Cover

Eike Christian Hirsch

Ist das Deutsch
oder kann das weg?

Schlimme Einfälle und
schöne Reinfälle

C.H.Beck


Zum Buch

«Wir lassen uns nicht mit einem vergifteten Köder über den Tisch ziehen», hat ein deutscher Politiker einmal verkündet. Das fällt dann doch auf. Aber wie kommt es nur zu solchen sprachlichen Unfällen? Eike Christian Hirsch schaut denen, die Deutsch sprechen, seit Jahrzehnten aufs Maul und hat in diesem Band wieder seine schönsten Beobachtungen und Funde versammelt. Er erklärt den Lesern, oder besser: den Lesenden, was er lustig fand und wie man es auch anders sagen könnte. So hören wir heute in jeder Arztpraxis: «Sie dürfen sich noch ins Wartezimmer setzen.» Echt jetzt – dürfen wir uns setzen, ist das eine großherzige Erlaubnis? Die Moderatorin wünscht uns «noch einen schönen Restsonntag», als sei der von der Resterampe. Geht’s noch? Und Facebook versichert uns: «Deine Privatsphäre ist uns sehr wichtig.» Das hatte man sich beinah schon gedacht …

Über den Autor

Eike Christian Hirsch war Redakteur im Hörfunk des NDR. Einem breiten Leserkreis ist er durch seine Sprachglossen bekannt geworden, die im Stern erschienen. Bei C.H.Beck liegen von ihm vor: Der Witzableiter oder Schule des Lachens (42016), Gnadenlos gut. Ausflüge in das neue Deutsch (42009), Deutsch kommt gut. Sprachvergnügen für Besserwisser (22009) und die Biographie Der berühmte Herr Leibniz (52017).

Inhalt

I. Läuft bei dir

Ich darf ins Wartezimmer  

Geht’s gut? Alles gut?  

Tut ganz schön weh  

Häme ausgekübelt  

Tiere bitte nicht diskriminieren  

Mit Gänsehaut und Schockstarre  

Restsonntag  

Das allgemeine Du  

Er besitzt große Schulden  

Die Farben können abweichen  

II. Wörtlich betäubt

Dank dem Unwetter, das dafür sorgte …  

Wie das Fräulein abgeschafft wurde

Bürger*innenmeister*innen  

Welten, ein Paralleluniversum  

Nachwachsende Rohstoff-Experten  

DAS GROßE ESZETT  

Hintergrund dieser Entwicklung ist …  

Leipzig ist das neue Berlin  

Die Flüchtlinge sorgen mich  

Sehen, was einen Sinn macht  

III. So was von Deutsch

Mir ist damit unwohl  

Die Kosten belasten wir Ihrem Konto  

Ein Algorithmus sorgt dafür  

Werbung, etwas übertreibend  

Eine Katastrophe wie vor drei Jahren verhindern  

Fünf Minuten Fahrplanabweichung  

Ein dickes Plus im Preis  

Stillen schon vor der Geburt  

Nicht die Sekunde null  

Wechsel der Perspektive  

IV. Wie aus der Zeit gefallen

Bei Ausländern beliebte deutsche Wörter  

Ihre Privatsphäre war unsere höchste Priorität  

Von daher  

Sehen gelassen zu haben  

Wo ist bei der Zeit hinten?  

Hochgelobt oder hoch gelobt?  

