Cover

HANS WOLLER

Gerd Müller

Oder
Wie das große Geld
in den Fußball kam

Eine Biografie

C.H.Beck

Zum Buch

Sie nannten ihn das «achte Fußball-Weltwunder» – und meinten damit Gerd Müller, der als Torjäger noch heute alle Rekorde hält. Wer war dieser Mann, der vom Provinzkicker aus ärmlichsten Verhältnissen zum Weltstar aufstieg, reich wurde und dann nach einem Ausflug in das Fußballentwicklungsland Amerika alkoholsüchtig in der Gosse landete? Der Historiker Hans Woller schildert die Etappen dieser ungewöhnlichen Karriere – und beleuchtet dabei eine Zeit, in der Fußball zum großen Geschäft wurde.

In Gerd Müllers bewegender Biografie ist die Geschichte des FC Bayern München stets präsent. Müllers Verein etablierte sich in den 1960er und 1970er Jahren an der Spitze des europäischen Fußballs, stand aber immer am Rande des finanziellen Ruins. Wie die Insolvenz abgewendet werden konnte, welche zwielichtige Rolle dabei die bayerische Staatsregierung und die CSU spielten und in welchem Maße Superstars wie Müller oder Beckenbauer von diesen Machenschaften profitierten, ist noch nie so eindringlich dargestellt worden wie in Hans Wollers Buch. Fußballgeschichte wird hier zur Zeitgeschichte, die damit eine neue wissenschaftliche Dimension gewinnt.

Über den Autor

Hans Woller war lange Jahre Mitarbeiter im Institut für Zeitgeschichte und von 1994 bis 2015 Chefredakteur der «Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte».

Inhaltsverzeichnis

1.: Reiz und Tücken einer Fußballerbiografie

2.: Der Torjäger aus Nördlingen

3.: Fremd unter Bayern

4.: Der Durchbruch

5.: Ein gemachter Mann

6.: Der unzufriedene «König der Tore»

7.: Geld und Politik

8.: Mit Manager auf dem Holzweg

9.: Der Weltmeister

10.: Mürbe Helden

11.: Der Zerfall des «Kaiser»-Reichs

12.: Abschied von den Bayern

13.: Abenteuer Amerika

14.: Tiefer Fall

15.: Traineridylle an der Säbener Straße

16.: Weltstar wider Willen?

Anmerkungen

1.
Reiz und Tücken einer Fußballerbiografie

2.
Der Torjäger aus Nördlingen

3.
Fremd unter Bayern

4.
Der Durchbruch

5.
Ein gemachter Mann

6.
Der unzufriedene «König der Tore»

7.
Geld und Politik

8.
Mit Manager auf dem Holzweg

9.
Der Weltmeister

10.
Mürbe Helden

11.
Der Zerfall des «Kaiser»-Reichs

12.
Abschied von den Bayern

13.
Abenteuer Amerika

14.
Tiefer Fall

15.
Traineridylle an der Säbener Straße

16.
Weltstar wider Willen?

Bildnachweis

Quellenverzeichnis

1. Archive

2. Presse

3. Interviews

Literaturverzeichnis

Namensregister

1.

Reiz und Tücken einer Fußballerbiografie

56. Spielminute: Der Ball ist lange in der Luft. Gerd Müller weiß genau, wo er nach der weiten Flanke von Jupp Kapellmann landen wird. Seine Gegenspieler hingegen haben die Ordnung in der Abwehr verloren. Sie sind die Beute völliger Konfusion und erkennen nicht, dass sich auf der rechten Außenbahn der gefürchtete Torjäger des FC Bayern München dem Strafraum nähert. Dann geht, wie häufig, alles so schnell, dass selbst der routinierte Fernsehkommentator den Faden verliert: Müller ist bereits auf der Höhe des Elfmeterpunkts und dringt im nächsten Moment in den Fünfmeterraum ein. Dort stoppt er den Ball in vollem Lauf mit dem rechten Innenrist, lässt ihn kurz vor der Auslinie aufspringen und «kanoniert» ihn dann, «kalt bis ans Herz», aus spitzem Winkel links unter den Querbalken.[1] Der Torhüter hatte gegen den Kunstschuss keine Chance. Der FC Bayern München gewann an diesem 17. Mai 1974 das Endspiel im Europapokal der Landesmeister gegen Atlético Madrid mit 4:0, Müller steuerte mit einem genialen Heber aus zehn Meter Entfernung noch ein weiteres Tor zu dem legendären Sieg bei.[2]

Alles andere wäre eine Überraschung gewesen. Seit Gerd Müller zehn Jahre zuvor zu den Bayern gekommen war, schoss er ein Tor nach dem anderen. Er nutzte fast jede Gelegenheit, die sich ihm bot.[3] Viele Treffer waren spektakulär, voller Witz und Eleganz, zahlreiche fein herausgespielt. Dazu kam eine Unmenge Abstaubertore, die ihn als «Genie des Ungenialen»[4] erscheinen ließen und den frühen Ruhm des FC Bayern begründeten. Es habe «gemüllert»,[5] sagte man, um ein Phänomen zu beschreiben, das die Fußballwelt erstaunte, die Bayern-Fans entzückte und die gegnerischen Mannschaften in die Verzweiflung trieb. Müller ist bis heute der einzige Fußballspieler, «dessen besondere Kunst nicht nur mit einem schmückenden Beiwort, sondern mit einem Verb verewigt wurde».[6] Thomas, der neue Müller, stellt sich in diese Tradition innovativer Wortschöpfung, die nichts mit ihm zu tun hat. Er heißt seinen Twitter-Account «esmuellert» und müsste dafür eigentlich Tantiemen an einen viel Größeren entrichten.[7]

Nicht umsonst nannte man Gerd Müller das «achte Fußball-Weltwunder».[8] Jedes Kind kannte ihn – aus der Presse, aus dem Radio, aus dem Fernsehen, aus der Werbung. Müller war fast überall. 1974 stand er im Zenit seines Könnens und seines Ruhms. Er überragte sogar den «Kaiser» Franz Beckenbauer, den Kapitän des FC Bayern und der Nationalmannschaft, ebenfalls ein Jahrhundertfußballer. Gerd Müller gewann damals binnen weniger Monate alles: Er wurde mit dem FC Bayern deutscher Meister, seine Mannschaft errang – als erster deutscher Klub – den Europapokal der Landesmeister, die heutige Champions League, und mit der Nationalmannschaft wurde er Weltmeister. Franz Beckenbauer, Paul Breitner, Uli Hoeneß, Sepp Maier und Georg «Katsche» Schwarzenbeck waren ebenso erfolgreich,[9] doch Gerd Müller feierte darüber hinaus ganz persönliche Triumphe: Er schoss in fast allen Wettbewerben die wichtigen Tore – auch der Siegtreffer beim 2:1 gegen die Niederlande im Finale der Weltmeisterschaft im Münchner Olympiastadion war sein Werk. Im Trikot der Nationalmannschaft erzielte er 68 Tore bei nur 62 Einsätzen.

