkeit und der philosophischen Entwicklung des Philosophen gewinnen wir zum größten Teil aus Kants Briefwechsel. Die Briefe stellen eine wichtige Ergänzung und Fortführung von Kants Abhandlungen dar. Sie dokumentieren den akademischen Werdegang und Kants Beziehungen zu Freunden, Verwandten, Kollegen und Studenten. Sie geben Auskunft über Kants Beziehungen zu berühmten Zeitgenossen, zu kulturellen Strömungen und Ereignissen und lassen uns die erste Wirkung der Kantischen Philosophie kennenlernen. Aber sie geben «nur gelegentlich und gleichsam widerstrebend einer persönlichen Stimmung und einem persönlichen Interesse Raum» (Cassirer, 4). Nicht weniger bedeutsam als die Briefe sind die frühen Biographien der Zeitgenossen Borowski, Jachmann, Wasianski und Rink, die ausnahmslos selbst in Königsberg gelebt und den Philosophen aus langem persönlichem Umgang gekannt haben.
Weil die meisten Briefe von und an Kant erst aus der Zeit seit 1770 datieren, als Kant schon 46 Jahre alt ist, da ferner die Biographien der Zeitgenossen vor allem den älteren Kant vor Augen haben, weil schließlich die Anekdoten über Kants liebenswürdige Schrullen aus dieser Zeit stammen, besteht die Gefahr, die Persönlichkeit Kants zu stark vom Alter her und dessen Hang zu Starre und Pedanterie zu beschreiben. In Wirklichkeit war Kant gesellig, in seiner Lebensart sogar galant. Doch mehr und mehr entwickelte sich seine Lebensaufgabe, die schließlich alles andere beherrschte: die kritische Transzendentalphilosophie, die Kant selbst als Revolution des Denkens empfand und die sich tatsächlich als ein Umsturz in der Geschichte der europäischen Philosophie erweisen sollte.
Immanuel Kant wird am 22. April 1724 als viertes von neun Kindern eines einfachen Riemermeisters in der Vorstadt von Königsberg geboren und am folgenden Tag auf den Namen Emanuel («Gott mit uns») getauft. Wie andere Gelehrte der deutschen Aufklärung stammt Kant aus bescheidenen Verhältnissen. Sein Heimatort, eine Stadt mit 4300 Häusern und 55.000 Einwohnern, etwa einem Drittel von Berlin, ist die wirtschaftlich aufblühende Hauptstadt von Ostpreußen mit einem internationalen Handelshafen, in dem besonders englische Kaufleute Wein und Gewürze aus ihren Kolonien gegen russisches Getreide oder Vieh eintauschen. Die Stadt, die am nordöstlichen Rand des deutschen Sprachraums lag, wird erst in Kants Geburtsjahr aus drei Städten (Altstadt, Löbenicht, Kneiphof) zu einer Stadt zusammengefaßt: Kant und Königsberg sind gleichaltrig. (Ein Lob Kants auf Königsberg findet sich in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht: VII 120f., Anm.)
Kants Meinung, sein Großvater sei aus Schottland eingewandert (Briefe, 783/406), läßt sich aus den Archivdaten nicht bestätigen. Noch der Urgroßvater Richard Kant stammt vermutlich aus dem Kurland (zwei Töchter waren jedoch mit Schotten verheiratet), die Familie der Mutter Anna Regina kommt aus Nürnberg und Tübingen.
Der junge Immanuel besucht die Vorstädter Hospitalschule (1730–32), ab dem Alter von acht Jahren das königliche Friedrichskollegium (1732–40), eine der besten Schulen im damaligen Deutschland. Dabei ist Kant auf die Unterstützung durch Freunde, namentlich den Kollegiumsdirektor und Theologieprofessor Franz Albert Schultz (1692–1763) angewiesen, der ein bedeutender Schüler des großen deutschen Aufklärungsphilosophen Christian Wolff (1697–1754) ist und schon früh Kants Begabung entdeckt.