Beides kann nicht wahr sein  

Deutsch-Englisch: Arm, Hand und Finger  

Trojaner und Lebensversicherung

Stabiles Fahrwasser  

V. Viel Luft nach oben

Glück und Glück  

Dem Affen eine Leiter hinstellen  

Die Bedarfe von Kindern  

Was mir als Fremdwort erschien  

Für den saudischen König gesperrt

Das Fehlen von Liebe und Sinnlosigkeit  

Wir sollten los  

Falsche Bilder  

Sakrileg und sakrosankt  

Alles teilen, vor allem Fotos  

VI. Wortsalat

Authentisch ist echter als echt  

Hinter verschlossenen Türen  

Amerikanische Redewendungen

Wendungen, von uns selbst erfunden  

Vorbehaltlich einer diesbezüglichen Regelung  

Recht missverständlich: Common Sense  

Wegen meinem Unfall  

Warnen oder mahnen  

Das schönste deutsche Wort  

Noch mehr schönste Wörter  

VII. Alles klar. Kein Problem

Sanktionieren  

Die Sonne ist schuld. Und der Computer  

Ich möchte: Wie ein Verb erfunden wurde  

Trennungsgerüchte von seiner Frau  

Bayern bei Masern spitze  

Doppelpunkt und Gedankenstrich  

Bestgehasst  

Kant’s Werke  

Dem großen Adorno geschuldet  

Snob, eine irrige Erklärung  

VIII. Echt jetzt?

Auf Nummer sicher gehen  

Adrenalin in seiner schärfsten Form

Wir gucken auf Bayerns Sieg  

Sparen, sparen und sparen  

Überladen und angeschärft  

Sie drang und sie drängte  

Man, bei einigen unbeliebt  

Weniger als befürchtet  

Segel, aus Blättern gewoben  

Wenn sich die Schlagzeilen beißen  

IX. Aus dem Wörtersee

Er dementiert, dass er dement ist  

Ich mag andere, geistreiche Menschen  

Alles klar?  

Lieber Herr Hirsch  

Okapi sind stark geschrumpft  

Beleidigt? Nichts weniger als das!  

Eine Kanzlerin, die Krise kann  

Anders ist besser  

Drei Männer ertranken. Eigentlich ist das verboten  

Geschleifte Bänke  

X. Genau!

Kalifornien, ein Kalifat  

Der wahre Arbeitgeber  

Begriffe, die nach Namen heißen  

Was den Sprechenden nicht gut bekam  

Empathie und Frustration

Menschen als Zahlen  

Ein Denkmal der Schande  

Verbrechen gegen die Menschheit  

Kindesmissbrauch  

Holocaust und Schoah, eine Wortgeschichte  

Fußnoten

I. Läuft bei dir

Ich darf ins Wartezimmer  «Sie dürfen sich noch ins Wartezimmer setzen.» Das sagt heute die Arzthelferin. Nach meiner Erfahrung ist das absolut Standard und soll – natürlich – ganz nett wirken. Doch ich komme darüber ins Nachdenken. Darf ich mich setzen, ist das eine großherzige Erlaubnis? Ausnahmsweise?

Genau genommen «muss» ich ja noch warten. Das wäre dann keine Erlaubnis, sondern eine Anordnung. Oder, freundlicher gesagt, eine Bitte. Denn so ist es wohl gemeint: «Bitte setzen Sie sich noch ins Wartezimmer.» Aber «bitte» ist völlig out. Die gut geschulte Fachkraft könnte zu mir auch sagen: «Sie müssen sich leider noch ins Wartezimmer setzen.» Doch Zwang ist mega-out.

Was ist da schiefgelaufen? Warum ist diese Wendung «Sie dürfen» als Gipfel der Höflichkeit üblich geworden? Vielleicht ist sie ja nur eine Abwandlung von «Sie dürfen sich setzen», was man durchaus sinnvoll sagen kann, wenn man jemandem einen Stuhl anbietet. Vor allem, wenn man selbst dafür aufgestanden ist. Nur – passt sie fürs Wartezimmer?

Hier werden vielleicht die Seiten verwechselt wie bei der üblichen Aufforderung: «Rufen Sie mich gerne an.» Auch das macht mich jedes Mal stutzig. Muss ich da gern anrufen? Gemeint ist ja: «Ich» (ja, ich) «habe es gern, wenn Sie mich anrufen.» Oder auch: «Gern erwarte ich Ihren Anruf.» Dann steht das «gern» auf der richtigen Seite, nämlich bei dem, der sich den Anruf wünscht.

Nun dürfen Sie gern darüber nachdenken. Und dürfen sich so lange auch gern ins Wartezimmer setzen.

