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Christian Hesse

Damenopfer

Erstaunliche Geschichten
aus der Welt des Schachs

 

 

 

 

 

 

 

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C.H.Beck

Zum Buch

Schach ist eine kleine Welt in der großen. Aber eigentlich ist es selbst auch eine große Welt. Das zeigen die Geschichten dieses Buches. Schachspielen ist nicht nur kühles Kalkül, es ist eine leidenschaftliche Aktivität. Schach nimmt unter den Spielen eine Sonderrolle ein. Es ist ein Teil des Weltkulturerbes. Wie kein anderes hat es philosophische, psychologische, mathematische Tiefe. Seine Schönheit ist an die Bewegung der Figuren geknüpft, an deren harmonische und effektive Dynamik: Wie positionieren sich angreifende und verteidigende Figuren zueinander, in welche Räume dringen sie vor, welche Linien werden überquert, welche Felder blockiert, besetzt, geräumt oder verstellt? Das königliche Spiel ist ein Reich genialer Gedanken und vielfältiger Leidenschaften.

Über den Autor

Christian Hesse, geb. 1960, promovierte an der Harvard University (USA) und lehrte an der University of California, Berkeley (USA). Seit 1991 ist er Professor für Mathematik an der Universität Stuttgart. Im Verlag C.H.Beck sind von ihm erschienen: Das kleine Einmaleins des klaren Denkens. 22 Denkwerkzeuge für ein besseres Leben (42013); Warum Mathematik glücklich macht. 151 verblüffende Geschichten (5 2014); Achtung Denkfalle! Die erstaunlichsten Alltagsirrtümer und wie man sie durchschaut (2011); Christian Hesses Mathematisches Sammelsurium (2012); Was Einstein seinem Papagei erzählte. Die besten Witze aus der Wissenschaft (32015); Wer falsch rechnet, den bestraft das Leben. Das kleine Einmaleins der Alltagsmathematik (2014).

A und H und L zuliebe

Inhalt

Vorwort

Technische Anleitung, nicht nur für Anfänger

  I. Ein großer Moment im Schach

  1. Als die Welt schachverrückt wurde

 II. Das unsichtbare Spiel

  2. Von unübersehbarer Unsichtbarkeit

  3. Schach ist vollkommener als das Leben

  4. Humor im Schach

III. Schach-Geschichten

  5. Ultra-Aussetzer

  6. Nur Bauern können, was Bauern können

  7. Die ewige Wiederkehr des Gleichen

  8. Die Umwandlung von Materie in Energie

  9. Millenniumsprobleme

10. Fehlgriffe, Aussetzer, Kurzschlüsse (1)

11. Fehlgriffe, Aussetzer, Kurzschlüsse (2)

12. Fehlgriffe, Aussetzer, Kurzschlüsse (3)

13. Intelligente Loopings

14. Schach und Computer (1)

15. Schach und Computer (2)

16. Schach und Computer (3)

17. Ein Abend mit Anand

18. Frühe Damenopfer

19. Die Mutter und die Großmutter aller Züge

20. Aus dem Reich der Schachprobleme

21. Die 50-Züge-Regel

22. Searching for Bobby Fischer (1)

23. Searching for Bobby Fischer (2)

24. Die goldene Ära des Schachs

25. Königliches

26. Positionelle Opfer

27. Spielstark, spielstärker

IV. Schach und Mathematik

28. Ein Schachbrett-Paradoxon

29. Das Paritätsprinzip

30. Gerade oder ungerade beim Schach

31. Korrespondierende Felder

Dank

Literatur

Bildnachweis

Autor

Letzten Endes

Letztlich ist Schach einfach nur Schach –
nicht das Beste auf der Welt und nicht
das Schlechteste auf der Welt,
aber es gibt nichts wirklich Vergleichbares.

W. C. Fields

Vorwort

Schach ist eine kleine Welt in der großen. Aber eigentlich ist es selbst auch eine große Welt.

Das zeigen die Geschichten dieses Buches. Aber irgendwie anders als anderweitig angeboten. Sie sind kunterbunter und munterer als alle trocken-theoretischen Selbstverbesserungsratgeber. Sie sind erstens nicht immer ernst und zweitens durchgehend gut gelaunt. Sie zeigen Gedanken auf, die man sich zum königlichen Spiel auch machen kann: über frühe Damenopfer, lange Königswanderungen, Kurzschlüsse der Weltmeister und grandiose Mattkombinationen. Von der stillen Studie bis zur lautstarken Schach-Schlacht ist alles vertreten, von Cocktail bis Molotow.