Das von der Bevölkerung abwertend «Pietisten-Herberge» genannte Friedrichs-Gymnasium hat ein strenges religiöses Reglement. Ein erheblicher Anteil des Unterrichts fällt auf den Religionsunterricht (Lernen des Katechismus) und den Gottesdienst; Hebräisch und Griechisch werden am Leitfaden des Alten und Neuen Testamentes gelehrt; die Mathematik und Naturwissenschaften spielen eine geringe Rolle. Fachlich gut scheint nur der Lateinunterricht zu sein, der Kants nachhaltiges Interesse findet. Im Herbst 1740 verläßt Kant als Zweitbester seiner Klasse das Fridericianum, an dessen ‹Jugendsklaverei› er noch im Alter ‹mit Schrecken und Bangigkeit› denkt.
Kants Elternhaus ist ebenfalls vom Pietismus geprägt, jener im 17. Jahrhundert entstandenen religiösen Bewegung im deutschen Protestantismus zur Erneuerung eines frommen Lebens und einer daran ausgerichteten Reform der Kirche. Die zugrundeliegende Lebenshaltung, die an den stoischen Weisen mit seiner unerschütterlichen Lebens- und Gemütsruhe erinnert, hat Kant bei aller Distanz zu den Kultformen immer geschätzt. Die Mutter, die er wegen ihres natürlichen Verstandes und ihrer echten Religiosität zeitlebens verehrt, stirbt schon im Jahre 1737 und wird vom 13jährigen Kant am Abend vor Heiligabend begraben.
Nach Ablegung des Immatrikulationsexamens schreibt sich Kant, sechzehnjährig, an der Albertina, der Königsberger Universität, ein. Mit Hilfe von Verwandten und von Privatstunden, nach Auskunft seines Studienfreundes Heilsberg auch durch Gewinne beim Billardspiel, studiert er 1740–46 vor allem Mathematik und Naturwissenschaften, Theologie, Philosophie und klassische lateinische Literatur. Besonderen Einfluß gewinnt der Professor für Logik und Metaphysik Martin Knutzen (1713–51), der – ebenfalls Schüler von Wolff – ohne seinen frühen Tod sich vielleicht zu einem bedeutenden Philosophen hätte entwickeln können. Durch den vielseitigen Gelehrten wird Kant vor allem auf die Naturwissenschaften hingewiesen; namentlich die Physik Isaac Newtons (1643–1725) gilt ihm seitdem als Muster strenger Wissenschaft. Bei Knutzen hört er aber auch Vorlesungen über Rechtsphilosophie («Naturrecht»).
Abb. 2: Königsberg. Ansicht der Stadt um 1766. Ausschnitt aus einem zeitgenössischen Kupferstich.
Nach dem Tod des Vaters (1746) verläßt Kant die Universität und verdient seinen Lebensunterhalt – wie damals für unbemittelte Gelehrte üblich – als Hauslehrer («Hofmeister»), erst beim Prediger Andersch, dann beim Gutsbesitzer Major von Hülsen (bis etwa 1753), schließlich beim Grafen Keyserling. In dieser Zeit eignet sich Kant nicht nur gesellschaftliche Gewandtheit an; er erweitert auch seine philosophisch-naturwissenschaftlichen Kenntnisse. Mit der Erstlingsschrift Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1746, erschienen 1749) greift Kant allerdings noch zu hoch. Unter Berufung auf «die Freiheit des menschlichen Verstandes» (I8) versucht er nämlich, «eine der größten Spaltungen … unter den Geometrern von Europa» (I 16) durch einen Kompromiß beizulegen. In dem Streit um die Berechnung der Kraft (K) aus Masse (m) und Geschwindigkeit (v) – was man heute als kinetische Energie bezeichnet – gibt er den Leibnizianern (K = m · v2) in bezug auf die «lebendigen Kräfte», d.h. freien Bewegungen, Recht, dagegen Descartes und seinen Anhängern (K = m · v) in bezug auf die «toten Kräfte», d.h. nicht freien Bewegungen. Die 1743 von d’Alembert veröffentlichte richtige Lösung (K = 1/2 m · v2) bleibt unbeachtet. Auffallend ist das hohe Selbstbewußtsein des erst 22jährigen: «Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet, die ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten, und nichts soll mich hindern, ihn fortzusetzen.» (I 10)
Kant schreibt kaum noch in der internationalen Gelehrtensprache, in Latein, sondern vornehmlich – wie teilweise schon Leibniz, Thomasius und Wolff – in klarem Deutsch. Obwohl der Forschungsertrag gering ist, tritt schon jenes kritisch-konstruktive Vermittlungsbemühen zu Tage, das Kants transzendentaler Vernunftkritik zugrunde liegt. Auch werden die naturwissenschaftlichen Interessen deutlich, die Kants Arbeit in den nächsten zehn Jahren beherrschen. Zugleich kündigt sich Kant als Philosoph an, da er den Streit um die Berechnung der Kraft in eine umfassendere Problematik einbettet.
