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Carolyn Abbate | Roger Parker

Eine Geschichte der

OPER

Die letzten 400 Jahre

Aus dem Englischen
von Karl Heinz Siber
und Nikolaus de Palézieux

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

Zum Buch

Die Oper ist in vielerlei Hinsicht das außergewöhnlichste künstlerische Medium der letzten 400 Jahre: Opernhäuser, Ausstattung, Technik und nicht zuletzt die Künstler lassen sie zu einer nachgerade unerschwinglich teuren Kunstform werden – eine Kunstform, die zudem offenkundig unrealistisch ist. Und doch vermag nichts anderes menschliche Leidenschaften mit solch überwältigender Kraft, Dramatik und Gefühlsstärke auszudrücken wie gerade die Oper.

Dieses Buch – seit langem die erste einbändige und zugleich umfassende Gesamtdarstellung zu diesem Thema – liest sich wie eine Ode an die Oper selbst. Seine beiden Autoren stellen zahlreiche Werke der bekanntesten Opernkomponisten vor: von Monteverdi, Händel und Mozart über Verdi, Wagner, Strauss und Puccini bis zu Berg und Britten. Sie bieten einen anschaulichen, oft amüsanten und stets informativen Überblick über die sozialen und politischen Hintergründe der jeweiligen Kompositionen, beziehen deren literarische Kontexte und die wirtschaftlichen Verhältnisse mit ein, unter denen sie entstanden sind, und vernachlässigen auch nicht die Polemiken, die das Operngeschehen über die Jahrhunderte kontinuierlich begleitet haben. Auch wenn inzwischen die beliebtesten und langlebigsten Werke aus einer längst vergangenen Epoche stammen, deren Lebensumstände uns heute völlig fremd sind – und auch wenn die zeitgenössische Oper heutzutage auf den Bühnen kaum eine Rolle spielt –, so hat die Oper doch nichts an Reiz, Lebendigkeit und Attraktion eingebüßt. Heute wie vor 400 Jahren lässt sie das Publikum Tränen vergießen, zischen, heftig debattieren oder in Begeisterungsstürme ausbrechen. In dieser Wirkungsmacht übertrifft sie jede andere Kunstform.

Über die Autoren

Carolyn Abbate ist Professorin für Musikwissenschaft an der Harvard University.

Roger Parker ist Professor für Musikwissenschaft am King’s College in London.

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Inhalt

Vorwort und Danksagung

      I. Einleitung

     II. Das erste Jahrhundert der Oper

    III. Opera seria

    IV. Disziplin

     V. Die opera buffa und Mozarts Linie der Schönheit

    VI. Singen und sprechen vor 1800

   VII. Das deutsche Problem

  VIII. Rossini und der Übergang

    IX. Der Tenor

     X. Der junge Verdi

    XI. Grand opéra

   XII. Der junge Wagner

  XIII. Opéra comique, der Schmelztiegel

  XIV. Der alte Wagner

   XV. Verdi – der noch ältere

  XVI. Realismus und Geschrei

 XVII. Wendepunkt

XVIII. Moderne

  XIX. Sprechen

   XX. Allein im Wald

Anhang

Anmerkungen

Weiterführende Literatur

Bildnachweis

Register

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Vorwort und Danksagung

Den Entschluss, eine Geschichte der Oper zu schreiben, fasst man in diesem unserem Informationszeitalter nicht leichten Herzens, erst recht nicht, wenn die selbst gestellte Aufgabe darin besteht, die ganzen 400 Jahre zu durchmessen. Die Fußspuren derer, die diesen Weg vor uns gegangen sind, flößen uns großen Respekt ein, wobei die Konkurrenz in unseren Tagen nicht so heftig erscheint, wie dies wohl in früheren Zeiten der Fall war. Waren Bücher über die Geschichte der Oper vor einem Jahrhundert noch an der Tagesordnung (in einer Zeit, in der Richard Wagner als willkommener, den Kreis wunderbar schließender Höhepunkt und Schlussakt dienen konnte), so sind solche Werke in der jüngeren Vergangenheit überraschend rar geworden. Das gilt ganz generell für musikgeschichtliche Gesamtdarstellungen, besonders für solche wissenschaftlicher Provenienz. In dem Maß, wie die Informationsmenge wächst, sind Autoren, die es gewöhnt sind, Weisheit zu verbreiten (und damit Autorität auszustrahlen), vorsichtiger geworden. Ihre «Spezialgebiete» sind unaufhaltsam zusammengeschrumpft. Das Thema Oper hält jedoch darüber hinaus weitere Schwierigkeiten bereit, nicht zuletzt die Tatsache, dass einige der wichtigsten Opernschaffenden bis heute von der Wissenschaft stiefmütterlich behandelt worden sind. Puccini kann als klassisches Beispiel hierfür gelten: Was dieser immens populäre Opernkomponist, für viele geradezu der Inbegriff all dessen, was die Oper des frühen 20. Jahrhunderts ausmacht, bis heute – oder zumindest bis vor wenigen Jahren – an musikwissenschaftlicher Literatur angeregt hat, nimmt sich ausgesprochen dünn aus, sogar im Vergleich zu frühen Sinfonikern oder ernsthaften Serialisten.

Dazu kommt das inzwischen mehr als ein Jahrhundert alte Dauerthema «Opernkrise»: Wie ist die Zukunft einer Kunstform einzuschätzen, deren Verhältnis zur Moderne man zumindest als schwierig bezeichnen muss? Wenn es stimmt, dass Geschichtsdarstellungen uns immer auch eine Menge über die Gegenwart verraten, selbst wenn sie ausdrücklich von der Vergangenheit handeln, dann sollte dieses Buch auch die Tatsache widerspiegeln, dass ein Wesensmerkmal der Oper heute in einer geradezu obsessiven Beschäftigung (zumindest ihrer Kritiker) mit Fragen nach ihrer Lebensfähigkeit und Vitalität besteht. In einer Hinsicht kann man der Oper bescheinigen, dass sie blüht und gedeiht: Die Zahl der Opern, die in aller Welt aufgeführt werden, ist heute erheblich größer als vor 50 Jahren, und kaum etwas deutet darauf hin, dass sich diese Tendenz abschwächt. Bemerkenswert ist auch, wie moderne Technik (der Aufnahme, Wiedergabe und Verbreitung, einerseits auf traditionellen, andererseits auf durch das Internet enorm erweiterten Wegen) Opernaufführungen sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart einem riesigen globalen Publikum neu zugänglich gemacht hat. Diese Proliferation sollte eigentlich, wenn man kein unverbesserlicher elitärer Snob ist, ein Grund zur Freude sein. Eine uns ins Gesicht springende Tatsache dämpft jedoch die Jubelgesänge: Das Wachstum betrifft zum überwältigenden Teil Opern aus der Vergangenheit, noch dazu oft Werke, die das Publikum, für das sie einst auf die Bühne gebracht wurden, nach einer Saison seelenruhig abservierte – war man doch jederzeit sicher, dass neue Opern, und wahrscheinlich sogar bessere, nachkommen würden. Die heutige Situation gibt häufig Anlass zu Wehklagen auf hohem Niveau: Viele von denen, die sich eigentlich im Opernmuseum pudelwohl fühlen, wiederholen gern gebetsmühlenartig die Mahnung, wir bräuchten dringend neue Opern – zeitgenössische Ergänzungen des Repertoires seien von entscheidender Bedeutung für die Gesundheit oder sogar für das Überleben der Kunstform.