Geht’s gut? Alles gut?  Bei einem Festakt saß schräg vor mir ein gut aussehender Mann, der von einem Ehepaar begrüßt wurde. Er erwiderte sofort: «Geht’s gut?» Und ich war mir sicher: Der weiß die Namen des Paares nicht – und möglicherweise nicht einmal, ob er die Leute duzt oder siezt. Für diesen Fall ist das eine geniale Floskel! Sollte man übernehmen.

Ich hatte mal einen eher schüchternen Kollegen, der sich angewöhnt hatte, mich bei jeder Begegnung auf dem Flur mit dieser eleganten Kurzform zu begrüßen, die er sich wohl irgendwo abgeguckt hatte: «Geht’s gut?» Eines Tages kam ich ihm zuvor, und er antwortete, auf seine ganz liebe Art: «Ach, jetzt werde ich mit meinen eigenen Waffen geschlagen.»

Die alte Frage lautete ja: «Wie geht es Ihnen?» Auch darauf sollte man nicht ehrlich antworten, nur ein «Gut!» war erlaubt. Und da das alle wussten, ging es einigermaßen locker zu. Noch eindeutiger war die Antwort, wenn man gefragt worden war: «Geht es Ihnen gut?» Wer hätte da schon mit «Nein» geantwortet.

Aber dann kam eine andere Form auf, gleichsam die Verstärkung. Kürzer, aber höher dosiert: «Alles gut?» Ach, Leute, man sollte doch wissen, dass niemals alles gut ist. Also, warum fragt ihr? Und auch noch mit diesem eindringlichen Blick, der wahre Anteilnahme zeigen soll. Mediziner nennen so etwas wohl invasiv.

Ausrufen darf man das, als Auskunft über sich selbst. Etwa, wenn man sich gestoßen hat: «Alles gut!» Wir haben es von den Amerikanern: It’s all good. Alles in Ordnung. Ja, als Selbstauskunft ist es in Ordnung.

Aber als Frage? Da denke ich wehmütig an das gute, fast schon neutrale «Wie geht es dir?». Denn da fragte man eigentlich nur nach der Gesundheit und dem Wohlbefinden. Ganz anders das künstliche, eindringliche «Alles gut?».

Verglichen damit hatte die alte Standardbegrüßung unter Kumpeln in ihrer ganzen Kürze doch was für sich:

Na?

Und selbst?

Danke, ebenso!

Tut ganz schön weh  Wieso sagt man eigentlich «Das hat ganz schön wehgetan»? Ja, wirklich, was heißt hier «ganz schön»? Die Frage wurde mir vor einiger Zeit von einer Freundin meiner jüngsten Tochter gestellt. Da war ich ziemlich ratlos, aber ebenso amüsiert.

Man kann sich ja vorstellen, wie verwundert die junge Frau war, als sie begonnen hatte, über die Wendung nachzudenken. «Ganz schön weh getan», das klingt nach dem glücklichen Seufzer eines Masochisten. Ich begann nun meinerseits zu grübeln, da ich nirgends einen Hinweis auf den Ursprung dieser Redewendung fand.

Beim Suchen kommt man schnell darauf, dass «ganz schön» eine gewisse Selbständigkeit gewonnen hat und mit «schön» offenbar nur noch wenig zu tun hat. In dieser Paarung verliert «schön» seinen Sinn, es dient anscheinend nur der Verstärkung des vorausgehenden «ganz», im Sinne von «besonders». So sagt man: «Die Antwort ist ganz schön schwierig.» Ebenso: «Da habe ich mir ganz schön viel aufgeladen.» Oder anerkennend: «Das war ganz schön mutig von ihr.»

Wie es zu der Bedeutungsverschiebung gekommen ist, wird so leicht wohl niemand herausfinden. Doch hat mich die Frage ganz schön weitergebracht, wenn ich mit ihr auch zunächst meine «liebe Not» hatte.

Das allerdings ist schon wieder solch eine Fußangel. Wie kann eine Not einem lieb sein? Diese Frage übergehe ich schnell mit der Entschuldigung, dass die Rede von der «lieben Not» doch schon allzu sehr verschwunden und versunken ist.