Kant stößt sich an der Erfahrung, daß die bedeutendsten Wissenschaftler der Zeit zu einem präzisen Problem keine Übereinstimmung finden können. Damit sieht er die Idee einer allgemeinen Menschenvernunft in Frage gestellt. Der Zweifel an der Vernunft bei gleichzeitigem Vertrauen in sie wird Kant bis in die Ausarbeitung der kritischen Transzendentalphilosophie begleiten.
Nach der Rückkehr nach Königsberg entwickelt der Philosoph eine beachtliche Produktionskraft. Im März 1755 erscheint anonym die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, «nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt». Kant skizziert eine Theorie der Entstehung unseres Sonnensystems und des ganzen Kosmos, die unter Verzicht auf theologische Erwägungen sich ausschließlich auf «natürliche Gründe» stützt. Wichtige Teile, besonders Kants Theorie der Saturnringe und der Nebelsterne, werden später durch Beobachtungen des Astronomen Herschel (1738–1822) bestätigt. Kants rein mechanische Erklärung der Bildung des Universums bleibt jedoch so gut wie unbekannt und wird erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts in ihrer Bedeutung für die Naturwissenschaft entdeckt. Mit einigen Veränderungen durch die von Kant unabhängige Weltentstehungshypothese (1796) von Laplace bildet sie als Kant-Laplacesche Theorie lange Zeit eine wichtige Diskussionsgrundlage der Astronomie.
1755 promoviert Kant in Königsberg zum Magister der Philosophie (um eine Doktorwürde hat er sich nie bemüht) mit einer Arbeit über das Feuer Meditationum quarundam de igne succincta delineatio. Der öffentliche Vortrag am 12. Juni «Vom leichteren und vom gründlichen Vortrag der Philosophie» wird von besonders vielen angesehenen und gelehrten Männern der Stadt besucht. Im gleichen Jahr habilitiert sich Kant mit der Abhandlung Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio (Neue Erhellung der ersten Grundsätze der metaphysischen Erkenntnis). Kant wird «magister legens», nach heutigen Begriffen Privatdozent, der ohne ein staatliches Gehalt nur von den Vorlesungsgebühren und der privaten Betreuung von Studenten lebt.
In der Nova dilucidatio wendet sich Kant gegen Wolffs Schulmetaphysik, eine systematische Ausarbeitung der Philosophie von Leibniz. Er diskutiert das Verhältnis von Leibniz’ Realprinzip des zureichenden Grundes zum logischen Prinzip des Widerspruchs. Mit dem eigenständigen Philosophen Christian August Crusius (1715–75), einem Leibniz-Schüler und Wolff-Kritiker, hält Kant den Versuch für gescheitert, das Realprinzip dem logischen Prinzip unterzuordnen. Damit bestreitet er die Grundannahme von Wolffs Rationalismus, alle Grundsätze der Erkenntnis ließen sich letztlich auf ein einziges gemeinsames Prinzip zurückführen. Von seiner späteren Behauptung der synthetischen Natur jeder Wirklichkeitserkenntnis ist Kant allerdings noch weit entfernt.
Kant befaßt sich weiterhin mit naturwissenschaftlichen Fragen. Eine strenge Trennung zwischen empirischer und philosophischer Naturerkenntnis besteht in dieser Zeit ohnehin nicht. Der Philosoph schreibt über die «seit einiger Zeit wahrgenommenen Erderschütterungen», insbesondere über jenes Erdbeben, das am 1. November 1755 zwei Drittel der Stadt Lissabon zerstörte und der Theodizee-Frage, der Rechtfertigung Gottes angesichts des Leidens in der Welt, eine ganz Europa erschütternde Aktualität gab. Der später zentrale Vorrang der praktischen vor der theoretischen Vernunft zeichnet sich hier ab (1, 460).
