Klänge wie aus einer anderen Welt: Dieses Erlebnis gehört zum Wesen christlicher Musik. Der Theologe und erfolgreiche Buchautor Johann Hinrich Claussen erzählt die Geschichte der Kirchenmusik von den frühchristlichen Hymnen über den Gregorianischen Choral und die klassischen Werke von Bach, Händel oder Mozart bis hin zum Gospel im 20. Jahrhundert. Ein Lesegenuss und Ohrenöffner für alle, die den tieferen Sinn von Chorälen und Kantaten, Messen und Oratorien, Requiems und Gospel-Songs besser verstehen wollen.
Christliche Musik umgibt ein Wunder: Die Lieder und Melodien, die in Gottesdiensten, Gemeinden oder Klöstern entstanden, haben meist die Grenzen einer bestimmten Umgebung und religiösen Absicht überwunden, wurden in anderen Zeiten und Konfessionen aufgenommen und haben den Weg aus den Kirchen hinaus gefunden. Das gilt für den Gregorianischen Choral ebenso wie für Bachs Orgel- und Chorwerke oder den Gospel, der weit über sein amerikanisches Entstehungsmilieu hinaus im 20. Jahrhundert zur Weltmusik geworden ist. Johann Hinrich Claussen zeigt, wie in der langen Geschichte des Christentums immer wieder neue musikalische Formen gefunden wurden, erklärt deren ursprünglichen Sinn und geht ihren Wirkungen nach. Sein meisterhaft geschriebenes Buch lässt besser verstehen, warum christliche Musik bis heute so viele zuhörende – und so viele begeistert singende und musizierende – Liebhaber findet.
Johann Hinrich Claussen, geb. 1964, ist Hauptpastor an St. Nikolai in Hamburg, Propst im Kirchenkreis Hamburg-Ost und lehrt als Privatdozent Theologie an der Universität Hamburg. Einer größeren Leserschaft ist er durch erfolgreiche Bücher und Beiträge in großen Zeitungen bekannt. Bei C.H.Beck erschienen von ihm «Die 101 wichtigsten Fragen: Christentum» (3. Aufl. 2007) sowie «Gottes Häuser» (2. Aufl. 2012).
Wir wissen nicht, was Musik ist. Wer in ihr spricht. An wen sie sich wendet, warum sie so hartnäckig schweigt, warum sie kreist und sich windet, statt einfache Antworten zu geben, wie es das Evangelium will.
Adam Zagajewski
Einstimmung
1. Die verlorenen Ursprünge im Alten Israel und in der Alten Kirche
Wir wissen gar nicht viel
Was von der Musik des Alten Israel übrig blieb
Die Psalmen – gesungene Gebete
Die Lieder der ersten Christen
2. Der gregorianische Choral und die mittelalterliche Kirche
Verborgene und verlorene Wurzeln
Reichsgründung und Liturgiereform
Chorgesang und Schulbildung
Stundengebete
Wiederbelebung der Wurzeln?
3. Luther und der Gemeindegesang der Reformation
Aus Altem Neues machen
Geistliche Gassenhauer und Protestsongs
Luthers Musik-Theologie
Luthers Lieder
Die Kultur des Gemeindegesangs
Die stillere Reformation der Reformierten
Das Gesangbuch als zweite Bibel
4. Palestrina und die mehrstimmige Musik der katholischen Reformation
Eine wahre Legende
Die Entstehung der Mehrstimmigkeit
Reform der Messe
Palestrinas Messmusiken
Musikalische Ökumene – von Palestrina zu Schütz
5. Die Orgel – ein unendliches Instrument
Cäcilie, die falsche Patronin der Kirchenmusik
Die Orgel als Problem
Die Technik der Kunst und die Kunst der Technik
Buxtehude oder: Lübeck als kirchenmusikalische Lebensform
Orgel-Frömmigkeit
6. Bach und die Mitte der Zeit
Die Stille der Welt vor Bach
Jeden Sonntag eine Kantate
Die Passion Jesu Christi nach Bach
Mendelssohns Wiederentdeckung der Matthäus-Passion
7. Händel und der Auszug der geistlichen Musik aus der Kirche
Ein Leben auf der Grenze
Von der Oper zum Oratorium
«The Messiah» – ein höflicher Heiland
Charity und das Soziale der Musik
Handelomania
8. Mozart und die Kunst des Requiems
Elende Welt – selige Musik
Musik für die Toten
Die protestantische Aufklärung des Gottesbildes
Mozarts letzter Auftrag – Dichtung und Wahrheit
Mozarts Kirchenmusik und Religiosität
«Dies irae» – Musik des Zorns
Zum Vergleich: Michelangelos «Jüngstes Gericht»
Der Auszug des Requiems aus der katholischen Kirchenmusik
9. Mendelssohn und die Musik des aufgeklärten Protestantismus
Felix – ein Glückskind?
Kirchenmusik außerhalb der Kirche
«Elias» oder: Von eifersüchtigem Zorn zu stiller Barmherzigkeit
Aufstieg und Fall eines Oratoriums
Das Requiem von Brahms oder: Ein neuer Trost
10. Dorsey und der afroamerikanische Gospel
Noch einmal von vorn
Sklaverei, Bürgerkrieg, Apartheid
Spirituals und Gospels
Dorseys Bekehrung vom Blues zum Gospel
«Precious Lord»
Große Sängerinnen, zum Beispiel Rosetta Tharpe und Mahalia Jackson
Mavis Staples oder: Musik, die nicht altert
Ausklang
Literatur
Bildnachweis
Personenregister
Zu herzlichem Dank bin ich Ulrich Aldag, Winfried Bönig,
Andreas Fischer, Matthias Hoffmann-Borggrefe und Martin Rössler verpflichtet.
Ob das Christentum heute noch eine lebendige Kraft sei, darüber streiten nicht nur die Gelehrten. Je nach Perspektive und Interesse erklären Soziologen, Theologen, Politiker und Meinungshändler, dass das Christentum immer noch den kulturellen Grund der Gesellschaft darstelle oder unwiederbringlich an Bedeutung verloren habe. Wenig wird bei diesem ewigen Pro und Contra berücksichtigt, wie sehr das Christentum «in der Luft liegt». Als Musik nämlich wird es von Zeitgenossen genossen und geliebt, ohne dass sich damit jedoch notwendigerweise ein Bekenntnis verbände. Als Musik ist das Christentum gegenwärtig, zugleich aber ist die Kirchenmusik eine Kunst und deshalb frei. Sie lässt sich nicht kirchlich festlegen, überschreitet theologische Grenzen, bindet niemanden, der sie hört. Wer sie aber hört, wird berührt und dabei herausgefordert, sich zu dieser Musik zu verhalten. Adventslieder und Weihnachtsoratorien, Psalmen und Hymnen, Requien und Passionen, Messen und Choräle, Gospel und Sakropop – vieles mag altvertraut sein und ist doch, wenn man bewusst zuhört, jedes Mal von Neuem eine Überraschung: ein verblüffendes Kunsterlebnis und die unerwartete Nötigung, sich über den eigenen Glauben oder Nichtglauben klarer zu werden.