Welchen Standpunkt wir in dieser Debatte vertreten, machen wir im letzten Kapitel deutlich, brauchen es deswegen hier nicht vorwegzunehmen. Es ist aber sicher nicht verkehrt zu betonen, dass die beiden elementaren Entwicklungstendenzen – die Herausbildung eines Repertoires, das ständig gleichsam nach hinten erweitert wird, und das allmähliche Versiegen der Produktion neuer Opern – seit mittlerweile mehr als einem Jahrhundert Hand in Hand gehen und offensichtlich miteinander zu tun haben. Um es anders auszudrücken: Es ist sentimental und wahrscheinlich nachgerade utopisch, zu glauben, wir könnten auf der einen Seite die Oper liebevoll konservieren und dem Repertoire immer neue historische Fundstücke hinzufügen, auf der anderen aber zugleich das bestmögliche Umfeld für die Entstehung neuer Werke schaffen. Der entscheidende Aspekt in diesem Zusammenhang ist – und wir werden auf ihn in den folgenden Kapiteln mehr als einmal zu sprechen kommen – der Kulturpessimismus, der heute das Repertoire durchzieht, ein Denken, das die Opernszene deutlich von dem unterscheidet, was sich in artverwandten Künsten wie der Belletristik, dem Film oder der bildenden Kunst tut, wo das Neue in einem ständigen und lebhaften Wettbewerb mit dem Alten steht. Wir wenden heute enorme Energien und Ressourcen dafür auf, eine ruhmreiche Opernvergangenheit sorgfältig zu bewahren und zu erneuern. Denken wir nur an die Leidenschaft, mit der Darsteller und Opernfans sich für ihre Lieblingsrollen und Lieblingsopern ins Zeug legen, an den Aufwand, der getrieben wird, um ständig neue bühnentechnische Errungenschaften und Präsentationsweisen zu entwickeln, an die akribische historische Forschung und die Proliferation neuer kritischer Ausgaben, die entweder unbekannte Werke neu zugänglich machen oder solche, die uns bestens vertraut sind, in neuer Fassung und Verpackung präsentieren und ihnen damit noch mehr Gewicht und Autorität verleihen. All diese Bemühungen, so lobenswert sie an und für sich sein mögen, legen die Messlatte für neue Werke immer höher. Wie können zeitgenössische Komponisten hoffen, da mitzuhalten? Wollten wir wirklich eine Opernszene, in der das Neue aufregender wäre als das Alte, in der die Welturaufführung einen höheren Stellenwert hätte als die Reprise, dann müssten wir die Bereitschaft aufbringen, wenigstens einen Teil der Vergangenheit fahren zu lassen und dem Opernbetrieb etwas von dem verloren gegangenen Glauben an den künstlerischen Fortschritt wiederzugeben. Wir müssten uns wohl auch von der dem 19. Jahrhundert zu verdankenden Erhöhung der Musik zur vornehmsten aller Künste verabschieden und zu einer früheren Herangehensweise zurückkehren, bei der die Musik schon deshalb fast immer neu war, weil man das, was gestern gesungen und gespielt worden war, in aller Regel beiseitelegte – man maß ihm offensichtlich wenig bleibenden Wert bei. Das wäre eine in der Tat radikal andere Zukunft – wenn auch eine, die sich wohl kaum jemand wünscht.

Ein weiteres Thema bedarf der Diskussion, weil es von offenkundiger Relevanz für Inhalt und Ton dieses Buches ist. In einem sehr frühen Stadium der Arbeit haben wir – übrigens absolut nicht auf Drängen des Verlages –, den Entschluss gefasst, das Buch nicht mit Notenbeispielen auszustatten. Wir beschlossen dies, weil uns in ebendiesem Stadium klar wurde, dass wir es, so weit wie möglich, auch ohne Rückgriff auf Partituren schreiben wollten. Das war eine noch radikalere Geste als die Entscheidung, in das gedruckte Buch keine Notenbeispiele einzufügen, und es mag wie eine vorsätzliche Distanzierung von genau dem Expertentum anmuten, in dem eigentlich, jedenfalls in den Augen Vieler, die größte Stärke der Musikwissenschaft liegt. Ist es nicht sträflich, diese reichen Informationsquellen für musikalische Details ungenutzt zu lassen? Wenn wir es dennoch getan haben, dann nicht zuletzt in dem Bestreben, eine breitere Leserschaft anzusprechen, die im Umgang mit dem Handwerkszeug der Musikologen nicht so geübt ist. Unser Hauptgrund war jedoch der, dass Partituren zur konzentrierten Auseinandersetzung mit bestimmten Aspekten der Musik in ihrer verschriftlichten Form anregen, insbesondere mit harmonischen und melodischen Einzelproblemen im Großen und Kleinen; diese Aspekte haben in musikwissenschaftlichen Schriften über die Oper häufig zu sehr im Vordergrund gestanden. Um es anders auszudrücken: Partituren fördern die Vorstellung von der Oper als Text und nicht so sehr als Bühnenereignis. Unsere Erinnerung macht sich aber an Ereignissen fest – an etwas, das wir auf der Bühne gehört und womöglich auch gesehen haben. Die musikalischen Beschreibungen in diesem Buch wurden denn auch fast allesamt aus dem Gedächtnis heraus entwickelt, sei es in Reaktion auf eine gehörte Aufnahme oder sei es – das war der weitaus häufigere Fall – unter Rückgriff auf die Schatzkammer unserer persönlichen Opernerfahrung. Das wiederum begünstigte eine bestimmte Art der Beschreibung von Musik, die auf diverse Grundbegriffe aus dem musikologischen Lexikon fast ganz verzichtet. Als Leser werden Sie vergeblich auf abstrakte musikalische Strukturanalysen oder auf ausführliche Schilderungen der Interaktionen von Tönen warten. Diese Art von Information lässt sich – eine einschlägige Ausbildung vorausgesetzt – relativ leicht aus einer Partitur extrahieren, auf keinen Fall aber aus dem Besuch einer Opernaufführung oder dem Anhören einer Aufnahme. Auf der anderen Seite öffnet unser Ansatz Räume für Details anderer Art, zum Beispiel für Betrachtungen über orchestrale Effekte und Klänge, vor allem jedoch über die Singstimme, ihre Substanz, Färbung und Kraft. Ob das etwas genützt, ob unsere Beschränkung auf unser Hörgedächtnis uns tatsächlich in die Lage versetzt hat, überzeugender über die Oper als Erlebnis und Klangereignis zu sprechen, muss natürlich dem Urteil des Lesers überlassen bleiben. Auch wenn diese Methode hin und wieder zu Frustrationen führte und wir gelegentlich an unsere Grenzen stießen (gegen Ende der Arbeit war uns einmal eine Dreiertakt-Passage aus dem zweiten Akt des Tristan als Hör-Erinnerung präsent, aber die notierte Taktvorzeichnung wollte uns partout nicht einfallen), blieben wir insgesamt doch unserem Entschluss treu und erlebten das daraus resultierende Experiment durchgehend als herausfordernd und befreiend.