In der Bundesliga war er ebenfalls der Schrecken der Torhüter, in 427 Spielen traf er 365 Mal. «Es gibt kein Rezept gegen die Tore von Gerd Müller», erkannte die Münchner «Abendzeitung» im März 1972. «Man betrachtet sie auf den Schauplätzen der Bundesliga schon als höhere Gewalt.»[10] Kein anderer Spieler trug sich häufiger in die Torjägerliste der Bundesliga ein; siebenmal war er erfolgreichster Schütze der Saison. Experten billigen Müllers Rekorden Ewigkeitswert zu.[11] Sein Leben als Fußballer war lange ein Traum, er selbst ein privilegiertes Schoßkind des Glücks – so schien es wenigstens.

Dass den Toren, dem Traum und den glamourösen Begleiterscheinungen des Erfolgs eine Tragödie folgte, wurde kaum bekannt – ihr schrecklicher Schluss fast ganz ignoriert. Die Karriere ging Anfang der 1980er Jahre nach einem Ausflug in das Fußballentwicklungsland Amerika zu Ende, das Experiment als Geschäftsmann scheiterte kurz danach. Müller taumelte in eine schwere Krise und griff immer öfter zur Flasche. Seine Ehe stand vor dem Aus, das Geld wurde knapp, der Alkohol beherrschte sein Leben und drohte es schließlich zu ruinieren. Selbstmord schien der einzige Ausweg zu sein – Müller hätte ihn beinahe eingeschlagen. Vor dem Sturz ins Nichts bewahrte ihn sein alter Verein. Der FC Bayern holte Gerd Müller 1991 aus der Gosse, als der einstige Weltstar nur noch besaß, was er am Leibe trug. Uli Hoeneß überredete ihn zu einer Entziehungskur und bot ihm eine berufliche Perspektive als Trainer. Die Bayern betreuten ihn auch dann noch, als sich eine schwere Demenzerkrankung meldete und nicht mehr stoppen ließ.

Wer war dieser Mann, von dem der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit schrieb, er sei «seiner Zeit im Erspüren von Energielinien und Kraftfeldern weit voraus» gewesen und habe ein «Auge, mit dem man mehr sieht auf dem Feld, als eigentlich zu sehen ist»?[12] Der Torjäger stammte aus kleinsten Verhältnissen, sein Bildungskapital war gleich null. Viele beschrieben ihn deshalb als weltfremden Tropf, der mit unendlichem Glück zahlreiche Abstaubertore erzielt habe, im Leben abseits des Platzes aber nicht zurechtgekommen sei. Der Aufstieg vom Provinzkicker zum Weltstar habe ihn ebenso überfordert wie das große Geld und die öffentliche Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwurde. Gerd Müller ließ sich so einfach in die Schubladen der Klischees stecken – und er half dabei selbst noch kräftig mit.

Spekulation, Vorurteil und Dramatisierung ersetzten wie selbstverständlich das Argument. Müller hatte sein Etikett als eindimensionaler Abstauber und Mensch – fertig, aus. Die Gründe für seinen Absturz wurden meist nicht einmal erwogen, man hätte sonst äußerst heikle Fragen stellen müssen. Hatte sein Schicksal vielleicht etwas mit dem Haifischbecken FC Bayern zu tun? Mit gewissenlosen Beratern, die ihm das Geld aus der Tasche zogen? Mit zwielichtigen Freunden aus der Politik? Mit seiner Ehe? Pleiten und Katastrophen sind im bezahlten Fußball wahrhaft keine seltenen Phänomene. Der neue Markt der Medien- und Fernsehgesellschaft stellte viele Profis vor unlösbare Probleme. Müller steht deshalb mitnichten nur für sich allein. An seinem Beispiel zeigen sich vielmehr die Licht- und Schattenseiten des Profifußballs, die Aufstiegs- und Erfolgschancen sowie die Strapazen und Risiken, die das Leben im permanenten Ausnahmezustand mit sich brachte – immer im Fokus der Öffentlichkeit, immer in der Kritik und immer unter höchstem Rivalitäts- und Erfolgsdruck. Gerade Topstars wie Müller gestand man keine Atempause und keine Schwäche zu.

Diese Themen stehen im Mittelpunkt dieses Buches über eine Fußballlegende, die noch immer der Richtwert ist, an dem die Fachleute und der Stammtisch Müllers Nachfolger messen. Das Urteil «einer wie Müller oder keiner wie Müller» entscheidet bis heute über den historischen Rang eines Torjägers. Das Buch möchte aber bei der Nachzeichnung der wechselvollen Biografie voller Dramatik und bitterer Melancholie nicht stehen bleiben. Neben Müller geht es auch um die Geschichte des erfolgreichsten deutschen Fußballvereins, und es geht um die Gesellschaft, in welcher Gerd Müller und der FC Bayern München in den 1960er und 1970er Jahren agierten.

Die Bayern machten damals den letzten Schritt vom Amateur- zum Profifußball – ohne zu wissen, was die Zukunft bereithielt. Der Beruf des bezahlten Fußballspielers bildete sich ja erst heraus, auch das Anforderungsprofil für Manager, Vereinsärzte und das sonstige Personal am Hofe von König Fußball. Hätte den Verantwortlichen des FC Bayern 1965, im Jahr des Aufstiegs in die Bundesliga, jemand prophezeit, ihr Verein werde binnen weniger Jahre der scheinbar übermächtigen Konkurrenz des TSV 1860 München den Rang ablaufen, danach rasch zu einem europäischen Spitzenklub avancieren und Millionen umsetzen – der Bayern-Präsident und seine Mitarbeiter hätten solche Vorhersagen als Hirngespinste abgetan.