Um etwas zu steigern, griff man früher auch gern zu anderen starken Mitteln: «Sie ist furchtbar nett, wir lieben uns schrecklich, und ich habe mich unheimlich gefreut, sie wiederzusehen.» Klingt wie aus einem Horrorfilm.

Ja, so sagte man früher, damals, als die Liebe auch schon ganz schön wehtat.

Häme ausgekübelt  Journalisten lieben es, ihre abwertenden Gefühle mit unschönen Verben auszudrücken: «Verschliefen die Fahnder den richtigen Zeitpunkt für den Zugriff?» Nein, sie verpassten ihn nur. Angeblich «hinkt der Vorstand der Entwicklung hinterher». Warum läuft er ihr nicht einfach hinterher? Man kann auch von «hinterherhecheln» oder «hinterherhumpeln» lesen.

Ein bisschen werden wir wohl doch manipuliert. «Alte Frauen, die ständig in die Kirche rennen.» Oder Demonstranten werden mit Bussen «herangekarrt». Auch sollen übereifrige Eltern ihre Kinder zur Geigenstunde «kutschieren» und sie ins Museum «schleppen».

Erst recht kann man sich auf diese Weise wohlfeil gegen Diktaturen echauffieren. Da werden Unschuldige vor einen Richter «geschleift» – offen gestanden, ich würde es gern sachlicher lesen. Oppositionelle werden «in den Kerker geworfen» oder wenigstens ins Gefängnis «gesteckt». Wer so schreibt, meint wohl, für eine gute Sache dürfe man in dieser Weise die Sprache strapazieren. «Mittlerweile hat die türkische Regierung auch den Gülen-Leuten Steuerprüfer auf den Hals gehetzt.» So, da hat man es den Häschern aber mal ordentlich gegeben.

Ebenfalls gefragt wurde: «Ist es schlau, das Gesetz jetzt vors Verfassungsgericht zu zerren?» Verachtung überall: Die Parteien «basteln» an Lösungen, und seit Monaten wird an Kompromissen «gewerkelt». Heraus kommt ein eilig «gestricktes» Gesetz, und das wird dann «durch den Bundestag gepeitscht».

Es gibt im Deutschen leider viele abwertende Verben: «zurechtzimmern», «verscherbeln», «zuschustern», «ins Haus flattern», «auf den Markt werfen» … Und einer beklagte «die Häme», die über einen offenbar Unschuldigen «in manchen Talkshows ausgekübelt wurde».

Ähnlich parteiisch können aber auch Fachleute reden. Ein Sachverständiger wollte es entschuldigen, dass er nur ein knappes Gutachten vorgelegt hatte, und sagte: «Wir Wissenschaftler können den Parlamenten schlecht zehntausend Seiten auf den Tisch knallen.» Gewiss. Und ein Wissenschaftler wollte Mitgefühl wecken mit Frauen, «die täglich im Supermarkt an der Kasse stehen».

Soviel ich weiß, dürfen sie doch wenigstens sitzen.

Tiere bitte nicht diskriminieren  Immer öfter wird jetzt gesagt und geschrieben, ein Tier habe etwas «gegessen» statt «gefressen». So hieß das einmal, daran muss man jetzt wohl erinnern. Oder ein weibliches Tier sei «schwanger» statt «trächtig». Ein Hund ist «gestorben», nicht «verendet». Man soll die Tiere eben gut behandeln, alles andere wäre Diskriminierung. Und vor allem – man hat echt Angst vor einem falschen Wort.

In einem Aufsatz über Hunde als die besten Menschenversteher wurde berichtet, wie in wissenschaftlichen Versuchen das Gesicht der Tiere, vor allem die Bewegung der Brauen, mit Kameras festgehalten wurde. Und da fiel wirklich der Ausdruck, es gehe «um jede Regung im Hundeantlitz».

Die Entwicklung, wenn es denn eine ist, verläuft auch andersherum. Bald darauf erwähnte ein Auslandskorrespondent, der aus den USA berichtet, dass Babys «gesäugt» werden. Früher sagte man «gestillt»: Wohl ein Versehen – oder eben neue Zeiten für Mensch und Tier.

