Von Bologna nach Bologna
Verlag C.H.Beck
Die Universität ist neben Kirche und Stadt eine der Institutionen, die in Europa entstanden sind. Stefan Fischs kenntnisreiche Darstellung verfolgt ihre fast ein Jahrtausend währende Geschichte in multinationaler Perspektive und nimmt dabei ebenso den grundlegenden Wandel im Wissenschaftsverständnis in den Blick wie die sozialen Veränderungen in dieser Institution von Lehrenden und Lernenden. Vor allem der Charakter der deutschen Universität» seit 1810, die Welt der «Grandes Écoles» in Frankreich und die angelsächsischen Traditionen werden in dieser Einführung prägnant vorgestellt.
Stefan Fisch ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer. Die Universitätsgeschichte gehört ebenso zu seinen Arbeitsgebieten wie die Verfassungsgeschichte und die Geschichte der öffentlichen Verwaltungen sowie die allgemeine Kultur- und Sozialgeschichte.
1. Begriff und Anfänge der Universität: Was war an ihr neu im Mittelalter?
2. Innere Organisation der ersten Universitäten
3. Das europaweite Netzwerk von Universitäten: Mobilität von Personen und Ideen
4. Innovation und Kreativität als Ziel? Inhalte von Wissenschaft im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit
5. Verengung und Erweiterung, Erstarrung und Reform: die Universitäten in der Frühen Neuzeit
6. Universitätsreform nach 1800 I: Frankreichs Weg zu einem dualistischen System mit Vorrang der «Grandes Écoles»
7. Universitätsreform nach 1800 II: Humboldts Berliner Universität von 1810 in Zielen und Wirkungen
8. Die Ausstrahlung des neuen preußischen Universitätsmodells in den deutschsprachigen Raum
9. Universitätsreform nach 1800 III: Weiterentwicklungen zwischen Nützlichkeitsansprüchen von außen und Selbsterziehung von innen
10. Verblassen und neue Lebendigkeit der humboldtschen Universitätsidee seit dem Ende des 19. Jahrhunderts
11. Tiefe Krise der deutschen Universität in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus
12. Wiederanfang 1945 in beiden deutschen Staaten
13. Epilog: Von Bologna nach Bologna
Zeittafel
Quellen und Literatur
Personenregister
Orts- und Universitätsregister
Der Begriff für die Universitäten, das lateinische Wort «universitas», wurde in ihrer mittelalterlichen Entstehungszeit anders verwendet, als dies heute üblich ist. Wenn wir heute Universität erklären wollen, denken wir gerne zuerst an die umfassende Vielzahl der an ihr erforschten und gelehrten Fächer oder an ihre Leistungen in der Zusammenführung dieser sehr unterschiedlichen Wissensgebiete. Damals aber drückte der Begriff der «universitas» etwas anderes aus. Er bezeichnete allgemein eine von vielen sozialen Strukturen, die alle durch ein Sonderrecht organisiert waren, was zur Unterscheidung noch einen präzisierenden Zusatz nötig machte. Die mit dem Erwerb und der Weitergabe von Wissen befasste Organisation hieß «universitas magistrorum et scholarium», Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden, und sie grenzte sich ab etwa gegenüber der «universitas pistorum», der Zunft der Bäcker. Im Italienischen lebt diese spezifzierende Eingrenzung noch heute weiter in der Bezeichnung «Università degli Studi».
Herrschaftszeichen wie Szepter und Bestätigungszeichen wie Siegel, zu deren Führung eine Universität und ihre Amtsträger berechtigt waren, symbolisierten im Mittelalter das eigene und besondere Recht ihrer Organisation. Der Kern des Sonderrechts der Universitäten lag darin, dass sie sich nach selbstgesetzten Regeln auf hohem Niveau mit einer Reihe von Wissensgebieten befassten; besonders wichtig war dabei, dass sie selbst darüber bestimmten, wer auf welche Weise vom Lernenden zum Lehrenden aufsteigen konnte. Mit ihrem exklusiven Vorrecht der Graduierung (erst zum «magister», dann zum «doctor») sicherten sie bis heute die Exklusivität und Kontinuität ihrer eigenen Institution.