Es waren aber keine. Die Geschichte dieser Erfolge und ihrer Voraussetzungen muss noch geschrieben werden. Am Beispiel Müllers wird hier ein Anfang gemacht und erstmals hineingeleuchtet in das soziale, politische und kulturelle Milieu des Profifußballs der 1960er und 1970er Jahre, der als ehrlich, volksnah und vor allem transparent galt und sich auch so gab. Fußball, so schien es, war eine öffentliche Sache. Auf und neben dem Platz flogen die Fetzen, Trainer wurden entlassen, Vereinspräsidenten gestürzt, Spieler verwöhnt und verhöhnt – und das vor aller Augen. Doch was sich hinter den Kulissen abspielte, was sonst noch geschah und den Alltag und die Feiertage des Fußballs bestimmte, das blieb in der Regel unter der Decke.

Hier setzt das Buch ein. Es fragt nach der politischen Vergangenheit des damaligen Leitungspersonals und thematisiert den autoritären Führungsstil, der bei allen Profiklubs herrschte, beim FC Bayern mit seiner erfolgstrunkenen Arroganz aber eine besonders aufreizende Note hatte. Das Interesse richtet sich außerdem auf das Verhältnis von Sport und Medizin und auf die Symbiose von Fußball und Journalismus, die lange Zeit vor allem einem Ziel diente: den schönen Schein zu wahren, weil beide Seiten davon profitierten. Schließlich wird am Beispiel des FC Bayern gezeigt, wie ein Fußballverein in den 1960er und 1970er Jahren funktionierte, wie und warum er von Erfolg zu Erfolg eilte, aber dennoch fast ständig am Rand des Ruins wandelte, weil die Profis mit ihren «Gehaltsexzesse[n]» nie genug bekommen konnten.[13] Dass der Bankrott immer wieder abgewendet und dass ein Müller wie ein Beckenbauer, trotz lukrativer Angebote ausländischer Vereine, beim FC Bayern gehalten werden konnten, gehörte zu den großen und verblüffenden Leistungen der damaligen Vereinsführung.

Ob es dabei mit rechten Dingen zuging oder nicht, kümmerte niemanden. Machenschaften weit jenseits der Legalität waren im Fußball an der Tagesordnung. Konkret hieß das: Schwarzgeldzahlungen und Steuerhinterziehung unter den Augen der CSU und der bayerischen Staatsregierung, die sich eine prächtige politische Dividende aus ihrer Nähe zum Fußball versprachen und deshalb zu diesen neuen Formen gediegenen Verbrechertums nicht nur schwiegen, sondern ihnen systematisch Vorschub leisteten. Der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß, Finanzminister Ludwig Huber und der Staatssekretär und spätere Münchner Oberbürgermeister Erich Kiesl übernahmen eine Art «Schirmherrschaft» über den FC Bayern München und seine Stars, konnten die damit verbundene Schutzgarantie aber nicht ganz einlösen. Nach einer Dekade nahezu ungestörter Bereicherung flog der Schwindel Ende der 1970er Jahre teilweise auf – mit weit reichenden Folgen für Franz Beckenbauer und den Verein, aber auch für Gerd Müller, selbst wenn dessen Steuerfall durch politische Protektion vertuscht werden konnte.

Die Geschichtswissenschaft und andere Wissenschaften haben sich um solche Themen wenig gekümmert. Obwohl der Profifußball im Gefühlshaushalt vieler Menschen einen herausragenden Platz einnimmt[14] und als Wirtschaftsfaktor und Medienereignis große nationale und internationale Relevanz besitzt, haben Historiker, Politologen und Wirtschaftswissenschaftler ihn lange ignoriert oder vor dem Diktum Dirk Schümers resigniert: «Sperrige Texte aus unsinnlichen Buchstaben», meinte er nicht ganz zu Unrecht, «sind zu schwach, dieses Gesamtkunstwerk zu fassen. Über Fußball kann man nicht schreiben, Fußball ist selbst Literatur.»[15]

Das mag nicht jeder so sehen, jedenfalls spielt der Fußball aber in keiner der großen Darstellungen zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert oder zur Geschichte der Bundesrepublik eine nennenswerte Rolle.[16] Erst neuerdings wird klar, dass er als gesellschaftliches Phänomen viel zu wichtig ist, um ihn und seine Geschichte als separate Parallelveranstaltung zur «eigentlichen» Geschichte zu betrachten, ohne Bezug zu den Haupt- und Staatsaktionen und zu den sozio-ökonomischen und kulturellen Basisprozessen – eine vernachlässigenswerte Nebenbeigeschichte, die man den Deutungsversuchen der Fußballspieler selbst und der Sportjournalisten überlassen kann, die sich mit ihren aus der Nahoptik gewonnenen Büchern und Reportagen tatsächlich einen eigenen florierenden Kosmos geschaffen haben.

Insbesondere bei Biografien über die großen Ballartisten besteht Nachholbedarf. Gewiss, es gibt eine Flut an Autobiografien, die von fremder Hand verfasst sind, aber keine einzige breit recherchierte und methodisch anspruchsvolle Biografie, die auch die Welt jenseits des Rasenvierecks mit reflektiert. Kicker gelten als biografieunwürdig – und das trotz der Tatsache, dass sich an ihrem Beispiel wichtige politische, gesellschaftliche und kulturelle Trends erfassen, beschreiben und nuancieren lassen und dass Spieler wie Fritz Walter, Franz Beckenbauer und Gerd Müller für Generationen Vorbilder waren, denen sie mit Hingabe nacheiferten. Was sie an Tugenden und Werten verkörperten oder zu verkörpern schienen – ein Uwe Seeler als ehrlicher Malocher, ein Günter Netzer als Jet-Set-Typ oder ein Paul Breitner als Lifestyle-Maoist –, beeinflusste das Leben von Millionen Menschen ebenso wie das, was an Sehnsüchten und Wünschen auf sie projiziert wurde.

Sozialisation ohne das «mythengenerierende Potential des Fußballs»[17] war nicht nur in den weniger begüterten Schichten kaum denkbar. Stars wie Müller und legendäre Spiele wie die 4:2-Niederlage der Nationalmannschaft im Wembley-Stadion 1966[18] beschäftigten die Fantasie aller. Sie waren ewiger Gesprächsstoff[19] und stifteten damit – auch noch im Streit der Fan- und Sympathisantenlager – ein Gemeinschaftsgefühl, das über alle sozialen und politischen Grenzen hinweg verband. Ein Fußballspiel, bemerkte der Schriftsteller Thomas Brussig treffend, ereignet sich als Drama, lebt «jedoch als Epos fort»[20] – manchmal über Generationen – und entfaltet dabei eine Breiten- und Tiefenwirkung, die längst nicht erforscht ist.