Geradezu modern mutet die Definition der kleinsten Teilchen als «raumerfüllender Kraft» an, die Kant in der Monadologia physica (1756) gibt, der nach De igne und der Nova dilucidatio dritten Abhandlung, deren öffentliche Disputation für ein Extraordinariat (außerordentliche Professur) vorausgesetzt war. Naturwissenschaftlich bedeutsam ist Kants Erklärung über die Entstehung der Passat- und Monsunwinde (Neue Anmerkungen zur Erläuterung der Theorie der Winde, 1756).
Im Herbst 1755 beginnt Kant seine Vorlesungstätigkeit, eine mühevolle Arbeit (vgl. Briefe, 13/8) von durchschnittlich 16 Wochenstunden, die aus finanziellen Gründen teilweise auf weit mehr als 20 Stunden anwachsen. Kants erste Jahre als akademischer Lehrer sind deshalb ein Zeitraum publizistischen Schweigens; in den Jahren 1757–61 erscheint keine Schrift von Bedeutung.
Im Jahr 1756, dann noch einmal 1758, bewirbt sich der Philosoph um ein Extraordinariat für Logik und Metaphysik. Die nach Knutzens Tod schon seit fünf Jahren verwaiste Stelle bleibt aber wegen des ausbrechenden (Siebenjährigen) Krieges unbesetzt. Ebenso vergeblich bemüht er sich um die ordentliche Professur für Logik und Metaphysik, die an den älteren Kollegen F. J. Buck fällt. Im Sommer 1764 lehnt Kant eine Professur für Dichtkunst ab, zu deren Aufgaben die Abfassung der Grußbotschaften an den König gehört. Erst im Jahr 1766 erhält er sein erstes besoldetes Amt, die bescheiden honorierte Stelle eines Unterbibliothekars der königlichen Schloßbibliothek. Trotz seiner großen wissenschaftlichen und pädagogischen Erfolge muß Kant bis zum Jahr 1770, also dem Alter von 46 Jahren, warten, um die ersehnte Professur für Logik und Metaphysik zu erlangen. Allerdings hat er im Herbst des Jahres vorher sowohl eine Berufung an die Universität Erlangen als auch eine Anfrage der Universität Jena mit dem Hinweis auf seine Verbundenheit mit der Heimat, seinen ausgedehnten Bekannten- und Freundeskreis sowie auf seine schwache Gesundheit abgelehnt. Und mit Bezug auf das im Jahr 1778 erfolgende Angebot seines Gönners, des preußischen Ministers Karl Abraham von Zedlitz, die Philosophieprofessur in Halle mit 800 Talern Jahresgehalt und der Aussicht auf den Hofratstitel zu übernehmen (Briefe 129/75 und 132/77), schreibt Kant an Marcus Herz: «Gewinn und Aufsehen auf einer großen Bühne haben, wie Sie wissen, wenig Antrieb für mich» (Briefe 134/79).
Gemäß den Gepflogenheiten seiner Zeit trägt Kant nicht seine eigene Philosophie vor. Nicht bloß in der vorkritischen Zeit hält er seine Vorlesungen auf der Grundlage von Lehrbüchern (Kompendien), die Logik nach der Vernunftlehre von G. F. Meier (1718–1777), Wolffs Nachfolger in Halle, die Ethik und die Metaphysik meist nach A. G. Baumgarten (1714–62), einem eigenständigen Wolff-Schüler, das Naturrecht nach dem Jus naturale des Göttinger Juristen Achenwall usw. Trotzdem bringt sein Vortrag keine schulmeisterlichen Paraphrasen vorfabrizierten Denkens; er ist ein «freier Diskurs, mit Witz und Laune gewürzt. Oft Zitate und Hinweisungen zu Schriften, die er eben gelesen hatte, bisweilen Anekdoten, die aber immer zur Sache gehörten» (Borowski in: Groß, 86). Wie kein anderer seiner Kollegen versteht es Kant, nicht Philosophie, sondern Philosophieren: ein vorurteilsfreies kritisches Denken, zu lehren. Kant hat eine lebhafte und zugleich sehr genaue Vorstellungskraft; einen Engländer verblüfft er einmal durch die präzise Beschreibung der Westminsterbrücke. Der Philosoph ist höchst wißbegierig und deshalb in auffallend vielen Forschungsgebieten seiner Zeit zu Hause; er ist nicht bloß ein scharfsinniger Analytiker, sondern studiert auch gern im ‹Buch der Welt›.