Diese Selbstständigkeit in ihrer inneren Verfasstheit unterschied die mittelalterlichen Universitäten ganz grundlegend von ihren Vorläufern in Schulen der Antike und der drei monotheistischen Weltreligionen. Die «Akademie», Platons philosophische Schule in Athen, das der weltberühmten Bibliothek angegliederte «Museion» im ägyptischen Alexandria, der zweitgrößten Stadt des römischen Reiches, das die griechische Rhetorik pflegende «Athenaeum» in Rom und das auf alledem aufbauende «Studium» in Konstantinopel – sie alle gelangten nicht zur rechtlichen Verfestigung ihrer Selbstorganisation und damit zur Anerkennung von Leistung durch Prüfung und Graduierung. Ähnliches gilt für die religiöse Unterweisung. In den jüdischen Talmudschulen, den «jeschiwot», ging es um die Auslegung des Alten Testaments und der daraus entwickelten religiösen Gesetze. Sie wirkten weniger als verfestigte Institutionen, vielmehr durch die fortdauernde Autorität ihrer rabbinischen Lehrer, etwa der in ganz Mitteleuropa anerkannten «Weisen von Speyer». Die römische Kirche sorgte in den Bischofsstädten durch Domschulen dafür, dass Latein als die Sprache der Kirche und der übersetzten Texte des Alten wie des Neuen Testaments gelehrt wurde, und verbanden dies mit einer rudimentären theologischen Ausbildung. Im islamischen Mittelmeerraum schließlich sorgten arabische «Medresen» von Bagdad und Damaskus bis zum spanischen Cordoba und Toledo für Kenntnis und Verständnis des Korans und eine religiöse Grundbildung.
In dieser langfristigen Perspektive erweist sich die im Mittelalter entstandene Universität als eine nunmehr fast tausend Jahre alte Institution, die wie die Kirche oder die Stadt prägend für Europa und seine Identität wurde. Dabei hat sie ihre äußere Form und ihre Inhalte sehr flexibel aus sich heraus verwandeln können – dies soll den Fokus dieser europäisch orientierten Universitätsgeschichte zwischen den beiden Polen einer Organisationsgeschichte einerseits und einer Geschichte von Wissen und Wissenschaft andererseits bilden.
Ab dem Jahr 1000 etwa verfestigen sich Berichte über eine medizinische Schule in Salerno im Königreich Neapel. Eine Legende sagt, sie sei von einem Lateiner, einem Griechen, einem Juden und einem Moslem gegründet. Greifbarer ist Constantinus Africanus (wohl ein Nordafrikaner), der altgriechische medizinisch-naturwissenschaftliche Texte ins Lateinische übersetzte – aus ihrer arabischen Fassung. Auch wenn es sich eher um eine Fakultät als eine Universität handelte, über deren innere Struktur man wenig weiß, wird doch sichtbar, dass es in Salerno eine intellektuelle Ofenheit und Neugier gab, dank derer unterschiedliche Traditionen im Mittelmeerraum miteinander in Kontakt traten und aufgenommen wurden.
Auch Bologna entstand am Ende des elften Jahrhunderts als Universität, die sich zunächst nur mit einem – neuartigen – Wissensgebiet beschäftigte, der Lehre vom kurz zuvor wiederentdeckten Römischen Recht. Kaiser Justinian hatte dieses begriffsscharfe und systematisierte Recht ab dem Jahre 533 in Byzanz kodifizieren und ihm dabei auch eine Zusammenfassung der gelehrten Kommentierung bis dahin beifügen lassen, die Digesten. Sie waren aber im Westen Europas und selbst in Italien in Vergessenheit geraten, bis um 1050 eine heute in Florenz aufbewahrte Handschrift aus dem 6. Jahrhundert, die «littera Florentina», wiederentdeckt wurde. In Bologna bildete sich ein Schwerpunkt ihrer Interpretation; Glossatoren betrieben schulmäßig ihre Weitergabe. Ihre Arbeit stieß in den aufstrebenden Stadtrepubliken Norditaliens auf reges Interesse, wo die Kaufleute im wiederbelebten römischen Eigentums- und Vertragsrecht verlässliche institutionelle Regelungen für ihre Fernhandelsbeziehungen fanden. Obwohl es kein Datum für die Gründung der Universität Bologna gibt, feierte sie doch 1888 deren 800. Wiederkehr. Eine Historikerkommission hatte dafür die Spanne zwischen 1080 und 1090 vorgegeben. Konkret überwog dann der Gegenwartsimpuls, das Königspaar durch die Verbindung mit der gleichzeitigen Eröffnung einer Regionalausstellung in die Stadt zu bekommen und damit mehr Aufmerksamkeit für die vom jungen Nationalstaat Italien gegenüber Turin und Neapel vernachlässigte Universität zu gewinnen.
