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Frank-Lothar Kroll

GESCHICHTE
HESSENS

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Dieses Buch bietet einen anschaulichen und allgemeinverständlichen Überblick über die Geschichte des Landes Hessen von den mittelalterlichen Anfängen bis zur Gegenwart des nach dem Zweiten Weltkrieg neu geschaffenen Bundeslandes, das mit seiner Verfassung vom Dezember 1946 seine heutige Gestalt erhielt. Frank-Lothar Kroll schildert die reiche Geschichte Hessens von den römischen und chattischen Anfängen bis zum aktuellen politischen System und bietet ein weitgefächertes Panorama von Geschichte, Politik und Kultur dieses Landes in der Mitte Europas.

Über den Autor

Frank-Lothar Kroll, Dr. phil., Jg. 1959, ist Professor für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Technischen Universität Chemnitz, Vorsitzender der Preußischen Historischen Kommission und Chairman der Prinz-Albert-Gesellschaft. Von ihm erschienen bei C.H.Beck: Die Hohenzollern (2008), Preußens Herrscher (4. Aufl. 2009), Die Herrscher Sachsens (3. Aufl. 2013), Geschichte Sachsens (2014).

Inhalt

Vorbemerkung

  I. Ursprünge

1. Vor- und frühgeschichtliche Zeugnisse

2. Kelten und Chatten

3. Römische Herrschaft

 II. Hessen im Mittelalter

1. Fränkische Herrschaft und Christianisierung

2. Auf dem Weg zur Landesherrschaft

3. Vom mittelalterlichen Territorium zum dynastischen Fürstenstaat

III. Reformation, Absolutismus, Aufklärung

1. Aufstieg und Niedergang im 16. Jahrhundert

2. Teilung und Landesausbau

3. Absolutismus und Aufklärung

IV. Strukturwandel und Neuformierung im 19. Jahrhundert

1. Umbrüche nach 1800

2. Wandlungen in Wirtschaft und Gesellschaft

3. Restauration, Revolution, Reaktion

 V. Zwischen Autonomie und Marginalisierung

1. Hessen im Kaiserreich

2. Von der Demokratie zur Diktatur

3. Nationalsozialistische Herrschaft

VI. Hessen nach 1945

1. Neuanfang und Wiederaufbau

2. Das sozialdemokratische Musterland

3. Politische und gesellschaftliche Umorientierungen

 

Literatur

Regententabellen

Register

Vorbemerkung

Mit einem Gebietsumfang von 21.115 Quadratkilometern und einer Bevölkerungszahl von 6,1 Millionen Einwohnern zählt Hessen heute zu den mittelgroßen Territorien der Bundesrepublik Deutschland. Anders als etwa Bayern oder Sachsen kann das Land allerdings nicht auf eine jahrhundertealte und im wesentlichen ungebrochene gesamtstaatliche Überlieferung zurückblicken. Seinen gegenwärtigen Gebietsumfang hat es erst vor 70 Jahren erhalten – mit der Gründung des Landes «Groß-Hessen» durch die amerikanische Besatzungsmacht am 19. September 1945. Zuvor war der Raum zwischen Werra und Neckar, Lahn und Diemel, Main und Weser in verwaltungsmäßig voneinander getrennte Territorien eingeteilt – in Kurhessen und Hessen-Darmstadt, Nassau, Waldeck und Frankfurt am Main, die wiederum jedes für sich auf eine lange historische Entwicklung von relativer Eigenständigkeit zurückblicken konnten. Erbteilungen und dynastische Sonderinteressen, konfessioneller Zwist, kriegerische Auseinandersetzungen sowie die Interventionen und Begehrlichkeiten fremder Mächte haben dazu geführt, daß es im hessischen Raum – ohnehin eine Durchgangsregion – über die Jahrhunderte hinweg nicht zu einer einheitlichen Staatsbildung gekommen ist. Dieser Tatsache trägt die hier präsentierte «Geschichte Hessens» insofern Rechnung, als sie danach strebt, die territoriale Entwicklung und individuelle Prägung jener Gebiete im Blick zu behalten, aus denen sich nach 1945 das heutige Bundesland Hessen formierte.