Es gibt noch viel zu tun. Die Frage ist nur: Wie und vor allem auf welcher Quellenbasis? Die Vereine leben in der Gegenwart. Sie blicken nur auf das Heute, den Tabellenplatz, das nächste Spiel. Von der eigenen Geschichte zählen nur die eleganten Hochglanzseiten, während alles andere im Giftschrank der Erinnerungen verschlossen bleibt. Die Maßeinheit der Vereine sind Titel und Trophäen. Archive sind deshalb rar, schütter, schlecht organisiert oder nicht zugänglich.[21] Nachlässe von Trainern und Spielern sind ebenfalls selten; Fußballprofis sind keine Schriftgelehrten und haben wenig Zeit für papierene Reflexionen. Wenn sie überhaupt an die Dokumentation ihrer Karrieren dachten, dann erschöpfte sich das meistens in der Sammlung von Fotos und Zeitungsartikeln, die sie selbst betrafen.

Man ist deshalb neben den Beständen in staatlichen, städtischen und Verbandsarchiven vor allem auf die Presse und Interviews mit Zeitzeugen angewiesen. Mit beidem hat es aber eine besondere Bewandtnis: Die Sportpresse berichtete in den 1960er und 1970er Jahren fast ausschließlich über den Fußball selbst und verordnete sich ein striktes Schweigegebot, wenn es um persönliche Schicksale von Spielern, Trainern und Funktionären oder um das Umfeld des Fußballs ging. Die seriöse Tagespresse hielt es ähnlich. Mehr erfährt man aus den Boulevardblättern, die in München mit drei Organen, der «Abendzeitung», der «tz» und der «Bild»-Zeitung, besonders stark vertreten sind und dem Fußball mitsamt seinen Begleiterscheinungen zunehmend mehr Platz einräumten. Aber ist ihnen zu trauen? Was haben sie selbst und wie verlässlich recherchiert, was nur aufgeschnappt oder gar ein bisschen erfunden, um exklusiv zu sein?

Bei den Zeitzeugen sieht es anders, aber nicht viel besser aus. Die Ereignisse liegen dreißig, vierzig Jahre zurück, die eigene Erfahrung wird durch spätere Erkenntnisse und Informationen überlagert und verfälscht. Hinzu kommt, dass viele von ihnen zwar mit mir redeten – mehr als 60, einige mehrmals und über Stunden –, aber wenig sagten. Aus zwei guten Gründen: Gerd Müller ist nicht nur ein Mythos, sondern auch ein kranker Mann, der Mitgefühl verdient und geschont werden muss. Und der FC Bayern München ist nach wie vor ihr Verein, im Erinnerungsdepot vieler Veteranen sogar ihre Schöpfung, die im schönsten Licht erhalten bleiben soll. Unergiebig waren diese Gespräche dennoch nicht. Denn abgesehen davon, dass auch Ausflüchte und Abwehrstrategien subtile Botschaften enthalten, ergaben sich noch aus dem trockensten Interview neue Einsichten und wertvolle Mosaiksteinchen, die das biografische Bild des «Bombers» nach und nach komplettierten.

Offene Worte fanden nur die wenigsten Freunde, Mitspieler und Wegbegleiter, und auch sie meist nur nach der Zusicherung, sie als Quellen nicht zu nennen. Auf ein solches Versprechen bestand auch Uschi Müller, Ehefrau und Hauptperson im Leben von Gerd Müller, die sich viel Zeit für Gespräche mit mir nahm. Ihr blieb bei diesen stundenlangen, mitunter aufwühlenden Befragungen (und ihren präzisierenden Telefonaten als Nachspielen) nicht verborgen, dass in der geplanten Biografie auch die weniger schönen Seiten der Karriere ihres Mannes zur Sprache kommen würden. Sie hatte dennoch die Größe und Souveränität, sich diesen Problemen zu stellen, und zwar in dem sicheren Bewusstsein, dass niemand im Besitz der Wahrheit über ihren Mann ist, selbst sie nicht.[22]

Es versteht sich, dass die zugesicherte Vertraulichkeit gewahrt bleibt. Einige wichtige Thesen des Buches können deshalb nicht auf die in der Forschung übliche Weise belegt werden. Sie beruhen auf mündlichen Informationen, die jedoch in keinem einzigen Fall die alleinige Basis sind. Die Aussagen der Zeitzeugen wurden miteinander verglichen und anhand von Dokumenten oder der Presse verifiziert. Das Kondensat dieser gegenseitigen Bespiegelung und Überprüfung bildet den Kern dieser Darstellung, die aus einem weiteren Grund den Kriterien einer klassischen wissenschaftlichen Studie nicht immer genügen kann: Müllers Leben spielte sich auf dem Platz ab. Abseits davon führte er ein zweites Leben als Privatmann, Geschäftsmann und Werbeikone, das die unerhörte Tragik Gerd Müllers noch mehr bestimmte als sein öffentliches, das tagtäglich in den Zeitungen zu bestaunen war.

Wer seine Biografie entschlüsseln will, muss Zugänge zu dieser Zweitexistenz finden. Aber wie? Müller selbst konnte dazu nicht befragt werden, und zentrale Quellen zum FC Bayern und seinen Stars sind wegen des Steuergeheimnisses noch für viele Jahre gesperrt[23] – ohne sachlich nachvollziehbare Gründe und in einer Zeit, da sogar das Bundeskanzleramt, der Verfassungsschutz und der Bundesnachrichtendienst ihre Unterlagen auf den Tisch gelegt haben. Die «Süddeutsche Zeitung» schrieb dazu im Januar 2018 mit Blick auf die allgemeine Problematik: Warum müssen jene, «die den Fiskus hintergehen, geheim bleiben und vor der Öffentlichkeit geschützt werden?»[24] Das Bayerische Finanzministerium und die nachgeordneten Finanzämter hätten längst die Pflicht, für Transparenz zu sorgen, den Archiven freie Hand zu geben und damit die Forschung zu fördern, anstatt sie zu behindern. Allein schon die Tatsache, dass sie in der Tradition genau jener staatlichen Stellen stehen, die in den 1960er und 1970er Jahren mit den Steuerproblemen des FC Bayern und einzelner seiner Spieler zu tun hatten, und der wie gut auch immer begründete Verdacht, dass sie dabei den Verein und einige Stars zum Steuerbetrug anstifteten und ihnen Schutz vor Ahndung versprachen, müssten sie zu erhöhter Sensibilität veranlassen. Aber das Ministerium ist taub – und damit einer der letzten dunklen Flecke bundesdeutscher Aufarbeitungskultur. Da auch die Registraturen des FC Bayern München verschlossen sind,[25] bleibt dem Historiker nur die Kapitulation – oder seine im Umgang mit schriftlichen und mündlichen Überlieferungen aller Art geschulte Intuition und Fantasie, die allerdings nur dort zum Einsatz kommen, wo handfeste Quellen fehlen und wo der Versuch einer Feinzeichnung der inneren Verfassung Gerd Müllers mit all ihren Verschlungenheiten unternommen wird.