Die Vorlesungen, die zum eigenen Mitdenken auffordern, finden von Anfang an ein lebhaftes Interesse. Die aus Preußen und Ausländern, vor allem Balten, Russen und Polen, bunt zusammengewürfelte Zuhörerschaft hat Kant über Jahrzehnte hinweg «fast vergöttert» (Jachmann, in: Groß, 135f.). Im persönlichen Umgang zeigt der junge Privatdozent eine Wärme und Herzlichkeit, die wir Kant nicht zutrauen würden. Unter den Studenten finden wir den Dichter und Philosophen Johann Gottfried Herder (1744–1803), dem Kant sofort Aufmerksamkeit schenkt. (In der Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 1772, nimmt Herder wichtige Erkenntnisse der modernen Wissenschaften und Philosophie vorweg: die Weltoffenheit, die Organ- und Instinktmängel des Menschen, die Abhängigkeit seiner Sprachfähigkeit von der Mängelhaftigkeit und die Verwobenheit von Sprache und Denken. Er legt aber auch den Grundstein für seine spätere Kantkritik; s.u. Kap. XIII. 1.)
In seinen Lehrveranstaltungen stellt Kant die ungewöhnliche Weite seines Horizonts unter Beweis. Er liest nicht nur über Logik und Metaphysik, sondern auch über mathematische Physik und physische Geographie (ein akademisches Fach, das er, voll Stolz, als erster einführt), über Anthropologie (ab Wintersemester 1772/73) und Pädagogik (ab Wintersemester 1776/77), über philosophische Religionslehre (natürliche Theologie), über Moral, Naturrecht (ab Wintersemester 1766/67) und philosophische Enzyklopädie (ab 1767/68), selbst über Festungsbau und Feuerwerkerei. Kant ist mehrmals Dekan seiner Fakultät und in den beiden Sommersemestern 1786 und 1788 Rektor der Universität.
So sehr sich Kant der wissenschaftlichen Lehre und Forschung widmet – diese Tätigkeit füllt nur die erste Hälfte seines Tages aus. Die andere Hälfte gehört dem gesellschaftlichen Leben. Im Kreis von Freunden und Bekannten verbringt Kant die Zeit beim ausgedehnten Mittagsmahl, beim Billard- und Kartenspiel, im Theater und in den angesehensten Salons der Stadt. Als geistreicher Unterhalter wird Kant zu einem begehrten Gesellschafter. Maria Charlotta Jakobi, die Frau eines befreundeten Bankiers und geheimen Kommerzialrats, eine der umworbensten, aber auch umstrittenen Frauen Königbergs, fertigt dem «großen Philosophen» ein Degenband an und schickt ihm «einnen Kuß, per. Simpatie» (Briefe, 24/14). Im Salon der Gräfin von Keyserling ist für Kant immer ein Ehrenplatz bereit. Der Königsberger Philosoph Johann Georg Hamann (1730–1788) fürchtet schon, daß Kant durch einen Strudel gesellschaftlicher Zerstreuungen von seinen wissenschaftlichen Plänen fortgerissen werde. «Wirklich war damals Herr Magister Kant der galanteste Mann von der Welt, trug bordirte Kleider, einen postillion d’amour und besuchte alle Coterien.» (Böttiger, I 133)
Mitverantwortlich für die lebensfrohe Einstellung Kants war vermutlich die erste russische Okkupation Königsbergs von 1758–1762. Die liberale Besetzung der Stadt brachte «die ganze Breite und Vorurteilslosigkeit des östl.[ichen] Lebensstils in die alte zopfige Stadt» (Stavenhagen, 21). Die ständische Ordnung lockert sich, der pietistische Ernst weicht einer freieren Haltung, die preußische Kargheit einer fast luxuriösen Lebensführung. Auch Kant nimmt «an dem munteren Treiben der Offizieren in den Privathäusern und Offizierskasinos regen Anteil» (Stavenhagen, 19).
Abb. 3: Kant und seine Zeitgenossen. Litho nach dem Gemälde von Dörstling.