Die Darreichungsform als Happy-Hour-Häppchen ist feierabendfreundlich. Die präsentierten Tüfteleien sind Denkeinladungen für Tüftler und Laien. Durchweg sind das Schachsachen vom Feinsten für Feinschmecker. Und für Liebhaber lehrreicher Meisterstreiche.

Das Schachspiel begeistert auf vielfältige Weise.

Schach ist spannend und entspannend zugleich. Jeder, der schon einmal eine Partie gespielt hat, die auf des Messers Schneide stand, weiß, dass dabei sehr intensive Gefühle erlebt werden können. Schachspielen ist nicht nur kühles Kalkül, es ist eine leidenschaftliche Aktivität.

Schach ist aber auch eine erholsame Lockerungsübung in einer schnelllebigen Welt, eine beschauliche Insel in der unruhigen See des täglichen Lebens. Es lädt zum Kraftschöpfen ein. Und es gibt viele Möglichkeiten der sinnhaften Beschäftigung mit Schach diesseits des Spielens umkämpfter Turnierpartien.

Schach ist eines der ältesten Brettspiele. Aus nachweisbaren Anfängen im Nordwesten Indiens vor mehr als zwei Jahrtausenden hat es die Welt erobert und Einzug gehalten in alle Kulturen aller Länder rund um den Globus. Heute spielen mehr als 200 Millionen Menschen auf der Welt aktiv Schach.

Schach nimmt unter den Spielen eine Sonderrolle ein. Wie kein anderes hat es philosophische, psychologische sowie mathematische Tiefe. Es spiegelt in symbolischer Form und in vielschichtiger Weise Grundaspekte der menschlichen Existenz wieder. Es ist nicht nur Geist, sondern auch Leidenschaft. Es ist mehr als nur Sport, Spiel und Spannung. Wer es lernt, der lernt auch etwas fürs Leben:

Schach fördert die Konzentrationsfähigkeit und die Gedächtnisentwicklung. Es erzieht zu logischem Denken, entwickelt die planerische Phantasie und schöpferische Kreativität. Es schafft Selbstmotivation, lehrt geistige Unabhängigkeit und hilft soziale Schranken zu überwinden. Es trainiert Entschlusskraft, Zielstrebigkeit und Ausdauer. Kurz gesagt: Schach ist ein großer Schlauermacher.

Schon damit erfüllt es ein Übersoll.

Und noch mehr ist zu sagen. Schach ist schön. Es ist eine Quelle stark spürbarer Schönheit. Seine Schönheit ist an die Bewegung der Figuren geknüpft, an deren harmonische und effektive Dynamik: Wie positionieren sich angreifende und verteidigende Figuren zueinander, in welche Räume dringen sie vor, welche Linien werden überquert, welche Felder blockiert, besetzt, geräumt oder verstellt? Und was sind die Ideen, die alldem zugrunde liegen?

Ein Teil der hier versammelten Texte hatte schon ein richtiges Leben in der richtigen Welt. Drei Kapitel des Inhalts bestehen aus ausgewählten Kolumnen, die der Autor über viele Jahre für diverse Schachpublikationen geschrieben hat, darunter die Zeitschrift KARL, die Schachwelt und das Internetportal Chessbase. Die Beiträge sind hier erstmals zusammengestellt, sie wurden aktualisiert und auch sprachlich überarbeitet. Wer die Figuren richtig aufstellen, unfallfrei mit ihnen ziehen und sie sinnvoll einsetzen kann, wird Interessantes darin finden. Fortgeschrittenes Schachwissen aus dem Spezialistencamp ist nicht erforderlich.

Der vierte Teil wurde eigens für dieses Buch geschrieben. Er präsentiert faszinierende Beziehungen zwischen Schach und Mathematik. Doch seien Sie unbesorgt: Auch bei schwacher Kondition ist dieser Teil mit gesundem Menschenverstand verstehbar. Selbst für bekennende Mindermathematiker reicht eine kleine Prise einfacher Schulmathematik.