Der Weg zu diesem Buch war beschwerlich, aber voller vergnüglicher und weniger vergnüglicher Überraschungen. Geplant war ursprünglich die Sozialgeschichte eines Fußballstars und des Profifußballs. Nicht zu ahnen war, dass ich bald in ein Labyrinth von Machenschaften und Manipulationen gelangen würde, in dem an Spitzbuben größeren und kleineren Formats kein Mangel herrschte. Einer Überraschung folgte die nächste, das Befremden wuchs, setzte aber das Vergnügen dennoch nicht außer Kraft, weil die Recherchen mich in die Zeiten eigener, wenn auch bescheidener Fußballherrlichkeit zurückführten und weil ich viele Idole meiner Jugend kennenlernen durfte, die mir damals so viel bedeuteten.

Der Dank, den ich ihnen schulde, gilt auch einigen Funktionären des FC Bayern München, einer Handvoll Journalisten und mehreren Angehörigen des Begleitpersonals in diesem Fußballzirkus, nicht zu vergessen den ganz frühen Weggefährten von Gerd Müller aus seiner Heimat Nördlingen. Bedanken möchte ich mich außerdem für die große Hilfsbereitschaft, die ich in der Bayerischen Staatsbibliothek, in der Stadtbibliothek München, in der Universitätsbibliothek München, in der Bibliothek des Instituts für Zeitgeschichte und in mehreren Archiven erfahren habe. Eigens nennen will ich Anton Löffelmeier vom Stadtarchiv München, Gerhard Fürmetz und Joachim Glasner vom Bayerischen Hauptstaatsarchiv, Robert Bierschneider vom Staatsarchiv München, Brigitte Klein vom DFB-Archiv, das Team der FC Bayern Erlebniswelt sowie Rainer Sponsel vom Stadtarchiv Nördlingen und Klaus A. Lankheit vom Archiv des Instituts für Zeitgeschichte. Großer Dank gebührt schließlich dem C.H.Beck Verlag und dort namentlich Sebastian Ullrich, der an das waghalsige Projekt glaubte und es mit forderndem Rat begleitete.

Fußball ist ein Mannschaftssport, die Arbeit an einem Buch nicht. Trotzdem braucht jeder Autor stille Zuarbeiter, kluge Stichwortgeber, geduldige Diskutanten und – sie vor allem – jene überaus lästigen Kritiker, die jedes Haar in der Suppe finden. Ich hatte, Gott sei Dank, bei diesem Buch eine ebenso heterogene wie effiziente Mannschaft aus Fußballkennern und -enthusiasten, die mich immer wieder inspiriert, motiviert und korrigiert hat: Renate Bihl und Barbara Schäffler waren eine permanente Stütze. Wertvolle Hinweise und Ratschläge verdanke ich Wolfgang Habermeyer, Raimund Hinko und Udo Horsmann, die mir für Nachfragen zur Verfügung standen und auch sonst ihr unerschöpfliches Fußballwissen mit mir teilten. In diese Reihe gehören auch Martin Hägele, der mir oft den Zugang zu Interviewpartnern erleichterte, und insbesondere Ludger Schulze, der 2014 mit einem trockenen «Ja» den Startschuss für das Unternehmen gab und deshalb als Vater des Buches gelten kann. Der im Februar 2019 verstorbene Hermann Graml, mein alter Mentor, hat das gesamte Manuskript gelesen und mit wichtigen Ratschlägen nicht gespart. Franz-Josef Brüggemeier und Thomas Schlemmer erfüllten darüber hinaus ihre Sonderrollen als Projektanlageberater mit Bravour, und Klaus-Dietmar Henke, der alte Freund und eminente Stilist, zog bei sandigen Passagen die Augenbrauen – herausfordernd und anspornend – so lange hoch, bis eine bessere Lösung gefunden war. Wie dankbar ich ihnen für ihr intensives Coaching und der gesamten Mannschaft für ihre Verbesserungsvorschläge, Hilfestellungen und Ermunterungen bin, habe ich ihnen gesagt und geschrieben. Diesen Weg habe ich auch gewählt, um meiner Frau Gabriele Jaroschka zu danken. Von Geburt und Geblüt nicht wirklich fußballaffin, hat sie bei vielen Recherchen geholfen und jede Zeile des Buches gelesen, am Ende sogar der Sportart selbst etwas abzugewinnen vermocht. Wieder ein Beweis dafür, dass niemand sich der Magie des Balles entziehen kann – ein überflüssiger eigentlich, aber trotzdem schön.

2.

Der Torjäger aus Nördlingen

Als Gerd Müller am 3. November 1945 in Nördlingen das Licht der Welt erblickte, lag das Deutsche Reich in Trümmern. Fremde Soldaten standen im Land, Lebensmittel waren knapp und die Zukunftsaussichten düster. Es war eine trostlose Zeit, in der sich unter die vielen Seufzer freilich auch ein stilles, optimistisches Aufatmen mischte. Endlich – der Krieg war vorbei, die ruinöse Schreckensherrschaft der Nazis ebenfalls. Es konnte doch nur noch besser werden.

