Historische Biografie

Herausgegeben von

Manfred Clauss
Nikolas Jaspert
Michael North
und
Volker Reinhardt

Heinrich Schlange-Schöningen

Hieronymus

Eine historische Biografie

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Ille

 

 

 

 

Impressum

Menü

Inhalt

Einleitung

„Vater und Verteidiger der Kirche“

1 Eine Trauerfeier in Rom

Das Ideal der christlichen Askese

Der Traum vom göttlichen Strafgericht

2 Kindheit und Jugend

Das Geburtsjahr

Der Geburtsort Stridon

Hilferufe in die Heimat

Ein Sohn aus gutem Hause

Die Ausbildung in Grammatik und Rhetorik

Ein antikes Studentenleben

Eine christliche Erziehungslehre

3 Im Westen und im Osten des Reiches

Nach Trier

Ein Bekehrungserlebnis in Trier?

Die Rückkehr nach Italien

Die Reise nach Antiochia

In der Wüste

Die „Vita des Heiligen Paulus“

Das Bild des Wüstenheiligen

Hieronymus Bosch

Der Wald als Wüste

4 In den Hauptstädten

Das Schisma in Antiochia

Wieder in Antiochia

In Konstantinopel

Die „Chronik“

In Rom

Hieronymus als Kardinal …

… oder als Sekretär des Papstes?

Die Bibelrevision

Die frommen Aristokratinnen

„Gegen Helvidius“

Die gelehrten Asketinnen

Paula

Kritik an den Mönchen

Angriffe auf Hieronymus

Das frühe Porträt

5 Auf Pilgerfahrt

Die Reise nach Jerusalem

Jonas und Andromeda

In Emmaus

Jerusalem

Die Grabeskirche und das Heilige Kreuz

Der erste Aufenthalt in Bethlehem

Nach Galiläa

In der Nitrischen Wüste

6 Bethlehem

Das Klosterleben in Bethlehem

Geldsorgen

Eine fromme Kleinstadtidylle

Die Geschichte vom Löwen

Bibel und Bibelexegese

Jonas unter dem Efeu

Von der Wissenschaft der Übersetzung

Luther und Erasmus über Hieronymus

Der Bibelkommentator

Bethlehem als Zentrum theologischer Gelehrsamkeit

Augustinus kritisiert Hieronymus …

… und behält das letzte Wort

Der Streit um Origenes

Ein Leben ohne Sünde?

Triumph des Glaubens und Verfall des Staates

Tod und Bestattung

Hieronymus-Reliquien

Quellen und Literatur

Anmerkungen

Register

Einleitung

1627 zeichnete der Augsburger Astronom und Augustinermönch Julius Schiller eine neue Sternenkarte. Die alten heidnischen Bezeichnungen der Sternbilder sollten durch christliche abgelöst werden. An die Stelle der zwölf Tierkreiszeichen traten die zwölf Apostel, der kleine Bär verwandelte sich in den Erzengel Michael, Perseus wurde zum Apostel Paulus und statt des Schwans ist die Heilige Helena zu sehen, die das Kreuz Christi in ihren Händen hält. Als einziger Kirchenvater neben Benedikt von Nursia wurde Hieronymus von Schiller für würdig erachtet, in seinen Sternenatlas Coelum Stellatum Christianum aufgenommen zu werden: Er ersetzte das Sternbild des Fuhrmanns. Hieronymus trägt ein Kardinalsgewand und einen Kardinalshut, er hält eine Feder in der Hand und ist mit der Übersetzung der Heiligen Schriften beschäftigt. Wie ein treuer Wachhund schmiegt sich ein Löwe an den Kirchenvater.1

Wenn Schillers christlicher Sternenhimmel auch wenig Verbreitung fand, so beleuchtet seine Karte doch gut, welchen herausgehobenen Rang Hieronymus in der Kirche einnahm. Durch seine Bibelübersetzung, seine Briefe, seine Kommentare und Lehrschriften war er zum doctor Ecclesiae, zum Lehrer der Kirche, geworden und die Legenden, die sich mit seiner Biographie verbanden, bewiesen seine Heiligkeit. Dabei ist Hieronymus niemals Kardinal gewesen, und dass in seinem Kloster in Bethlehem ein Löwe gelebt hätte, der zahm wurde, nachdem Hieronymus ihm einen Stachel aus der Pfote gezogen hatte, wurde erst ab dem frühen Mittelalter erzählt. Die Legenden füllten das Leben des Mannes mit Episoden auch deshalb, weil er selbst nicht viel über seinen Werdegang und seine Erlebnisse berichtet. Dabei sind immerhin etwas mehr als 150 Briefe überliefert, die Hieronymus geschrieben oder erhalten hat. Sie setzen mit den siebziger Jahren des 4. Jahrhunderts ein und führen bis in seine letzten Jahre, bevor er 420 n. Chr.2 in Bethlehem starb. Die Briefe, die über den jeweiligen Adressaten hinaus immer auch an ein breiteres Publikum gerichtet sind, bezeugen das moraltheologische Engagement und die Gelehrsamkeit des Hieronymus, zeigen ihn auch in heftigen dogmatischen und polemischen Auseinandersetzungen.3 Und sie berichten mitunter von persönlichen Erlebnissen bis hin zu dem berühmten Traum, in dem sich Hieronymus vor Gottes Gericht gezogen sah, angeklagt, kein Christ, sondern ein Anhänger Ciceros zu sein.

Blickt man über die Briefe hinaus auf das gewaltige Œuvre der Schriften, die Hieronymus hinterlassen hat – in der Ausgabe der Patrologia Latina umfassen sie neun Foliobände, mehr als 5.000 Seiten, vergleichbar vom Umfang her allein mit dem Werk, das Augustinus oder der kaiserzeitliche Arzt Galen hinterlassen haben –, so wird man erwarten, dass sich sein arbeitsreiches Leben leicht und mit reichen Details nachzeichnen ließe. Doch Hieronymus hat dafür gesorgt, dass mancher Abschnitt seiner Biographie im Dunkeln bleibt, indem er etwa Briefe aus bestimmten Abschnitten seines Lebens nicht verbreitet hat. Das betrifft beispielsweise seinen Aufenthalt in Konstantinopel, wo er im Jahr 381 das zweite ökumenische Konzil miterlebte. Anderes hat er für nicht berichtenswert gehalten, so die genaueren Lebensumstände seiner Eltern. Beiläufig erwähnt er seine Heimatstadt Stridon, die sich bis heute nicht sicher lokalisieren lässt. Und Hieronymus hat darüber hinaus einzelne Erlebnisse, Einschnitte und Wendepunkte so umgeformt oder stilisiert, dass jeder Biograph vor dem Problem steht, mit mehr oder weniger gut begründeten Hypothesen arbeiten zu müssen. Wo hat seine Taufe stattgefunden? Und ging sie einher mit einer Bekehrung, dem Entschluss zur Abwendung von allem Weltlichen? Oder fand Hieronymus erst später die Kraft dazu, sich ganz seinem Glauben und dafür zugleich der Askese zu widmen? Verließ er den Westen des Römischen Reiches schon mit der festen Absicht, als Eremit in einer der Wüsten des Ostens zu leben, oder kam es, wie in älteren Biographien zu lesen ist, erst in Antiochia anlässlich einer lebensbedrohlichen Krankheit zu jenem Traum, durch den sich Hieronymus endlich mit der notwendigen Kraft ausgestattet sah, das ersehnte mönchisch-asketische Leben auch tatsächlich zu führen?

