Robert Pfaller
Zwei Enthüllungen über die Scham
FISCHER E-Books
Robert Pfaller, geboren 1962, studierte Philosophie in Wien und Berlin und ist nach Gastprofessuren in Chicago, Berlin, Zürich und Straßburg Professor für Philosophie an der Kunstuniversität Linz. Von 2009 bis 2014 war er Professor für Philosophie an der Universität für angewandte Kunst Wien. In den Fischer Verlagen ist von ihm »Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft. Symptome der Gegenwartskultur« erschienen, die vielbeachtete Studie »Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie«, »Zweite Welten. Und andere Lebenselixiere« sowie im Fischer Taschenbuch »Kurze Sätze über gutes Leben«. Mit Beate Hofstadtler hat er außerdem den Band »After you get what you want, you don't want it. Wunscherfüllung, Begehren und Genießen« herausgegeben. Zuletzt erschien von ihm »Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur« (2017) sowie »Die blitzenden Waffen. Die Macht der Form« (2020). 2020 wurde ihm der Paul-Watzlawick-Ehrenring verliehen.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Eine scharfsinnige und provokante philosophische Analyse der aktuellen gesellschaftlichen Debatte um das Thema »Shaming« von SPIEGEL-Bestseller-Autor Robert Pfaller.
In unserer Kultur der sozialen Medien finden viele, dass andere sich schämen sollten: Großkonzerne, Steuerhinterzieher, weiße, männliche Heterosexuelle, Dicke, Hässliche, Gegner. Früher wollte man mit Andersdenkenden diskutieren. Heute versucht man, sie nicht zu Wort kommen zu lassen. Das ist wie bei der Scham. Denn bei der Scham muss immer etwas weg: Jemand möchte im Boden versinken oder am liebsten tot sein.
In seinem neuen Buch »Zwei Enthüllungen über die Scham« untersucht Robert Pfaller die Hintergründe dieses Phänomens. Er widerlegt die beiden Hauptirrtümer über die Scham: die »Außenleitung« bei den Kulturanthropologen und das »Idealungenügen« bei den Philosophen. Dadurch können bessere Strategien entwickelt werden, um uns aus den leidvollen Zuständen der Scham zu befreien. Denn es hilft nicht, Barbiepuppen zu modifizieren oder dickere Models auf Laufstege zu schicken. Erst ein besseres Verständnis der Scham eröffnet den Blick für Auswege aus den Sackgassen der aktuellen Pseudo-Schamkultur.
Pfallers Stärke »liegt in seiner Fähigkeit, paradoxen Entwicklungen unserer Zeit auf die Spur zu kommen und auf einen treffenden Begriff zu bringen.« (Konrad Paul Liessmann)
Eigenlizenz
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2022 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114,
D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Andreas Heilmann und Gundula Hissmann, Hamburg
Coverabbildung: Bridgeman Images / Lukas Cranach, der Ältere
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491562-3
Siehe dazu Maria-Sibylla Lotter im Interview https://www.youtube.com/watch?v=OdjmrDMfQPU; sowie https://www.zeit.de/news/2021-05/04/impfneid-impfscham-und-die-freiheit-der-anderen; https://www.stern.de/gesundheit/impfneid-und-impfscham--psychologen-erklaeren--was-hinter-dem-emotionalen-piks-steckt-30512232.html; https://www.bedeutungonline.de/autoscham-fleischscham-plastikscham-und-17-weitere-verhaltensweisen-fuer-die-man-sich-schaemen-kann/ (alle Zugriffe: 2021–12–02). Zur letztgenannten Version siehe z.B. https://www.achgut.com/artikel/indubio_folge_191_die_heidenangst_der_christen (Zugriff: 2022–01–12) Ich bin Gerhard Gutenberger und Petra Zechmeister (Stötten, Oberösterreich) dankbar für erhellende Gespräche zum Thema sowie für den Hinweis auf diese Quelle.
Wurmser 1975.
Siehe Wurmser 1975: 64; 66.
Auch dieser Gedanke ist Wurmser nicht fremd. Die Scham kann auch »Deckaffekt gegen wichtigere, tiefere Angstformen (Kastrations- und Trennungsangst)« sein (s. Wurmer 2010: 40).