Dieses Buch möchte die Freude an der Kirchenmusik vertiefen und erweitern. Dazu erzählt es in ausgewählten Beispielen die Geschichte der christlichen Musik. Bekanntlich ist es schwer, über Musik zu sprechen und zu schreiben. Musik ist eine Welt aus Klängen, die sich nicht einfach in Worte übersetzen lassen. Dennoch ist sie auch eine Art von Sprache, die verstanden werden will und über die man sich verständigen sollte. Das gilt besonders für die Kirchenmusik. Sie ist vor allem Wort-Musik, weil sie Verse singt, Gebete spricht, Geschichten erzählt und eine Botschaft verkündet. Sie will nicht nur genossen werden. Sie will nicht zerstreuen, sondern zur Besinnung bringen. Sie zielt darauf ab, dass andere sie verstehen, sie mitsprechen oder ihr widersprechen, jedenfalls auf sie antworten. Deshalb sollte Kirchenmusik nicht nur geübt, aufgeführt und gehört werden. Es ist auch über sie zu sprechen. Um dies tun zu könnten, braucht man eine Vorstellung von dem, was man da hört und was es bedeuten könnte. Hier gibt es manches zu erklären und mitzuteilen, was zu wissen hilfreich ist. Aber das Erklären kann nicht alles sein. Denn obwohl Musik immer auch etwas mit Mathematik zu tun hat, so ist sie doch keine Rechenaufgabe, für die es nur einen Weg und nur ein Ergebnis gäbe. Sie will ja bei jedem Hörer ein eigenes Erleben und Verstehen eröffnen. Deshalb sollte auch das Sprechen und Schreiben über Musik öffnend, anregend und ansteckend wirken. Und dies gelingt durch das Erzählen eher als durch das bloße Erklären. Darum erzählt dieses Buch Geschichten aus der Geschichte der Kirchenmusik: in welcher Welt die ausgewählten Werken entstanden sind, wer sie geschaffen hat und warum, wer sie als erstes aufgeführt hat, wie sie früher gehört wurden und welche Wege sie seither genommen haben.
Geschichten eröffnen Zugänge, erschweren sie aber auch, denn das geschichtliche Verstehen ist immer mit dem Erleben von Fremdheit verbunden. Wenn man ein altes Kunstwerk begreifen will, muss man seine Historie kennenlernen. Je mehr man dies jedoch tut, desto fremder wird es einem dabei, man erkennt, dass seine Zeit nicht die eigene ist. Vergangenheit und Gegenwart sind durch einen tiefen Graben getrennt – besser gesagt, durch zwei Gräben. Der eine heißt «Unwissen»: Je mehr man sich in die Geschichte der Kirchenmusik vertieft, desto genauer ermisst man, was man heute nicht weiß und nie in Erfahrung bringen wird. Der zweite Graben heißt «Unterschied»: Je mehr man sich in die Geschichte der Kirchenmusik vertieft, desto genauer ermisst man, wie unterschiedlich Musik damals und heute geschrieben, gespielt, genutzt, gehört und genossen wurde. Es wäre borniert anzunehmen, das eigene Musikleben und -erleben wäre überzeitlich. Es wäre todlangweilig zu meinen, man wüsste, was Musik immer schon bedeutete. Es ist dagegen notwendig einzusehen, dass Musik, gerade auch religiöse Musik, sich in und mit ihrer Geschichte verwandelt. Das lehrt Demut und hilft, neugierig zu bleiben, weil man eben nicht immer schon alles weiß, sondern stets nur am Anfang ist. Es ist wichtig, sich durch Erfahrungen historischer Fremdheit irritieren zu lassen. Denn erst dann ist man bereit, sich überraschen zu lassen von diesen Momenten, in denen man glaubt, diese alte, uralte Musik sei recht eigentlich für einen selbst geschrieben. Kostbar sind diese Augenblicke der Gleichzeitigkeit. Sie stellen sich aber nur ein, wenn man sie nicht für selbstverständlich hält. Das also ist das Paradox der Geschichte: Je mehr man über ein Glaubenskunstwerk historisch erfährt, desto stärker erlebt man seine Fremdheit. Und dennoch gibt es Augenblicke, in denen der alte Glaube und seine Musik direkt in die eigene Gegenwart sprechen und sich das Wunder der Gleichzeitigkeit einstellt.
In Abwandlung eines Nietzsche-Wortes kann man sagen, dass der Glaube ohne die Musik ein Irrtum oder zumindest nur die Hälfte wert wäre. In der Kirchenmusik steckt ein eigenes Wahrheitsmoment. Sie führt auf ihre Weise zu Einsichten – wenn es im Deutschen dafür ein Wort gäbe: zu einer Einsicht der Ohren. Sie kann das Erleben einer Evidenz schenken. Sie kann die Erkenntnis sinnliche Wirklichkeit werden lassen, dass man selbst erkannt ist und erhört wird. Dass man eine Seele hat und diese einen unendlichen Wert besitzt, weil sie auf Gott hin geschaffen ist und von ihm erfüllt wird. Kirchenmusik kann in den Glauben führen. Wem dies jedoch eine zu vollmundige Behauptung wäre, der müsste doch zugeben, dass diese Musik in besonderer Weise zur Selbsterkenntnis anstiften kann. Im Spiegel – besser gesagt: im Echo-Raum – dieser Musik wird einem bewusst, wer man ist, in welcher Welt man selbst lebt, wie weit ihr Horizont ist, wie tief sie reicht, welche religiösen Möglichkeiten einem jetzt gegeben oder nicht mehr gegeben sind.
Die Musik des Christentums ist ein Traditionsschatz. Aber wie das so ist mit Schätzen – zum eigenen Besitz werden sie erst, wenn man sie sich bewusst angeeignet hat. Dazu muss man etwas über sie wissen, vor allem aber eigene Erfahrungen mit ihnen gemacht haben. Das geht nicht ohne Spannungen, Kritik und Konflikt ab. Die christliche Musik ist kein unberührtes Reich des Friedens, sondern von jeher ein Gegenstand des Streits. Was für Musik grundsätzlich gilt, gilt für die Kirchenmusik in gesteigerter Weise: Musik vermag Menschen auf intensivste Weise zu verbinden, aber auch zu trennen. Sie formt Einzelwesen zu einer Gemeinde und überwindet Grenzen, richtet dabei aber neue auf: Grenzen des Geschmacks, des Alters, der Bildung, der sozialen Klassen, der Weltanschauung, der Frömmigkeit. Die Geschichte der Kirchenmusik ist auch eine Konfliktgeschichte. Diese Konflikte sind jedoch nicht nur störend, sondern auch nützlich, denn sie zwingen zur Auseinandersetzung. Deshalb sind in das Erzählgeflecht dieses Buches einige Konfliktfäden eingewebt. Zum Beispiel der Dauerstreit zwischen kirchlichen Kunstfreunden und -gegnern. Wie viel oder wie wenig Musik soll in einem Gottesdienst Raum finden? Wie sinnlich darf oder wie geistlich muss sie sein? Wie virtuos oder schlicht, wie frei im Klang oder wie gebunden an das Wort sollte sie sein? Solche Fragen lassen sich nicht einfach zugunsten der einen oder anderen Seite entscheiden, weil beide Seiten gemeinsam das Wesen eines christlichen Gottesdienstes ausmachen: Der Glaube will sich äußern in schöner Sprache und festlicher Musik, doch indem die Musik dem Glauben eine Gestalt verleiht, folgt sie immer auch ihrer eigenen Kunstlogik, gehorcht nie einfach einer amtlichen Theologik. Nicht zuletzt aus dieser Grundspannung bezieht die Geschichte der Kirchenmusik eine besondere Spannung, die den Zuhörer nicht unberührt lässt, sondern zu einer eigenen Stellungnahme herausfordert.