In diesem Buch steckt sehr viel Herzblut. Schach und Mathematik, das Königliche Spiel und die Königin der Wissenschaften: Beide sind sie Jahrtausende alt, doch immer noch jung. Mathematik ist noch längst nicht zu Ende gedacht, Schach ist noch längst nicht ausgespielt.

Schach und Mathematik begleiten den Autor, solange er zurückdenken kann. Schach und Mathematik berühren die Seele. Beide haben wie die Liebe, die Literatur und die Musik die Fähigkeit, Menschen glücklich zu machen.

Den Feinschliff erhielt dieses Buch, als ich im Sommer 2014 zu Forschungszwecken in Kalifornien war. Bei diesem Aufenthalt ergab sich auch wieder die Gelegenheit, meinen väterlichen Freund Ashleigh Brilliant in Santa Barbara zu besuchen. Ashleigh war einer der Philosophen der Hippie-Bewegung. Im Summer of Love des Jahres 1967 hielt er tägliche Vorlesungen im Haight Ashbury District von San Francisco, von dem die Bewegung ausging. Zuvor hatte er mit ein paar Dutzend Gleichgesinnten ein Schiff zur «Floating University» umfunktioniert. Die Gruppe ging an verschiedenen Orten vor Anker, hielt Vorlesungen und Teach-ins rund um den Globus.

Ashleigh Brilliant ist Doktor der Geschichtswissenschaft, doch widmet er seit Jahrzehnten einen beträchtlichen Teil seiner Zeit dem Schreiben von Aphorismen.

Eine große amerikanische Tageszeitung nannte ihn einmal den einzigen professionellen Vollzeit-Aphoristiker der Weltgeschichte. Von der Vermarktung seiner inzwischen mehr als 10.000 geistreichen Einzeiler, die jeweils höchstens 17 Wörter umfassen, bestreitet er seinen Lebensunterhalt. Am 9. Dezember 2013 feierte er seinen 80. Geburtstag; der Bürgermeister von Santa Barbara verlieh ihm bei dieser Gelegenheit den Titel «Weiser Alter Mann auf dem Berg».

Am 6. August 2014 lud mich Ashleigh in sein Haus ein, und wir arbeiteten gemeinsam an einem maßgeschneiderten Aphorismus für dieses Buch.

Nach etwa einer halben Stunde gemeinsamer Arbeit sah die vom brillanten Aphoristiker beschriebene Seite so aus.

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Abbildung 1: Die Handschrift des Aphoristikers

Unser gemeinsames Brainstorming zum Titelthema dieses Buches führte zu folgendem Gedankensplitter:

Only in the world of chess

May it be wise to sacrifice

a beloved Queen

For the sake of a cowardly King.

 

Nur in der Welt des Schachs

Mag es weise sein

eine geliebte Königin zu opfern

Um eines feigen Königs willen.

Ashleigh Brilliant & Christian Hesse

Schach und Mathematik sind gut für uns. Man sollte sich darauf einlassen. Zum Mitgrooven lade ich Sie herzlich ein, Ihr

Christian Hesse

Mannheim und Santa Barbara, Februar 2015 und öfter danach

Technische Anleitung, nicht nur für Anfänger

Das Buch setzt lediglich voraus, dass Sie wissen, wie die Figuren im Schach ziehen. Wie die Züge der Figuren schriftlich festgehalten werden und was einige Schachausdrücke bedeuten, soll in diesem Abschnitt kurz erläutert werden.

Beginnen wir mit Brett und Figuren. Zunächst ist zu beachten, dass ein Schachbrett vor Spielbeginn so gelegt wird, dass vor jedem der beiden Spieler in der rechten unteren Ecke ein weißes Feld ist.

Die Reihen (waagrecht) des so gelegten Schachbrettes kann man sich mit den Ziffern von 1 bis 8 durchnummeriert denken. Ebenso werden die Linien (senkrecht) als mit den Buchstaben von a bis h bezeichnet gedacht. Jedem der 64 Felder auf dem Brett ist somit ein Buchstabe und eine Zahl zugeordnet, mit denen es bezeichnet wird. Das Feld in der linken unteren Ecke erhält die Bezeichnung a1.