Auch die Pariser Universität wird zwei Generationen später, um 1150, als eine sich allmählich gewohnheitsrechtlich ausbildende Organisation sichtbar. In ihr verbanden sich theologisch ausgerichtete Schulen im Umfeld der Kathedrale von Notre-Dame und unabhängige, auf Grammatik und Logik konzentrierte Schulen am linken Seine-Ufer auf der Montagne Sainte-Geneviève. Das «collège» des königlichen Kaplans und Domherrn Robert de Sorbon, Lehr- und Wohnstätte für die zumeist wenig vermögenden Studierenden in einem, gab später seinen Namen der Gesamtheit der «Sorbonne», die bis zu 50 solcher Kollegienhäuser zählte. Durch ihre Selbstorganisation gelang es den Pariser Lehrenden recht schnell, sich weitgehend von der anfänglich noch intensiven bischöflichen Steuerung zu befreien.
In Paris zeigte sich aber immer wieder auch die Macht der Studierenden, wenn sie unzufrieden waren. Um 1180 mündete das in den Auszug einer größeren Gruppe, die sich jenseits des Ärmelkanals in Oxford niederließ. In einem weiteren Schritt entstand auf dieselbe Weise im Jahre 1209 Cambridge aus Unzufriedenheit mit Oxford. Diese beiden englischen Universitäten stehen bis heute in einer ungebrochenen, in Paris vorgeprägten College-Tradition; viele Colleges waren bis vor kurzem auch stark in bestimmten Regionen verwurzelt und bauten auf einer Herkunftsgemeinschaft der Studierenden auf. Die Colleges sind weit mehr als bloße Studentenwohnheime; sie unterhalten bis heute eine breite eigene Infrastruktur für Lehre und Leben. Die meisten Lehrenden sind als «Fellows» in einem bestimmten College verankert und nicht in der Universität. Den College-Alltag bestimmen bis heute die eigenen Bibliotheken, und es erwachsen eigene Gemeinschaftsbindungen durch «Chapel» (heute ökumenisch) und «Choir», «Boat Club» und «Rugby Team» (entsprechend der englischen Tradition von Bildung durch Mannschaftsgeist). Die «Universität» ist in Oxford und Cambridge demgegenüber eher ein Verein der Colleges, der sich vor allem um die gemeinsame Organisation und Abnahme der Prüfungen kümmert.
Im Süden Frankreichs wird in Montpellier um 1150 eine Medizinische Schule und wenig später auch eine Rechtsschule um einen aus Bologna gekommenen Lehrer greifbar. Konzentriert auf diese Laien-Wissenschaften konnten sie im 13. Jahrhundert, als die Päpste im benachbarten Avignon residierten, die nachträgliche Privilegierung als Universität mit unabhängiger Stellung erreichen. In ähnlicher Weise ist auch im oberitalienischen Pavia eine 1361 offiziell anerkannte Universität aus einer deutlich älteren Rechtsschule entstanden.