Im Neuen Testament wird folgende Geschichte erzählt: Es kam einmal ein Äthiopier nach Jerusalem. Das war ein mächtiger Mann, ein Kämmerer, das heißt der Finanzminister des äthiopischen Königs. Dieser war nach Jerusalem gereist, um am Tempel zu beten und zu opfern. Ob er auch die Tempelmusik hören wollte, wird nicht berichtet. Auf der Rückfahrt las dieser mächtige und fromme Fremde in der Bibel. Er saß in seinem Wagen und las laut vor sich hin, wie es damals üblich war. Das hörte der Apostel Philippus, einer der ersten Botschafter Jesu, der zu Fuß auf derselben Straße unterwegs war. Als er den Äthiopier in seinem Wagen lesen hörte, fragte er ihn: «Verstehst du auch, was du liest?» «Nein», antwortete der hohe Herr «wie kann ich das, wenn mich niemand anleitet?» Und er ließ Philippus in seinen Wagen steigen. Während sie langsam nach Süden rollten, erklärte ihm der Apostel den Sinn seiner Lektüre. Da blickte der Kämmerer auf, sah am Wegesrand ein Gewässer und sagte: «Sieh, da ist Wasser. Was hindert uns, dass ich mich taufen lasse?» Nichts hinderte sie mehr. Also hielten sie an, stiegen aus, gingen zum Wasser, und Philippus taufte ihn in den neuen Glauben hinein. Dann verließ er ihn, um andernorts seine Botschaft zu verkünden. Vom namenlosen Äthiopier jedoch heißt es am Ende dieser Geschichte ebenso schlicht wie schön: «Er zog aber seine Straße fröhlich.»
So wie Philippus damals den Kämmerer fragte, könnte man auch heute viele, die eine kirchenmusikalische Aufführung besuchen, fragen: «Verstehst Du auch, was du hörst?» Nicht wenige würden darauf antworten: «Wie kann ich das, wenn mich niemand anleitet?» Nun ist dieses Buch kein Ersatz für einen leibhaftigen Apostel, aber auf seine Weise möchte es ebenfalls eine Anleitung anbieten, wie man Kirchenmusik hören und verstehen kann. Dass sich nach der Lektüre eine nennenswerte Anzahl von Lesern sogleich taufen lässt, dürfte unwahrscheinlich sein. Es wäre aber schon viel gewonnen, wenn sie sich religiös etwas weniger unmusikalisch fühlten und eine neue Lust verspürten, mit dieser Musik eigene Erfahrungen zu machen, um dann fröhlich ihre Straße zu ziehen.
Die Geschichte der Musik ist so alt wie die Menschheit. Man kann sich das menschliche Leben gar nicht denken, als dass es auch von Musik erfüllt wäre. Die ersten Menschen werden nicht nur geschlafen und gejagt, gegessen und getrunken, sondern sicherlich auch gepfiffen, geschnalzt, geklatscht, gestampft, gesungen und getanzt haben. Das Ohr ist dasjenige Sinnesorgan, das sich nicht abschalten lässt. Es hat anders als das Auge keine Lider, ist also selbst im Schlaf noch offen, vor allem für Geräusche der Gefahr, den nahenden Schritt des Feindes, des wilden Tieres. Es ist aber immer auch offen für schöne Klänge. Dabei gab es in der Frühzeit weniger zu hören als heute. Die Welt war noch still. Das wenige aber, das zu hören war, muss einen umso tieferen Eindruck hinterlassen haben: das Wehen des Windes, der klatschende Regen, der Donner, das Knirschen des Schnees, knisterndes Feuer, Vogelgezwitscher, das Blöken eines verlorenen Schafes in der Ferne, das Rufen des Hirten, das Rasseln der Reifen und Ketten an den Armen und Hälsen der Frauen, das Rascheln der Gewänder, lachende und weinende Kinder. Und aus all dem soll sich keine Musik entwickelt haben? Aber was für eine Musik mag das gewesen sein? Doch wohl eine Zaubermacht, eine religiöse Kraft. Denn am Anfang war noch alles Religion. Aus diesen magischen Anfängen wird sich in den frühen Hochkulturen eine musikalische Kultur entwickelt haben. So wie aus den Höhlen und Hütten im Laufe der Zeit Paläste und Tempel wurden, wird sich aus den Tanzschreien und Gebetsrufen der ersten Menschen ein Schatz aus Liedern und instrumentalen Kompositionen entwickelt haben.
Doch von dieser sicherlich reichen und verwickelten Geschichte wissen wir fast nichts. Denn um die Geschichte der Musik zu erforschen und nachzuerzählen, braucht man eine schriftliche Dokumentation. Ohne Notenschrift gibt es keine Überlieferung der Musik. Man muss nachlesen können, welche Töne in welcher Reihenfolge, rhythmischen Ordnung und Lautstärke von welchen Instrumenten zum Klingen gebracht wurden. Man muss die Musik der Vergangenheit nachbuchstabieren können, sonst ist sie in dem Moment, da sie hervorgebracht wird, auch schon verklungen. Heute vermögen wir jede musikalische Erfindung und jede Interpretation eines Werks technisch festzuhalten. Die Instrumente, die wir dafür besitzen, sind perfekt und von fast unendlicher Speicherkapazität. Früher gab es nur die Möglichkeit, die Musik von Mund zu Ohr, vom Meister zum Schüler weiterzugeben. Das dürfte erstaunlich gut funktioniert haben, allerdings nur so lange, wie die gesellschaftliche Ordnung bestand. Löste diese sich auf, starb die Familie aus, wurde der Stamm zerstreut, das Reich vernichtet, so war auch die darin gepflegte musikalische Kultur unwiederbringlich verloren.