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Abbildung 2: Bezeichnung der Felder

Die weißen Figuren stehen auf den Reihen 1 und 2, die schwarzen Figuren auf den Reihen 7 und 8. Die Züge der Figuren können auf mehrere Arten notiert werden. Bei der ausführlichen algebraischen Notation wird zuerst der Anfangsbuchstabe der ziehenden Figur notiert, dann folgen Ausgangsfeld und Zielfeld. Bei Bauernzügen wird der Anfangsbuchstabe B weggelassen. Zieht eine Figur auf ein freies Feld, so wird dies mit einem Bindestrich «–» zwischen Ausgangs- und Zielfeld gekennzeichnet, bei einem Schlagzug stattdessen mit dem Buchstaben «x». Bei einem Schachgebot wird hinter dem Zielfeld ein «+» angefügt, bei Matt ein Rautesymbol «#». Ein starker Zug wird mit «!» gekennzeichnet, ein sehr starker mit «!!», ein fraglicher Zug mit «!?», ein schwacher mit«?», ein sehr schwacher mit «??» oder «???». Das Gleichheitszeichen «=» steht für eine ausgeglichene Stellung, «+−» markiert eine für Weiß vorteilhafte Stellung, «−+» entspricht einer Stellung, die vorteilhaft für Schwarz ist.

Weitere Zeichen sind

0–0     Kleine Rochade

0–0–0  Große Rochade

e.p. Schlagen en passant. Dies ist eine Sonderregel für Bauern. Wenn sich zum Beispiel ein weißer Bauer auf der fünften Reihe befindet und ein schwarzer Bauer zieht von seiner Grundstellung auf der siebten Reihe zwei Felder nach vorne auf die fünfte Reihe direkt neben den weißen Bauern, dann kann der weiße Bauer den schwarzen so schlagen, als wäre dieser nur auf die sechste Reihe gezogen. Diese Möglichkeit besteht aber nur im unmittelbar folgenden Zug. Entsprechendes gilt umgekehrt für das Schlagen eines weißen Bauern durch einen schwarzen Bauern, der auf der vierten Reihe steht.

Züge werden fortlaufend durchnummeriert. Zuerst wird notiert, wie Weiß gezogen, dann, wie Schwarz gezogen hat. Das ergibt zwei Halbzüge, die zusammen einen Zug bilden.

Beispiele sind 12.e2–e4 Sg8–f6 25.Dg7–h8+ Th6xh8.

Ein Halbzug wird im Schach auch als Tempo bezeichnet. In bestimmten Stellungen kann man mit bestimmten Spielzügen den Gegner oder sich selbst zu Leerläufen zwingen und so je nach Bedarf ein Tempo gewinnen oder verlieren. Man nennt das: den Gegner austempieren.

Wenn eine Figur berührt wurde, muss mit ihr gezogen werden. Das ist die «Berührt-geführt-Regel». Als Fingerfehler bezeichnet man im Schach den Irrtum, dass ein Spieler eine Figur anfasst und deshalb ziehen muss, ohne es eigentlich beabsichtigt zu haben.

Die Figuren haben unterschiedliche Stärken. Mit Qualität bezeichnet man den Stärkeunterschied zwischen Turm und Springer oder Turm und Läufer.

Auch die Schachspieler haben natürlich unterschiedliche Spielstärken. Die ELO-Zahl ist eine Maßzahl für die Spielstärke eines Schachspielers. Diese wird regelmäßig aktualisiert. Die neue ELO-Zahl eines Spielers wird aus seiner alten ELO-Zahl und den seit der letzten Berechnung erzielten Spielergebnissen berechnet. Dafür wird eine mathematische Formel verwendet, in welche die mittlere Spielstärke der Gegner und die gegen sie erzielten Punkte eingehen. Je höher die ELO-Zahl eines Spielers, desto größer seine Spielstärke. Aktuell (Stand: März 2015) hat der amtierende Weltmeister Magnus Carlsen eine ELO-Zahl von 2863, durchschnittliche Vereinsspieler liegen bei etwa 1000.

Schachspieler versuchen beim Spiel bis zu einer gewissen Tiefe in die Zukunft zu schauen. Auch Schachcomputer spielen auf diese Weise. Der sogenannte Horizonteffekt tritt auf, wenn ein Computer eine Stellungsanalyse bis zu einer bestimmten Rechentiefe im Verzweigungsbaum der Stellung vornimmt und die Stellungsbewertung drastisch anders wäre, hätte er nur einen Halbzug tiefer geschaut.