Sind schon diese Fragen kaum mit letzter Sicherheit zu beantworten, ist jede Aussage über die Persönlichkeit des Hieronymus noch riskanter. Gewiss war er ein großer Gelehrter mit Sprachkenntnissen, wie sie kaum einer seiner Zeitgenossen besaß. Bestens ausgebildet in Grammatik und Rhetorik und mit umfangreichen Kenntnissen der christlichen und heidnischen Autoren ausgestattet, vermochte er seine Briefe und Abhandlungen als Literatur auf höchstem Niveau zu gestalten, und manch ein Abschnitt zeugt von großer schriftstellerischer Begabung. In seinen satirischen Angriffen auf das verweltlichte Mönchtum in Rom wird der Kirchenvater zum Novellisten, der den Vergleich mit Theophrast oder Horaz nicht zu scheuen braucht.4 Ausgesprochen geschickt in der Auswahl der literarischen Genres und Themen hat Hieronymus die christliche Literaturgeschichte der Spätantike bereichert, indem er etwa die griechischsprachige Chronik des Euseb ins Lateinische überführte oder die Tradition heidnischer Verzeichnisse „großer Männer“ für christliche Autoren fortführte.

Aber wo wird seine Persönlichkeit sichtbar? Der Einfluss, den Hieronymus auf seinen Bruder und seine Schwester ausübte, spricht für eine Überzeugungskraft, vielleicht für ein Charisma, das sich auch im Kontakt zu den Aristokratinnen in Rom bewährt haben könnte, die Hieronymus in den achtziger Jahren um sich versammelte. Oder war es hier nur die Aura des asketischen, in der Wüste erprobten Mannes, der zugleich in der Lage war, den Westen über die theologischen Diskussionen und Erkenntnisse des Ostens zu unterrichten? Sprechen die harschen polemischen Angriffe, mit denen Hieronymus gegen jeden vorging, der seine Vorstellungen von Moral und Orthodoxie nicht teilte,5 spricht auch die hasserfüllte Feindschaft, die sich zwischen ihm und seinem einst engen Freund Rufin entwickelte, für eine gereifte, ausgeglichene Persönlichkeit oder eher für einen immer wieder aufs Neue in seinem Glauben verunsicherten Mann, der schnell um sich schlug, um jede Gefahr früh und heftig genug abzuwehren?

Mit Anfechtungen war sein Leben jedenfalls reich gefüllt, nicht nur mit den weltlichen Versuchungen, vor denen sich jeder heilige Mann der Spätantike zu bewähren hatte, sondern auch und mehr noch mit Kritik an seinem theologischen Wirken. Denn mit seinem großen Vorhaben, die Heiligen Schriften neu zu übersetzen, mit der Arbeit also, die ihm den Nachruhm in Mittelalter und Neuzeit bescherte, stieß Hieronymus lange Zeit auf Skepsis und Ablehnung. Auch die Vermittlung des Origenes in den lateinischen Westen, die Hieronymus ebenfalls jahrzehntelang durch fleißiges Übersetzen betrieb, erwies sich als Bumerang, nachdem gegen Ende des 4. Jahrhunderts die Frage nach der Rechtgläubigkeit des großen griechischen Theologen aufgekommen war. Immer wieder aufs Neue sah sich Hieronymus selbst der Gefahr ausgesetzt, als Häretiker angesehen zu werden.

„Vater und Verteidiger der Kirche“

Fanden die Zeitgenossen durchaus Anlass, Kritik an Hieronymus zu üben, so traten die mit bitterer Polemik geführte Feindschaft mit Rufin oder die Zweifel an der Rechtmäßigkeit seiner Bibelübersetzung nach seinem Tod allmählich in den Hintergrund. Nicht nur als Gelehrter, sondern auch als Vertreter der Orthodoxie, als Morallehrer und Asket wurde Hieronymus zum Vorbild und Schutzpatron, und diese vielfältige Wirkung, die sich während des Mittelalters entfaltete, reicht über die Epochen des Humanismus, der Reformation und des Barock bis weit in die Neuzeit hinein.6

Augustinus, mit dem Hieronymus nicht besonders freundlich umgegangen war, lobte zwar in seinem Werk über den „Gottesstaat“ den Gelehrten in Bethlehem für seine Sprachkenntnisse, hielt aber doch die griechische Bibelübersetzung der „Septuaginta“ für inspirierter als die lateinische Fassung, die „Vulgata“, die Hieronymus angefertigt hatte. In den siebzig Übersetzern der „Septuaginta“ habe der Geist Gottes gewirkt und so seien „die Kirchen Christi der Ansicht, daß an Glaubwürdigkeit und Gewicht niemand über jene zahlreichen, vom Hohenpriester Eleazar für dieses große Werk ausgewählten Männer zu stellen sei“.7 Trotz dieser Kritik hat sich Augustinus auf Hieronymus berufen, etwa wenn es galt, die Lehre der Erbsünde gegen Pelagius und dessen Anhänger zu verteidigen. In diesem Zusammenhang bezeichnete Augustinus Hieronymus, der für seine Gelehrsamkeit und Glaubensstärke berühmt sei, noch zu dessen Lebzeiten als sanctus, womit er das früheste Zeugnis für die Erhöhung des Kirchenvaters zum Heiligen bietet.8 Dass diese zunächst auf seinen Bibelkommentaren und seinen Briefen beruhte, bevor später seine Übersetzungsarbeit im Vordergrund stand, wird auch bei Johannes Cassianus und Gregor von Tours deutlich.