Während in diesen Anfängen private Schulen und die zusammenfassende Universität noch ineinander übergehen und ein klarer Beginn des institutionellen Lebens nicht sicher auszumachen ist, gründete der leonesische König 1218 in Salamanca erstmals bewusst eine (allerdings recht kurzlebige und erst durch eine zweite Gründung fundierte) Universität. Seitdem sind fast alle Universitäten bewusst durch einen Rechtsakt der politischen Macht, sei sie fürstlich, sei sie städtisch, konstituiert und mit einer ersten Organisationsgrundlage versehen worden. Die anderen iberischen Königreiche folgten dem Vorbild Leóns noch im 13. Jahrhundert: Kastilien mit Valladolid, Portugal mit Lissabon und vor allem Coimbra und Aragón mit Lleida (Lérida). In Neapel, der Hauptstadt seines Königreichs Sizilien, gründete Kaiser Friedrich II. schon 1224 eine Universität. Sie war sehr stark auf die Machtinteressen dieses außergewöhnlichen Monarchen zentriert, der selbst mit seinem berühmten Buch über die Falkenjagd ein früher Verhaltensforscher war. Er wollte nicht nur einen Platz für die Wissenschaften in seinem Reich schaffen und aus den Absolventen der Universität die Richter und die Beamten für seinen entstehenden Verwaltungsstaat rekrutieren, sondern richtete dabei auch mit dem Verbot des Studiums im damals kaiserfeindlichen Bologna und anderswo ein Monopol seiner eigenen «Landes»universität ein, die in ihren inneren Entscheidungen von ihm abhängig wurde und weder den Studierenden noch den Lehrenden besondere Freiräume ließ. Dagegen entstand fast gleichzeitig 1222 die Universität Padua aus dem Auszug unzufriedener Bologneser Studenten. Nachdem die Universität zusammen mit der Stadt 1405 venezianisch wurde, galt sie – auch wegen der Distanz Venedigs zu den politischen wie intellektuellen Machtansprüchen von Papst und Kirche – als besonders offen. Wenn deutsche Lutheraner im katholischen Italien studierten (natürlich nicht Theologie), promovierten sie gerne hier. 1595 wurde mit der Einrichtung des ersten «Anatomischen Theaters» das Tabu über der Sektion menschlicher Körper öffentlich gebrochen, und hier lehrte Galileo Galilei von 1592 bis zu seinem Weggang nach Florenz 1610 und erforschte empirisch, gestützt auf seine Beobachtungen mit dem Fernrohr, die Planeten und ihre Monde.
Im 14. Jahrhundert folgten viele Gründungen in Frankreich und Italien, bis sich der Schwerpunkt der Universitätsgründungen allmählich vom Mittelmeerraum nach Nordosten verschob. Die erste mitteleuropäische Gründung war die der Karlsuniversität in Prag im Jahre 1348. Als König von Böhmen schuf Kaiser Karl IV. aus der Familie der Luxemburger, der selbst an der Pariser Universität studiert hatte, nach deren Vorbild nicht eine «deutsche» Universität (das hätte den Auffassungen der Zeit widersprochen, die den modernen Nationsbegriff noch nicht kannte), sondern die erste Universität in dem in der Antike niemals römisch beherrschten Teil Europas, im «jüngeren Europa» (Peter Moraw). Relativ schnell folgten dann 1364/1397 Krakau in Polen, 1365 Wien, 1367 Pécs (Fünfkirchen) in Ungarn, 1379/1392 Erfurt, 1385 Heidelberg, 1388 Köln, 1425 Löwen in Brabant und 1460 Basel in der Eidgenossenschaft. Im 15. Jahrhundert schließlich strahlte die Idee der Universität auch an den nördlichen Rand des Kontinents aus, mit den schottischen Gründungen in St. Andrews 1411, Glasgow 1451 und Aberdeen 1495 und den skandinavischen in Uppsala 1477 und in Kopenhagen 1479.