Bei der algebraischen Kurznotation wird das Ausgangsfeld sowie auch eventuell der Bindestrich weggelassen. Lediglich das Figurensymbol S, L, T, K, D wird notiert sowie bei Schlagzügen der Buchstabe «x» nebst Zielfeld. Es kann aber sein, dass dann der Zug nicht eindeutig wäre, weil für das Ausgangsfeld mehr als nur eines in Frage käme. In diesem Fall wird der Zug durch zusätzliche Angabe der Linie oder der Reihe des Ausgangsfeldes eindeutig gemacht. Würde beides funktionieren, wird die Linie angegeben. Wandelt sich ein Bauer bei Erreichen der gegnerischen Grundlinie um, wird am Ende des Zielfeldes das Symbol der Figur geschrieben, in die sich der Bauer umwandelt. 1.e4 bedeutet, dass Weiß mit dem Königsbauern die Partie eröffnet hat. Mit 1…Sc6 wird festgehalten, dass Schwarz – wegen der drei Punkte nach der Zugzahl – darauf mit einem Sprung seines Damenspringers geantwortet hat. Der erste Partiezug lautet also 1.e4 Sc6.

Weitere Beispiele: 28.Kd5, 35…Sed6, 13…S4d5, 10.gxh5, 40.a8D, 39.Lf6+, 46…Txg8#

Hier finden Sie eine Liste der im Buch verwendeten Schachbegriffe:

Leichtfiguren     Springer und Läufer

Schwerfiguren     Turm und Dame

Zentrumsbauern     Die Bauern auf der e-Linie (Königsbauern) und der d-Linie (Damenbauern)

Freibauer     Ein Bauer, der von keinem gegnerischen Bauern aufgehalten oder geschlagen werden kann

Doppelbauer     Zwei Bauern gleicher Farbe auf derselben Linie

Tripelbauer     Drei Bauern gleicher Farbe auf derselben Linie

Verbundene Bauern     Auf benachbarten Linien stehende Bauern, die einander verteidigen können

Isolierter Bauer     Ein Bauer ohne Nachbarbauern derselben Farbe

Rückständiger Bauer     Ein Bauer, der gegenüber den Nachbarbauern gleicher Farbe zurückgeblieben ist

Textzug     Der Zug, der in der Partie tatsächlich gespielt wurde (im Unterschied zu anderen möglichen Zügen, die in Kommentaren zur Stellung besprochen sind)

Der Anziehende     Der Weiß-Spieler

Der Nachziehende     Der Schwarz-Spieler

Gambit     Ein Bauernopfer in der Eröffnungsphase

Abtausch     Wenn beide Seiten Figuren von gleichem Wert schlagen

Angriff     Ein Zug mit einer Figur, die im nächsten Zug eine gegnerische Figur schlagen kann

Doppelangriff     Ein Zug, der es erlaubt, im nächsten Zug eine von zwei gegnerischen Figuren zu schlagen

Decken     Wenn der gegnerische Angriff auf eine Figur so beantwortet wird, dass man beim Geschlagenwerden die gegnerische Figur zurückschlagen kann

Opfern     Wenn man dem Gegner die Möglichkeit gibt, Material zu gewinnen

Zugzwang     Wenn es ein Nachteil ist, am Zug zu sein

Tempo     Ein anderer Begriff für einen Zug

Tempogewinn     Die Tatsache, weniger Züge zu benötigen, um eine bestimmte Position zu erreichen

Tempoverlust     Die Tatsache, mehr Züge zu benötigen, um eine bestimmte Position zu erreichen

Wartezug     Ein Tempoverlust mit dem Ziel, den Gegner in Zugzwang zu bringen

Opposition     Stellung, in der sich die Könige direkt gegenüberstehen

Und noch eine wichtige Information zum Abschluss: Auf vielen Buchseiten mit einem Schachdiagramm findet sich auch ein QR-Code. Das sind die zweidimensionalen Pixelmuster aus hellen und dunklen Punkten. Wenn Sie einen solchen QR-Code vor die Kamera eines iPhones, iPads oder Android Smartphones halten, erscheint auf dem Bildschirm das Schachdiagramm. Sie brauchen dafür eine Lesesoftware wie zum Beispiel eine kostenlose QR-Code-App. Suchen Sie dazu bitte einfach in Ihrem App-Store nach «QR-Code» und installieren Sie sich eine der vielen Apps. Im Wesentlichen funktioniert jede dieser Apps über die Kamera Ihres Smartphones. Halten Sie dazu die Kamera so, dass einer der Codes aus dem Buch darin sichtbar wird. Die App sollte nun den Code erkennen und Ihnen anbieten, den enthaltenen Link im Browser zu öffnen.