Die Titel der Abschnitte dieses Parcours sind nicht dazu gedacht, eine Klassifikation von verschiedenen, nebeneinander existierenden Schamtypen zu bilden (denn es ist durchaus möglich, dass z.B. »Konsumscham« nur eine Spezies des allgemeineren Typus »Verbrauchsscham« darstellt). Vielmehr sollen diese Gruppierungen die Stufen einer Gedankenentwicklung bilden. Dadurch sollen die Übergänge zwischen scheinbar unterschiedlichen Phänomenen kenntlich werden und ihre Reihenfolge das Erklärungspotenzial, das jeweils eines von ihnen für die nächstfolgenden besitzt, ersichtlich und nutzbar werden lassen.
Eine schöne Abhandlung zur Philosophie der Bescheidenheit bietet Otte 2012.
Siehe dazu Luck 1997: 129.
Diogenes Laertios 1990: VI: 46.
Diogenes Laertios 1990: VI: 55.
Siehe dazu z.B.: https://www.it-business.de/was-ist-ein-prosumer-a-740881/; https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/prosumer-retail-handel-wird-kollaborativ/ (Zugriffe: 2022–01–06)
Siehe dazu Kuldova 2018.
Siehe https://www.youtube.com/watch?v=qHqKaDUlVhM (Zugriff: 2022–01–06)
Zu diesem Begriff siehe Žižek 1993: 203.
Bachelard 1978: 47.
Siehe dazu https://www.zeit.de/zeit-magazin/leben/2020-08/koerperbild-coronavirus-sommer-home-workout-videokonferenz/komplettansicht (Zugriff: 2022–01–06)
Siehe dazu Hilgers, der unter Verweis auf Rizzuto (1991) schreibt: »[…] Schampatienten beziehen – mehr noch als andere Patienten – zahlreiche Schamempfindungen auf ihre Körperlichkeit, die sie entweder ganz ablehnen oder abgelehnt sehen […]. Häufig beschäftigen sich Schampatienten gleichzeitig intensiv mit der körperlichen Erscheinung anderer Personen, deren Körperlichkeit sie idealisieren und zugleich ständig entwerten.« (Hilgers 2006: 178)
Siehe dazu z.B. https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/fat-shaming-in-sozialen-medien-auf-das-gewicht-reduziert-16815788.html (Zugriff: 2022–01–15)
Siehe dazu https://www.marieclaire.com.au/plus-size-models (Zugriff: 2022–01–07)
Auch eine Barbie im Rollstuhl, nach dem Vorbild einer chilenischen Sportlerin und Teilnehmerin der paralympischen Spiele von Tokyo 2020, wird seit kurzem erstmals angeboten. Siehe dazu: https://swiftheadline.com/barbie-launches-three-dolls-in-tribute-to-latin-american-athletes/ (Zugriff: 2022–01–06).
In seinem Buch »Überwachen und Strafen« hat Foucault die »normierende Sanktion« als eine von mehreren Disziplinartechniken moderner Gesellschaft beschrieben. Sie wird nach seiner Auffassung von Schulen, der Armee und beruflichen Einrichtungen ausgeübt und richtet sich unter anderem gegen »Unaufmerksamkeit, […] Faulheit, Unsauberkeit, […] Schamlosigkeit« (Foucault 1975: 230; Hervorhebung von mir, R.P.) Allerdings besteht ein auffälliger Unterschied zwischen Foucaults Machtanalyse und den gegenwärtigen Anti-Normierungsinitiativen. Foucault beschrieb repressive Apparate, die vorwiegend mit Strafen operierten. Die heute so bezeichnete und bekämpfte »Normierung« dagegen ist eine ideologische. Sie betrifft den Umstand, dass Personen bestimmter Hautfarben, Geschlechter, Orientierungen etc. oft mehr Repräsentation in den Medien finden als andere und dadurch als das Normale oder Exemplarische erscheinen. Diese »Normierung« findet auf der Ebene der Ideologie statt. Sie ist in letzter Instanz ein Kampf gegen Hegemonie als solche. Dies ist bemerkenswert angesichts der Tatsache, dass die Linke in den kapitalistischen Ländern nach 1968 das Ziel verfolgt hatte, die ideologische Hegemonie zu erkämpfen (anstatt sie zu zerstören) – was ihr, wenn man sich die Stimmung in Feuilleton oder Kulturbetrieb vor Augen führt, ja auch gelungen sein dürfte. So stellt sich die Frage, in wessen Interesse es eigentlich liegen könnte, diese Hegemonie zu zerstören.