Eine wichtige Nebenwirkung unseres Verzichts auf Partituren zugunsten des Vertrauens auf unser musikalisches Gedächtnis ist die, dass in dem Buch überwiegend von Opern die Rede ist, die einen festen Platz im gegenwärtigen Repertoire haben. Vor 50 Jahren hätte sich diese Einschränkung sehr viel drastischer ausgewirkt, als sie es heute tut, da uns erheblich mehr Opern zugänglich sind – mindestens in aufgezeichneter Form – als je zuvor. Trotz dieser stark erweiterten Auswahl sind die Komponisten, die wir in dem Buch am ausführlichsten abhandeln, genau die, deren Werke im Rahmen des globalen Repertoires heute am häufigsten aufgeführt werden. In der Reihenfolge ihrer numerischen Präsenz: Verdi, Mozart, Puccini, Wagner, Rossini, Donizetti, Strauss, Bizet und Händel. Wir haben auf die künstlerische (bzw. künstliche) Übung verzichtet, eine gewisse Zahl von Opern außerhalb des gängigen Repertoires aufzuspüren und ins rechte Licht zu rücken. Vielmehr haben wir uns bemüht, Arten und Weisen des Hörens und Verstehens zu präsentieren, die, so hoffen wir, über die gewohnten nationalen Traditionen hinaus auch für die Erkundung der reichen Opernschätze fruchtbar gemacht werden können, die sich an vielen unvermuteten Orten heben lassen. Andererseits widmen wir unsere Aufmerksamkeit doch auch mehreren Komponisten, deren historische Bedeutung um vieles größer ist als ihre Präsenz in den Opernhäusern von heute – die klarsten Fälle sind Monteverdi und ganz besonders Meyerbeer, dessen einflussreichste Werke heute nur noch ganz selten aufgeführt, hier aber prominent herausgestellt werden. Wir haben uns bemüht, Komponisten (oder gar ganze Genres) vorzustellen, die einstmals berühmt waren, heute aber vergessen sind, und zu erklären, weshalb ihr Ruhm verblasst ist. Wir waren, anders gesagt, bestrebt, unserer Verantwortung als Historiker gerecht zu werden. Auf der anderen Seite ist es unleugbar, dass die oben erwähnten neun Komponisten den Gang der Operngeschichte in höchst unterschiedlicher Intensität beeinflusst haben, von vernachlässigbar wenig (Händel, Mozart) bis zu überwältigend (Wagner, Rossini); eine bevorzugte Beschäftigung mit diesen neun führt, so gesehen, zwangsläufig zu einer Verzerrung der Historie. Mindestens können wir uns zugutehalten, dass unsere Auswahlkriterien zu einer Darstellung der Operngeschichte geführt haben, die eine erhebliche Anzahl von Werken ins rechte Licht rückt (die Opern von Puccini und die des späteren Strauss sind die augenfälligsten Beispiele), die in den meisten musikgeschichtlichen Darstellungen, selbst in denen aus neuerer Zeit, ignoriert werden.

Dieses Buch, das Produkt von vier Händen, hat eine komplizierte Entstehungsgeschichte. Wir hatten schon vorher gemeinsam Artikel geschrieben und ein Buch herausgegeben und wussten, dass die Zusammenarbeit als solche funktionieren würde. Unsere besondere Kombination aus Interessen und Spezialwissen richtete vermutlich keinen Schaden an und mag in mancher Beziehung ein Spiegelbild jener kollaborativen Energien sein, die seit jeher die Triebkraft für das Objekt unserer Studien geliefert haben. Bald wurde uns freilich klar – etwas überraschend in diesem Zeitalter der digitalen Kommunikation in Echtzeit –, dass wir uns am selben Ort befinden und uns täglich von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzen mussten, um das Buch ernsthaft in Gang zu bringen. Noch überraschender war, dass wir in der Folge diese persönlichen Gesprächskontakte weiterführen mussten, um mehr als bloß triviale Ausformulierungen des Inhalts zustande zu bekommen. Wenn man Tausende Kilometer voneinander wohnt und wenn das Schreiben eines solchen Buches niemals die einzige berufliche Tätigkeit sein kann, die man ausübt, wirft das unweigerlich logistische Herausforderungen auf. Wir sind aber überzeugt, dass die persönlichen Begegnungen sowohl dem Projekt als auch unserer Zusammenarbeit zugutegekommen sind. Im Verlauf von fast 30 Jahren sporadischer Teamarbeit sind wir oft gefragt worden – manchmal ungläubig –, wie wir es schaffen, zusammen zu schreiben. Die meisten Leute nehmen an, dass wir uns absprechen, wer welche Kapitel übernimmt, dass etwa einer von uns Italien und der andere Deutschland bearbeitet, während Frankreich und dann das bisschen Rest in kleinere Portionen aufgeteilt werden. In Wirklichkeit ist unser modus scribendi ein ganz anderer. Wir schreiben – ob es nun mehr nützt oder mehr schadet – letzten Endes fast alles gemeinsam. Wir fangen mit einem Absatz an, den wir uns zuwerfen und der, so scheint es, einen zweiten und dritten Absatz nach sich zieht; das Ganze treibt dann weitere Knospen und Zweige aus. Dank dieser eigentümlichen Arbeitsweise findet sich in dem Buch kaum ein Satz, an dem nicht die Fingerabdrücke beider Autoren haften (das gilt auch für diesen Satz). Der ursprüngliche Verfasser dieses oder jenes Abschnittes hat sich in den meisten Fällen vollständig verflüchtigt und einer amalgamierten Stimme Platz gemacht, deren Persönlichkeit sich, so scheint es uns, allmählich und ziemlich geheimnisvoll herauskristallisiert.

Eine Zusammenarbeit dieser Art benötigt viele Voraussetzungen, um funktionieren zu können, nicht zuletzt die Bereitschaft, die persönliche Kontrolle über Dinge preiszugeben, die den meisten Autoren, sogar solchen von Sachbüchern, überaus wichtig sind: Vorurteile und Meinungen, feste Überzeugungen, individuelle Vorlieben bei Orthografie und Vokabular und vieles mehr, was persönlichen Stil ausmacht. Aber genau diese Preisgabe kann eben auch befreiend und stimulierend sein.