Der Krieg hatte das ziemlich genau in der Mitte von Stuttgart, Nürnberg und München gelegene mittelalterliche Städtchen im schwäbischen Ries lange verschont. Alliierte Bomber zogen zwar schon seit Jahren über den Himmel, ihre tödliche Fracht entluden sie aber erst im Frühjahr 1945 über Nördlingen. Mehr als ein Dutzend Bombenangriffe verzeichnet die Stadtchronik: Zahlreiche Häuser wurden beschädigt, außerdem die evangelische St. Georgs-Kirche und schließlich der Bahnhof; 33 Opfer waren nach diesen Angriffen zu beklagen.[1]

1945 lebten rund 10.000 Menschen in Nördlingen, zwanzig Jahre später waren es wegen des Zustroms von Flüchtlingen und Vertriebenen fast doppelt so viele.[2] Die meisten fanden Lohn und Brot in der Industrie – 1965 war es jeder vierte. Sie arbeiteten in Brauereien, einigen kleineren Fabriken, der traditionsreichen C.H.Beck’schen Buchdruckerei, zahlreichen größeren und kleineren Handwerksbetrieben und den erst 1941 angesiedelten «Collis-Metallwerken GmbH Westhausen», die im Dritten Reich Geschosshülsen hergestellt hatten. Diese Produktionsstätten bestimmten das Gesicht der Stadt, die nach dem Krieg durch die Ansiedlung neuer moderner Betriebe ihr industrielles Gepräge weiter akzentuierte. Arbeit war hier nicht knapp, reich wurden davon in dem dynamischen Industriestädtchen aber nur die wenigsten. Abgesehen von der selbstbewussten Honoratiorenschaft lebten die meisten bis Anfang der 1960er Jahre von der Hand in den Mund.

Müllers Eltern, Johann Heinrich und Christina Karolina Müller, gehörten zu diesen Habenichtsen.[3] Seit 1928 verheiratet,[4] schlugen sie sich mehr schlecht als recht durch das Leben. Er war Tagelöhner, ehe er eine Anstellung als Fahrer bei der Kohlen-, später Lumpenhandlung Hubel fand.[5] Sie versorgte den Haushalt und kümmerte sich um Gerds ältere Geschwister: zwei Schwestern und einen Bruder; eine Schwester war 1935 im Alter von sieben Jahren gestorben. Hoffnung auf Besserung dieser prekären Lage bestand nicht, das Zukunftspanorama blieb verhangen. Die Müllers wohnten in einem einstöckigen Haus am Stänglesbrunnen Nr. 6 zur Miete. Die kleine, ebenso finstere wie niedrige Wohnung bot wenig Raum, ein Bad gab es nicht, die Toilette befand sich auf dem Gang. Zu mehr reichte der Lohn des Vaters nicht. Um über die Runden zu kommen, musste Karolina Müller putzen gehen und beim Bäcker und Metzger anschreiben lassen.[6] Müllers Jugendfreunde legten Wert auf die Feststellung, dass es nirgends sehr viel anders gewesen sei.[7] Überall herrschte Mangel, niemandem ging es besser. Not fiel so kaum auf.

Johann und Karolina Müller waren im Herbst 1945, als ihr jüngster Sohn zur Welt kam, nicht mehr ganz jung: Sie war 41, er fast 47 Jahre alt. Nachbarn und Freunde beschrieben den Vater als kleinen, schmächtigen, von der schweren Arbeit ausgezehrten Mann, der immer auf Achse war und in der Familie anscheinend keine größere Rolle spielte. Die Mutter ist den Zeitzeugen in lebhafterer Erinnerung geblieben: von ausgesprochen kleiner Statur, arbeitsam, tüchtig und herzlich im Umgang mit ihren Kindern soll sie gewesen sein, sparsam natürlich auch und gottesfürchtig, während der Vater sich gegenüber den religiösen Pflichten laxer verhielt und die evangelische Kirche lieber mied.

Besonderer Förderung und Pflege durch die Eltern erfreute sich Gerd Müller nicht. Auch einen Kindergarten sah er nur von außen. In seinem Milieu wuchs man auf der Straße auf, unbeaufsichtigt, sich selbst überlassen und den Launen der Größeren und Stärkeren ausgesetzt. Eine gewisse Struktur bekam seine Kindheit erst mit der Einschulung, die 1952 erfolgte – aber nicht von Dauer war. Gerd Müller wurde zurückgestellt und versuchte es ein Jahr später ein zweites Mal. Er ging in die evangelische Volksschule in der Judengasse, die allgemein nur «Judenschule» hieß. 50 Kinder saßen dort in einer Klasse. Die Lehrer waren streng. Sie hatten ihr Handwerk in der NS-Zeit oder früher erlernt und ähnelten vielfach Despoten, die schon bei der kleinsten Auffälligkeit zum spanischen Rohr griffen.[8]

Gerd Müller räumte später ein, dass er ungern in die Schule gegangen sei und dort nicht zu den Leistungsstärksten gezählt habe.[9] In Wahrheit war er ein schlechter Schüler, der wenig Interesse am Lehrstoff zeigte und sich am liebsten versteckte. Vor allem im Fach Deutsch haperte es – im Hause Müller sprach man nur den seltsam gepressten schwäbischen Dialekt, den er auch später nie ablegte. Auf der Schulbank hatte er nur die freien Nachmittage und Fußball im Kopf. Er und seine Kameraden berauschten sich 1954 am «Wunder von Bern» und konnten endlos darüber streiten, wer auf dem Bolzplatz in die Rolle von Helmut Rahn, Fritz Walter oder Max Morlock schlüpfen durfte. Namentlich der «Maxl» aus dem nahen Nürnberg stand in Nördlingen hoch im Kurs: Wer sich – wie Müller – Morlock nennen durfte, spielte ihn nicht nur – er war es für einen halben Tag. Bis die Kirchenglocke zum Abendgebet läutete und die Heimkehr zur Familie befahl, jagte Gerd Müller dem Ball nach – im Sommer ebenso wie im Winter, sein Spieltrieb kannte anscheinend keine Pause.