Siehe dazu Crabbe 2018; Lechner 2020; vgl. dazu Nagle 2018: 58.
Blankenburg 1997: 49.
Diese Tendenz der Scham zu ihrer Verdoppelung und ihrem Selbstbezüglichwerden bemerkt hellsichtig Günther Anders (Anders 1988, Bd. 1: 28f.; vgl. dazu auch Wurmser 2010: 26; Baer/Frick-Baer 2008: 21; 100; Hilgers 2006: 184). Generell ist dieser Selbstbezug wohl charakteristisch für einen Affekt als solchen (im Unterschied zu einer Emotion) und bewirkt dessen Heftigkeit bzw. Unauflösbarkeit: Denn zusätzlich zu seinem Objekt nimmt der Affekt auch sich selbst noch zum Objekt. Wie der Philosoph Alain bemerkt: »Das Kind (…) schreit, weil es schreit; es wird zornig darüber, daß es zornig ist; und es tröstet sich mit dem Vorsatz, sich nicht trösten zu lassen. (…) Seinen Eigensinn darein setzen, eigensinnig zu sein.« (Alain 1982: 54)
Spinoza 1990: 277. Vgl. dazu Hilgers 2006: 178f.: »Zahlreiche Schamempfindungen machen sich […] am Körper fest, ohne dass hieraus irrtümlich geschlossen werden darf, in der misslichen Körpererfahrung etwa läge der kausale historische Ursprung der Schamszenen verborgen oder Schamkonflikte und unbefriedigende Leiblichkeit seien identisch.«
Diesen Gedanken vertreten zum Beispiel in der feministischen Theorie Elisabeth Badinter und Svenja Flaßpöhler (Badinter 2004; Flaßpöhler 2018) sowie die Autorinnen des #metoo-kritischen französischen Manifests »Nous défendons une liberté d’importuner, indispensable à la liberté sexuelle« vom 9.1.2018 in der Zeitung »Le Monde«, siehe https://www.lemonde.fr/idees/article/2018/01/09/nous-defendons-une-liberte-d-importuner-indispensable-a-la-liberte-sexuelle_5239134_3232.html (Zugriff: 2022–01–06)
Diesbezüglich mag insbesondere die Tatsache, dass nicht das ferne Beste, sondern immer das näher liegende Bessere als entwertend empfunden wird und Aggression sowie Neid erzeugt, skeptisch stimmen. Vgl. dazu Freuds Bemerkungen zum »Narzißmus der kleinen Differenzen« (Freud [1930a]: 243).
Siehe dazu die Bemerkung von Katja Grach: »Sie kennen es nicht, ständig kritische Blicke zu ernten, wenn sie in der Öffentlichkeit mal ein Eis essen. Bei mehrgewichtigen Personen, die im Alltag ständig mit Fatshaming konfrontiert sind, ist das allerdings anders.« https://www.zeit.de/zeit-magazin/leben/2020-08/koerperbild-coronavirus-sommer-home-workout-videokonferenz/komplettansicht (Zugriff: 2022–01–06)
Siehe dazu Melodie Michelberger: »Wer schlank ist, gilt gemeinhin als diszipliniert, gesund und leistungsorientiert.« https://www.zeit.de/zeit-magazin/2020-05/bodyshaming-fatshaming-coronavirus-after-coronabody-memes
Diese auf eine Theorie der Scham gestützten Überlegungen scheinen mir relevant zum Verständnis von Essstörungen bei jungen Mädchen. Oft werden diese Leiden auf die Schlankheitsideale der Gesellschaft zurückgeführt (siehe dazu z.B. Langer 2001, Tucci/Peters 2008, Zitt 2008; vgl. dazu auch Diller 2011, Arnold 2011). Aber kann dieses qualvolle Hungern, samt dem damit oft verbundenen Zwang zum maßlosen Essen und Erbrechen, wirklich als Verfolgen eines Ideals begriffen werden? Wird hier wirklich in erster Linie etwas leidenschaftlich gewollt? Übersieht man dabei nicht die Haltung radikaler Negation, die all dem zugrunde liegt? Handelt es sich nicht vielmehr um eine