Während der Arbeit an diesem Buch mussten wir oft die Hilfe Dritter in Anspruch nehmen, besonders von Kollegen und Kolleginnen, die über Spezialwissen auf den vielen uns weniger vertrauten Gebieten verfügen, die wir hin und wieder durchquerten. Viele von ihnen sind in der Bibliografie und in den Anmerkungen gebührend vertreten. Einige erwiesen uns jedoch die Gunst, Teile des im Entstehen begriffenen Manuskripts zu lesen. Danke an diese Schar freundlicher Gesprächspartner: Harriet Boyd, Chris Chowrimootoo, Elaine Combs-Schilling, Lynden Cranham, Martin Deasy, John Deathridge, Marina Frolova-Walker, Katherine Hambridge, Matthew Head, Ellen Lockhart, Susan Rutherford, Arman Schwartz, Emanuele Senici, David Trippett, Laura Tunbridge, Ben Walton und Heather Wiebe. Sie alle lasen das eine oder andere Kapitel (einige auch mehrere Kapitel) und versahen sie großzügig mit Anmerkungen. Flora Willson leistete uns unschätzbare Hilfe bei der Beschaffung von Bildern, und während sie das tat, las sie große Teile des Buches und teilte uns ihre kritischen Gedanken dazu mit. Eine besondere Dankesschuld haben wir bei Gary Tomlinson abzutragen, der so freundlich war, uns an seinem beispiellosen Wissen über die Anfänge der Oper teilhaben zu lassen, bei der Gelegenheit gleich auch viele der restlichen Kapitel durchlas und dabei willkommene Spuren seiner einzigartig umfassenden Beschlagenheit legte. Ganz großes Glück haben wir auch mit unseren Verlagslektoren gehabt: Stuart Proffitt bei Penguin und Maribeth Payne bei Norton. Ihre Geduld und ihre Beharrlichkeit waren ebenso bemerkenswert wie ihre intellektuelle Anteilnahme an dem ganzen Unterfangen. Was Stuart betrifft, so war er praktisch von der ersten Minute an beteiligt, und seine Mitarbeit schloss außerordentlich eingehende editorische Anmerkungen und Vorschläge ein, die inspirierend genug waren, um uns zu einer grundlegenden Überarbeitung unseres ersten Entwurfs zu motivieren.

Geschrieben worden ist dieses Buch zum größten Teil am Institute for Advanced Study der Princeton University, das eigentlich für seine strubbeligen Mathematiker und Physiker berühmt ist, aber auch ein kongeniales und gastfreundliches Umfeld für opernphilosophische Höhenflüge abgibt. Unser besonderer Dank geht an den Direktor des Instituts, Peter Goddard, dafür dass er uns beiden immer wieder für längere Zeiträume die großzügigste Gastfreundschaft gewährte, und an unseren langjährigen Freund Walter Lippincott, einen Stammgast des Instituts, dessen Begeisterung für Oper und Geselligkeit keine Grenzen kennt. Zu guter Letzt wollen wir auch denen danken, die in all den Jahren unsere Studenten waren. Unsere Graduiertenseminare und deren Ableger – jene Hybride aus Lesen und Schreiben, in denen Leute unterschiedlichen Alters Ideen austauschen und manchmal auch welche gebären, eine Gesellschaft en miniature mit allen ihren Kompliziertheiten, aber auch mit all ihrer Kommunikationsfreude – leisteten einen wesentlichen befruchtenden Beitrag zu den in diesem Buch entfalteten Ideen.

Ein potentiell schwieriger Moment – erst recht im Falle einer so engen Zusammenarbeit – kommt mit der Frage der Widmung. Bei manchen literarischen Gemeinschaftsproduktionen finden sich Widmungen, die auf eigenartige Weise Einblicke eröffnen. F. R. und Q. D. Leavis widmeten ihr gemeinsames Buch über Charles Dickens stolz «einander». Sie setzten freilich ihre Verfassernamen unter die einzelnen Kapitel, was diese verwirrende, nach innen gewendete Blickrichtung rechtfertigen mag. Wir wurden uns indessen in dieser Frage auf Anhieb einig. Wir sind uns schon seit langem der Tatsache bewusst, dass unsere Fähigkeit, gut zusammenzuarbeiten, nicht zuletzt mit der Tatsache zu tun hat, dass wir als heranwachsende Autoren sehr vielen identischen Einflüssen ausgesetzt waren. An erster Stelle ist in diesem Zusammenhang Joseph Kerman zu nennen. Seine Monografie Opera as Drama, geschrieben in den 1950er Jahren, war auch noch für unsere Generation das Opernbuch schlechthin – und ist bemerkenswerterweise bis heute ein vielgelesenes und herausforderndes Werk geblieben. Joe Kerman persönlich ließ uns beiden in unseren akademischen Lehrjahren (wie so vielen Anderen) seine wohlwollende Betreuung zuteilwerden. Er publizierte unsere jeweils ersten wissenschaftlichen Essays in der Zeitschrift 19th-Century Music und verpasste unserem ersten gemeinsamen Buch seinen legendären redaktionellen Schliff. Sein Geist ist in allen Kapiteln dieses Buches spürbar. Wenn wir auch nur auf einigen Seiten dem Esprit und der kritischen Schärfe nahekommen, durch die sich Joseph Kermans Schriften über die Oper auszeichnen, ist dieses Buch zumindest aus Sicht seiner Autoren an ein happy end gelangt.

Carolyn Abbate, Princeton, New Jersey (40° 21′ 7.94″ N, 74° 39′ 25.46″ W)

Roger Parker, Havant, Hants (50° 51′ 0″’ N, 0° 58′ 48″ W)

Entfernung: 5605 km

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I.
Einleitung

Die Oper ist ein Theaterstück, bei dem die meisten Figuren (oder alle) die meiste (oder die ganze) Zeit singen. In diesem sehr offenkundigen Sinn ist die Oper kein realistisches Genre, und tatsächlich galt sie über weite Strecken ihrer vierhundertjährigen Geschichte hinweg vielen Leuten als exotisch und seltsam. Dazu kommt, dass es fast immer absurd teuer ist, eine Oper auf die Bühne zu bringen bzw. eine ihrer Aufführungen zu besuchen. Zu keiner Zeit in der Geschichte der Oper hat es eine Gesellschaft fertiggebracht, die horrenden Kosten für Opernproduktionen ohne weiteres aufzubringen. Warum aber lieben dann so viele Menschen die Oper so abgöttisch? Warum widmen sie ihr Leben der Aufgabe, Opern auf die Bühne zu bringen, über Opern zu schreiben, Opernaufführungen zu besuchen? Warum unternehmen manche Opernfans halbe Weltreisen, um eine neue Produktion zu sehen oder die Stimme ihres Lieblingssängers oder ihrer Lieblingssängerin zu hören, und geben immense Summen für dieses flüchtige Privileg aus? Und weshalb ist die Oper das einzige klassische Musikgenre, dem es noch gelingt, neues Publikum in nennenswerter Größenordnung anzuziehen, und dies trotz der Tatsache, dass der Nachschub an neuen Werken, der einst ihr Lebenselixier war, in den letzten hundert Jahren fast zum Erliegen gekommen ist?