Der gewandten Lebensart des Weltmannes entspricht der Stil der Veröffentlichungen, mit denen Kant den ersten schriftstellerischen Ruhm in Deutschland erwirbt. So sehr sich Heine (75) über den «grauen, trocknen Packpapierstil» der Kritik der reinen Vernunft mokkiert, mit dem Kant «sich von den damaligen Popularphilosophen, die nach bürgerlichster Deutlichkeit strebten, vornehm absondern» will, so sehr rühmt er den eleganten Stil der frühen Veröffentlichungen: «voll guter Laune in der Art der französischen Essais».
Nach 1761 entwickelt Kant wieder eine erstaunliche Produktivität. Den größten Einfluß gewinnen für die theoretische Philosophie David Hume (1711–1776) und für die praktische Philosophie Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), dessen Bild in Kants Arbeitszimmer als einziger Schmuck hängt. Kant befaßt sich mit den klassischen Problemen der Metaphysik, so den Gottesbeweisen und den Grundlagen der Moral. Jedoch erkennt er zunehmend deutlicher die Schwierigkeiten, die Probleme mit den überkommenen Denkmitteln zu lösen. Am Ende sieht er sich gezwungen, die Metaphysik zurückzustellen und eine «propädeutische Wissenschaft» (II 395) zu entwickeln, die allererst das Gelände für eine Metaphysik erkundet. Anfangs steht Kant noch ganz in der Bewegung der deutschen Hochaufklärung. Wie sie versteht er die Philosophie im Gegensatz zu Wolffs synthetischer Methode als Analysis. Mit führenden Vertretern der Aufklärung tritt Kant in einen freundschaftlichen Briefwechsel, so etwa seit 1765 mit dem Philosophen und Mathematiker Johann Heinrich Lambert (1728–1777) und seit 1766 mit dem Wegbereiter der Emanzipation des Judentums in Deutschland, Moses Mendelssohn (1729–1786), einem Freund Lessings und des Verlegers Nicolai. Aber schließlich gestaltet sich Kants ‹Propädeutik der Metaphysik› zu einer umstürzend neuen Philosophie, deren Kluft zur deutschen Aufklärungsbewegung unübersehbar ist; die Kritik der reinen Vernunft versteht sich in bewußtem Gegensatz zur Analysis als Philosophie der Synthesis.
In der Abhandlung Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (Ende 1762, mit der Jahresangabe 1763) fällt die Prüfung der spekulativen Gottesbeweise noch nicht so uneingeschränkt negativ wie in der Kritik der reinen Vernunft aus. Kant stellt aber schon die später zentrale Behauptung auf: das «Dasein ist gar kein Prädicat» (II 72). Er verwirft drei der traditionellen Gottesbeweise, weist auch Descartes’ Form des vierten, des ontologischen Beweises, zurück, billigt aber einer anderen Version all jene Schärfe zu, «die man in einer Demonstration fordert» (II 161). Allerdings liefert Kant nicht die volle Demonstration, sondern entwickelt nur den Beweisgrund.
Die Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (noch 1762 abgeschlossen, aber erst 1764 erschienen) wird mit dem zweiten Preis der Berliner Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet; der erste Preis fällt an Mendelssohn. Die Preisschrift steht noch ganz auf dem Boden der Analysis. Ähnlich wie heutige analytische Philosophen ist Kant überzeugt, daß man in der Philosophie, zumal «der Metaphysik durchaus analytisch verfahren müsse, denn ihr Geschäfte ist in der That, verworrene Erkenntnisse aufzulösen» (II 289). Kant fordert für die Prinzipien der natürlichen Theologie und die der Sittlichkeit den größten Grad philosophischer Evidenz. Freilich müsse «noch allererst ausgemacht werden», ob in der Ethik der Rationalismus oder der Empirismus Recht habe, ob nämlich «lediglich das Erkenntnisvermögen oder das Gefühl (der erste, innere Grund des Begehrungsvermögens) die erste Grundsätze dazu entscheide» (II 300). Mit der Preisschrift und der über das Dasein Gottes wird Kant in ganz Deutschland bekannt, auch schon zum Gegenstand mancher Kritik.