Zwar haben nicht wenige Kulturen der Antike Ansätze von Notationen entwickelt, doch sind dies meist bloß Erinnerungsstützen gewesen, die dem improvisierten Vortrag einen Ausgangspunkt und Rahmen setzten. Die Griechen jedoch haben eine richtige Notenschrift ausformuliert, die inzwischen sogar weitgehend entziffert worden ist. Zudem haben sie – man denke an Pythagoras oder Aristoteles – eine Musiktheorie, eine philosophische Mathematik der Akustik und eine Theorie der von diesen ausgelösten Gefühle entwickelt, die für die gesamte abendländliche Musikgeschichte prägend werden sollte. Doch ist von den Musikstücken, die in diesem Geist geschaffen wurden, neben allerlei Bruchstücken nur eine einzige vollständige Komposition erhalten geblieben, nämlich das Seikilos-Epitaph, ein Grabstein aus dem zweiten Jahrhundert vor Christus. Das ist sehr wenig. Es ist unklar, wie viel oder wie wenig von der antiken Musik überhaupt auf diese Weise festgehalten worden ist. Man kann nur feststellen, dass das allermeiste davon mit dem Untergang des Römischen Reiches verloren gegangen ist, und dies so vollständig, dass man sich schon zwei Jahrhunderte danach gar nicht mehr vorstellen konnte, dass es überhaupt so etwas wie eine Notenschrift geben könnte. Darauf deutet jedenfalls eine Äußerung des Bischofs Isidor von Sevilla aus dem beginnenden 7. Jahrhundert hin: «Wenn sie nämlich nicht von den Menschen im Gedächtnis behalten werden, vergehen die Töne, weil sie sich ja nicht aufschreiben lassen.» Weitere zwei Jahrhunderte später, in der Mitte des 9. Jahrhunderts, entwickelten Mönche in den europäischen Klöstern eine Schrift für ihre Choräle, die eine bleibende Erinnerung ermöglichte. Erst mit dem Mittelalter – den Neuerfindungen dieser Epoche und ihren Wiederentdeckungen, zum Beispiel der antik-griechischen Musiktheorie – also beginnt die uns bekannte Geschichte der Musik.
Nun ist es aber nicht so, dass wir gar nichts über die Musik der Antike wüssten. Es gibt archäologische Funde und schriftliche Zeugnisse, die einige Auskunft geben. Doch bevor wir uns ihnen zuwenden und versuchen, ihnen etwas abzulauschen, ist es sinnvoll zu bedenken, was wir niemals erfahren werden. Vor der Entdeckerfreude muss die Trauer über den Verlust einer ganzen Welt verlorener Klänge, Rhythmen und Melodien stehen – ein regelrechtes Atlantis der Musik. Und vor der Neugier, die erhaltenen Reste zusammenzutragen und zu verstehen, muss die Einsicht in die Begrenztheit unserer Erkenntnisse stehen. Unser Blick in die Vergangenheit der Musik ist auf fatale Weise abhängig von schriftlichen, aber auch dinglichen Zeugnissen. Wo sie fehlen, bleiben wir taub und blind. Und selbst wenn sie uns vorliegen, bleibt unser Wissen Stückwerk. Je mehr die Archäologie herausfindet, desto mehr ahnen wir, was wir alles nicht wissen und niemals wissen werden. Die unvollständigen schriftlichen Quellen, die Reste von Instrumenten, die Bildfragmente – was sagen sie aus? Was kann man aus ihnen hören? Nicht eben viel. Zum Vergleich: Aus den Steintrümmern, abgebrochenen Säulen und eingebrochenen Fundamenten antiker Bauwerke lässt sich recht zuverlässig eine Vorstellung davon entwickeln, wie die damalige Architektur ausgesehen und funktioniert hat. Doch welche Architektur besaß die antike Musik? Ähnelte sie eher den ersten naturgegebenen Höhlen oder den spontanen Zeltbauten der Nomaden, den notdürftigen Lehmhütten oder den besseren Häusern aus Stein und Holz oder gar den Königspalästen und Göttertempeln? Welche Formen nahm sie an, welche Aufgaben erfüllte sie, wie ergriff sie die Menschen? Die Reste antiker Architektur und bildender Kunst haben über alle Epochenbrüche und Kulturkatastrophen hinweg eine ungeheure Langzeitwirkung entfaltet und prägen bis heute europäisches Bauen und europäische Kunst. Welchen Einfluss die Musik der europäischen Antike besessen hat, wie die alten Griechen überhaupt über ihre Zeit hinaus gewirkt haben, das lässt sich kaum mehr sagen. Wir wissen nicht, welche Traditionen über das Ende der Antike fortgewirkt haben und welche untergegangen sind. So ergibt sich ein seltsames Ungleichgewicht. Es scheint, als wäre eine Wurzel unserer heutigen Kultur schon vor langer Zeit abgestorben, als hätte unsere Musikgeschichte erst mit dem Mittelalter neu begonnen. Nicht alle Musen scheinen gleich alt zu sein und gleich lang zu leben.
Auch die Welt des Alten Israel wird voller Musik gewesen sein. Die alltägliche Arbeit auf dem Feld und in den Werkstätten, der Opferkult im Tempel, die Kriegszüge und Siegesfeiern, Begräbnisse und Hochzeiten, die Ekstasen der Propheten und die Verrichtungen der Priester werden von Liedern und instrumentaler Musik begleitet worden sein. Auch im Alten Israel haben Mütter ihre Kinder in den Schlaf gesungen und Verliebte sich in Liedern ihre Gefühle offenbart. Von Letzterem zeugt das Hohelied Salomos, eine Sammlung von Liebesliedern, die immer noch betörend klingen, auch wenn ihre Melodien längst vergessen sind:
Lege mich wie ein Siegel auf dein Herz,
wie ein Siegel auf deinen Arm.
Denn Liebe ist stark wie der Tod
und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich.
Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des HERRN,
so dass auch viel Ströme sie nicht ertränken können.
Wenn einer alles Gut in seinem Hause um die Liebe geben wollte,
so könnte das alles nicht genügen. (Hohelied 8,6.7)
Wie all diese Lieder der Liebe, des Lebens und des Todes geklungen haben, lässt sich nicht mehr feststellen. Sicher ist nur, dass sie sich wenig von der Musik der Nachbarvölker unterschieden haben werden. Das Alte Israel war in seiner ganzen Kultur und auch in seinem Tempelkult ein Teil des antiken Orients. Vermutlich war die Musik Israels fünftönig. Das haben Archäologen zum Beispiel aus der Saitenanzahl gefundener Instrumente erschlossen, was man aber auch für spekulativ halten kann. Doch nimmt man diese Vermutung für einen Moment ernst, gewinnt man einen weiteren Eindruck von der Fremdheit der damaligen Musik. Denn das Besondere der späteren europäischen Musik besteht darin, dass sie auf einem siebenstufigen Tonsystem beruht. Im Vergleich zu ihr klingt die Musik, die innerhalb einer halbtonlosen Fünftonleiter erzeugt wird, ruhiger, weniger beweglich und urtümlicher. Die Musik des Alten Israel dürfte für heutige europäische Ohren also recht befremdlich geklungen haben. Doch damit ist natürlich noch wenig gesagt.