Cassian (360–435) war um 390 nach Bethlehem gelangt; hier soll er sich in einem der Klöster aufgehalten haben, bevor er nach Ägypten weiterzog, um als Eremit in der Nitrischen Wüste zu leben. Es ist wahrscheinlich, dass er in Bethlehem mit Hieronymus zusammengetroffen ist und sich vielleicht unter seinem Einfluss für das mönchische Leben entschieden hat. Nachdem er später über Konstantinopel und Rom in den Westen des Reiches gelangt war und bei Marseille ein eigenes Kloster gegründete hatte, pries er in einer seiner Schriften Hieronymus als catholicorum magister („Lehrer aller Rechtgläubigen“), der mit seinen Schriften die ganze Welt wie mit göttlichen Leuchten erhellt habe.9

Auch für Gregor von Tours (538–594) besaß Hieronymus eine herausragende Stellung als Kirchenlehrer, die ihn beinahe auf eine Stufe mit dem Apostel Paulus stellte.10 Und nicht viel später ist dann das Bemühen der Kirche fassbar, einen Kanon von älteren Kirchenlehrern festzuschreiben, denen eine besondere Autorität zuerkannt wurde. So bezeichnete Licinianus, der Bischof von Cartagena, in einem Brief an Gregor den Großen (590–604) christliche Autoren, die sich durch ihr Wissen und ihre Lebensführung ausgezeichnet hatten, als „Väter, Doktoren und Verteidiger der Kirche“.11 Umfassten Listen solcher Kirchenväter zunächst zahlreiche Namen, unter denen sich neben Hieronymus auch Cyprian (200–258) und Gregor von Nazianz (329–390) befanden, so verengte sich der Kreis bis zum Ende des 8. Jahrhunderts auf vier Personen: Gregor der Große, Ambrosius (337–397), Augustinus (354–430) und Hieronymus. Sie galten der lateinischen Kirche von nun an als die wichtigsten Theologen, deren Bedeutung auch symbolisch aufgeladen wurde, indem man sie in ihrer Vierzahl mit den vier wichtigsten Propheten (Daniel, Ezechiel, Jeremia und Jesaja), den vier Evangelisten und den vier Kardinaltugenden verband.12 Papst Bonifatius VIII. (1294–1303) fasste diese Entwicklung in einer Dekretale vom 20. September 1295 zu einem Glaubensgebot zusammen: Die Gläubigen sollten die vier Kirchenväter nicht weniger ehren als die Apostel.13 Ihre Schriften hätten die Kirche erleuchtet, die Rätsel der Heiligen Schriften aufgelöst und die Irrtümer ausgetrieben.

1
Eine Trauerfeier in Rom

Im Jahre 384 wurde in Rom eine junge Frau unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit zu Grabe getragen. Blesilla war nur zwanzig Jahre alt geworden. Da sie aus einer der führenden Familien der Stadt stammte, begleiteten viele Menschen, hoch und niedrig, den Trauerzug. Als älteste Tochter des römischen Senators Toxotius und seiner Frau Paula verkörperte Blesilla die lange Geschichte Roms: Ihre Mutter stammte aus der Familie der Aemilier und zählte zu ihren Vorfahren so berühmte Männer wie Lucius Aemilius Paullus, der 168 v. Chr. Makedonien unterworfen, oder Scipio Africanus Minor, der 146 v. Chr. Karthago besiegt und zerstört hatte.1

Unter den Trauernden befand sich auch Hieronymus, der mit der Familie der Toten eng verbunden war. Blesillas Mutter Paula hatte sich nach dem Tod ihres Mannes dafür entschieden, ihren christlichen Glauben in einer betont asketischen Lebensführung zu praktizieren, und ihre Töchter folgten ihr auf diesem Weg, für den sich Hieronymus als Seelenführer hatte empfehlen können. In häufigen Zusammenkünften mit Paula und ihren Töchtern waren moralische und theologische Fragen erörtert worden, und auch mit Blick auf ein breiteres Publikum hatte Hieronymus Briefe an die Frauen verfasst, um sie in ihren asketischen Bemühungen zu unterstützen. Was er 384 nach dem Tod der jungen Blesilla sehen und hören musste, gefiel ihm allerdings nicht. Kurze Zeit nach der Trauerfeier schrieb er einen Brief an Paula, mit dem die Mutter weniger getröstet als vielmehr zur rechten christlichen Demut ermahnt werden sollte. Denn was gab es zu trauern, wenn ein junger Mensch das weltliche Jammertal verlassen durfte?

„Nachdem Blesilla die Last des Fleisches abgelegt hatte, die Seele zu ihrem Schöpfer zurückgeflogen und nach langer Wanderung zu ihrer ursprünglichen Heimat zurückgekehrt war, wurde die übliche Leichenfeier veranstaltet. Die Reihen der Adeligen gingen vorauf, und eine golddurchwirkte Hülle breitete sich über der Bahre aus. Mir schien es, als riefe Blesilla vom Himmel herab: ‚Dieses Gewand ist nicht das meine; diese Umhüllung gehört mir nicht; solcher Pomp ist mir fremd.‘“2

Hieronymus störte sich an den traditionellen heidnischen Elementen, die auch einer christlichen Bestattung noch anhafteten, zumal, wenn es sich bei den Verstorbenen um Angehörige des senatorischen Adels handelte, der führenden Schicht der römischen Gesellschaft. Das Renommee, das Hieronymus als Moraltheologe und Präzeptor in den achtziger Jahren des 4. Jahrhunderts in der alten Hauptstadt des Reiches gewonnen hatte, beruhte auch darauf, dass er Zugang zu diesen führenden Kreisen besaß.3 Und seine Stellung erlaubte es ihm, klare moralische Richtlinien zu formulieren: Mit einem neuen, aus dem Glauben und der Glaubenspraxis gewonnenen Adel sollten die frommen, unter seiner Leitung stehenden Frauen ihren alten, aus ihrer sozialen Stellung entspringenden Adel übertreffen.4

Paula und Blesilla waren diesem Programm gerecht worden. Paula verfügte über ein riesiges Vermögen und begann damals, ihre Einkünfte für die Armen und Kranken in Rom zu verwenden. Nicht viel später, gegen Ende des Jahrzehnts, finanzierte sie den Bau der Klöster in Bethlehem, in denen sie und Hieronymus den Rest ihres Lebens verbringen sollten. Nach ihrem Tod erinnerte Hieronymus in einem Nachruf daran, dass die Wohltätigkeit Paulas in ihrer eigenen Familie auf Widerspruch gestoßen war, von dem sie sich aber nicht beeindrucken ließ. Durch die reichen Spenden hatte Paula ihr Vermögen erschöpft, „doch den Verwandten, die sie deswegen schalten, gab sie zur Antwort, sie hinterlasse ihren Kindern mit der Barmherzigkeit Christi eine noch größere Erbschaft“.5

Paulas Tochter Blesilla war erst seit vier Monaten verheiratet gewesen, als ihr Mann verstarb. Zunächst setzte sie auch als Witwe das luxuriöse Leben einer reichen Römerin fort. Dann aber erkrankte sie schwer, und sie scheint diese Krankheit als Strafe für ein sündiges Leben verstanden zu haben. Denn nachdem sie wieder zu Kräften gelangt war, bekehrte auch sie sich unter dem Einfluss von Hieronymus und Paula zu einem asketischen und glaubensstrengen Leben. Ihre christliche Bildung, ihre Demut und ihre Glaubensstärke werden in dem Trostbrief, den Hieronymus kurz nach ihrem Tod an Paula schrieb, in den höchsten Tönen gelobt. In bescheidener Kleidung und mit blassem Gesicht habe sie sich kaum auf den Füßen halten können, dabei aber immer die Schrift eines Propheten oder ein Evangelium in den Händen gehalten. Und in ihrer letzten Stunde habe sie nur darüber geklagt, dass sie ihren Entschluss, in ein Kloster einzutreten, nicht mehr habe umsetzen können.6 Als Mutter dürfe Paula nun zwar Tränen vergießen, aber doch nur in Maßen, und als Christin müsse sie dann ihr mütterliches Gefühl zurückstellen, um nicht mit zu vielen Tränen ihren Glauben zu verleugnen und Gott zu lästern.7 Es war schon schlimm genug, dass Paula während des Trauerzuges außer sich geraten war und der breiten Menge ein Schauspiel des Schmerzes geboten hatte, das Hieronymus’ Stellung in Rom gefährden konnte:

„Allzu große Anhänglichkeit an die Seinigen kann zur Pflichtverletzung gegen Gott werden. Abraham tötet freudigen Herzens seinen einzigen Sohn, und Du beklagst Dich, dass ein Kind aus Deiner großen Kinderschar die Krone erlangt hat? […] Als man Dich ohnmächtig mitten aus dem feierlichen Leichenbegängnis hinwegtrug, da fing die Menge an zu raunen: ‚Haben wir es nicht oft genug gesagt, dass es so kommen wird? Paula weint um ihre Tochter, die ein Opfer des Fastens geworden ist. Sie ist untröstlich, dass sie nicht wenigstens aus deren zweiter Ehe Enkel zu sehen bekam. Wie lange mag es noch anstehen, bis man das abscheuliche Geschlecht der Mönche aus der Stadt vertreibt, mit Steinen zu Tode wirft oder in das Wasser stürzt? Sie haben die arme Paula verführt; denn jetzt zeigt es sich, dass sie keine Nonne sein wollte. Hat doch niemals eine heidnische Mutter so wie sie ihre Kinder beweint.‘“8

Zu dem „abscheulichen Geschlecht der Mönche“ wird manch ein Römer auch Hieronymus gezählt haben. Er war zwei Jahre zuvor, 382, gemeinsam mit zwei Bischöfen, Paulinus von Antiochia und Epiphanius von Salamis, von Konstantinopel aus nach Rom gekommen. Hier wollten die drei Männer vom Bischof Damasus eine Entscheidung revidieren lassen, die kurz zuvor auf dem zweiten ökumenischen Konzil in Konstantinopel gefallen war. Dort hatte man neben dem großen theologischen Problem der Trinität auch Fragen der Kirchendisziplin beraten und den Bischofsstuhl von Antiochia nicht Paulinus, sondern nach dem Tod des Meletius dessen Presbyter Flavian übertragen (s. S. 118).

Die Reisenden wurden in Rom in den Häusern christlicher Aristokraten beherbergt, und da Epiphanius bei der bereits verwitweten Paula wohnte, dürfte auch Hieronymus sie bald kennengelernt haben. Er war jünger als die beiden Bischöfe, hatte sich aber bereits einen Namen als christlicher Schriftsteller gemacht. Und er besaß Autorität als Asket. Denn Hieronymus hatte nicht nur eine Biographie des heiligen Einsiedlers Paulus geschrieben, sondern auch selbst einige Jahre in der syrischen Wüste gelebt. In Rom wurde Damasus schnell auf den gelehrten Asketen aufmerksam und zog ihn als Ratgeber an sich, hatte Hieronymus doch in Antiochia und zuletzt in Konstantinopel die aktuellen dogmatischen Auseinandersetzungen, von denen die Kirche des Ostens stärker betroffen war als die des Westens, genau kennenlernen können.

Mit Damasus im Rücken gewann Hieronymus in Rom an Einfluss. Bis zum Tod des Bischofs von Rom und dem der Blesilla, die beide gegen Ende des Jahres 384 verstarben, hatte er wohl kaum Kritik an seinen radikalen asketischen Positionen zu hören bekommen, wie sie dann in den Unmutsäußerungen während des Trauerzuges laut wurde. Widerspruch hatten seine Neuübersetzungen von Büchern des Neuen Testaments erfahren, doch meinte Hieronymus in Rom über so viel Rückhalt in den Kreisen der Kirche zu verfügen, dass er es sogar für möglich hielt, Nachfolger des Damasus zu werden.

Das Ideal der christlichen Askese

Mit welcher Vehemenz er seine asketischen Vorstellungen in Rom vertreten hat, zeigt sein Brief an Julia Eustochium, eine weitere Tochter der Paula. Das Schreiben an Eustochium (sie wird meistens nur mit diesem Namen bezeichnet) hat Hieronymus ebenfalls im Jahr 384 verfasst, allerdings geraume Zeit vor der Krankheit und dem Tod der Blesilla, und so lässt er hier seinen Forderungen nach Verzicht auf weltliche Freuden geradezu ungezügelten Lauf. Seiner Thematik und Länge wegen erscheint der Brief wie ein Traktat, der dem Ideal der Jungfräulichkeit gewidmet ist, und wie andere Briefe dieser Art war er nicht allein an die Adressatin, sondern an alle Christen Roms, ja des ganzen lateinischen Westens gerichtet.9 Da sich Hieronymus in dieser ‚Werbeschrift für die Jungfräulichkeit’ als asketisches Vorbild präsentiert, verrät sie einiges darüber, wie er sich selbst sah und wie er gesehen werden wollte. Und sie bringt mit dem berühmten Traum, in dem sich Hieronymus als Ciceronianer vor den Richtstuhl Gottes geschleppt sieht und in höchster Not aller heidnischen Bildung abschwört, ein gleichermaßen rhetorisch überwältigendes wie psychologisch zweifelhaftes Selbstzeugnis, vom dem aus sich die kulturellen Konflikte sowohl des Hieronymus als auch seiner Zeit genauer verstehen lassen.

Eustochium ist Hieronymus zufolge die erste junge Frau aus ‚besseren Kreisen‘, die sich für die dauerhafte Jungfräulichkeit entschieden hat. Deshalb muss sie ihrem Gelübde allen denkbaren Anfechtungen zum Trotz treu bleiben, um nicht nur nicht selbst zu straucheln, sondern auch der großen Verantwortung gerecht zu werden, die ihr als Muster rechten christlichen Lebens zukommt.10

In seinem Brief entwickelt Hieronymus eine theologische Begründung für die Askese, für die er sich auf den Apostel Paulus beruft. Dieser habe in seiner Körperlichkeit den Stachel des Teufels gesehen und ihre Überwindung als von Gott gestellte Aufgabe verstanden. Maßgeblich für dieses Verständnis sind die Worte, die Paulus an die Kolosser gerichtet hat: „‚Ertötet also‘, sagt der Apostel, ‚eure Glieder auf Erden.‘“11 Hieronymus verallgemeinert solche Aussprüche des Apostels, um mit ihm die höchste Legitimation für eine sich selbst strafende Askese zu gewinnen. Paulus, „das Gefäß der Auserwählung“, habe sich „wegen des Stachels des Fleisches“ und „wegen des Reizes zur Sünde“ selbst gezüchtigt.12