Diese Fragen beziehen sich auf die Oper, wie sie sich heute darstellt – auf das Bild, das sie seit Anfang des 21. Jahrhunderts bietet. Wir werden in den Kapiteln dieses Buches eine Menge über die Geschichte der Oper erzählen, über die Entwicklung, die sie in den vier Jahrhunderten ihres Daseins genommen hat; ein Schwerpunkt unseres Interesses liegt aber auch auf der Gegenwart, auf der Wirkung, die Opernaufführungen auf Zuschauer in aller Welt nach wie vor ausüben. Unser Ziel ist es, ein klares Bild von einer Kunstform zu gewinnen, deren populärste und langlebigste Werke fast allesamt in einer fernen europäischen Vergangenheit entstanden und somit Produkte einer Kultur sind, mit der unsere heutige Kultur nicht mehr allzu viel gemein hat, die aber auf viele von uns nach wie vor eine spürbare Faszination ausübt und Bedeutung für unser Leben besitzt. Opern können uns verändern: physisch, emotional, geistig. Wir wollen erkunden, warum das so ist.

Text und Musik

Immer wieder wird gesagt, bei der Oper finde, da sie im Grunde genommen gesungenes Theater sei, ein Kampf zwischen Text und Musik statt. Ganze Opern sind über diesen vermeintlichen Kampf geschrieben worden. Eine der berühmtesten aus dieser Rubrik ist (zumindest den Geschichtsbüchern zufolge) Antonio Salieris kleine komische Oper Prima la musica, poi le parole («Erst die Musik, dann die Worte»), die ihre Premiere 1786 im opulenten Ambiente der Wiener Orangerie feierte, eines Luxus-Gewächshauses mit Wintergarten im Park des Schlosses Schönbrunn. Ein Dichter und ein Komponist erhalten den Auftrag, innerhalb von vier Tagen eine Oper zu schreiben. Der Dichter findet es unwürdig, auf eine bereits fertige Musik einen Text machen zu müssen, und beklagt sich darüber; der Komponist entgegnet, die Bedenken des Dichters seien banal – auf die Texte achte sowieso kein Mensch. Die Grundpositionen, die diesen Streit definieren, sind in der Geschichte der Oper immer wieder eingenommen, die Frontlinien immer wieder abgesteckt worden. Richard Strauss’ Capriccio, uraufgeführt an der Münchner Staatsoper in einem der dunkelsten Jahre der deutschen Geschichte, 1942, behandelt das gleiche Thema aus einer verständlicherweise etwas pessimistischeren Warte.

Auf den ersten Blick mag uns diese Attitüde einer fortbestehenden Rivalität zwischen Text und Musik seltsam erscheinen: Um die Geschichte zu erzählen, braucht man schließlich den Text, und die Musik ist es, die dieser Geschichte eine ergänzende Wirkung und Aura verleiht. Gewiss ist es kaum verwunderlich, dass Librettisten und Komponisten hin und wieder Meinungsverschiedenheiten haben (und Tatsache ist, dass das relative Ansehen ihres jeweiligen Metiers im Verlauf der Jahrhunderte erheblichen Schwankungen unterworfen war). Andererseits sind sie aufeinander angewiesen, und das war nie anders. Wir brauchen allerdings nur ein bisschen nachzubohren, dann wird sichtbar, weshalb der Antagonismus zwischen Text und Musik oft so ausgeprägt und emotional so aufgeladen ist. Ein Libretto umfasst mindestens zwei separate Arbeitsfelder. Beim ersten geht es um das narrative Element, im Wesentlichen um die Handlung und die handelnden Figuren, im anderen um die Umsetzung der narrativen Idee in Texte, in (fast immer poetische) Wörter und Sätze. Während der erstgenannte Bereich über die Lebensdauer einer Oper hinweg in der Regel beständig bleibt, werden im zweiten häufig weitreichende Veränderungen vorgenommen. Versdichtungen für die Oper, wie sie im Libretto festgeschrieben werden, genießen nur selten den gleichen exquisiten Nimbus wie literarische Werke, deren Integrität auf allen Ebenen respektiert wird. Das fängt schon mit der fortwährenden hitzigen Diskussion darüber an, ob Opern in andere Sprachen übersetzt werden sollen, so dass die Menschen in einem anderen Land sie in ihrer Muttersprache erleben können. Diejenigen, die für Übersetzungen plädieren, vertreten implizit den Standpunkt, der erste Arbeitsbereich des Librettos, der die Handlung und die Figuren festlegt, sei wichtiger als der zweite, der die Handlung in konkrete Texte gießt. Zu einer zusätzlichen Verunklarung der Debatte trägt ein weiterer Umstand bei, auf den der Komponist in Salieris Komödie ziemlich brutal hinweist: Ein Text, der vertont wird, verliert dadurch einen nicht geringen Teil seiner semantischen Stringenz – ein Verlust an Bedeutung, der bei der Oper extreme Formen annehmen kann.

Gründe für diesen Bedeutungsverlust gibt es viele. Der musikalische Rahmen – das Orchester mit seinen potentiell lautstarken Instrumenten wie auch die Art der Musik, die gespielt wird – kann die menschliche Singstimme begleiten, aber auch überwältigen. Komponisten können Text als eine Art Bindemittel einsetzen: Beim Koloraturgesang kann es leicht vorkommen, dass kaskadierende vokale Verzierungen das textliche Element auf einen bloßen Vokal reduzieren und der Stimme des Sängers oder der Sängerin damit die Rolle eines Musikinstruments zuweisen. Darüber hinaus kann die Stimme selbst, namentlich so wie sie in der Oper in Erscheinung tritt, auf ihre ganz eigene Weise zur Auslöschung des semantischen Gehalts beitragen. Die Anforderungen, die Opernarien an die menschliche Stimme in Bezug auf Lautstärke und Stimmumfang stellen, sind so, dass der Aspekt der Verständlichkeit manchmal zurückstehen muss. Der Text wird undeutlich, ganz gleich, in welcher Sprache gesungen wird. Selbst in Sprachen, die uns wohlvertraut sind, kann es ein frustrierendes Erlebnis sein, einer Oper zu lauschen: Mag sein, dass einzelne Wörter oder Satzbruchteile – «la vendetta», «das Schwert», «j’ai peur», «I am bad» – kurz über die Schwelle der Verständlichkeit treten, während das, was folgt, wieder von der musikalischen Dröhnung überspült und verschluckt wird. Opernliebhaber mögen lange Passagen eines Librettos auswendig kennen, so dass sie Textteile, die im akustischen Tohuwabohu untergehen, aus dem Gedächtnis ergänzen können. Das heißt aber nicht unbedingt, dass sie den von ihnen memorierten Text tatsächlich verstehen; etwas Ähnliches gilt für Opernsänger, die manchmal ihre Partien nur phonetisch lernen und vielleicht nur eine ungefähre Ahnung davon haben, was sie gerade singen.