Nähere Hinweise liefern archäologische und schriftliche Hinweise auf die benutzten Musikinstrumente. Das Alte Testament ist die wichtigste schriftliche Quelle aus antiker Zeit, die Auskunft über die Werkzeuge des Musizierens gibt. Dabei muss man jedoch bedenken, dass die meisten alttestamentlichen Texte wahrscheinlich aus der Zeit des Zweiten Tempels stammen, der 515 vor Christus geweiht wurde. Sie haben also die Verhältnisse jüngeren Datums vor Augen, die sie dann oft genug zurückdatieren. Man muss sie also mit großer Vorsicht lesen. Immerhin erwähnen 800 Verse der Bibel Musik, davon 146 die jeweiligen Instrumente. Allerdings muss man auch hier vorsichtig sein, denn die für gewöhnlich gewählten deutschen Übersetzungen der hebräischen Begriffe – wie «Harfe», «Leier», «Pauke» oder «Trompete» – verführen leicht zu modernen Missverständnissen. In Wirklichkeit ist wenig Konkretes über Bauart, Spielweise und Klang bekannt.
Das wichtigste Instrument dürfte der «kinnor» gewesen sein, eine Art Leier. Er hatte sechs bis zehn Saiten, die mit einem Plektrum geschlagen wurden und dies zumeist von Angehörigen einer professionellen Musikerzunft. Der «kinnor» war vielseitig einsetzbar. Er wurde bei Trauerfeiern ebenso gespielt wie bei militärisch-religiösen Jubelfesten. Er galt als Instrument der Huren, Zauberer, aber auch der Propheten. Ihm zur Seite stand der «nevel», der zwölf Saiten sowie einen Ledersack-ähnlichen Resonanzkörper besaß und mit den Fingern gespielt wurde, weshalb er häufig als «Harfe» bezeichnet wurde. Wahrscheinlicher aber ist, dass er zur Familie der Leiern gehörte. Häufig wird auch der «ugav» erwähnt. Seine Deutung ist besonders umstritten. War er mehr eine Flöte oder eine Pfeife? Sicher ist nur, dass neben Saiten- auch vielfältige Blas- und Schlaginstrumente zum Einsatz kamen. Am häufigsten wird in der Bibel ein Instrument erwähnt, bei dem heutige Europäer sich fragen könnten, ob es überhaupt einem musikalischen Zweck diente. Dabei hat es sich als einziges bis heute in der jüdischen Liturgie erhalten. Der «schofar» ist so aus dem geraden oder gebogenen Horn eines Ziegenbocks oder Widders gearbeitet, dass er nur zwei oder drei Töne hervorbringt – eine Art urtümliche Vuvuzela. Diese Hörner dienten im Krieg der Kommunikation, begleiteten ein Jubelgeschrei und markierten im Kult besondere Ereignisse. Doch war das schon Musik oder nur ein Signal-Lärm? Auch viele andere Fragen bleiben offen. Wer hat diese Instrumente erfunden, gebaut und gewartet? Wo wurden sie gehandelt und was haben sie gekostet? Wer hat sie gespielt und andere darin unterrichtet?
Weitere, bruchstückhafte Hinweise bieten kurze Bemerkungen und längere Erzählungen des Alten Testaments. Gleich im vierten Kapitel des 1. Buches Mose wird der Erfinder der Instrumentalmusik genannt: Jubal, ein Ururururenkel des Brudermörders Kain. Von ihm sollen alle «Zither»- und «Flöten»-Spieler herkommen. Sein Vater Lamech dagegen ist der erste Mensch nach biblischer Zeitrechnung, von dem ein Gesang überliefert ist. Das Lied lautet:
Die Musik der Antike ist längst verloren gegangen. Doch haben sich zumindest Abbildungen antiker Musikinstrumente erhalten. Hier die Darstellung eines Harfenspielers aus dem Babylon des frühen 2. Jahrtausends vor Christus
Ada und Zilla, höret meine Rede,
ihr Frauen Lamechs, merkt auf, was ich sage:
Einen Mann erschlug ich für meine Wunde
und einen Jüngling für meine Beule.
Kain soll siebenmal gerächt werden,
aber Lamech siebenundsiebzig Mal. (1. Mose 4,23.24)
In diesem schrecklichen Lied spricht sich eine ungehemmte Rachlust aus. Wer es liest, versteht, dass die scheinbar so unerbittliche Regel «Auge um Auge, Zahn um Zahn» auf eine Begrenzung der Gewalt zielte. Denn während das Lamech-Lied lustvoll die Spirale der Gewalt hochdreht, bestimmt diese alttestamentliche Regel, dass die Strafe dem Unrecht genau entsprechen müsse, es aber nicht übertreffen dürfe, so dass für einen ausgeschlagenen Zahn im Gegenzug nur ein Zahn ausgeschlagen werden darf – und nicht sieben oder gar siebenundsiebzig.
Wenig verwunderlich für die in den ersten Büchern der Bibel beschriebene staatenlose und darum sehr gewalttätige Frühzeit, folgen in den ersten Büchern der Bibel weitere Kriegslieder. So wird bezeugt, wie nach dem legendären Untergang der ägyptischen Armee im Schilfmeer die Prophetin Mirjam, eine Schwester Aarons, eine Pauke in die Hand nahm und, während alle Frauen ihr mit Pauken im Reigen nachfolgten, sang:
Lasst uns dem HERRN singen,
denn er hat eine herrliche Tat getan;
Ross und Mann hat er ins Meer gestürzt. (2. Mose 15,21)
Mirjam soll dieses Lied selbst erdacht haben, damit wäre sie eine der ganz wenigen Komponistinnen früher geistlicher Musik. Und: «Man muss es sich mit Paukenbegleitung denken» (Thomas Mann). Von einer anderen Prophetin namens Deborah ist ein weiteres Kriegslied überliefert, dass einen Sieg gegen Feinde im Land Kanaan feiert. In ihm heißt es:
Lobet den HERRN,
dass man sich in Israel zum Kampf rüstete
und das Volk willig dazu gewesen ist.
Hört zu, ihr Könige,
und merkt auf, ihr Fürsten!
Ich will singen,
dem HERRN will ich singen,
dem HERRN, dem Gott Israels,
will ich spielen.
So sollen umkommen, HERR,
alle deine Feinde!
Die ihn aber lieb haben sollen sein,
wie die Sonne aufgeht in ihrer Pracht! (Richter 5,2.3.31)
Man meint, aus diesem Psalm eine martialische Marschmusik herauszuhören.
Eine erstaunliche Rolle spielt die Musik in den Geschichten, die von der Entstehung des israelitischen Königtums erzählen. Demnach war Israel lange von «Richtern», mehr oder weniger zufällig ausgewählten Heerführern, regiert worden. Doch dann schien es unerlässlich, dass Israel sich eine verbindliche politische Ordnung verschaffte wie die übrigen Reiche in seiner Nachbarschaft auch. Der erste König sollte Saul werden (ca. 1000 vor Christus). Er hatte eine fatale Beziehung zur Musik. So wird überliefert, dass er mit einer Schar musizierender Propheten in Ekstase geriet – unter dem Klang von «Harfe und Pauke und Flöte und Zither». Doch der Geist Gottes erfüllte ihn nicht lange. Stattdessen kam ein dunkler Dämon über Saul. Nichts konnte sein schweres Gemüt entlasten. Da suchten die Großen seines Reiches einen Mann, der den «kinnor» gut spielen konnte. Sie fanden David und brachten ihn an den Hof. So oft der böse Geist nun über den König kam, griff David zum «kinnor» und spielte. Da wurde es Saul leichter ums Herz, denn das Saitenspiel vertrieb den bösen Geist.