Auch wenn Hieronymus in seinem Brief an Eustochium das Fasten nicht ausführlich behandelt, weil er diesem Thema noch eine eigene Schrift widmen wollte (die er nach dem Tod Blesillas aber nicht mehr geschrieben hat), will er doch daran erinnern, dass die Heiligen Schriften „unzählige Aussprüche“ enthielten, „welche die Gaumenlust verurteilen und für einfache Kost eintreten“. Und da Adam seiner Gaumenlust wegen aus dem Paradies vertrieben worden sei, müsse es „unser ernstes Streben sein, dahin zu wirken, dass der Hunger die ins Paradies zurückführt, welche der Mangel an Enthaltsamkeit daraus vertrieben hat“.13 Auf der Grundlage dieses theologisch überraschenden Arguments, das aus der Verführung zur Erkenntnis eine Verlockung zur Völlerei macht, gelangt Hieronymus zu der praktischen Schlussfolgerung, dass die junge Eustochium ihre Freundinnen nach deren asketischer Leistungsfähigkeit auswählen soll. Nur die soll sie auswählen, die durch Fasten mager und deren Gesichter blass geworden seien.14

In eine theologische Grauzone gerät Hieronymus bei seiner anschließenden Warnung vor dem Verlust der Jungfräulichkeit. Denn sollte Eustochium auf diese Weise fehlen und fallen, könnte selbst Gott ihr nicht mehr helfen. Denn Gott kann zwar eigentlich alles, aber er kann doch einer gefallenen Jungfrau ihre Jungfräulichkeit nicht zurückgeben.15 Neben diesem Argument der Abschreckung steht das Versprechen, mit der Jungfräulichkeit dem Paradies nahe zu sein, denn der Mensch sei in seinem ursprünglichen Zustand ohne Geschlechtsleben gewesen. Erst als Eva ihre Blöße bedeckte, kam es zur ersten Ehe unter den Menschen. Die Ehe ist also das Kennzeichen des menschlichen Lebens nach dem Sündenfall.16

Damit will Hieronymus nicht generell den Wert der Ehe bestreiten. Er weiß, dass er mit seiner Position ohnehin schon für Ärger sorgt, denn viele Christen berufen sich auf Paulus, um den Ehestand zu rechtfertigen.17 So gesteht Hieronymus diesen Gegnern der Jungfräulichkeit auch zu, dass die Ehe eben den Sinn habe, neue Menschen zu zeugen, die dann ihrerseits jungfräulich leben könnten.18 Aber Hieronymus hält doch an seinem Ideal fest und verstärkt seinen Appell mit der Unterscheidung zwischen dem Alten und dem Neuen Bund zwischen Gott und den Menschen: Für den Alten Bund, der durch Eheschließungen und zahlreiche Geburten gekennzeichnet sei, stehe Eva, für den Neuen Bund dagegen die Jungfrau Maria. Und darüber hinaus argumentiert er auch noch eschatologisch: Da man sich in der letzten Phase der Geschichte befinde und Paulus die „bevorstehende Drangsal“ angekündigt habe, sei nun die Zeit gekommen, ganz auf Ehen zu verzichten.19

In den langen Ausführungen zu allen Gefahren und Sünden, die Eustochium bedrohen, zeigt sich, dass das moralische Konzept, das hier von Hieronymus vertreten wird, auf einer negativen Anthropologie beruht. Nach dem Sündenfall ist jeder Mensch in der Gefahr, sich in den Lastern zu verfangen, die zudem alle miteinander verbunden sind. Kann etwa eine Frau ihre Gier nach Nahrung nicht beherrschen, so ist damit zu rechnen, dass sie auch ihre Jungfräulichkeit verlieren wird.20 Nachdrücklich wird Eustochium vor Augen geführt, was ihr droht, wenn sie schwanger werden sollte. Denn Hieronymus weiß, dass ‚gefallene‘ Frauen oftmals abzutreiben versuchen. Koste die Abtreibung der schwangeren Frau aber das Leben, dann fahre sie, beladen mit dreifacher Schuld, „dem Selbstmord, dem Ehebruch gegen Christus und der Tötung des noch nicht geborenen Kindes, hinab in den Abgrund der Hölle“.21

Für Eustochium kann es aber nicht allein darum gehen, selbst jungfräulich zu bleiben. Sie muss auch darauf achten, dass sie Männer nicht zu erotischen Phantasien anregt, denn auch damit würde sie ihre Jungfräulichkeit gefährden. Sie wäre dann zwar noch eine „Jungfrau im Fleische“, nicht aber der Gesinnung nach.22 Die Verwirklichung des Ideals der Jungfräulichkeit, dem Eustochium folgen will und soll, beruht auf beständiger Selbstkontrolle, und diese kann nur gelingen, wenn eine Reihe von Regeln eingehalten wird. Hieronymus entwickelt einen ganzen Katalog von solchen Vorgaben, mit denen alle Bereiche des alltäglichen Lebens erfasst werden. Überall lauert die Gefahr des Hochmuts, der selbst ein Asket erliegen kann, wenn er seine Eitelkeit nicht bekämpft. Also muss sich Eustochium davor hüten, mit ihrer Demut und Bescheidenheit, mit Fasten und einfacher Kleidung Eindruck machen zu wollen.23 Sie soll deshalb den Kontakt auch mit den Mönchen und mit den Asketen meiden, die ihre Bußübungen öffentlich durchführen,24 und sich am besten selbst gar nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen.25

Die Rigorosität der asketischen Ideen, die Hieronymus vertritt, kulminiert in der vehementen Forderung, die sozialen Kontakte zu begrenzen oder besser noch ganz aufzugeben. Da sich Paula und ihre Töchter in den höchsten Kreisen der Gesellschaft bewegen, bedeutet dies konkret auch, dass Eustochium zukünftig keine Besuche in „vornehmen Häusern“ mehr machen soll. Die Frauen dort „bilden sich gerne etwas auf ihre Männer ein, wenn diese ein richterliches Amt oder sonst eine Würde bekleiden“, und sie wetteifern um die Gunst, die Frau des Kaisers bei sich begrüßen zu dürfen.26 Unausgesprochen wird hier von Hieronymus das Gefüge der Gesellschaft infrage gestellt: Für eine zu Jungfräulichkeit und Askese entschlossene Aristokratin wie Eustochium sind alle Kategorien des gesellschaftlichen und politischen Lebens außer Kraft gesetzt.