Manche Sänger und Sängerinnen artikulieren Text wesentlich deutlicher als andere – aus dem deutschen Sprachraum wäre Franz Mazura als Vorbild zu nennen, aus dem italienischen Giuseppe di Stefano. Doch die Gegenbeispiele – Sänger und Sängerinnen, die berüchtigt waren oder sind für ihre nuschelige Aussprache, sind vermutlich zahlreicher vertreten; selbst Stars wie Joan Sutherland können dieser Kategorie angehören. (Dass wir als Beispiele für deutliches Artikulieren zwei Männer und für das Gegenteil eine Frau nennen, die für ihren kunstvollen Koloraturgesang bekannt ist, ist kein Zufall: Je höher die gesungenen Töne und je artistischer die vokalen Verzierungen sind, desto geringer ist die Chance auf Verständlichkeit.) Manchen Opernbesuchern macht es nichts aus, wenn Texte unverständlich bleiben, andere wollen jedoch unbedingt das Gefühl haben, dass der Text einer Arie mit Bedacht, Leidenschaft und Überzeugung artikuliert wird, selbst wenn sie nicht immer erkennen oder verstehen, was sie hören. Die letztgenannte Position vertritt mit Vehemenz der Historiker Paul Robinson, der wie folgt argumentiert: Es mag häufig vorkommen, dass der Wortlaut des Librettos wenig Einfluss auf den Genuss hat, den eine Oper dem Publikum bereiten kann, aber andererseits steht fest, dass drei Stunden Oper, in denen die Figuren nur «la, la, la, la» sängen, unerträglich wären.[1] Anders ausgedrückt: Es ist von großer Wichtigkeit, dass in die Musik einer Oper Texte mit Bedeutung eingebettet sind, selbst wenn der Zuhörer nicht immer in der Lage ist, die Texte in dem Moment, da sie gesungen werden, zu erkennen und zu verstehen.

Die Debatte über die Rolle des Textes beim Erleben einer Oper hat in jüngster Zeit eine weitere, ganz und gar zeitgenössische Wendung genommen, und zwar in Form einer endlosen Diskussion über den Nutzen von Texteinblendungen. Wenn ein Opernhaus ein Werk in der Originalsprache präsentiert, sollte es dem Publikum übersetzte Texte anbieten (sei es auf einem Display über der Bühne oder auf Bildschirmen an der Rückenlehne des Vordersitzes), so dass es die Chance hat, alles mitzulesen? Manche begrüßen diese Möglichkeit als eindeutigen Fortschritt, der uns Zuhörern den zweiten Arbeitsbereich des Librettos zurückgibt, in dem es um Wortlaut und Bedeutung geht. Andere sprechen sich leidenschaftlich dagegen aus mit dem Argument, eine zu aufmerksame Beschäftigung mit dem semantischen Aspekt des Textes würde die Konzentration auf die wichtigsten Facetten des Erlebnisses Oper beeinträchtigen. Wie der britische Kritiker Rodney Milnes es ausdrückte: «Man geht in die Oper, um zuzuhören und zuzuschauen, nicht um zu lesen.» Bevor es Texteinblendungen gab, wurde von einem Opern-Neuling oft erwartet, dass er Hausaufgaben machte: Sich vorab kundig zu machen, sowohl über die Handlung als auch über den Wortlaut der Texte, galt als notwendige Vorbereitung auf den Genuss des Opernerlebnisses. («Man liest vorher», schreibt Milnes.) Betrachtet man die Sache historisch, so repräsentiert Milnes freilich eine doch ziemlich neuzeitliche Haltung. Tatsache ist zum einen, dass das Mitlesen des Librettos während der Vorstellung vom 17. bis zum 19. Jahrhundert in vielen Opernhäusern der Normalfall war. Samuel Sharp beklagte 1767 in seinen Reisenotizen aus Neapel den Mangel an Kerzen im Zuschauerraum: «So dunkel es in den Logen ist, es wäre noch dunkler, wenn nicht diejenigen, die darin sitzen, auf eigene Kosten ein paar Kerzen aufgestellt hätten, ohne die es unmöglich wäre, die Oper mitzulesen.»[2] Das galt erst recht bei der Aufführung fremdsprachiger Werke: Als im London des 18. Jahrhunderts Händels italienische Opern gegeben wurden, erschienen für die Aufführung zweisprachige Ausgaben des Librettos. Das Mitlesen des Librettos war zum anderen nur eine von mehreren dem Opernbesucher zu Gebote stehenden Aktivitäten – er konnte während der Vorstellung auch Karten oder Schach spielen, dinieren, plaudern, die anderen Besucher begaffen oder in den sogenannten loges grillées («vergitterten Logen») womöglich auch Dinge tun, über die man als Gentleman nicht sprach. Eine ungeteilte Aufmerksamkeit für das, was auf der Bühne passierte – die Sichtweise hinter der Mahnung «Man geht in die Oper, um zuzuhören und zuzuschauen» –, entsprach also nicht der historischen Norm; über weite Strecken der Operngeschichte hinweg richtete sich die Aufmerksamkeit derjenigen, die eine Aufführung besuchten, eben nicht ausschließlich auf das Bühnengeschehen – und erst recht nicht auf Schriften, die damit etwas zu tun hatten, wie etwa ein Büchlein mit einer Übersetzung des Librettos.

Die Debatte darüber, wie wichtig es ist, die Handlung und die Texte einer Oper zu verstehen, kann sogar ethische Untertöne zum Klingen bringen. Die Vorstellung, der ästhetische Genuss hänge davon ab (oder lasse sich dadurch steigern), dass man sich vorher möglichst viel Wissen aneignet, taucht in der Rezeptionsgeschichte der Oper immer wieder auf. Als Carl Maria von Webers Der Freischütz erstmals auf Französisch aufgeführt wurde (im Paris der frühen 1840er Jahre), verfasste Richard Wagner, weil er den unwissenden Parisern nicht zutraute, sich an diesem Werk erfreuen zu können, einen gelehrsamen Aufsatz, in dem er ihnen die Hintergründe, die Handlung und die kulturelle Bedeutung dieser Oper erläuterte.[3] Die Tatsache, dass das Pariser Publikum die Oper in französischer Sprache hören würde, bot in den Augen Wagners also keine Gewähr dafür, dass es den Text – und damit die Handlung und damit wiederum die Bedeutung des Werks – verstehen würde und das ganze gebührend genießen konnte. Eingeblendete Texte scheinen die Art Mühen der Vorbereitung, die Wagner den Pariser Opernfans verschrieb, überflüssig zu machen; sie verschaffen den Besuchern durch die Verständlichkeit der Worte einen leichten Zugang zu der erzählten Geschichte und damit so etwas wie einen unmittelbaren kulturellen Anschluss, ein Gefühl des Dazugehörens.