Die Stadt Hannover wollte eine Kolonie von Bibern an dem Fluss Leine unterstützen. Damit die Biber aber nicht einfach tun können, was sie wollen, beschloss die Stadt, ein «Bibermanagement» einzuführen. In der lokalen Berichterstattung stand: «Es geht darum, die Siedlungspolitik der Tiere so zu steuern, dass es nicht zu Konflikten mit dem Menschen kommt.»

Der bewundernswerte Biber betreibt also – Siedlungspolitik.

Mit Gänsehaut und Schockstarre  Dreißig Jahre nach dem Mord an dem schwedischen Premier Olof Palme konnte man in einer Zeitung lesen: «Der Mord versetzt das Land bis heute in Schockstarre.» Wirklich?

Angekündigt werden spannende Filme und Ereignisse gern mit: «Gänsehaut garantiert». Darunter geht es kaum noch. Oder wenigstens: «Mit Gänsehautfaktor». Für mich liegt darin die Übertreibung, ja die Unwahrheit von heute. Ich jedenfalls kenne keine Gänsehaut. Und wenn ich so etwas lese, gerate ich in Schnappatmung … Nein, nicht ganz. Es macht mich fassungslos … Auch nicht, obwohl diese Worte oft in Leserbriefen auftauchen. Sind ja auch nicht schlecht.

Der Ölstaat Irak wurde, nachdem er lange daniederlag, vom Spiegel in einer Überschrift als «Super-Gigant» bezeichnet. Im Text des Artikels erfuhr man dann, dass besonders große, ergiebige Ölfelder, wie sie sich im Irak finden, als «Super-Giganten» bezeichnet werden, offenbar international und seit langem. Normale Giganten gibt es anscheinend schon allzu viele. Auch der «Super-GAU» musste erfunden werden, dabei bedeutet GAU doch schon «Größter anzunehmender Unfall».

Wer nicht übertreibt, fürchtet wohl, nicht mehr gehört zu werden. Wir haben «alle Zeit der Welt», lautet seit etwa 2000 eine stehende Wendung. Man spürt die Übertreibung schon gar nicht mehr. Und sie breitet sich aus. «Du hast alle Unterstützung der Welt.» Alle! Der Welt! Da wollte ein Kolumnist nicht zurückbleiben: «Ich drücke für die Jurysitzung alle Daumen!» Ja, wie viele hat der denn? Aber er wurde von einem Fußballmanager, der sich um einen verletzten Spieler sorgte, locker überboten: «Ich drücke ihm alle Daumen dieser Welt.» O, das sind wirklich viele.

Manches Wort haben wir aus den USA: «Das Internet wird von Abbildungen geradezu geflutet.» Nicht schlecht. Und über einen deutschen Spitzenpolitiker schrieb ein Journalist: «Wer ihm widerspricht, wird mit Beleidigungen geduscht.» Wirklich? Doch das hatte was. Vor allem bei diesem Politiker.

Noch mehr liebe ich es aber, wenn ein Ausdruck mal gar nicht übertrieben ist: «In keiner Weise.» So lautete die Antwort eines jungen Professors im Interview, obwohl doch «in keinster Weise» inzwischen üblich ist. «Die Reform ist überflüssig», sagte eine Politikerin. Nicht «völlig» oder «total» überflüssig, einfach nur: überflüssig.

Zum Schluss noch eine weitere Wohltat. Als solche empfand ich es, als ich über das Silicon Valley las, dort sei man «dem Rest der Welt längst um drei Schritte enteilt».

Restsonntag  An einem frühen Sonntagabend verabschiedete sich die bekannteste Moderatorin des ZDF und sagte, sie wünsche den Zuschauenden noch «einen schönen Restsonntag». Das Wort ist nicht gerade lieblich und angenehm, finde ich. Es wirkt wie Amtsdeutsch. «Einen schönen restlichen Sonntag» ginge noch. Aber «Rest» oder «restlich», das klingt immer nach Abfall. Und ganz bestimmt erinnert eine Zusammensetzung wie «Restsonntag» an die Resterampe. Hätte die Moderatorin gesagt, sie wünsche uns noch «einen schönen Sonntagabend», so wäre das wohl das Beste gewesen. Doch Zusammensetzungen (Komposita) sind uns so lieb geworden, dass sie uns zuerst auf die Zunge kommen.