Der Traum vom göttlichen Strafgericht

Da Bildung ein Zeichen sozialer Distinktion ist, kann auch sie zum Hochmut verleiten. Hieronymus klagt über Frauen, die sündigen, indem sie ihre literarischen Kenntnisse zur Schau stellen. Sie begehen auf diese Weise einen „geistigen Ehebruch“, weil sie den einfachen christlichen Glauben durch gekünstelte Sprache verraten und sich mit ‚Bildungsfetzen‘ behängen.27 Solches Gehabe soll Eustochium vermeiden. Um hier eine klare Grenze auch zu den verderblichen Inhalten der heidnischen Literatur zu ziehen, zerschlägt Hieronymus zweimal hintereinander alle Verbindungen zwischen der traditionellen und der christlichen Bildung. Zunächst formuliert er eine generelle Konfrontation von heidnischen und christlichen Autoren, die das Bild völlig getrennter religiöser und kultureller Welten heraufbeschwört:

„Was hat Horaz mit dem Psalterium zu tun, was Vergil mit den Evangelien, was Cicero mit den Aposteln? Wird Dein Bruder nicht Ärgernis nehmen, wenn er Dich an einem Götzenaltar antrifft? […] Wir können nicht zu gleicher Zeit den Kelch Christi und den Kelch der Dämonen trinken.“28

Und da ihm diese rhetorisch gelungene, von seinem eigenen literarischen Werk indes nachdrücklich widerlegte Behauptung noch nicht ausreicht, greift Hieronymus zum Mittel der persönlichen Beichte, mit der Eustochium vor Augen geführt werden soll, dass die Warnungen und Ratschläge nicht allein theoretischer Natur, sondern aus dem Erleiden ihres Autors erwachsen sind. Hier soll ein längeres Zitat folgen, denn der Traumbericht, den Hieronymus im 30. Kapitel seines Briefes an Eustochium niedergeschrieben hat, ist von großer Bedeutung für das Bild, das sich spätantike Zeitgenossen und mehr noch spätere Leser von Hieronymus gemacht haben.

„Vor vielen Jahren verließ ich Heimat, Eltern, Schwester und Verwandte und verzichtete, was noch schwieriger ist, auf meinen wohlgedeckten Tisch.29 So hatte ich mich gleichsam um des Himmelreiches willen selbst verschnitten und machte mich auf nach Jerusalem, um ein Gott geweihtes Leben zu führen. Die Bibliothek aber, welche ich mir zu Rom mit großer Mühe und viel Arbeit erworben hatte, glaubte ich nicht entbehren zu können. Ich Elender fastete also, während ich den Cicero las. Nachdem ich manche Nacht durchwacht und viele Tränen vergossen hatte, welche die Reue über meine früheren Sünden gelöst, nahm ich den Plautus zur Hand. Als ich wieder zu mir selbst zurückfand, fing ich an, einen Propheten zu lesen, aber die harte Sprache stieß mich ab. Mit meinen blinden Augen sah ich das Licht nicht. Ich aber gab nicht den Augen die Schuld, sondern der Sonne. Während so die alte Schlange ihr Spiel mit mir trieb, überkam meinen entkräfteten Körper etwa um die Mitte der Fastenzeit ein Fieber, das bis ins innerste Mark drang. Es ließ mir, fast klingt es unglaublich, keinen Augenblick Ruhe und dörrte meine unglücklichen Glieder so aus, daß die Knochen kaum zusammenhielten. Man traf sozusagen schon Anstalten zu meinem Begräbnis. Der Körper war bereits erkaltet, und nur in der erstarrenden Brust zitterte noch ein Funken natürlicher Lebenswärme. Plötzlich fühlte ich mich im Geiste vor den Richterstuhl geschleppt. Dort umstrahlte mich so viel Licht, und von der Schar der den Richterstuhl Umgebenden ging ein solcher Glanz aus, daß ich zu Boden fiel und nicht aufzublicken wagte. Nach meinem Stand befragt, gab ich zur Antwort, ich sei Christ. Der auf dem Richterstuhl saß, sprach zu mir: ‚Du lügst, du bist ein Ciceronianer, aber kein Christ. Wo nämlich dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.‘ Darauf verstummte ich. Er aber gab Befehl, mich zu schlagen. Mehr noch als die Schläge peinigten mich die Gewissensqualen. Mir fiel der Vers ein: ‚Wer wird dich in der Hölle preisen?‘ Ich fing an zu schreien und zu heulen: ‚Erbarme dich meiner, o Herr, erbarme dich meiner!‘ Dieser Ruf übertönte die Peitschenhiebe. Schließlich warfen sich die Umstehenden dem Richter zu Füßen und baten, er möge meinem jugendlichen Leichtsinn verzeihen. Er möge mir Gelegenheit geben, meinen Irrtum zu büßen, jedoch die Strafe weiter an mir vollziehen, falls ich mir erneut einfallen lassen sollte, Werke der heidnischen Literatur zur Hand zu nehmen. In meiner unglücklichen Lage hätte ich noch viel mehr versprochen. Ich fing an, bei seinem Namen zu schwören: ‚Herr, wenn ich je wieder weltliche Handschriften besitze oder aus ihnen lese, dann will ich dich verleugnet haben.‘ Nach diesem heiligen Eide entließ man mich, und ich kehrte wieder zur Erde zurück. Zur Verwunderung aller öffnete ich meine Augen, aus denen Ströme von Tränen flossen, die selbst die Ungläubigen angesichts meines Schmerzes zum Glauben brachten. Es war dies kein Gaukelbild des Schlafes, es waren keine leeren Traumbilder, wie sie so manches Mal mit uns ihr Spiel treiben. Zeuge dafür ist mir der Richterstuhl, vor dem ich lag; Zeuge ist mir das schreckliche Urteil, vor dem ich erzitterte – ich habe nur den einen Wunsch, daß mir so etwas nie wieder zustößt –, meine Schultern zeigten blaue Flecken, nach dem Erwachen fühlte ich noch die Schläge. Und nachher habe ich mich mit einem solchen Eifer den göttlichen Schriften zugewandt, wie ich ihn bei der Beschäftigung mit den profanen nie gekannt hatte.“

In seiner Traumerzählung verdichtet Hieronymus den religiös-kulturellen Konflikt, der es den Christen der römischen Antike lange Zeit erschwert hatte, die Tradition der klassischen Bildung zu akzeptieren, während die Heiden in den Heiligen Schriften der Christen nur eine minderwertige Literatur erkennen konnten. Aus christlicher Sicht kam es nicht auf das Sprachniveau und Stilfragen, sondern auf die Heilsbotschaft an, die notwendigerweise einfach gehalten sein musste, um alle Menschen erreichen zu können. Was brauchte der Christ darüber hinaus an Bildung? Für sein Seelenheil war alle Wissenschaft überflüssig, vielleicht sogar hinderlich.

Obwohl die christlichen Gelehrten schon ab dem 2. Jahrhundert begonnen hatten, diese ablehnende Haltung aufzugeben und ihren Glauben mit den philosophischen und literarischen Traditionen zu verbinden, mussten Kompromisse dieser Art immer wieder neu erarbeitet werden.30 Das sieht man etwa an dem klassisch gebildeten Augustinus, für den die sprachliche wie philosophische Simplizität der christlichen Glaubenssätze ein schwer überwindbares Hindernis auf dem Weg zur Bekehrung darstellte.31 Auch der junge Hieronymus, der aus einer christlichen Familie stammte, war nicht in der Lage, seinen christlichen Glauben ohne Selbstzweifel und Gewissenbisse mit der klassischen Bildung zu harmonisieren. Sein Traumbericht ist von der scharfen Bipolarität zwischen Glauben und Bildung geprägt: Zwischen dem Ciceronianer und dem Christen kann es nichts Verbindendes geben. Nur einem „Stand“ kann ein Mensch angehören. Hier geht es also um ein eindeutiges Bekenntnis. Dabei entwickelt Hieronymus in der Schilderung seines Traumes eine Dramatik der Bekehrung, der jegliche Freiwilligkeit fehlt. Der letztendliche Verzicht auf die geliebte heidnische Literatur wird durch Gewalt erzwungen.