Das entscheidende gemeinsame Merkmal der Universitäten gegenüber ihren antiken Vorläufern war, dass sie als ein Raum eigenen Rechts konstituiert waren. Das bedeutete überall in Europa, dass sie nach außen, vor allem gegen die Stadt, sich abgrenzten als ein Rechtsraum mit eigenen (und anderen) Normen, und dass sie nach innen auf einer genossenschaftlichen Grundlage beruhten und wichtige Dinge mit Mehrheit entschieden. Dabei gab es zwei Ausprägungen dieses genossenschaftlichen Organisationsrahmens. Das ältere Modell war das einer Genossenschaft der Studierenden, wie es schon in Bologna zu finden ist. Hier schlossen sich die Studierenden, die ja fast alle Fremde in der Stadt waren, nach ihrer Herkunftsregion in sogenannten «nationes» zusammen. Das waren religiös fundierte Schwurgemeinschaften auf Zeit mit dem Ziel der gegenseitigen Hilfe und des Rechtsschutzes, vor allem gegenüber der Stadt und ihren Bürgern. Studierenden aus Bologna verbot ihre Stadt dagegen die Zugehörigkeit zu einer «natio», um der Gefahr einer doppelten und damit weniger verbindlichen Loyalität zu entgehen. Regelmäßige gemeinsame Messen und Prozessionen und die Verehrung des eigenen Schutzheiligen bestärkten symbolisch die Bindung zwischen den Mitgliedern einer «natio». Insgesamt gab es in Bologna drei «nationes» für die aus Italien kommenden (eine lombardische, eine toskanische und eine römische) und 14 ultramontane für die von jenseits der Alpen kommenden Studierenden. In Überlagerung mit einer Einteilung nach Studienfächern waren diese Bologneser Nationen in drei «Universitäten» zusammengefasst, je einer für die Juristen aus Italien und für die Juristen von jenseits der Alpen, und einer dritten für alle übrigen Studierenden. Die drei Universitäten ihrerseits hatten sich zur eigentlichen Universität zusammengeschlossen, die als «confoederatio universitarum» bezeichnet wurde. 1796 hob Napoleon sie – nach französischem Vorbild – ersatzlos auf.
Aus diesem komplexen Organisationsgefüge wird besonders deutlich, dass «universitas» eben nicht auf den Universitätsbegriff von heute zielt, sondern auf die Selbstständigkeit und Entscheidungsmacht einer Organisation von gleichartig Tätigen. Die Bologneser Ausprägung dieses genossenschaftlichen Modells bedeutete, dass die Studierenden als Träger der Organisationen alle wichtigen Fragen ausführlich diskutierten und dabei lernten, ihre Meinung begründet zu vertreten. Die Durchführung der Beschlüsse sicherten Ämter mit einer meist sehr kurzen Amtszeit (von einem Monat bis zu einem Jahr), in die man gewählt wurde. Selbst der Rektor kam aus dem Kreis der Studierenden, wobei man zur Erfüllung der mit dem Amt verbundenen repräsentativen Verpflichtungen gerne vermögende Mitstudenten wählte, oftmals Söhne von Adeligen.
Paris war demgegenüber straffer organisiert; hier gab es nur eine «universitas», und sie war sehr bald unterteilt in die vier noch zu beschreibenden klassischen Fakultäten. Studentische Organisationen nach der Herkunft gab es in Paris zwar (eine französische, normannische, picardische und für alle anderen die englische «natio»), aber nur bei den Studienanfängern im recht überlaufenen Vorbereitungsstudium der «Artes»-Fächer. Die Dekane der Fakultäten und der Rektor der Universität wurden auch in Paris gewählt, aber nur durch die Genossenschaft der Lehrenden. Im Unterschied zu Bologna war das Studium in Paris stärker internatsmäßig gestaltet und damit mehr von den Lehrenden gesteuert. Aus diesem Vergleich heraus lässt sich die Frage nach der «ersten Universität» differenzierter beantworten: Nimmt man den Gedanken der kooperativen Autonomie in Form einer rechtlich geordneten Genossenschaft aller Beteiligten als Hauptkriterium, dann ist Bologna die älteste Universität. Betont man dagegen die Autonomie vor allem der Lehrenden und deren genossenschaftliche Selbstverwaltungsrechte nach innen, insbesondere in Fragen von Lehre und Prüfungen, dann ist Paris die älteste.
Im eigenen Rechtsraum der Universität zeigt sich das mittelalterliche Verständnis von Freiheit, die immer sehr konkret gedacht wurde. Universitäten bestimmten selbst ihre Regeln, nahmen eigenständig ihre Mitglieder auf und schlossen sie gegebenenfalls auch aus und hatten die Macht, Verstöße gegen ihre Regeln selbst zu sanktionieren. In diesem Sinne wurde im Mittelalter jedes Privileg als ein spezifisches Recht auf eine Freiheit verstanden und nicht alle zusammen als Verstoß gegen das Gleichheitsprinzip diskreditiert wie bei der Auflösung der französischen Universitäten im Zuge der Revolution.