Andererseits gab es, auch wenn der hessische Raum jahrhundertelang in eine Vielzahl kleinerer Staaten zerteilt gewesen ist, eine sehr bewußt erlebte «gemeinsame» Geschichte Hessens. Das galt nicht nur für die Zeit des Hochmittelalters, in der die Region zu den Kerngebieten des Reiches zählte, sondern auch für die Epoche der Herausbildung landesfürstlicher Territorialherrschaften während der Frühen Neuzeit, die das Territorium der Landgrafschaft Hessen als ungeteilte geographisch-politische Einheit sah und, zumindest ansatzweise, für die nassauischen Herrschaften eine durch den Calvinismus vorgegebene vergleichbare Entwicklungsrichtung erkennen ließ. In den darauffolgenden Jahrhunderten der «getrennten» Entwicklung, in denen sich vor allem die Kasseler und die Darmstädter Linie des Hauses Hessen voneinander fort bewegten, blieb gleichwohl ein veritabler Fundus gesamthessischer Traditionen erhalten, nicht zuletzt gespeist von kulturellen, konfessionellen und landsmannschaftlichen Identitäten. Insofern vermag auch eine Betrachterperspektive, welche die neuere Geschichte der einzelnen hessischen Territorien als eine Art Vorgeschichte des heutigen Bundeslandes Hessen wertet, durchaus eine gewisse Berechtigung für sich zu beanspruchen.

In diesem Spannungsfeld von «Einheit» und «Vielfalt», von gesamthessischen Ansprüchen und regionalen Bezugsfeldern bewegt sich der Argumentationsrahmen des hier vorgelegten Buches. Es skizziert in groben Umrissen Ereignisse, Gestalten und Probleme der politischen Geschichte Hessens – mit Schwerpunktsetzungen im dynastie-, verfassungs- und verwaltungsgeschichtlichen Bereich und unter besonderer Berücksichtigung der Herausbildung parlamentarisch-demokratischer Formen politischer Partizipation im 19. und 20. Jahrhundert. Daneben stehen Aspekte der hessischen Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte, der Entwicklung von Religion und Konfession, von Wirtschaft und Gesellschaft und, nicht zuletzt, des Verhältnisses Hessens zu seinen Nachbarn in Deutschland und Europa im Mittelpunkt der Darlegungen.

Auf diese Weise entsteht das facettenreiche Bild einer deutschen Geschichtslandschaft, deren wechselvolle Geschehensvielfalt mit dem Reichtum landesspezifischer Eigenarten korrespondiert und von zahllosen prominenten Beobachtern immer wieder beschrieben worden ist. «Hessen», so urteilte das gebürtige Hanauer Landeskind Jacob Grimm 1812 im Blick auf seine damalige Kasseler Wirkungsstätte, «ist ein bergichtes, von großen Heerstraßen abseits liegendes und zunächst mit dem Ackerbau beschäftigtes Land. … Ein gewisser Ernst, eine gesunde, tüchtige und tapfere Gesinnung, …, die große und schöne Gestalt der Männer in den Gegenden, wo der eigentliche Sitz der Chatten war, haben sich auf die Art erhalten. … Dann empfindet man auch, daß die zwar rauheren aber oft ausgezeichnet herrlichen Gegenden, wie eine gewisse Strenge und Dürftigkeit der Lebensweise, zu dem ganzen gehören» (Schnack, S. 12). Merklich anders als Jacob Grimm hatte dagegen nur wenige Jahre zuvor der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe seine hessische Heimat beschrieben. Die Worte aus dem Versepos «Hermann und Dorothea» galten freilich nicht dem eher kargen Norden des Landes, sondern den unzweifelhaft lieblicheren südlichen Gefilden im Rheingau und an der Bergstraße: «Und nun ging ich heraus und sah die herrliche, weite Landschaft, die sich vor uns in fruchtbaren Hügeln umherschlingt, sah die goldene Frucht den Garben entgegen sich neigen und ein reichliches Obst uns volle Kammern versprechen» (IV, 77ff.).