absolute Weigerung, ein massives Nichtwollen – nicht essen wollen; keinen weiblichen Körper bekommen wollen; nicht wie die Mutter (d.h. so wie die Mutter ist, oder wie sie von einem möchte, dass man wird) werden wollen; kein sexuiertes Subjekt werden wollen? – D.h. in den Begriffen von Günther Anders formuliert: Handelt es sich bei dieser Scham denn etwa um eine gelungene, wenngleich äußerst fordernde Identifizierung (mit einem besonders schlanken Ideal)? Oder trägt sie nicht doch viel eher die Züge einer Identifizierungsstörung (siehe Anders 1980, Bd. 1: 66) – d.h. um den rabiaten Wunsch, auf keinen Fall etwas zu werden, womit man sich womöglich nicht identifizieren kann bzw. womit die anderen einen eventuell besser identifizieren könnten als man selbst? – Hier stoßen wir auf ein Grundmotiv der Scham: die Angst, sozusagen die saftige Beute im Maul eines genießenden Anderen zu sein – der über einen lacht, spottet, schimpft etc.
Vgl. dazu Demuth 2016: 255f.
Siehe Anders 1980, Bd. 1: 65ff.
Anders 1980, Bd. 1: 69.
Siehe Anders 1980, Bd. 1: 70.
Sartre 2002: 473.
Wie Sigmund Freud hellsichtig bemerkt, besteht hierin ein Paradoxon des Über-Ich: Es bestraft für unausgeführte verwerfliche Absichten noch stärker mit Schuldgefühlen als für entsprechende Handlungen. Es straft also umso mehr, je mehr man ihm gehorcht. Siehe Freud [1930a]: 252. Zu den entsprechenden »Parametern« in Fragen der Scham – »intention«, »action« und »outcome« – siehe Williams 1993: 93.
Anders 1980, Bd. 1: 69. Auch an diesem Beispiel kann abgelesen werden, dass der Gegenstand ein Überschuss und nicht ein Mangel ist. Man kann sich dies auch mit einem Gedankenexperiment verdeutlichen: Würde jemand, der zum Beispiel einen Finger zu viel hat, nicht ein ganz anderes, viel heftigeres Entsetzen auslösen (und im Gegenzug Scham empfinden) als jemand, der einen Finger zu wenig hat?
Die Gesamtheit solcher Elementarbedürfnisse bildet den Gegenstand der von Jean-Claude Milner und Slavoj Žižek in den Blick genommenen »Menschenrechte« (zum Beispiel auf Zugang zu Wasser, Toiletten, Nahrung, Hygiene und einem Raum für sich), in ihrem Unterschied zu den »höheren« Bürgerrechten wie zum Beispiel auf Meinungs- oder Versammlungsfreiheit. Siehe Milner 2017; Žižek 2017.
Diese beiden Aspekte heben Grunberger und Dessuant als entscheidende Hürden bei der Überwindung des primären Narzissmus hervor (Grunberger/Dessuant 1997: 39ff.; 73ff.; vgl. dazu auch Chasseguet-Smirgel 1987: 22ff.). In der aktuellen Aufregung um die Frage der Wahl des eigenen Geschlechts wird der zweite Aspekt meist übersehen. Auch »die Ablehnung des Stofflichen« ist nach Auffassung der Autoren charakteristisch für der Narzissmus (ebd.: 203). Sie bildet, wie ich zu zeigen versucht habe, auch ein prominentes Symptom der Gegenwartskultur (siehe Pfaller 2008).
Anders 1980, Bd. 1: 69.
Anders 1980, Bd. 1: 70. Freilich kann die Scham, Anders zufolge, auch zusammen mit Schuldgefühlen auftreten. Aber dann überlagert sie die Schuldgefühle und bezieht sich nicht auf dasselbe Objekt wie diese. Wenn man sich also eines Vergehens schuldig fühlt und sich gleichzeitig schämt, dann schämt man sich dennoch nicht des Vergehens. Sondern man schämt sich, »der, welcher« zu sein (siehe Anders ebd.).