Die Folterszene vor dem Richtstuhl Gottes erinnert an die Verhöre und Peinigungen aus christlichen Märtyrerlegenden. Doch der Vergleich geht nicht auf. Denn während ein Märtyrer allen Drohungen zum Trotz an seinem Glauben festhält, gibt Hieronymus im Traum nach und schwört, sich gerade von dem abzuwenden, was dem Urteil des höchsten Richters zufolge sein eigentlicher Lebensinhalt ist. Da der Verzicht auf die heidnische Literatur ein „durch Folter und Todesgefahr erzwungener Akt“ sei und „die verleugnete pagane Kultur in Analogie zum Glauben der Märtyrer unsinnig aufgewertet werde“, so hat Barbara Feichtinger geurteilt, werde die Selbststilisierung des Hieronymus als Märtyrer letztlich „zur Groteske“.32 Sie hat auch darauf hingewiesen, dass sich Hieronymus in einer Tradition christlicher Träume und Visionen bewegt, zu der Paulus’ ‚Damaskuserlebnis‘ und Konstantins Traum vor der Schlacht an der Milvischen Brücke gehören, und sich so „in die Zahl jener Auserwählten einreiht, die Gott/Christus von Angesicht zu Angesicht sehen durften“.33 Aber welches Bild wird hier von der christlichen Religion gezeichnet? Der Gott, der den Anhänger Ciceros beinahe zu Tode prügeln lässt, ist seiner Kreatur nicht gerade liebevoll zugewandt.

Auf Eustochium scheint weder die Traumerzählung noch die Nachdrücklichkeit, mit der Hieronymus seine christliche Morallehre vertrat, abschreckend gewirkt zu haben. Sie hat Hieronymus und ihre Mutter Paula wenig später in das Heilige Land begleitet und ihr Leben in dem in Bethlehem gegründeten Kloster zugebracht. Hieronymus seinerseits hat keineswegs darauf verzichtet, in seinen Schriften Cicero und andere heidnische Autoren, Horaz etwa oder Vergil, zu zitieren. Der „größere Eifer“, mit dem er seit seinem Traum die christlichen Schriften studiert haben will, hat seinen früheren Freund, dann aber schärfsten Kritiker Rufin später nicht davon abgehalten, Hieronymus einen klaren Eidbruch vorzuwerfen, und Hieronymus sollte es einige Mühe bereiten, sich dagegen zu verteidigen.34

Die Bekehrung Paulas durch den Heiligen Hieronymus. Gemälde von Sir Lawrence Alma-Tadema, 1898.

1898 malte der Niederländer Lawrence Alma-Tadema (1836–1912) in London sein gleichermaßen romantisches wie historisierendes Ölgemälde „Die Bekehrung Paulas durch den Heiligen Hieronymus“. Es ist eines von wenigen Bildern der Kunstgeschichte, auf denen Hieronymus mit Paula zu sehen ist. Kein anderer Maler hat es indes gewagt, das Thema auf diese Art darzustellen, spielt das Werk doch mit der erotischen Spannung zwischen zwei jungen Menschen. Paula ist in ihrer angedeuteten Laszivität, hingestreckt auf ein Leopardenfell, noch ganz in der Schönheit der Welt verfangen, von der sie selbst ein Teil ist, während der Kirchenlehrer die Keuschheit, wie seine Haltung zeigt, verinnerlicht hat. Er ist nur noch moralisches Gewissen, und allein auf dem Weg, auf den sein erhobener Zeigefinger verweist, werden Paula und er zueinanderfinden. Auf dem Gemälde indes geht die Anziehungskraft von Paula aus, die dem heiligen Mann nur ihre Schulter zeigt und mit ihrer Hand auf die Weinschale und eine Szenerie weist, die vom Dionysoskult erfüllt ist.

Für Alma-Tadema stoßen in der Begegnung zwischen Paula und Hieronymus zwei Welten aufeinander: die durch Dekadenz geprägte und zum Untergang verurteilte römische Antike und das Christentum, dem die Zukunft gehört.35 Diese aber wird karg und dunkel sein. Auch Paula scheint noch nicht zu ahnen, wie ihr zukünftiges Leben aussehen wird.

Auf historische Details braucht ein bildender Künstler nicht zu achten. Ist die Paula auf dem Gemälde nicht zu jung für die Frau, die in der Mitte der achtziger Jahre des 4. Jahrhunderts mit Hieronymus zusammentraf? Beide, Paula wie Hieronymus, waren etwa gleich alt und damals in der Mitte ihrer dreißiger Jahre. Das Porträt, das Alma-Tadema malte, würde besser zu Paulas Tochter Blesilla passen, zu deren Konversion Hieronymus seinen Teil beigetragen hat. Paula dagegen hatte ihre Entscheidung für ein streng christlich-asketisches Leben schon einige Jahre früher getroffen, also noch vor der Ankunft des Hieronymus in Rom. Im Unterschied zu ihrer Tochter Blesilla erreichte Paula als Asketin an der Seite des Hieronymus wenigstens ein mittleres Alter: Mit 56 Jahren ist sie 404 in Bethlehem gestorben.

2
Kindheit und Jugend

Aus den Briefen und Abhandlungen, die Hieronymus während seines Aufenthalts in Rom verfasste, spricht ein selbstbewusster Asket, der rigoristische Positionen vertritt. Positionen, die nicht nur in heidnischen Kreisen, sondern auch innerhalb der christlichen Gemeinde Kopfschütteln ausgelöst haben. Für die von asketischen Idealen überzeugten Aristokratinnen war Hieronymus dagegen ein wichtiger Gesprächspartner und ‚geistlicher Vater‘, dem einige von ihnen wenige Jahre später nach Bethlehem folgen sollten. Wie war Hieronymus in diese Position gelangt? Welche Entwicklungen hatte er in seinem frühen Leben durchlaufen, welche Entscheidungen getroffen? Leider ist Hieronymus mit autobiographischen Aussagen recht zurückhaltend und berichtet nur wenig über seine Herkunft, Kindheit und Jugend, seine Ausbildung und religiöse Formung. Manchmal erwähnt er das eine oder andere Ereignis (wie etwa seine Taufe), und einige Daten zu seiner frühen Vita lassen sich aus knappen Hinweisen erschließen, aber es bleibt doch eine beträchtliche Unsicherheit, sowohl was die exakten Daten anbelangt als auch im Hinblick auf die entscheidenden Erlebnisse für die Formung seiner Persönlichkeit.1