Solche gegensätzliche Einschätzungen, wie sie in den Worten Grimms und Goethes mit Blick auf ihren gemeinsamen Herkunftsraum zum Ausdruck kommen, markieren die Spannweite, innerhalb der sich Landschaft und Historie Hessens bewegen, und die auch dieses Buch auszumessen versucht. Sein Verfasser, weder in Hessen geboren noch dort lebend, hat die Geschichte des Landes aus der Perspektive dessen nachgezeichnet, der in der Entwicklung der Territorialstaaten ein zentrales Element deutscher und europäischer politischer Identitätsformung erblickt – ein Element, das die Vielfalt regionaler Ausdrucksmöglichkeiten ebenso bündelt, wie es deren gewachsene Traditionen eindrucksvoll widerspiegelt. Kaum ein Beobachter hat diesen Sachverhalt stimmungsvoller umschrieben als der Darmstädter Schriftsteller Kasimir Edschmid 1967 in einem literarischen Porträt seines Heimatlandes. Hessen habe, so meinte Edschmid damals, «in seinem Süden noch etwas vom Licht des Mittelmeeres, und im Norden spiegelt es schon herb die Farben, die auch über der Nordsee liegen. Und die Übergänge von einem Klima zum anderen, landschaftlich wie geistig, sind originell. … Es sind kaum gegensätzlichere Landschaften vorstellbar, und dennoch umgibt sie eine besondere hessische Atmosphäre» (Edschmid, S. 11, 29).

Das Buch erschien erstmals 2006 im Umfeld des Landesjubiläums anläßlich der 60 jährigen Wiederkehr der Gründung Hessens 1945 und der Verabschiedung seiner Verfassung 1946. Eine überraschend schnell erforderlich gewordene zweite Auflage 2010 bot einige sachliche Korrekturen, inhaltliche Ergänzungen und bibliographische Aktualisierungen. Die nunmehr, im Jahr des 70. Landesjubiläums vorgelegte dritte Auflage erfuhr eine umfänglichere Revision, wiederum zunächst im bibliographischen Teil, sodann vor allen in jenen Abschnitten, die sich mit den jüngsten landespolitischen Entwicklungen und Wandlungen des vergangenen Jahrzehnts beschäftigen.

Verfasser und Verlag hoffen, daß auch diese erneut revidierte Fassung des Buches den Lesern Wege zum Verständnis der Geschichte und Kultur einer deutschen Landschaft in Europas Mitte ebnen kann und weiterhin dazu beitragen möge, aktuelle Gegenwartsfragen vor dem Hintergrund historischen Tatsachenwissens schärfer zu profilieren.

Chemnitz, 17. Dezember 2016

Frank-Lothar Kroll

I. Ursprünge

1. Vor- und frühgeschichtliche Zeugnisse

Steinzeit. Die Anfänge menschlicher Lebensregungen auf dem Gebiet des heutigen Landes Hessen bewegen sich im Dämmerlicht der Vorgeschichte. Erste archäologische Zeugnisse stammen aus der Altsteinzeit (ca. 500.000 v. Chr.). Fundplätze in der stets eisfrei gebliebenen Wetterau und im Schwalm-Eder-Gebiet belegen eine dort entwickelte Steinindustrie. Die Epoche der Mittelsteinzeit (ca. 8000–5000 v. Chr.) war auch in Hessen durch eine Jäger-, Fischer- und Sammlerexistenz der damals dort lebenden Bewohner charakterisiert und ist durch Bodenfunde um Arolsen und Hofgeismar, im Vogelsberggebiet und im Mündungsraum des Mains nachgewiesen. An ihrem Ende, im Übergang zur Jungsteinzeit (ca. 5000–1800 v. Chr.), wandelte sich die menschliche Lebensweise von unstetem Umherschweifen zur Seßhaftigkeit, verbunden mit der Aufnahme von Ackerbau und Viehhaltung und mit der Anlage dorfartiger Siedlungen, die bereits feste Häuser und Höfe besaßen. Frühe Bauernkulturen dieser Art gab es auf hessischem Boden im unteren Lahntal, im Rhein-Main-Gebiet, im Amöneburger Becken und in der Gegend um Fritzlar. Das dort ergrabene Fundgut gehört zur Gruppe der Bandkeramik, die ihren Namen den bandförmigen Ornamenten der Tonkeramik verdankt. Alle steinzeitlichen Entwicklungsetappen weisen die Region als einen Durchgangsraum im Schnittpunkt geographischer Linien aus, deren spezifische Beschaffenheit den Austausch von Personen, Gütern und Gebräuchen außerordentlich begünstigte. Hessen hat diesen Charakter eines Transitlandes über die Jahrtausende hinweg behalten. Man kann in ihm geradezu eine Grundbedingung der hessischen Geschichte erblicken.