Andererseits ist das Verstehen bestimmter Textstellen vielleicht kein so elementarer Bestandteil des Erlebnisses Oper, wie wir vermuten mögen. Gegner der Texteinblendung behaupten, ein solches Textverstehen könnte sogar die Wahrnehmung der Oper verzerren und wäre damit kontraproduktiv gegenüber der idealen Mission der Oper, den Zauber der Musik und des Gesangs zu entfalten. Sie mögen ein Stück weit Recht haben; doch auch ihre Meinung findet keine durchgängige Bestätigung in der Geschichte der Oper. Wir werden im Folgenden sehr viel über die Phänomene des Versinkens und der Ablenkung schreiben, doch wird dabei bald deutlich werden, dass im geschichtlichen Maßstab das Theaterpublikum diese Erfahrungen zu unterschiedlichen Zeiten auf unterschiedliche Art und Weise gemacht hat. Von bestimmten Facetten der Oper nehmen wir heute wie selbstverständlich – und unkritisch – an, dass sie unsere Seele gefangen nehmen (womit gewöhnlich die musikalischen Komponenten gemeint sind), während andere unserer Meinung nach Ernüchterung oder Unaufmerksamkeit erzeugen (etwa unpoetische Texte oder eine mangelhafte Darbietung). So ist es vielleicht zu erklären, dass in unterschiedlichen geschichtlichen Zeiten die Idee von der Oper als (um mit Wagner zu sprechen) Gesamtkunstwerk – als ein multimediales Erlebnis (Text, Musik, Bühnenbild), eine simultane Erfahrung verschiedener Formen künstlerischen Ausdrucks – so hoch gehandelt wurde.

Wir können den Blick für dieses Thema weiter schärfen, indem wir uns einige Beispiele real erfolgter Angriffe auf die integrale Verbindung von Text und Musik vornehmen. Wir sprechen dabei nicht über Opernaufführungen in anderen Sprachen als der des Originals, auch wenn man daran plastisch aufzeigen könnte, dass der Wortlaut des originalsprachlichen Librettos oft wenig Wertschätzung genießt. Es gibt wohlbekannte Fälle, in denen für eine Arie ein völlig neuer Text zur vorhandenen Musik geschrieben wurde und die betreffende Nummer in ihrer neuen Fassung unverschämt großen Erfolg hatte. Das beweist, dass zumindest manche Opernmusik offen für mehr als einen Inhalt ist, dass etwa eine für eine Arie über (sagen wir mal) den Verlust eines geliebten Menschen geschriebene Musik, die die geschilderte Gefühlslage denkbar vollkommen zum Ausdruck und den Text nach allen Regeln der Kunst zur Geltung bringt, mit einem Text über ein ganz anderes Thema ebenso gut funktionieren kann. Berühmte Beispiele hierfür finden sich in den Opern Rossinis, das bemerkenswerteste vielleicht in seiner Umarbeitung der italienischen Fassung von Mosè in Egitto (1818) für die Pariser Bühne als Moïse et Pharaon (1827). In Mosè singt Elcia (Sopran) die cabaletta «Tormenti! affanni! e smanie!» über die Qualen, die ihr verwundetes Herz martern. In der französischen Fassung findet sich die Arie (mit einigen Modifizierungen) wieder, wird aber von einer anderen Figur gesungen, die darin voller Freude eine glückliche Wendung der Geschichte besingt. Die Eröffnungszeile lautet nunmehr: «Qu’entends-je! Ô douce ivresse!» («Was höre ich! O süßer Taumel!») Wer sich versucht fühlen sollte zu glauben, ein solcher Tausch sei nur in der italienischen Oper und nur in einem bestimmten Stadium ihrer Entwicklung möglich gewesen, ist aufgefordert, zu erklären, wie eine Musik, die Wagner 1856/7 entwarf und die im dritten Akt von Siegfried landete, vom Komponisten mit dem Vermerk «dritter Akt. Oder Tristan» versehen werden konnte, was zeigt, dass Wagner glaubte, diese Musik passe ebenso gut in die eine wie in die andere Oper.[4] Eine komplette textliche Runderneuerung einer Arie unter Beibehaltung der Musik ist aber noch keineswegs der extremste Fall. Im frühen 19. Jahrhundert durchlebte das Libretto von Mozarts Singspiel Die Zauberflöte (1791) eine Phase, in der es ganz unpopulär war – man fand es albern, ja lächerlich. Die Musik hingegen hielt dem Zeitgeschmack stand, zumal um diese Zeit die Kanonisierung Mozarts bereits begonnen hatte. Die Lösung des vermeintlichen Problems bestand darin, der Musik ein vollständig neues Libretto überzustülpen – neue Handlung, andere Figuren, neue Texte. Anton Wilhelm Florentin von Zuccalmaglio (1803–1869), ein literarischer Tausendsassa, dessen Lebenswerk mehrere Bände Lyrik und Volksliedersammlungen einschloss, schrieb neue Libretti für mehrere Opern Mozarts. 1834 arbeitete er Die Zauberflöte um in Der Kederich. («Kederich» ist der Name eines Felsvorsprungs hoch über dem Rhein.) Schauplatz der umgeschneiderten Oper ist nunmehr der Fluss, zu den handelnden Figuren gehören Wassernixen, die Rede ist von einem «Nibelungenlied», und der Protagonist ist Rudhelm (der verwandelte Tamino), ein aus dem Heiligen Land zurückgekehrter Kreuzfahrer. Aus dem Sprecher (dem Priester, der im ersten Akt der Zauberflöte Tamino die Welt erklärt) ist «Sibo, Herr zu Lorch» geworden, und Pamina heißt jetzt «Garlina» und ist die Tochter Sibos und nicht mehr die der Königin der Nacht. Die Königin wird zu «Lore von Lurlei», einer in weißen Schleiern umhergeisternden Sylphe.[5] Im Großen und Ganzen funktioniert dieses alternative Libretto ziemlich gut. Soll man diejenigen, die sich diese neue Oper ausdachten oder sie sich mit Genuss anschauten, verurteilen, oder könnte es sein, dass sie etwas uns inzwischen Abhandengekommenes über die Wirkungsweise von Opern wussten?