Dann haben Sie die Möglichkeit, die Hauptvariante (im Buch fett gedruckt) und alle Alternativvarianten (im Buch normal gedruckt) durch Klicken einer Schaltfläche nachzuspielen. Abbildung 3 zeigt dazu ein Bild. So können Sie die Partien und Schachprobleme nachvollziehen, ohne Figuren auf einem Brett aufzubauen oder einen Schachcomputer zu starten. Einfacher geht’s nicht. Mit diesem Wissen werden die Inhalte des Buches noch leichter zugänglich.

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Abbildung 3: Die Funktion der QR-Codes

I. Ein großer Moment im Schach

1. Als die Welt schachverrückt wurde

Es ist Nachmittag, genau sieben Minuten nach fünf. Der Tag heißt 17.Juli 1972. Der Ort ist ein kleiner Raum hinter der Bühne der Laugardalshall-Arena in der isländischen Hauptstadt Reykjavík. Die meist großen Ausstellungen vorbehaltene Halle ist der Austragungsort des Weltmeisterschaftskampfes Fischer gegen Spasski.

Es ist der Anfangsmoment von Partie Nummer drei einer gewaltigen Titanenschlacht, die vielfach als Wettkampf des Jahrhunderts bezeichnet wird. Aber ich denke, es war mehr als das, mehr als das Match des Jahrhunderts: Es war das Match aller Zeiten.

In diesem Moment hatte Fischer, mit Schwarz spielend, gerade seinen ersten Zug ausgeführt. Den tosenden Applaus der mehr als tausend Zuschauer im Hauptsaal des Gebäudes konnte er nicht hören. Das Match war gerettet.

Warum das?

Und warum wurde diese dritte Partie in einem kleinen Raum, abseits der Zuschauer, gespielt?

Und warum waren die Ereignisse, die dem beschriebenen Moment unmittelbar vorausgingen, entscheidend für den Ausgang des Wettkampfs?

Um diese Fragen zu beantworten, muss man einen Blick werfen auf das, was zuvor geschehen war.

Während des Qualifikationszyklus zum WM-Kampf hatte Bobby Fischer die Großmeister Mark Taimanow, Bent Larsen und Tigran Petrosian nacheinander besiegt. Die ersten beiden wurden mit 6:0 geradewegs zerstört. Exweltmeister Petrosian, von dem einmal gesagt wurde, er würde nur alle hundert Jahre zweimal hintereinander verlieren, wurde von Fischer mit vier Siegen in Folge in Atome zerlegt.

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Abbildung 4: Die Titelseite von LIFE am 12. November 1971

Die Größe von Fischers Leistung wurde nicht nur von der Schachwelt, sondern von der ganzen Welt ehrfürchtig registriert. Es war das erste Mal, dass ein Spieler aus dem Westen, noch dazu im Alleingang, die Phalanx der sowjetischen Supergroßmeister durchbrechen konnte. Diese hatten den höchsten Titel im Schach und alles, was ihm nahe kam, seit dem Zweiten Weltkrieg fest im Griff gehabt. Nach seinem Sieg gegen Petrosian war Fischer nur noch einen einzigen Schritt vom Weltmeistertitel entfernt. Er hatte sich das Recht erworben, Boris Spasski herauszufordern.

Das Fischer-Spasski-Match begann am Samstag, den 1. Juli 1972, mit einer opulenten Eröffnungsfeier im Nationaltheater von Reykjavík auf Island. Die Präsidenten Islands und der FIDE – des Weltschachverbandes – waren ebenso anwesend wie die Botschafter und viele andere Würdenträger. Ein Platz aber blieb leer. Es war der Platz neben Boris Spasski: Es war Fischers Platz.

Fischer befand sich zu diesem Zeitpunkt in Douglaston, New York, im Haus seines langjährigen Freundes, des Internationalen Schachmeisters Anthony Saidy. Der Grund: Einige seiner Bedingungen für das Match waren von der FIDE nicht erfüllt worden.