Bronze- und Eisenzeit. Die Bronzezeit (ca. 1800–750 v. Chr.) zeichnete sich in Süd- und Mittelhessen durch die Vorherrschaft der zwischen 1200 und 800 v. Chr. zu datierenden «Urnenfeldkultur» aus. Ihre Bezeichnung folgt dem damals vorherrschenden Bestattungsritus des Leichenbrands. Aufwendig angelegte und ausgestattete Fürstengräber enthielten zudem Waffen, Geschirr und Geräte aus Bronze, was Rückschlüsse auf eine bereits deutlicher ausgeprägte Differenzierung im sozialen Bereich zuläßt. Doch finden sich auch für das letzte vorchristliche Jahrtausend noch unbezweifelbare Zeugnisse, die auf die Praxis des Kannibalismus und des Menschenopfers verweisen. In der Eisenzeit (ca. 750–50 v. Chr.), der letzten Etappe hessischer Frühgeschichte, in der Bodenfunde das Nichtvorhandensein schriftlicher Quellen ersetzen müssen, dominierten erneut Körpergräber mit oftmals reichem Ringschmuck. Auch läßt sich nun die Bevorzugung befestigter Höhensiedlungen feststellen. Das verweist bereits auf den Anbruch einer neuen Epoche, deren Eigenart sich mit dem Namen der Kelten verbindet.

2. Kelten und Chatten

Keltische Frühzeit. Die Kelten etablierten im südwestlichen Hessen, im Rhein-Main-Gebiet, in der Wetterau und auf dem Glauberg während des 4. Jahrhunderts v. Chr. Elemente einer Hochkultur, die maßgebliche Neuerungen in der Region nach sich zog, besonders auf dem Feld der Goldschmiedekunst. Charakteristisch für die soziale Gliederung der keltischen Stämme war die herausgehobene Position ihres Fürstenstandes, wovon reichhaltig ausgestattete Wagen- und Reitergräber mit Goldschmuck, Waffen, Gerätschaften und Keramik zeugen. Belegt ist darüber hinaus die von den Kelten erstmals betriebene Nutzung warmer Quellen des Landes in Wiesbaden und Alzey. Wie weit die keltische Herrschaft in Hessen tatsächlich gereicht hat, ist indes umstritten. Denn während die Kelten den mittleren und südlichen Teil des Landes kontrollierten, traten ihnen von Norden her germanische Stämme entgegen, von denen die Chatten die bedeutendsten gewesen sind. Das zweite vorchristliche Jahrhundert war ausgefüllt von chattisch-keltischen Auseinandersetzungen, in deren Gefolge die Kelten schließlich unterlagen. Weder ihre fortgeschrittene Kultur noch ihr eindringliches Bemühen um den Ausbau eines soliden Befestigungssystems mit zahlreichen Wällen und Burganlagen konnte diesen Untergang aufhalten.