Der Kanzler, manchmal auch Vizekanzler, war nicht wie heute in deutschen Universitäten der leitende Verwaltungsbeamte, sondern der Vertreter des Papstes, der oftmals den örtlichen Bischof zu diesem Amt bestimmte. Seine Hauptaufgabe beschränkte sich sehr bald darauf, die akademischen Grade formell zu verleihen, die letztlich aus der päpstlichen Autorität legitimiert waren. In der Realität hatte er kein eigenes Prüfungsrecht und war gebunden an den Vorschlag der Lehrenden – das war ein zentrales Element von deren genossenschaftlicher Selbstbestimmung.
Der Rektor vertrat die Universität nach außen und leitete nach innen ihre kollegial aufgebauten Organe. Vielfach gehörte zu seinen Amtspflichten, das Richteramt über die Angehörigen der Universität auszuüben. Dazu zählten weit mehr Personen als nur die Lehrenden und Lernenden, nämlich auch die Frauen und Familien und Dienstboten der Professoren, alle weiteren Beschäftigten der Universität und eine Reihe von Handwerkern, die zu ihr und nicht zu den Zünften in der Stadt gehörten. Das waren zum Beispiel Papiermacher, Schreiber, Illuminatoren und Handschriften- und Buchhändler, von denen manche ja noch heute als «Universitätsbuchdrucker» oder «Universitätsverlag» firmieren. Für sie bedeutete dieser Status früher, dass sie und ihre Autoren einer – gewöhnlich milderen – Zensur durch den Rektor der Universität unterworfen waren. Wenn es einen studentischen Rektor gab, dann waren seine Rechte im Vergleich zu einem professoralen mehr oder weniger geschmälert; auf keinen Fall war ein studentischer Rektor beteiligt in Fragen von Lehre und Prüfungen. Deren Entscheidung lag immer beim «collegium doctorum», also der Versammlung der Lehrenden.
Im Mittelalter erreichten nur wenige Ausnahme-Universitäten wie Bologna, Paris, Oxford oder Cambridge eine Zahl von 1000 oder etwas mehr Studierenden und 50 bis 100 Lehrenden. Alle übrigen Universitäten waren wesentlich kleiner. Den materiellen Bedarf der mittelalterlichen Universitäten darf man sich nicht allzu groß vorstellen, aber erst recht nicht die Einnahmen aus Gebühren der Studierenden. Dies hat mit der mittelalterlichen Auffassung zu tun, dass das Wissen als Geschenk Gottes nicht verkauft werden dürfe («scientia donum Dei est, unde vendi non potest»), die aber in klarer Spannung zu dem anderen Prinzip stand, dass jeder, auch ein Lehrender, sehr wohl das Recht auf eine Entschädigung für seine erbrachte Arbeit habe. Für den förmlichen Rechtsakt der Immatrikulation, der Aufnahme in die Universität durch Leistung eines Eides der Zugehörigkeit (im schottischen St. Andrews noch heute in lateinischer Sprache), und die damit verbundene Eintragung von Name und Herkunft in die Matrikel fielen nicht allzu hohen Gebühren an. Damit wurde man akademischer Bürger («civis academicus») und unterstand der Gerichtsgewalt des Rektors; bei Vergehen füllten die Geldstrafen die Universitätskasse. Als Anerkennung für die Professoren, bei denen man hörte, wurde eine «collecta» eingesammelt. Wirklich teuer war nicht so sehr das Lernen an der Universität, sondern die Bestätigung des Lernerfolgs durch die Verleihung eines akademischen Grades. Die Prüfungsgebühren waren besonders bei Doktorprüfungen in den höheren Fakultäten sehr hoch und die allgemein erwarteten Geschenke kamen noch hinzu, etwa der bekannte «Doktorschmaus» für alle an der Prüfung Beteiligten.
Als rechtlich selbstständige Institutionen, die zudem vom Papst als der höchsten Autorität legitimiert waren, konnten die