Die Fertigkeiten, die er sich auf der Jagd nach dem Ball erwarb, kamen Müller indirekt auch in der Schule zugute. Die Lehrer wurden im Sportunterricht auf seine Talente aufmerksam und drückten beide Augen zu, wenn die anderen schulischen Leistungen zu wünschen übrig ließen. Müller kam damit durch und schleppte sich mühsam bis zum Schulabschluss in der achten Klasse. Andere Interessen als Fußball hatte er anscheinend nicht. Seine früheren Freunde berichteten höchstens noch von seiner Leidenschaft für Tischtennis, von gelegentlichen Kinobesuchen und der Lektüre von Comic-Heften und Cowboy-Romanen. Anderes und Höheres habe aber auch in ihrer Kindheit und Jugend keine größere Rolle gespielt. So sei es in der Provinz eben gewesen.[10]

Angesichts der frühen Fixierung auf den Fußball war es fast ein Wunder, dass Müller sich dem TSV Nördlingen erst im Alter von zwölf Jahren anschloss. Der TSV war eine feste Größe, der Stolz der Stadt. Die erste Fußballmannschaft spielte bis 1952 in der nordschwäbischen A-Klasse, ehe ihr im Jahr darauf der Sprung in die zweite Amateurliga gelang. Junge Talente aus der ganzen Umgebung schauten sehnsüchtig auf die Nördlinger, die ihrerseits Jugendarbeit ganz großschrieben. Gerd Müller imponierte der große Verein mit seinen zahlreichen Mitgliedern und Abteilungen ebenfalls. So energisch er auf der Straße sein konnte und so entschlossen er in den gelegentlichen Raufereien auf dem Schulhof auftrat, so schüchtern und unsicher war er, sobald er das gewohnte Milieu verlassen musste. Er scheute den Schritt in den irgendwie fremden Verein, in dem fast lauter Unbekannte aus besseren Kreisen den Ton angaben; die Vorsitzenden nach dem Krieg waren immerhin promovierte Männer.[11]

Von Bekannten immer wieder bedrängt, fasste er sich schließlich doch ein Herz und absolvierte am 22. August 1958, einem Freitag, im Schlepptau eines Freundes ein Probetraining, in dem er sein Können offenbar sofort unter Beweis stellte.[12] Zwei Tage später bestritt er beim TSV Oettingen sein erstes richtiges Fußballspiel für seinen Verein, der 8:3 gewann – vier Tore erzielte der Neuling Gerhard Müller. Der frisch gebackene Torjäger blieb dabei und fand in Georg Münzinger, dem Leiter der Jugendabteilung, einen Freund und Förderer, der vor allem eines erkannte: Der unsichere Müller brauchte ein Umfeld, in dem er Anerkennung spürte, dann war er mit Herz und Seele dabei und zu beachtlichen Leistungen fähig. Münzinger wusste Müller zu nehmen. Er beriet sich mit ihm über die Mannschaftsaufstellung und übertrug ihm sogar – als Zeichen des Vertrauens – die Leitung einer Schülermannschaft, in der die Jüngsten spielten.[13]

Die Erinnerungen scheiden sich, wenn es um die Zahl der Tore geht, die Müller in den Schüler- und Jugendmannschaften des TSV Nördlingen erzielte: 400, 600, 750 – viele waren es in jedem Fall. Einig ist man sich in Nördlingen aber in einem anderen Punkt: Den Veteranen und Funktionären des Vereins war frühzeitig klar, dass hier ein Spieler heranwuchs, der von Jahr zu Jahr besser wurde und zu den schönsten Hoffnungen berechtigte.

Dieses Versprechen auf die Zukunft ebnete Müller anscheinend auch den Weg zu einer Lehrstelle. Attraktive Ausbildungsplätze waren rar. Ohne gute Noten oder Beziehungen landete man schnell beim Arbeitsamt oder als Hilfsarbeiter auf dem Bau. Gerd Müller hatte beides nicht, aber den Ruf eines vielversprechenden Fußballtalents, das man in Nördlingen halten wollte. Also fand sich eine Lösung, und zwar bei der Firma Busse, einer Tuchfabrik. Geschenkt wurde ihm dort als Weberlehrling aber nichts. Er lernte in der Spinnerei, wo das Arbeitspensum 48 Stunden pro Woche betrug.[14] Bei Busse arbeitete man selbstverständlich auch am Samstag, selbst die Lehrlinge, die – gegen alle Paragrafen des Arbeitsrechts – auch von Schichtarbeit nicht verschont blieben. 60 DM erhielt Müller monatlich im ersten Lehrjahr; einen Teil davon musste er bei der Mutter abliefern – für Kost und Logis im Elternhaus.

30 oder 40 DM mehr wären es im zweiten und noch einmal 50 oder 60 im dritten Lehrjahr gewesen. Müller erlebte diese Gehaltssprünge bei Busse aber anscheinend nicht mehr. Vermutlich brach er die Lehre ab.[15] Waren die Anforderungen in der Berufsschule zu hoch? Ließ ihm die Schichtarbeit keine Zeit für intensives Training? Kollidierte die Plackerei auch am Samstag mit den Terminen auf dem Fußballplatz? Man weiß es nicht. Er ging jedenfalls als ungelernter Arbeiter zur Schweißerei Bremshey und Co., wo ihm seine sportlichen Fähigkeiten erneut die Türen öffneten. Der Direktor des Betriebs war nämlich ein Fußballnarr, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, die Mannschaft seines Werks zur besten in der Region zu machen. Spieler wie Müller kamen ihm da nur recht.

Das Angebot von Bremshey konnte sich tatsächlich sehen lassen: Müller erhielt eine Anstellung als Löter und kam, wenn er im Akkord arbeitete, auf 600 bis 800 DM im Monat; auch mittlere Beamte, gelernte Brauer oder Metzger verdienten nicht mehr, eher weniger. Außerdem gab es in der Schweißerei keine Schichtarbeit, so dass er regelmäßig zum Training gehen konnte. Mehr wollte Müller nicht, zumal er als Lokalgröße mit etwas Geld in der Brieftasche langsam auch für die Mädchen der Stadt interessant wurde.

Besonders angetan hatte es ihm die bildhübsche Laura Reinhardt (Jahrgang 1948), die einer ethnischen Gruppe angehörte, deren Nachfahren noch heute in Nördlingen leben und sich weigern, sich Sinti und Roma nennen zu lassen. Sie seien Zigeuner und stolz darauf, ihren traditionellen Namen zu tragen.[16] Die Zigeuner waren 1945 hier angesiedelt worden. Die meisten wohnten in einem lausigen Barackenlager vor den Toren der Stadt, einige wenige in festen Häusern innerhalb der Stadtmauern. Dazu zählte die weit verzweigte Familie Reinhardt, die ganz in der Nähe des Mietshauses der Müllers ein Anwesen erworben hatte. Peter, ein Spross der Reinhardts, begeisterte sich ebenfalls für den Fußball und kam so in Kontakt mit der Clique, in der Gerd Müller dank seiner Fertigkeiten mit dem Ball eine immer größere Rolle spielte.