Die Chatten. Man hat die Kelten gelegentlich als ein «fliehendes Volk» bezeichnet, das überall nichts weiter zurückließ, als die Spuren seiner Flucht. Nach ihrer Verdrängung während der letzten vorchristlichen Jahrzehnte setzten sich die Chatten in der niederhessischen Berg- und Hügellandschaft fest. Ihre Mittelpunkte lagen im Gebiet um Fulda, Eder und Lahn, aber auch im Raum von Kassel und Fritzlar sowie am Mittelrhein. Anfangs noch mit den stammesverwandten Cheruskern und Mattiakern verbündet, gelang es ihnen bald, beide auszuschalten, was wohl nicht zuletzt ihrem ausgesprochen kriegerischen Habitus zu verdanken sein mochte, den der römische Historiker Tacitus in seinen beiden Geschichtswerken, der «Germania» und den «Annales», als weithin dominierenden Charakterzug der Chatten herausgestellt hat. Dort werden sie als kampferprobter Menschenschlag geschildert, tatkräftig und abgehärtet, mit gedrungenem Gliederbau und unbeirrbarem Wagemut. «Auch im Frieden», so berichtete Tacitus (Germania 31,4–5), «mildert sich ihr Blick nicht zu freundlicherem Aussehen. Keiner hat Haus oder Acker noch sonst ein Geschäft; wo sie hinkommen, werden sie verköstigt, verschwenderisch mit fremdem Gut, Verächter eigenen Besitzes; bis endlich das marklose Alter sie so rauher Tapferkeit unfähig macht.» Die Hauptorte der Chatten, zugleich religiöse Zentren und Begräbnisplätze, waren Geismar, Metze und Gudensberg. Jedenfalls durften sie am Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. als das germanische Kernvolk der Region schlechthin gelten. Und in dieser Funktion waren sie auch die Hauptträger jener Abwehr- bzw. Angriffsfront, die sich seitens der Germanen gegen die wenige Jahrzehnte zuvor auf rechtsrheinischem Gebiet installierte römische Herrschaft herauszubilden begann.

3. Römische Herrschaft

Eroberung und Herrschaftssicherung. Römische Legionen hatten im Jahr 10 v. Chr., ausgehend von ihrer befestigten Militärbasis Mogantiacum (Mainz), den Rhein überschritten und damit erstmals den Boden des heutigen Landes Hessen betreten. Ihr Ziel war der Ausbau einer «Provinz Germania», deren Ostgrenze bis zur Elbe reichen sollte. Die Chatten waren die ersten Gegner auf germanischer Seite, mit denen sich die Römer auseinanderzusetzen hatten. Vielleicht war auch dies ein Grund für deren vergleichsweise häufige Erwähnung in der römischen Historiographie – bei Tacitus erschienen die Chatten ebenso wie bei Florus, Plinius und Strabo. Die römisch-chattischen Kämpfe zogen sich durch die gesamte Kaiserzeit. Dabei gelang den Eroberern aus dem Süden in den folgenden Jahrzehnten die Ausweitung ihres rechtsrheinischen Macht- und Einflußgebiets und dessen Absicherung durch den Bau von Kastellen in Wiesbaden, Hofheim und Friedberg, dem nördlichsten Vorposten Roms in Hessen. Als bekanntestes römisches Kastell gilt die Saalburg, unweit von Bad Homburg gelegen, die ihre Rekonstruktion im Säkularjahr 1900 dem imperialen Selbstverständnis Kaiser Wilhelms II. verdankte. Angesichts ständiger Zusammenstöße mit den Chatten begannen die Römer im Jahr 83 n. Chr. mit der Errichtung einer befestigten und überwachten Schutzanlage, dem obergermanischen Limes. Zunächst nur ein gerodeter Grenzweg, vorzugsweise auf den Kämmen der Berge, mit weiter Aussicht auf das unruhige und unbefriedete chattische Hinterland, entwickelte sich der Limes zu einer der bedeutendsten und wirkungsmächtigsten Kulturgrenzen in der europäischen Geschichte.