Das Geburtsjahr

Schon das Geburtsjahr stellt die Biographen vor das Problem, mit ungenauen bis widersprüchlichen Bemerkungen des Hieronymus und einer konkreten, aber doch wohl falschen Angabe einer anderen spätantiken Quelle umgehen zu müssen. Die Daten, die in der Forschung genannt wurden, variieren zwischen dem Jahr 330 – Hieronymus wäre dann noch unter dem Kaiser Konstantin geboren worden – und einem viel späteren Zeitpunkt um 350.2 Wie kann es zu so unterschiedlichen Datierungsvorschlägen kommen? Die Frage nach dem Zeitpunkt der Geburt ist nicht nur von chronologischer Relevanz für die Vita des Kirchenvaters, sondern auch deshalb bedeutsam, weil sich die Lebensumstände spätantiker Christen durch Konstantins Hinwendung zu ihrem Glauben stark veränderten. Da Hieronymus keinen Zweifel daran lässt, von seiner Kindheit an christlich erzogen worden zu sein, würde ein frühes Geburtsjahr die Annahme nahelegen, dass seine Eltern entschiedene und bekennende Christen und als solche noch Mitglieder einer minoritären Glaubensgemeinschaft gewesen wären. Ein späteres Datum führte dagegen in die Zeit der Söhne Konstantins, unter denen deutlich wurde, dass die religionspolitische Grundsatzentscheidung Konstantins nicht mehr revidiert, sondern vielmehr mit verstärktem Nachdruck umgesetzt werden würde.3 Die Christen stellten nun zwar noch immer eine Minderheit dar, doch stand ihr Glauben nicht mehr im Gegensatz zum römischen Staat; ihn zu bekennen, verlangte weniger Mut als zuvor.

Ein näherer Blick auf die Hinweise, die Hieronymus selbst zu seinem Geburtsjahr gibt, zeigt schnell, dass die Probleme der Forschung auch aus den Finessen seiner Rhetorik resultieren, die es ihm erlaubt, Begriffe zur Bezeichnung von Lebensaltern zur Beeinflussung seiner Leser ganz unscharf einzusetzen.

Unter den Briefen des Hieronymus befindet sich ein Schreiben, das er an seinen Kommilitonen Heliodor gesandt hat.4 Hieronymus wollte seinen Freund davon überzeugen, dass es für einen asketisch gesinnten Christen keinen besseren Ort zum Leben als die Wüste geben könne. Hieronymus war mit Heliodor in Antiochia zusammengetroffen, kurz bevor er selbst in die Wüste von Chalkis gezogen war. Heliodor dagegen war in den Westen zurückgekehrt, um wenig später Priester und schließlich Bischof im norditalienischen Altinum zu werden. Nicht lange nach seiner Ankunft in der syrischen Wüste versuchte Hieronymus, den Freund zu sich zu ziehen. Damit blieb er zwar erfolglos, aber sein Werbeschreiben für das christliche Wüstenleben fand eine breite Resonanz in den Kreisen christlicher Leser. Etwa zwanzig Jahre später sagt nun Hieronymus selbst in einem Brief an Nepotian, den Neffen Heliodors, über seinen früheren Brief an Heliodor, er sei zu der Zeit entstanden, als er als „Jüngling, fast noch als Knabe, die aufwallende Leidenschaft durch ein hartes Leben in der Einöde niederringen wollte“.5 Der zweifelsfreie Bezug auf seinen mehrjährigen Wüstenaufenthalt, den Hieronymus nach seiner Ausbildung in Rom, nach einem Aufenthalt in Trier, nach seiner Reise nach Antiochia und sicher vor seinem Aufenthalt in Konstantinopel, der in die Zeit des zweiten ökumenischen Konzils (381) fällt, in den mittleren siebziger Jahren des 4. Jahrhunderts absolvierte, wird hier also mit zwei Begriffen von Altersstufen verbunden, die Hieronymus als noch sehr jungen Menschen erscheinen lassen.

Zwar meinen die Begriffe „Knabe“ und „Heranwachsender“ zunächst nicht mehr als das Alter des Kindes und das des jungen Erwachsenen, doch wurde nach römischer Vorstellung aus dem Knaben ein Mann, wenn er im Alter von vierzehn oder fünfzehn Jahren die Männertoga anlegte. Als solcher war er in die zweite Lebensaltersstufe eingetreten, die dem antiken Verständnis zufolge bisweilen ohne weitere Differenzierung bis zum Beginn des Greisenalters reichen konnte, oftmals aber auch noch weiter unterteilt wurde.6 Nun hat Hieronymus sicher nicht als Kind in der Wüste gelebt. Wenn er einen solchen Eindruck hervorrufen will, so könnte dies dem von ihm selbst propagierten Vorbild des heiligen Eremiten Hilarion geschuldet sein. Ihm hat Hieronymus eine Vita gewidmet, in der er berichtet, Hilarion sei im Alter von fünfzehn Jahren in die Nitrische Wüste gegangen.7 Als rhetorisch überformte Aussage lässt sich seine Zeitangabe zur Abfassung des Briefes an Heliodor nur so verstehen, dass sich Hieronymus rückblickend für die Zeit seines Wüstenlebens näher an der Kindheit als am Greisenalter sah, das zwanzig Jahre später, zum Zeitpunkt des Briefes an Nepotian, angeblich schon erste Spuren in seinen Körper eingegraben hat.8 Hieronymus wird tatsächlich etwa im Alter von fünfundzwanzig Jahren in die Wüste gegangen sein und mit Mitte vierzig sieht er sich schon beinahe als alten Mann.9

Eine Bestätigung für die Annahme, dass die Kindheit des Hieronymus nicht unter Konstantin, sondern unter dessen Söhne fällt, findet sich in einer beiläufigen Bemerkung, die Hieronymus in einer seiner Übersetzungen von Werken Eusebs macht. Dieser hatte in griechischer Sprache ein Verzeichnis der Orte erstellt, die in der Bibel genannt werden (das Onomasticon urbium et locorum Sanctae Scripturae). Hieronymus übersetzte das Werk ins Lateinische, wobei er den Text Eusebs an einigen Stellen zusammenstrich, an anderen aber erweiterte.10 Das Interesse an der biblischen Topographie ergab sich aus dem exegetischen Postulat, jeden Begriff der Heiligen Schrift erklären zu können, aber daneben spielte auch die Aura des sakralen Raums eine wichtige und durch das spätantike Pilgerwesen immer größer werdende Rolle. Im Verlauf seiner zweiten Reise in und durch den Orient, die er nach dem Tod des Damasus antrat, und auch weiterhin während der vielen Jahre, die er in seinem Kloster in Bethlehem lebte, hat Hieronymus die Stätten der christlichen Heilsgeschichte aufgesucht, und so zeugen mache seiner Einträge in das eusebische Onomastikon von seiner eigenen Reisetätigkeit.

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