Eine erste Selbstkritik gegen die Philosophie als Analysis bringt der Versuch über die negativen Größen (1763). Kant hebt die Andersartigkeit der metaphysischen gegenüber der mathematischen Erkenntnis hervor und legt Wert auf den Unterschied zwischen einem Realgegensatz und einem logischen Widerspruch, da sich der Realgegensatz ebenso wie der Realgrund (die Ursache einer Wirkung) jeder analytischen Erkenntnis entziehe.
In der Abhandlung Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766) zeigt Kant am Beispiel des schwedischen Hellsehers («Erzphantasten») Emanuel Swedenborg (1689–1772), wie man – sobald man nur den sicheren Boden der Erfahrung verlasse – auf streng logische Weise zu den seltsamsten Sätzen und Systemen gelangen könne. (Zur Bedeutung für die kritische Wende Kants vgl. Rauer 2007.) Hier nimmt Kant endgültig Abschied von der rationalen Schulmetaphysik Leibniz’ und Wolffs, auch ihrer selbständigen «Nachfolger» A. G. Baumgarten und C. A. Crusius. Kant bestimmt die Metaphysik nicht mehr als ein Vernunftsystem, sondern als «eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft», ohne freilich die Grenzen schon genau angeben zu können (II 368). Sie klar zu bestimmen, ist fortan seine Hauptaufgabe. In diesem Zusammenhang stößt Kant auf die neuere britische Erkenntnistheorie, vor allem auf den Skeptiker und Empiristen David Hume, von dem er später sagt, daß er «zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach und meinen Untersuchungen im Felde der speculativen Philosophie eine ganz andre Richtung gab» (Prol., IV 260). Kant läßt sich von Humes Kritik an der dogmatischen Metaphysik überzeugen, doch erkennt er die empiristisch-skeptischen Folgerungen nicht an. Den Geist einer großen Erneuerung («Instauratio Magna») von Philosophie und Wissenschaft zum Wohl der Menschen findet er aber bei Francis Bacon.
Eine besondere Bedeutung auf dem Weg zur kritischen Philosophie hat die Dissertation, die Kant zum Antritt seiner Professur schreibt: De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen, 1770). Kant gibt hier die Probe einer «Vorübung» (Propädeutik) zur Metaphysik. Da diese als reine Philosophie keine empirischen Grundsätze enthält (§§ 8 und 23), ist es notwendig, einen scharfen Schnitt zwischen zwei Erkenntnisarten zu legen, der sinnlichen Erkenntnis von den Dingen, wie sie erscheinen (Phaenomena), und der Verstandeserkenntnis von den Dingen, wie sie sind (Noumena). Das, was die Kritik der reinen Vernunft radikal verwirft, hält Kant auf der Grundlage der reinen Begriffe des Verstandes, den späteren Kategorien, hier aber noch für möglich: eine über die Mathematik und die Erfahrung hinausreichende, von aller Sinnlichkeit freie Erkenntnis der Dinge an sich.
Dagegen verfügt Kant jetzt schon über einige wichtige Voraussetzungen seiner transzendentalen Vernunftkritik. Die Erkenntnis der Erscheinungen, sagt er, ist ganz und gar wahr (§ 11). Die Anschauung ist kein verworrenes Erkennen (§ 7), sondern eine eigene Erkenntnisquelle. Die Vorstellungen von Raum und Zeit entspringen nicht den Sinnen; sie sind ihnen vorausgesetzte reine Anschauungen und bilden die allgemeinen, aber subjektiven Bedingungen, um alles Sensible einander zuzuordnen (§§ 13–15). Es ist die reine Mathematik, die die Form aller unserer sinnlichen Erkenntnis erörtert (§ 12). In bezug auf die Ethik behauptet Kant, daß die moralischen Begriffe durch den reinen Verstand erkannt werden, daher zur reinen Philosophie gehören (H 7 und 9, vgl. Briefe, 57/33). Als Maßstab spricht er jedoch die Vollkommenheit an (§9), die er später als Prinzip verwirft.
Damit die reine Philosophie, die Metaphysik, als Wissenschaft möglich sein soll und nicht «ihren Sisyphusstein in Ewigkeit wälzt», muß ihr die Methode vorangehen (§23). Nach deren wichtigster Vorschrift muß man sich «ängstlich hüten, daß die einheimischen Grundsätze der sinnlichen Erkenntnis nicht ihre Grenzen überschreiten und das Intellektuelle affizieren