Doch auf lange Sicht sollte ihm diese Musiktherapie keinen Segen bringen. Denn David stürzte Saul vom Thron und setzte sich an seine Stelle. Als Zeichen seines endgültigen Sieges ließ er die «Lade des Bundes» nach Jerusalem bringen. Dies war der älteste Kultgegenstand Israels, ein von Mythen umrankter Kasten, der Israel auf seinen Wanderungen durch die Wüste und bei seiner Eroberung des Gelobten Landes begleitet und die Gesetzestafeln des Mose enthalten haben soll – so erzählt es die Sage, die heutige Forschung jedoch geht davon aus, dass die Lade ein Kultgegenstand des Kulturlandes war, der in die mythische Wüstenzeit zurückprojiziert worden ist. Mit ihrer Überführung jedenfalls wurde Davids Residenz zugleich zur religiösen Hauptstadt des Reiches. Als die Lade in die Stadt gebracht wurde,tanzten der neue König und sein Volk vor Gott mit aller Macht im Reigen, mit Liedern, mit «Harfen und Psaltern und Pauken und Schellen und Zimbeln», mit Jauchzen und «Posaunenschall». Eine der Töchter Sauls mokierte sich darüber, wie der neue König da schamlos auf offener Straße tanzte, dabei war dies für den Alten Orient kein ungewöhnliches Schauspiel.
Die Königszeit brachte die entscheidende Veränderung im israelitischen Musikleben. Noch nicht mit Saul oder David, wohl aber mit dessen Sohn und Nachfolger Salomo. Dieser nämlich ließ den Tempel in Jerusalem bauen, der nun den Mittelpunkt der sakralen Musik bildete (ca. 950 vor Christus). Über diesen Tempel und sein kultisches Leben lässt sich wenig Genaues sagen, weil die biblischen Aussagen wahrscheinlich aus der Zeit des Zweiten Tempels stammen. Aber es scheint doch so gewesen zu sein, dass mit ihm ein regulärer, königlich-priesterlicher Kultbetrieb aufgenommen wurde, und zu dem scheinen auch priesterliche Berufsmusiker gehört zu haben. Die ersten Musikanten im Tempel dürften Ausländer gewesen sein. Doch schon bald entstand eine eigene Zunft von Leviten, deren Aufgabe darin bestand, im Freien vor dem Tempel zu musizieren, während im Tempel die Riten vollzogen und die Opfer gebracht wurden. Diese Priester-Musiker müssen eine erstaunliche Kunstfertigkeit besessen haben. Denn wenn sie «mit Zimbeln, Psaltern und Harfen» musizierten, schien es den Hörern, als wäre es «einer», der spielte und sänge, als hörte man «eine» Stimme Gott loben und ihm danken. Ob sie sich selbst als Künstler verstanden haben oder nur als Priester? Wahrscheinlich wäre ihnen diese Frage unverständlich gewesen. Ebenso wie die andere Frage, ob das, was sie da an Tönen hervorbrachten, wirklich Musik war. Das Blasen des Schofarhorns zum Beispiel dürfte für heutige Ohren eher eine Art heftiges Offenbarungsgeräusch, ein heiliger Lärm, gewesen sein. So wissen wir weder, was die Leviten am Tempel gespielt haben, noch wie es auf ihre Zuhörer gewirkt hat, oder gar wie sie es selbst genau verstanden haben.
Ihr Spiel dürfte den Leviten aber etwas Hochheiliges gewesen sein, eine Macht, welche die Grenze zwischen Erde und Himmel durchbricht, ein Echo derjenigen Musik, welche die Engel im ewigen Thronsaal spielen. Diese hatte der Prophet Jesaja einmal gehört und geschaut. Er war im Tempel und sah den HERRN auf einem hohen und erhabenen Thron sitzen. Sein Saum füllte den Tempel. Seraphim mit sechs Flügeln standen über ihm. Sie riefen einer zum anderen und sangen im Wechsel:
Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth,
alle Lande sind seiner Ehre voll! (Jesaja 6,3)
Die Schwellen des Tempels bebten von der Macht ihrer Stimmen, und Jesaja dachte: «Weh mir, ich vergehe!» Es muss ein unendlich erhebender und zugleich beängstigender Gesang der Engel gewesen sein, der da vom himmlischen Thronsaal in den Jerusalemer Tempel herab schallte – ein fernes Echo davon ist das «Sanctus», das noch heute in katholischen und evangelischen Abendmahlsfeiern gesungen wird.
Doch die Propheten hörten nicht nur himmlische Gesänge oder brachten sich und andere mit ihren wilden Stücken in Verzückung. Sie waren auch die ersten Musik-Kritiker. Denn was nützte die schönste Tempelmusik, wenn das Volk Israel seinem Gott nicht treu war und seine Gebote nicht befolgte? Der HERR mochte sie dann nicht mehr hören. Durch den Mund seines Propheten ließ er den Leviten ausrichten: «Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören! Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.» Doch verpackten Amos und seine Nachfolger ihre Kritik an der sakralen Musik des Tempelbetriebs selbst in eine musikalische Form. Sie dichteten und sangen Lieder, die ersten Protestlieder, in denen sie das eigene Volk, seine politischen und religiösen Führer anklagten und ihnen ein böses Ende vorhersagten. Wie dieses bittere Lied des Amos:
Höret, ihr vom Hause Israel, dies Wort;
denn ich muss dies Klagelied über euch anstimmen:
Die Jungfrau Israel ist gefallen, dass sie nicht wieder aufstehen wird;
sie ist zu Boden gestoßen und niemand ist da, der ihr aufhelfe.
Denn so spricht Gott der HERR:
Die Stadt, aus der tausend zum Kampf ausziehen, soll nur hundert übrig behalten,
und aus der hundert ausziehen, die soll nur zehn übrig behalten im Hause Israel.
(Amos 5,1–3)
Wie die Propheten sangen, so geschah es. In mehreren Wellen kamen fremde Völker und Reiche über Israel. Im Jahr 597 vor Christus wurde die Hauptstadt endgültig von den Babyloniern eingenommen. Sie vernichteten das Königreich Davids, zerstörten den Tempel Salomos und verschleppten die Oberschicht ins Exil. Dies war auch für die sakrale Musik des Alten Israel eine Katastrophe. Ihr war die Lebensgrundlage genommen. Wer sollte jetzt noch vor Gott musizieren und wozu? Die ehemaligen Priester-Musiker hatten ihren Rang und ihre Aufgabe verloren. Ihre Lieder waren an den König, die Heimat und den Tempel gebunden. In der Ferne verloren sie ihren Sinn. Dieser Trauergesang zeugt davon:
An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten,
wenn wir an Zion gedachten.
Unsere Harfen hängten wir
an die Weiden dort im Lande.
Denn die uns gefangen hielten,
hießen uns dort singen
und in unserm Heulen fröhlich sein:
«Singet uns ein Lied von Zion!»