Diese Frage ist vor allem deshalb interessant, weil sie uns wieder in eine mittlerweile fast 200 Jahre zurückliegende historische Epoche führt, deren Denken in Sachen Kultur nach wie vor Überraschungen für uns birgt. Wir müssen uns fragen, weshalb wir über Der Kederich ungläubig den Kopf schütteln, weshalb unsere Verlustängste und unser Kulturpessimismus die Darbietung einer Oper zu einem fast sakralen Vorgang gemacht haben, behütet von Vorschriften, die unsere Ehrfurcht vor dem Werk bezeugen, eine Ehrfurcht, die in fast allen Fällen den Werken in der Zeit ihrer Entstehung nicht zuteilwurde. Das Nachdenken darüber könnte uns ermutigen, radikale Fragen zu stellen über die hypothetische Verschmelzung (oder perfekte Übereinstimmung) zwischen den Komponenten der Oper auch im Falle kanonisierter Meisterwerke, womit wir wieder beim Thema Gesamtkunstwerk angelangt wären. Eine mögliche Antwort auf diese Fragen könnte der Vorschlag sein, bei historisch fundierten Aufführungen alter Opern weitaus größere schöpferische Freiheiten gegenüber dem «offiziellen» Libretto – einen sehr viel weniger ehrfürchtigen Umgang mit ihm – zu gestatten, als wir dies heute erleben. Fast alle Opernkomponisten des 18. Jahrhunderts schrieben «Austauscher», nicht nur für ihre eigenen Opern, sondern auch für die anderer Komponisten. Wenn ein Werk mit neuen Sängern und Sängerinnen wiederaufgeführt wurde, war es für die Komponisten selbstverständlich, einige der alten Arien zu streichen und dafür neue zu schreiben, die den gesanglichen Möglichkeiten der neuen Darsteller besser entsprachen. Wer würde so etwas heute wagen? Es ist tabu, selbst bei Opern, in deren Entstehungszeit es routinemäßig praktiziert wurde (was auch und gerade für die Opern Mozarts gilt).

Die musikalische Seite der Oper im engeren Sinn ist ebenfalls in einer Weise zerspalten, auf die wir im Verlauf dieses Buches häufig zu sprechen kommen werden. Auf der einen Seite gibt es das, was wir die «Musik des Komponisten» nennen könnten, nämlich das, was in der Partitur steht, ein Dokument, das wir auf dieser Seite abdrucken könnten und das vor allen Dingen als Grundlage einer Aufführung für Gesang mit Klavierbegleitung in unserem Wohnzimmer dienen könnte. Vor der Ära der Tonaufzeichnung waren solche Darbietungen im Wohnzimmer oder Salon die gängigste Gelegenheit, Opernmusik außerhalb des Opernhauses zu genießen. Diese Partitur, die Musik des Komponisten, ist eine ganz, ganz wichtige Blaupause – verkörpert aber nicht das, was die meisten Menschen unter einer Oper verstehen und an ihr lieben. Sie liefert uns allenfalls eine Vorahnung vom Erlebnis Oper oder eine Erinnerung daran. Um dieses Erlebnis Wirklichkeit werden zu lassen, bedarf es vieler weiterer Zutaten – des Klangs eines Orchesters, des Anblicks einer Bühne usw. Ein noch bedeutenderes fehlendes Element ist die menschliche Stimme, die besondere, unvergleichliche Qualität unserer Stimmbänder, unseres Kehlkopfs mit der darüber gespannten Membran, die Luft in musikalische Schwingungen zu versetzen. Die Stimme ist ein sehr viel schwierigeres Thema als die «Musik des Komponisten», auch weil man die Stimme nicht als Zeichenfolge auf Papier abbilden kann. Das darf uns aber nicht abschrecken. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass die menschliche Stimme fast immer im Mittelpunkt des Erlebnisses Oper gestanden hat und steht. Weil das so ist, werden wir in diesem Buch, auch wenn wir häufig genug, wie es sich für Historiker geziemt, über die «Musik des Komponisten» reden, nie die Tatsache aus den Augen verlieren, dass Stimmen als Träger der Musik zu Recht für die meisten von uns ein, wenn nicht das Wesenselement des Erlebnisses Oper sind.

Ein Beispiel mag hier weiterhelfen. Am Ende des dritten Aktes von Verdis Il trovatore (1853) kommen in Manricos cabaletta «Di quella pira» am Ende mehrere hohe Cs vor, obwohl sie eigentlich nicht zum Rest der Partie passen und obwohl man seit langem weiß, dass sie nicht auf den Komponisten zurückgehen. In keiner Partitur aus der Zeit der Erstaufführung von Il trovatore findet sich eine Spur davon. Trotz dieser Tatsache sind diese hohen Cs die berühmtesten Glanzpunkte der Oper. Als der Dirigent Riccardo Muti, der dafür bekannt ist, dass er absolut werktreu arbeitet, die Saison 2000/2001 in der Mailänder Scala mit Il trovatore eröffnete, wies er den Tenor an, die ungehörigen hohen Cs auf keinen Fall zu singen. Der Tenor fügte sich zitternd. Die loggionisti, Opernfans, die sich in den oberen Rängen des Saals einnisten und alle Aufnahmen der Oper auswendig kennen, schäumten vor Wut und fluteten die Bühne mit lauten «Vergogna»-(«Schande»-)Rufen.[6] Weshalb war so viel Leidenschaft im Spiel? Ein schalkhafter Kritiker hatte zuvor versucht, das hohe C zu verteidigen: Wenn es nicht von Verdi stammte, dann solle man, schlug er vor, darin am besten ein Geschenk des italienischen Volkes an Verdi sehen. Es wäre einfach, dies als Sentimentalität abzutun oder gar als bewusste Missachtung der Absichten des Komponisten. Andererseits kann uns die Formulierung des Kritikers auch etwas Grundlegendes über das Erlebnis Oper verraten, nämlich dass Opernfans offenbar das Bewusstsein entwickeln können, dass sie ein Anrecht auf bestimmte Töne haben – oder vielmehr auf bestimmte extreme stimmliche Leistungen, die diese Töne erfordern.

Die emotionale Resonanz, die der Operngesang beim Zuhörer auslöst, ist eine Erfahrung, die sich schwer in Worte fassen lässt, die aber gerade deshalb eine unheimliche Wucht entfalten und ein Gefühl der Hingabe erzeugen kann, das Anderen (und vor allem denen, denen die Oper nichts bedeutet) irrational erscheinen muss. Es ist wichtig, diese extreme Hingabe nicht aus dem Auge zu verlieren, weil sonst die Geschichte der Oper und ihre spezielle Art, Menschen zu berühren, unerklärlich erscheinen mag. Zu bedenken ist auch, dass denen, die in den Bann solcher vom Gesang geweckter Emotionen geraten, wichtige andere Aspekte des Erlebnisses Oper womöglich wenig bedeuten. Sie kümmern sich vielleicht nicht darum, die Handlung zu verstehen, ja sie verstehen vielleicht nicht einmal die Texte (zumal in extremen gesanglichen Momenten, in denen, wie weiter oben ausgeführt, die Worte fast immer verschwinden, als würden sie von der Musik verschlungen). Doch die Macht der menschlichen Stimme hält sie gefangen.

Auf eindrucksvolle Weise ausgelotet wird diese irrationale Hingabe an den Gesang in einem 1981 gedrehten französischen Film von Jean-Jacques Beineix, der den schlichten Titel Diva trägt. Der Film ist eine eigenartige Mixtur aus Komödie und Thriller – in manchen Kreisen ist er vor allem wegen eines spektakulären Motorrad-Wettrennens berühmt. La Wally,nicht