So wurden schon längst die freie Zeit zur «Freizeit» und die Erholung in der Nähe zur «Naherholung». Ebenso wurde, wenn man sich ein paar schöne Ferientage gönnen möchte, diese Wonne zum «Kurzurlaub». Schon vor Jahrzehnten wehrte sich der Sprachkritiker Karl Korn gegen das Wort «Kleinkind». Und ich springe ihm bei. Es wirkt wie ein kleines Kind, das man handlich verpackt hat.

In einer Rundmail, die an einem Donnerstag ankam, las ich, man wünsche allen Empfängern «noch eine schöne Restwoche». Demnächst verabschiedet sich wohl jemand von mir mit den Worten: «Bitte grüßen Sie Ihre Restfamilie!»

Das allgemeine Du  Als ich mich vor Jahren in das Basement eines Bekleidungshauses verirrt hatte, merkte ich, wo ich gelandet war, als mich der Verkäufer fragte: «Kann ich dir weiterhelfen?» Das nahm ich älterer Mann als Schmeichelei, traute mich aber nicht, ihn von mir aus zu duzen.

Heute ist in fast allen Ketten mit Billigklamotten das Du dem Personal vorgeschrieben, ebenso extrem bei Puma oder bei Starbucks, etwa wenn der bestellte Kaffee ausgerufen wird mit: «Alexandra, dein Cappuccino!» Die gebeugte, weißhaarige Alexandra nimmt’s gelassen hin.

Ein Mann von Mitte vierzig, in meinen Augen jugendlich, sehr sportlich, besuchte mit seiner Frau einen Tanzkurs, in dem er von viel Jüngeren gesiezt wurde. Er musste um ein Du bitten und fühlte sich etwas ausgegrenzt. Eindeutig ist die Sache nirgends. Ist man auf einer Party, gar einem Familienfest, und sei es nur als ein mitgebrachter Außenseiter, so lässt man sein brettsteifes Sie am besten im Hals stecken. Verbrüderung ist angesagt (Entschuldigung: Vergeschwisterung), und alle sind vergnügt. Bei einer Party stellen sich selbst ältere Leute meist nur noch mit Vornamen vor und werden vom Gastgeber auch so eingeführt.

Bei Ikea schwankt es noch. Schriftlich gibt es ja nur das Du, damit man auch merkt, dass man in Schweden ist. Doch beim Mündlichen fällt auf, dass man trotz allem noch im alten Deutschland ist, denn die Verkäufer und Berater lassen sich sehr gern mit Sie ansprechen.

Und wie ist es am Arbeitsplatz? Arbeiter haben sich ja schon immer geduzt und haben dabei den Vorarbeiter manchmal mit einem «Sie» ausgeschlossen, um ihn zu ärgern. Christoph Bartmann, Autor eines Buches über das moderne Büro, meint, auf dem «Sie» zu bestehen sei out. «Wenn man heute das Du verweigert, gilt man ja fast als Soziopath oder zumindest als Problemfall.»

Könnte am Ende der Entwicklung das allgemeine Du stehen, wie in Schweden und natürlich in den englischsprachigen Ländern? Fachleute bezweifeln es und sehen das Du in den Läden als bloßes Geschäftsmodell, als aufgesetzte Masche. Tatsächlich sollen schon Jugendliche – ausgerechnet in Berlin-Kreuzberg – gesichtet worden sein, die ein distanzreiches «Sie» cool fanden.

Auch im Internet schwankt der Gebrauch, etwa wenn man bei Microsoft oder Apple auf den Button «Hilfe» getippt hat. Da heißt es dann abwechselnd «Wähle …» oder «Markieren Sie …». Doch einmal geriet ich an eine Website, die recht genau zu unterscheiden wusste: «Wir haben Dir diese E-Mail geschickt, um Dir zu erlauben, unser Programm weiter zu nutzen. Solltest Du zukünftig keine derartigen E-Mails wünschen, klicken Sie hier.»