Wie könnten wir des HERRN Lied singen
in fremdem Lande? (Psalm 137,1–4)
Immerhin, das Babylonische Exil dauerte nicht ewig. Unter den Persern durften die Verbannten zurückkehren und ihren Tempel wieder aufbauen. Im Jahr 515 vor Christus wurde er zum zweiten Mal geweiht. Auch die Musik spielte wieder auf, doch in kleinerer Besetzung und ohne den früheren Schwung. Ärmlicher und gedrückter muss die Musik des Zweiten Tempels geklungen haben. Dessen Ende kam dann ein halbes Jahrtausend später. Nach zahlreichen Unruhen und Erhebungen machten die Römer im Jahr 70 nach Christus die heilige Stadt und ihren Tempel dem Erdboden gleich. Damit war die sakrale Musik Israels ein für alle Mal zu Ende. Die Leviten waren ermordet oder in alle Winde zerstreut, ihre Instrumente zertreten oder verbrannt. Ihre Gesänge gingen mit ihnen ins Grab oder wurden vergessen. Nichts blieb von der alten Musik.
Oder blieb nicht doch etwas – in anderer Klanggestalt, einer veränderten Tonlage, an neuem Ort, mit neuen Melodien und Instrumenten? An die Stelle des zerstörten Tempels trat die Synagoge, und aus dem alten Volk Israel erwuchs das frühe Judentum. Auch diese neue Gestalt der Religionsgeschichte wird ihre eigene Musik erfunden und gepflegt haben. Nur leider ist auch von ihren ursprünglichen Formen wenig bekannt. Aber man wird vermuten dürfen, dass kaum etwas von der eigentlichen Tempelmusik in den neuen Synagogen weiterlebte. Dies hätte keinen Sinn ergeben, denn in den Synagogen vollzogen keine Priester mehr ihre Opfer, sondern Schriftgelehrte legten die heiligen Schriften aus und beteten gemeinsam mit ihrer Gemeinde. Dazu werden sie aber – auch das wird man vermuten dürfen – auf ein zentrales Erbstück des Alten Israel zurückgegriffen haben: die Psalmen.
Die 150 Psalmen, die im alttestamentlichen Buch des Psalters überliefert sind, sind die klassischen Gebete Israels und des Judentums. Die fromme Überlieferung bezeichnet König David als ihren Dichter und Komponisten. Das hätte gut zum königlichen Tänzer und Musiktherapeuten gepasst, ist aber unhistorisch. Vielmehr sind diese Gebete der Klage und Bitte, des Danks und des Lobpreises sowie der frommen Meditation ein kollektives Werk, in vielen Schichten von Erfindung und Redaktion langsam gewachsen. Dabei sind sie häufig auch Musikstücke gewesen. In Spuren findet man davon noch etwas. Einige Überschriften geben an, dass dieser Psalm von einem Saiteninstrument oder einer Flöte zu begleiten und dass jener Psalm nach einer bestimmten Melodie zu singen sei, etwa der Weise «Schöne Jugend» oder «Die Hirschkuh, die früh gejagt wird». Aber was dies für Lieder gewesen sind, mit welcher Tonfärbung, Melodie oder Rhythmik, lässt sich nicht mehr bestimmen.
Wer es gelernt und sich daran gewöhnt hat, die Psalmen zu lesen und zu beten, sollte zumindest gelegentlich daran denken, dass er sie eigentlich singen müsste, und es bedauern, dass er dies nicht mehr kann. Den zu singenden Psalmen fehlt also ihre zweite Hälfte. Das ist ein Unglück. Es ist wie bei den klassischen griechischen und römischen Skulpturen der Antike. Immer schon galten sie als Inbegriffe des Schönen und haben die gesamte europäische Kunstgeschichte geprägt. Sie sahen so vollkommen aus, nichts schien ihnen zu fehlen, bis man vor einigen Jahren entdeckte, dass sie ursprünglich bemalt waren. Die Versuche von Archäologen, ihre originale Farbigkeit wiederherzustellen, hinterließen einen verstörenden Eindruck. Man hatte ja gar nicht geahnt, was man nicht vermisst hatte. Betrachtete man die ehemals weißen Götter, Helden, Kaiser und hohen Damen plötzlich in grell-knalliger Bemalung, fühlte man sich fast beschämt, so als hätte man all die Jahre die falschen Bilder bewundert. Andererseits zeichnet es die antiken griechisch-römischen Skulpturen aus, dass sie auch ohne Farbe höchsten künstlerischen Ansprüchen genügen. Deshalb kann man sich getrost mit dem begnügen, was geblieben ist – ohne Bemalung. Es ist mehr als genug. Ebenso ist es mit denjenigen Psalmen, die auch Lieder waren. So wie den antiken Skulpturen die Farbe, ist ihnen die Musik genommen. Doch es bleiben gültige und lebendige Verse.
Ihre Lebendigkeit verdanken die Psalmen vor allem ihren einfachen, ursprünglichen und kräftigen Sprachbildern, Urbildern von Verzweiflung und Erhebung, Angst und Vertrauen, Hass und Läuterung: «Du bist mein Fels», «ich bin ausgeschüttet wie Wasser», «der HERR ist dein Schatten über deiner rechten Hand», «und ob ich schon wanderte im finsteren Tal», «so werden wir sein wie die Träumenden», «mein Herz ist wie zerschmolzenes Wachs», «du breitest den Himmel aus wie einen Teppich».
Die Verse, die mit solchen Bildern die Tiefe, Breite und Höhe des menschlichen Lebens vor Gott ausmessen, sind in eine schlichte, aber umso wirkungsvollere Form gebracht, den sogenannten «Parallelismus Membrorum». Das ist eine Gleichförmigkeit der Teile, nach der zwei aufeinanderfolgende Verse jeweils das Gleiche sagen oder im gleichen Aufbau sich steigern oder widersprechen:
Der HERR behüte dich vor allem Übel,
er behüte deine Seele. (Psalm 121,7)
Lobe den HERRN, meine Seele,
und was in mir ist, seinen heiligen Namen. (Psalm 103,1)
Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser,
so schreit meine Seele, Gott, zu dir.
Meine Seele dürstet nach Gott,
nach dem lebendigen Gott.
Wann werde ich dahin kommen,
dass ich Gottes Angesicht schaue? (Psalm 42,2.3)
Das ergibt einen Rhythmus, den man auch ohne Musik, beim bloßen Lesen nacherleben kann.