Römische Zivilisationsleistungen. Hessen wurde durch den Limes zweigeteilt, Südhessen war nun römisches Reichsgebiet. Im Schutz des Limes vollzog sich eine Romanisierung des eroberten Landes, der Provinz «Germania superior», Ober-Germanien, mit der Provinzhauptstadt Mainz (Mogantiacum). Zahlreich waren die von den Römern getroffenen verwaltungsmäßigen, städtebaulichen und infrastrukturellen Maßnahmen. Das Territorium der Provinz wurde in civitates eingeteilt, das waren Stammesgemeinden bzw. Gebietskörperschaften mit eigenständiger Zivilverwaltung. Auf hessischem Boden gab es davon drei: «civitas Taunensium» (Hauptort: Nida, heute: Frankfurt-Heddernheim), «civitas Mattiacorum» (Hauptort: Wiesbaden), «civitas Audeniensium» (Hauptort: Dieburg). Alle Bewohner der Provinz Ober-Germanien waren steuerpflichtig, doch profitierten sie zugleich von den landespflegerischen Aktivitäten der römischen Verwaltung, die überall das Lateinische als Umgangssprache einführte. Feste Straßen wurden ebenso angelegt wie steinerne Brücken, beides diente der Förderung des Handelsverkehrs und der Aktivierung wirtschaftlicher Mobilität. In Waldgirmes bei Lahnau entstand ein befestigtes Handels- und Marktzentrum (Römisches Forum), dessen Errichtung ab dem Jahr 4 v. Chr. als frühester greifbarer Beleg für die Verwendung von Steinmauern in der von den Römern besetzten Germania rechts des Rheines (Germania magna) gilt. Es entstanden zahlreiche Gutshöfe (villae rusticae), die mit ihren Agrarprodukten die in stadtartigen Siedlungen lebende Bevölkerung versorgten. In Wiesbaden, Bad Nauheim und Bad Vilbel gab es Heilthermen und Gasthäuser. Brunnen und Aquädukte sorgten für die Wasserzufuhr. Ackerbau und Viehzucht zogen Gewinn aus der Einführung bisher unbekannter Obstsorten, Haustierrassen und Gerätschaften, und auch den Weinbau brachten die Römer mit an den Rhein.

Römisch-germanische Auseinandersetzungen. All das waren Kulturleistungen, die sich untrennbar mit der rund 400 Jahre währenden Römerherrschaft im südlichen Hessen verbanden. Doch sie waren zu keiner Zeit ungefährdet. Denn die nördlich des Limes lebenden Chatten standen außerhalb des römischen Herrschaftsbereichs und bedrohten immer wieder die stark gesicherte Reichsgrenze. Mehrfach fielen sie in das Hinterland des Limes ein, konnten jedoch zunächst zurückgeschlagen werden. Erst dem seit Anfang des 3. Jahrhunderts in Hessen auftauchenden neuen germanischen Stammesverband der Alamannen gelang um das Jahr 260 der Durchbruch durch den Limes. Die Römer gaben daraufhin die rechtsrheinischen Teile ihrer Provinz Ober-Germanien (nun: «freies Germanien») auf und reorganisierten deren linksrheinischen Rest als «germania prima», Hauptstadt blieb weiterhin Mainz. Starke Befestigungsanlagen am Rhein sorgten dafür, daß sie sich dort noch etwa ein Jahrhundert lang zu halten vermochten. Doch häuften sich nun zusehends die Alamanneneinfälle auch links des Rheins, nach dem Jahr 400 brach die römische Verteidigungslinie endgültig zusammen – wenig später verließen die letzten im römischen Dienst stehenden Truppen das Land. Nachgewirkt freilich hat die Herrschaft der Römer im hessischen Raum noch sehr lange Zeit. Die Limesgrenze, die das Römerreich von den Stammes- und Siedlungsgebieten der Chatten schied, begründete eine mehr oder weniger sichtbare Zweiteilung Hessens in eine nördliche und eine südliche Hälfte. Der Süden um Rhein und Main hatte durch die Römer eine deutlich andere Prägung erhalten als der Norden, der niemals von Rom beherrscht worden war.