Er besitzt große Schulden  Die alte Schulmeisterweisheit, man solle sich nicht schlicht oder gar primitiv ausdrücken, scheint noch lebendig. Ein Hilfsverb wie «haben» ist dann schnell verpönt. Und was sagt man stattdessen?

«Deutschland besitzt Spieler wie Gomez und Klose …» Ja, seit wann sind die denn in deutschem Besitz? Und was besitzen beide (außer viel Talent und Geld)? «Beide besitzen das Pech, dass der Bundestrainer nur Platz für einen hat.» Man kann offenbar vieles besitzen, wenn es darum geht, das arme Wörtlein «haben» durch etwas Hübscheres zu ersetzen.

«Die Itzehoer Versicherungen besitzen 553.690 Mitglieder.» Inzwischen werden es etwas mehr sein, doch egal, so stand es mal zu lesen. Was für ein Besitz! Gern auch bei Wikipedia: «Hoodys besitzen häufig auch eine tunnelartige Bauchtasche (Kängurutasche).» Und aus derselben Quelle: «Ein Lehnwort, das im Deutschen eine engere Bedeutungsspanne besitzt als im englischen Sprachraum.» Es soll die gehobene Art sein. «Sie besitzt ein zartes Lächeln» – meinetwegen.

Aber der angebliche Besitz kann noch unpassender angewendet werden. Großbritannien «besitzt das höchste Haushaltsdefizit aller EU-Staaten». «Er besitzt große Schulden.» Unter den etablierten Sprüchen ist dieser hier ja schon ein Klassiker: «Das Einzige, was ich besitze, sind Schulden.» Ein Sportredakteur stand da kaum zurück: «Der Stürmer besaß erneut große Probleme mit der Ballannahme.»

Doch damit Sie nicht denken, hochgestochen gehe nur mit «besitzen»: Es geht auch mit anderen Verben. Denn der Rat von Schulmeistern, die allzu schlichten Hilfsverben zu vermeiden, gilt allgemein. «Das stellt eine Bedrohung dar», kann man etwa hören – statt einfach «ist». Oder auch: «Draußen herrschte eine herrliche Sommernacht.» Das habe ich aus dem Roman eines Filmschauspielers, der sich auffällig um eine gehobene Sprache bemüht hat. «Verursachen» statt «machen» reicht ebenfalls für die angestrebte Vornehmheit: «Schweinsteiger verursachte zu viele Fehler.»

Aus einem Polizeibericht stammt dieser Satz: «Gestern vermochten zwei bislang unbescholtene 18-Jährige festgenommen zu werden.» Man sieht sie richtig vor sich, wie sie sich um die Festnahme bemüht haben. Und sie vermochten es, sie hatten Erfolg! Hätte man das einfache Wort «konnten» verwendet, nichts hätte schiefgehen können: «Sie konnten festgenommen werden.»

Die Farben können abweichen  «Russland provoziert mit Militärübungen.» Bei diesem Verb vermissen wir kein Objekt mehr, man muss nicht nennen, «wen» Russland provoziert. Doch das erstaunt. (Wen? Jedenfalls mich.)

Noch ein bisschen mehr stolpere ich über «Die Bestimmungen wurden 2012 angepasst». Woran wohl? Oder: «Die Farben können abweichen.» Wovon denn? Stört das niemanden mehr? Vielleicht, aber das sollte nicht daran hindern, darüber nachzudenken. Jetzt schreibe ich auch schon so. Doch wie gesagt, diese Beispiele rechne ich zum schon Gewohnten. Auch die folgenden:

«Der Minister empfängt im Wirtschaftsministerium im Pariser Stadtteil Berey …» Ok, wir ahnen es, den Reporter. «Die Bank soll bei ihren Geschäften betrogen und hintergangen haben.» Die Kunden, alle? Irgendwie wohl schon. «Die Bundeswehr will unterstützen.» Irgendwas offenbar.