Die Eröffnungsfeier endete und die Zeit tat das, was nur sie tun kann: sie verstrich. Auch der Zeitpunkt für die erste angesetzte Partie verstrich. Die sowjetische Delegation verlangte umgehend, diese Partie als kampflosen Verlust für Fischer zu werten, wegen Nichterscheinens.

Max Euwe, Mathematikprofessor, FIDE-Präsident und Exweltmeister, hingegen verlegte den Beginn der ersten Partie unter Bruch des Reglements um zwei Tage und räumte Fischer eine allerletzte Frist ein, bis zu der er am Spielort erscheinen müsse: 4. Juli 1972, 12:00 Uhr mittags, Ortszeit Reykjavík.

Und Schach sorgte für Schlagzeilen. Weltweit. Die Ereignisse rund um das Schach-Match beherrschten die Weltpresse. In den amerikanischen Zeitungen verdrängten sie bedeutende politische Themen wie den Vietnamkrieg und den Präsidentschaftswahlkampf auf Seite zwei. Nie zuvor war die Welt derart vom Schachfieber ergriffen.

Dabei hatte das Match noch nicht einmal begonnen. Und selbst nach Euwes Ultimatum schien keine Hoffnung zu bestehen, dass Fischer kommen und spielen würde. Dann, am frühen Nachmittag des 3.Juli, ließ der amerikanische Außenminister Henry Kissinger eine Telefonverbindung zu Fischer herstellen. Seine Worte sind denkwürdig und zeigen den Politiker als meisterhaften Psychologen:

«Hier spricht einer der beiden schlechtesten Schachspieler der Welt mit dem besten. (…) Amerika will, dass Sie da rüberfliegen und die Russen schlagen», schrieb Gudmundur Thorarinson, Präsident des Isländischen Schachverbands, später über dieses Telefonat.

Thorarinson weiter: «Fischers Anwälte haben mir erzählt, dass sie dabei waren. (…) Es war unmöglich, ihn nach Island zu kriegen. (…) Er war fest entschlossen, den Wettkampf platzen zu lassen, aber als Kissinger mit ihm sprach und ihm sagte, dass er gegen die Russen kämpfen solle, spürten sie, dass sein Gesichtsausdruck sich änderte. (…) Er war wie ein junger Mann, der als Soldat in den Kampf zog, und er erklärte: ‹Ich werde gegen die Russen kämpfen.›»

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Abbildung 5: Bobby Fischer auf dem Weg zur dritten Partie

Später, noch am selben Tag, brach Fischer auf. Er wurde zum John-F.-Kennedy-Flughafen gefahren, dort heimlich zu einem kleinen Bus von Loftleidir Icelandic Airlines gebracht und an Bord von Flug 202A geschmuggelt: Destination Reykjavík.

Die Boeing 747 startete vom JFK Airport um 22:04 Uhr mit etwa drei Stunden Verspätung. So lange hatte Fischer den Lauf der Welt angehalten, Crew und Passagiere warten lassen, von denen manche im letzten Moment ihre reservierten Plätze im Flieger räumen mussten, um Platz für Fischers Begleiter zu schaffen. Der Herausforderer war auf dem Weg.

Trotz größtmöglicher Geheimhaltung erhielt das sowjetische Außenministerium in Moskau noch in der Nacht Kenntnis von dieser Tatsache und informierte umgehend die russische Delegation in Reykjaík: «Fischer kommt.»

Fischer kam in den frühen Morgenstunden des 4.Juli auf der Insel an. Seine Maschine landete auf Islands Keflavik Airport etwa zehn Stunden vor der Frist, die Euwe ihm gesetzt hatte, um gegen Spasski anzutreten.

Mit Fischers Ankunft auf Island waren jedoch nicht alle Probleme plötzlich überwunden. Eine neue Art von Problemen tauchte unerwartet auf. Wie Gudmundur Thorarinson andeutete:

«Ihr Amerikaner denkt, das einzige Problem ist, Bobby hierherzubekommen. Ihr begreift nicht, dass es genauso wichtig – und vielleicht sogar noch schwieriger – ist, die Russen hier zu halten.»

In der Tat waren die Russen erzürnt über die zusätzliche Frist von zwei Tagen, die Fischer von Max Euwe eingeräumt worden waren. Innerhalb ihrer Delegation gab es nun Überlegungen, das Match abzusagen. Hinter den Kulissen fanden zahlreiche Treffen statt, zu jeder Tages- und Nachtzeit.