II. Hessen im Mittelalter

1. Fränkische Herrschaft und Christianisierung

Landnahme durch die Franken. Von den germanischen Stämmen aus dem Norden, die im Gefolge der Völkerwanderung in Bewegung geraten waren und nach Überschreiten der Rheingrenze in den Gebieten der ehemals römischen Provinzen ihre Reiche gründeten, waren es nun allerdings weder die Alamannen noch die Chatten, sondern die Franken, die in den folgenden Jahrhunderten zur bestimmenden politischen Macht in Hessen werden sollten. Letztmalig mit Sicherheit genannt wurden die Chatten im Jahr 213 von dem römischen Historiker Cassius Dio. Danach verschwanden sie aus der geschichtlichen Überlieferung. Man geht davon aus, daß der weitaus größere Stammesverband der Franken sie aufgenommen hat. Anders als in Bayern, Sachsen oder Schwaben ist es in Hessen dabei nicht zur Herausbildung eines eigenen Stammesherzogtums gekommen. Der Name Hessi (oder Hassi) taucht in den Quellen erstmals im Jahr 738 auf und bezeichnet dort, in einem Schreiben Papst Gregors III., einen Unterstamm (populus Hassiorum) des neuen Reichsvolkes der Franken. Diese hatten seit Ende des 5. Jahrhunderts von Westen her das Lahngebiet und Mittelhessen bis zur Wetterau besiedelt und damit begonnen, die Alamannen nach Süden zu verdrängen. Seitdem war Hessen in das Frankenreich einbezogen. Dabei wurde der Süden der Region früher und stärker von der fränkischen Herrschaft erfaßt als der Norden.

Kulturleistungen des Christentums. Dies galt auch für die Einführung des Christentums, das sich zunächst im südlichen Teil des heutigen Hessen etablierte. Christliche Gemeinden ließen sich dort, auf linksrheinischem Gebiet, bereits in spätrömischer Zeit nachweisen. Es waren vor allem Kaufleute und Soldaten, die den neuen Glauben – neben anderen religiösen Kulten ägyptischer oder persischer Prägung – ins Land brachten. Ausgehend von den frühen Bischofssitzen Mainz, Trier und Worms, verbreitete sich die christliche Lehre im Rhein-Main-Gebiet und in der Wetterau, im Odenwald und im Lahntal. Seit dem 6. Jahrhundert erfolgte die christliche Missionierung auch über den Rhein hinweg nach Osten und Nordosten. Von entscheidender Bedeutung für die dauerhafte Durchsetzung des Christentums im hessischen Raum war die Tatsache, daß die neue Lehre rasch Eingang in die führenden Schichten des Fränkischen Reiches fand. Seit der Taufe König Chlodwigs I. aus dem Haus der Merowinger – eines brutalen Raubmörders – im Jahr 498 konnte sich die christliche Missionsarbeit auf den Schutz der staatlichen Macht und auf die Unterstützung des christlich gewordenen fränkischen Adels verlassen.

Die christliche Missionierung der alten chattischen Stammlande Nordhessens war auch eines der Hauptanliegen des Benediktinermönchs und Kirchenreorganisators Winfried-Bonifatius (672/73–754). Der in England geborene spätere Bischof und wichtigste Repräsentant der iro-schottischen Mission war 721 erstmals ins Land gekommen und seitdem dort erfolgreich mit der Errichtung einer festen kirchlichen Infrastruktur beschäftigt, stets in enger Verbundenheit und Anlehnung an das fränkische Königtum. Bistümer, Pfarreien und Klöster wurden geschaffen, der heidnische Glaube geriet immer stärker in die Defensive. Als spektakulärste Aktion des 722 von Papst Gregor II. zum Missionsbischof geweihten Bonifatius gilt die Fällung der heidnischen Donareiche bei Geismar im Jahr 723.

Es waren vornehmlich die von Bonifatius gegründeten Klöster, die in den folgenden Jahrhunderten zu herausragenden Mittelpunkten nicht nur kirchlich-religiöser und politischer, sondern auch geistig-künstlerischer Aktivitäten geworden sind. Denn zur Ausbildung angehender Geistlicher und Missionare wurden den Klöstern Schulen angegliedert. Besonders das im Auftrag von Bonifatius 744 durch seinen Schüler Sturmius errichtete Kloster Fulda, in dem Bonifatius nach seinem Märtyrertod in Friesland 754 auch begraben wurde, entwickelte sich mit seiner Klosterschule zu einer der wichtigsten Pflegestätten christliehen (Vita Caroli Magni)