Es dauerte nicht lange, bis Müller im Haus der Reinhardts ein und aus ging.[17] Er kannte keine Berührungsangst, wurde wie ein «Familienmitglied» behandelt und freundete sich mit den Geschwistern Peter Reinhardts sowie mit dessen Eltern an. Eine besonders herzliche Beziehung bestand offenbar zum ebenfalls fußballverliebten Johann Reinhardt, dem Chef der Familie, den man in Nördlingen und Umgebung voller Respekt als «Zigeunerbaron» bezeichnete. Viele ernst zu nehmende Stimmen behaupten sogar, Gerd Müller sei selbst Zigeuner und der Sohn des Clan-Führers, dem er auffallend geähnelt haben soll.[18]

Gerd Müller kannte diese Gerüchte. Er spielte mit ihnen und antwortete einem engen Vertrauten, der ihn in den 1970er Jahren darauf ansprach, augenzwinkernd, man wisse nie, ob nicht doch etwas dran sei. Später soll er sich sogar explizit zu ihrer Stichhaltigkeit bekannt und sich so eindeutig als Sinto oder Halbsinto geoutet haben, dass man in den Kreisen der Sinti und Roma felsenfest davon überzeugt ist, Gerd Müller sei einer der ihren. Überzeugende Beweise für diese selbst von hochrangigen Sinti- und Roma-Funktionären geäußerte Behauptung gibt es jedoch nicht. Vieles spricht sogar dagegen: Johann Müller war in der fraglichen Zeit anscheinend nicht an der Front,[19] sondern zu Hause. Er meldete im November 1945 die Geburt seines Sohnes auf dem Standesamt und ließ ihn ordnungsgemäß eintragen. Seine Frau hätte viel riskiert, wenn sie sich mit Johann Reinhardt eingelassen hätte. Rassenschande nannten die Nazis so einen Seitensprung, der für Karolina Müller nicht ungefährlich gewesen wäre, wenn er – in einer Kleinstadt nicht unwahrscheinlich – aufgekommen wäre. Auch eine informelle Adoption kommt nicht wirklich in Betracht. Was wäre der Grund dafür gewesen? Und welchen Vorteil hätte die Familie Müller davon gehabt? Sie war vor Gerds Geburt arm und danach ebenfalls, nur dass ein weiterer Esser zu versorgen war.

Fest steht aber, dass Gerd Müller sich zu den Zigeunern stark hingezogen fühlte. Er stritt als Jugendlicher bei den kleinstädtischen Revierkämpfen auf Seiten der Sinti und Roma[20] und verkehrte häufig in der Familie Reinhardt, aus der auch seine erste Jugendliebe kam, Laura, Johann Reinhardts Tochter. Die beiden gingen miteinander ins Kino und ins Schwimmbad und betrachteten sich als zusammengehörig. Es habe sich, so Laura Reinhardt, um eine «innige, aber nicht intime Freundschaft» gehandelt,[21] deren emotionale Tiefe auch Jahrzehnte später zu spüren war, als die noch immer attraktive Laura beim Anblick eines Jugendfotos von Gerd Müller ins Schwärmen geriet. Gerd sei ein «wunderschöner junger Mann mit brauner Haut» gewesen, nicht wie ein «Deutscher mit heller Haut». Er habe wie ein Zigeuner ausgesehen, «wie wenn er von uns kommen tät», und «original zu uns gepasst».[22]

Es gibt keinen Anlass, dem Urteil von Laura Reinhardt zu widersprechen. Das zu Ostern 1962 geschossene Foto zeigt Müller im Kreise seiner Mannschaft, die gerade den von der Ankerbrauerei gestifteten Ernst-Reuter-Gedächtnis-Pokal gewonnen hat – nach einem 6:0-Sieg gegen den VfR Aalen, zu dem Müller fünf Tore beigesteuert hatte. Der junge Mittelstürmer ist 1,76 Meter groß, vermutlich über 70 kg schwer und hat längere schwarze Haare, die – leicht links gescheitelt – kaum zu bändigen sind und ihm etwas Verwegenes verleihen. Keine Frage: Der junge Mann sieht blendend aus, er strotzt vor Kraft und Energie.[23]

Mit Pokal und tollen Perspektiven

Es ist nicht überliefert, aber angesichts des in der Familie grassierenden Fußballfiebers wahrscheinlich, dass Laura ihren Gerd auch auf den Fußballplatz begleitete. Was sie dort erlebte, dürfte sie überrascht haben. Sobald er den Rasen betrat, war Gerd Müller ein anderer Mensch. Er wurde hier seinem verwegenen Aussehen auch im Auftreten voll gerecht. Den zurückhaltenden Jugendlichen, den Laura kannte, gab es jedenfalls nicht mehr. Zu sehen war jetzt ein selbstbewusster junger Mann, ein leidenschaftlicher Draufgänger, der sich mit dem Schiedsrichter anlegte, beherzt in die Zweikämpfe ging und seinen Mitspielern nichts ersparte. Er schnauzte sie an, wenn sie eine Ruhepause einlegten, und feuerte sie bei drohenden Niederlagen mit drastischen Worten zu Höchstleistungen an. Verlieren war schon im Training nicht nach seinem Geschmack. Auf dem Platz tobte er, wenn ein Spiel zu kippen und mit einer Niederlage zu enden schien.

Zum Bersten ehrgeizig, war er andererseits eiskalt, wenn sich ihm eine Chance für einen Treffer bot. Hier zahlte es sich aus, dass er ständig an sich arbeitete – im Training sowieso, aber auch danach und in den Brotzeitpausen im Betrieb. Müller war immer am Ball. Er stand sogar häufig abends allein auf dem Hartplatz hinter der Turnhalle und übte und übte – Elfmeter und Freistöße, angeschnitten und mit voller Wucht, links wie rechts gleich scharf und präzise.[24] Dass er in der B- und A-Jugendmannschaft Tore wie am Fließband schoss, lag nicht nur an seinem Talent, sondern war auch das Ergebnis unermüdlichen Trainingsfleißes.

Dieser unbändige Wille zum Erfolg begleitete Gerd Müller von Beginn seiner Karriere beim TSV25TSV