Auch die Politik war eingeschaltet. Auf höchster politischer Ebene, der Ebene des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, war man der Ansicht, Fischers Verhalten sei eine Demütigung des Weltmeisters. Und es gibt Hinweise, dass, zumindest zeitweise, daran gedacht wurde, Spasski in die Heimat zurückzubeordern.

Der sowjetische Schachverband schickte ein äußerst scharf formuliertes Telegramm an Lothar Schmid, den deutschen Hauptschiedsrichter des Wettkampfes, in dem sich die Sowjets über Fischers Verhalten und Euwes Reaktion beklagten. Der US-Botschafter in Island, Theodore Tremblay, informierte seine Vorgesetzten in Washington, dass die russische Seite so schwierig geworden sei, dass der gesamte Wettkampf erneut zu scheitern drohe.

In dieser kritischen Situation beschloss Thorarinson, den isländischen Premierminister Olafur Johannesson um Hilfe zu bitten. Der Premierminister reagierte unmittelbar. Er kontaktierte den sowjetischen Botschafter Sergei Astavin und bat ihn eindringlich, seinen persönlichen Einfluss im Kreml zu nutzen, um sicherzustellen, dass die russische Delegation bleiben würde. Überraschend entschuldigte sich zudem Fischer am 6. Juli schriftlich und mündlich bei Spasski. Erst nach dieser unerwarteten Geste des Herausforderers schien das Match erneut auf Kurs zu sein.

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Abbildung 6: FIDE-Präsident Prof. Dr. Max Euwe, Schachweltmeister von 1935 bis 1937

Am Abend des 7. Juli fand schließlich die Auslosung der Farben im Spielsaal statt. Der Journalist Brad Darrach liefert einen Augenzeugenbericht:

«Um 20:45 Uhr begannen die Feierlichkeiten. Als Spasski die Bühne betrat, brandete starker Applaus auf. Bobby erhielt sehr viel weniger Beifall. Spasski ging zum Schachtisch und begutachtete ihn in Ruhe; er hatte ihn bereits einmal gesehen. Bobby, der die greifbaren Arrangements für das Match bislang nicht gesehen hatte, warf einen schnellen Blick auf die Bühne. (…)

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Abbildung 7: Efim Geller: Sekundant Spasskis, Ex-WM-Kandidat und herausragender Eröffnungstheoretiker. Er hatte ein positives Score gegen Fischer und galt als Angstgegner Fischers.

Der Tisch war ein winkelförmiges, modernes Stück aus schwerem Mahagoniholz, das rot glänzend poliert war. Cremefarbene Lederbezüge waren an den Seiten eingearbeitet, auf die sich die Spieler stützen konnten. (…) Bobby starrte ungefähr eine Minute auf den Tisch, ohne sich zu bewegen. Im Saal wurde es still. (…) Dann bewegte sich Bobbys Hand langsam zum Schachbrett, bis er schließlich den weißen König liebevoll berührte.

Als Großmeister Geller erklärt hatte, dass die Bedingungen des Weltmeisters erfüllt worden waren und er spielen würde, forderte Schmid Spasski auf, einen der beiden Umschläge, die er in der Hand hielt, auszuwählen. Spasski wählte den Umschlag, der – als er geöffnet wurde – Bobbys Namen zeigte. Diese Tatsache gab Bobby das Recht, die Farbwahl durch die Auswahl eines Bauern, die der andere Spieler in der Hand hielt, zu bestimmen.

Spasski nahm sich einen schwarzen und einen weißen Bauern und drehte sich dann mit geschlossenen Fäusten zu Bobby. Zuversichtlich streckte Bobby seine Hand aus und tippte auf Spasskis rechte Faust. (…) Spasski öffnete seine rechte Hand und enthüllte – einen schwarzen Bauern. Bobby zuckte kurz zusammen und schaute dann weg. ‹Mr Fischer hat Schwarz gewählt›, verkündete Schmid. ‹Deshalb hat Mr Spasski Weiß und wird den ersten Zug in der ersten Partie ausführen, die am Dienstag, den 11. Juli, um 17 Uhr beginnen wird.›»

Ob es dazu kommen würde?

Die beiden Protagonisten hatten vor ihrem Treffen in Reykjavík schon fünf Partien gegeneinander gespielt, von denen Spasski drei gewonnen hatte und zwei mit Remis geendet waren.