Leider ist nicht mehr genau festzustellen, von wem, wann und zu welchen Zwecken diese Psalmen gesungen oder gesprochen wurden. Einige wurden im Chor oder im Wechsel, manche vielleicht von Einzelnen gesungen. Manche waren Teil von Prozessionen zum Tempel, einige hatten ihren Ort in den Festen des Jahres, andere wurden angesichts kollektiver Katastrophen wie Krieg, Dürre und Seuchengefahr vorgetragen und wieder andere dienten Einzelnen zur Heilung und Reinigung. Bei vielen Psalmen aber bleibt unklar, zu welchen Anlässen sie vorgetragen wurden. Einige klingen für heutige Ohren so intim, dass sie nur von einer Solostimme gesungen worden sein können. So als seien sie für den privaten Gebrauch gemacht. Und in der Tat hat es auch schon im Alten Israel wie überhaupt im Alten Orient eine persönliche Frömmigkeit gegeben. Sie war sicherlich nicht so «subjektiv» und «pluralistisch» wie heute, sondern orientierte sich an vorgegebenen Formen und sprach sich in festgelegten Texten aus. Aber trotz ihrer Konventionalität war sie persönlich und innig. Dies ist heute noch nachzuempfinden. In einigen Psalmen scheint sich eine Seele unmittelbar auszusprechen. Und diese Seelenhaftigkeit ist es, die den Psalmen ein ungeheuer langes Leben beschert hat, bis zum heutigen Tag. Denn immer noch können sich Menschen, die sich religiös nach seelischer Entlastung und Erfüllung sehnen, ihre Verse aneignen.
Derjenige Psalm, dem man am deutlichsten seine ursprüngliche Musikalität abspüren kann, dürfte thematisch den meisten heutigen Lesern eher fremd sein, weil er wenig mit individueller Innerlichkeit zu tun hat. In ihm spricht sich keine einzelne Seele mit all dem aus, was sie an Glauben besitzt oder vermisst, sondern hier singt eine große Gruppe, ein ganzes Volk und dies in einer euphorischen Tonlage, die europäischen Stimmen viel zu hoch sein dürfte. Der Lobpreis, um den es hier geht, ist in Westeuropa weitgehend erstorben. Dabei ist auch der Hymnus, das große Halleluja, eine Urquelle der Musik:
Halleluja! Lobet Gott in seinem Heiligtum,
lobet ihn in der Feste seiner Macht!
Lobet ihn für seine Taten,
lobet ihn in seiner großen Herrlichkeit!
Lobet ihn mit Posaunen,
lobet ihn mit Psalter und Harfen!
Lobet ihn mit Pauken und Reigen,
lobet ihn mit Saiten und Pfeifen!
Lobet ihn mit hellen Zimbeln,
lobet ihn mit klingenden Zimbeln!
Alles, was Odem hat, lobe den HERRN!
Halleluja! (Psalm 150)
Dieser Psalm führt sämtliche Instrumente auf, die das Alte Israel gekannt und besessen hat. Aus allen Saiten-, Blas- und Schlaginstrumenten und aus allen Kehlen soll das Lob Gottes erschallen, so dass es die Grenzen des Irdischen durchbricht, den HERRN der Heerscharen in seinem himmlischen Thronsaal erreicht und sich mit dem Gesang der Engel vereinigt. Doch wer hat all diesen Musikanten vorher erklärt, was und wie sie zu spielen haben? Wer hat diesen Psalm mit ihnen einstudiert? Und hat es einen Dirigenten gegeben? Wenn nicht, dann kann dieses Halleluja doch keine heilige Symphonie gewesen sein, sondern eher ein Schallgewitter, das nicht im heutigen Sinne «schön» oder überhaupt «Musik» im künstlerischen Sinne sein wollte, sondern ein Signal wie ein Donner, ein Erdbeben oder ein Feuer, das eine Offenbarung ankündigt.
Im Jahr 2008 hat Jordi Savall, der spanische Meister der Alten Musik, ein Buch mit zwei CDs veröffentlicht, welche die Geschichte Jerusalems musikalisch nacherzählen. Sie durchschreiten die jüdischen, muslimischen und christlichen Kapitel der Stadtgeschichte mit urchristlichen Hymnen, muslimischen Liedern, Kreuzfahrerfanfaren, Pilgerweisen, arabischen Koran-Rezitationen, muslimischen Märschen, Exilsgesängen, Liedern aus Auschwitz und natürlich auch mit Psalmen. Fremd, dunkel und irgendwie orientalisch klingen sie. Aber was ist an ihnen historisch, und was entspringt heutiger Fantasie? Wir wissen einfach nicht, wie die alten Psalmen geklungen haben. Doch vielleicht ist dies nicht nur ein Verlust, sondern auch ein Gewinn. Denn ohne die alte Musik und nur als Text wurden die Psalmen zur idealen Grundlage vielfältigster Neukompositionen. In ihrem archaischen Klanggewand wären sie vielleicht vergessen worden. In ihrer Nacktheit jedoch reizten sie Komponisten späterer Zeiten dazu, sie musikalisch neu einzukleiden, mit dem für die eigene Gegenwart passenden Gewand. Insofern war der Verlust ein Gewinn. Darin stehen die Psalmen gleichnishaft für die ganze Religion des Alten Israel. Erst nachdem diese ihrer altorientalischen Hülle aus Königtum und Tempelkult beraubt war, konnten die prophetischen und geschichtstheologischen Gedanken, die in ihr eingelagert waren, eine neue, ihnen gemäße Form annehmen. So wie die biblischen Verse der Propheten, Schriftgelehrten, Geschichtserzähler und Weisheitslehrer die Zerstörungen Jerusalems überlebten, überstanden die Verse der Psalmen das Erlöschen ihrer Musik und wurden dadurch frei, neue Töne und Rhythmen zu finden.
Aus den Trümmern des Alten Israel ging nicht nur ein neues Judentum hervor. In der dunklen und verstörten Welt des antiken Kleinasiens wuchs auch eine seltsame kleine Sekte heran. Es dauerte lange, bis Öffentlichkeit und Obrigkeit davon etwas erfuhren, und es fiel ihnen nicht leicht, diese religiöse Gruppierung zu begreifen. Was an ihr neuartig war, schien sich in einer bisher unbekannten Art des Musizierens zu zeigen. In einer der historisch ersten Äußerungen über das Urchristentum, wird nämlich das Singen herausgestellt. Um 110 schrieb Plinius der Jüngere, Statthalter von Kleinasien, nach Rom an seinen Kaiser Trajan von den merkwürdigen Umtrieben der ersten Christen: «Sie sind gewohnt, sich an einem bestimmten Tag vor der Dämmerung zu treffen und wechselweise miteinander Christus als einem Gott Lieder zu singen.» Man hört noch heute das Erstaunen aus dieser brieflichen Äußerung heraus. Da kommen Menschen zusammen, zu einer Zeit, da gewöhnliche Leute noch schlafen, und was machen sie? Gar nichts Besonderes eigentlich. Sie zelebrieren keine komplizierten Rituale, bringen keine prächtigen und blutigen Opfer, versenken sich nicht in mystische oder magische Geheimnisse, sondern sie singen einfach. Aber genau dies ist das Erstaunliche: Christen singen gemeinsam und im Wechsel ihrem Erlöser Lieder. Das war in der damaligen Religionswelt gar nicht vorgesehen. Denn damals war es üblich, dass die Priester in ihren Tempeln die Opfer vollzogen, während das Glaubensvolk im Vorhof wartete. Dazu wurde wohl auch sakrale Musik gespielt. Die ersten Christen jedoch, die keine Opfer mehr und noch keine Priester kannten, feierten einen Gottesdienst ganz anderer Art: Sie kamen zum gemeinsamen Singen zusammen.