Die Bemühungen der kosmetischen Chirurgie werden naheliegenderweise als kosmetische Korrekturen, und somit als Angleichungen an Idealbilder von Schönheit interpretiert. Der intensive existenzielle Wunsch, der Menschen zu solchen Maßnahmen veranlasst, dürfte aber weniger ästhetisch, und dafür tiefer, existenzieller sein. Er ist in erster Linie negativer Natur: Es soll etwas weg – etwas, das stören könnte (vgl. dazu Pfaller 2008: 124).
Siehe dazu Sevinç Basad 2021: 112: »Nun weiß und sieht jeder, dass Kamala Harris eine Frau ist. Aber das nochmalige Ausstellen von »she/her« [in ihrem Twitter-Profil] hat hier die gleiche Funktion wie das Gender-Sternchen: Man zeigt der Welt, dass man zu ›den Guten‹ gehört, die sich für die Rechte von Frauen und Transsexuellen stark machen.«
Ein Lehrstück zu den Paradoxien, die mit einer Änderung des ganzen Eigennamens zusammenhängen bilden die Erfahrungen der drei in Ljubljana lebenden Künstler, die sich alle den Namen des damaligen slowenischen Ministerpräsidenten Janez Jansa gegeben haben. Siehe dazu den Katalog NAME: readymade (Ljubljana 2008) sowie Dolar et al. 2018.
Sigusch 2005: 29.
Vgl. dazu Sigmund Freud: »Es tauchen plötzlich Gedanken auf, von denen man nicht weiß, woher sie kommen.« (Freud [1917a]: 11)
Anders 1980, Bd. 1: 24f.
Siehe dazu Impelluso 2003: 228f.; Pankow/Peters (Hg.) 1999; Peters 2016 sowie den Artikel »Prometheus« unter https://de.wikipedia.org/wiki/Prometheus (Zugriff: 2022–01–08)
»Um 1800 war er zur mythischen Identifikationsfigur für das rebellische Künstlergenie geworden.« (Peters, in Pankow/Peters (Hg.) 1999: 15)
Siehe Platon, Protagoras 320d–321e; vgl. Peters 2016: 150.
Anders 1980, Bd. 1: 23.
Anders 1980, Bd. 1: 23. – Den Umstand, dass bei der Empfindung von Scham ein Verhältnis sozialer Ungleichheit eine entscheidende Rolle spielen kann, beschreibt und analysiert sehr präzise Neckel (Neckel 2009).
Anders 1980, Bd. 1: 23. – Das Wort »selbstgemacht« wird heute ganz anders verstanden und bezeichnet fast nur noch die häusliche Individualproduktion von Basteleien oder Keksen. Für Anders, der noch im Zusammenhang einer philosophischen Anthropologie denkt, bezieht sich das »selbst« dagegen auf den Menschen als Gattungswesen. »Selbstgemacht« in diesem Sinn ist, was von Menschen (und seien es auch andere Personen) hergestellt worden ist.
Siehe dazu https://www.spiegel.de/auto/aktuell/weltrekord-im-volvo-irvgordon-ist-fast-3-millionen-meilengefahren-a-843568.html; https://www.volvocars-partner.ch/blog/2020/01/06/52-mio-kilometer-dieser-volvo-p1800-steht-im-guinness-buch-der-rekorde/; https://www.youtube.com/watch?v=QJZDAy7hOWE (Zugriff: 2022–01–12)
Zwischen 2011 und 2020 hat sich zum Beispiel die Zahl der Rückrufe von PKWs versechsfacht. Es mussten in diesem Zeitraum demnach doppelt so viele Autos zurückgerufen werden, wie neu verkauft wurden. Siehe dazu https://www.spiegel.de/wirtschaft/service/zahl-der-auto-rueckrufe-wegen-sicherheitsmaengeln-steigt-stark-an-a-07732e85-8c24-4b02-8e1f-c02b340b7ee1; eine Statistik zeigt der Artikel https://www.bild.de/auto/auto-news/auto-news/kfz-rueckrufe-seit-2011-versechsfacht-werden-autos-immer-schlechter-78329254.bild.html?utm_source=taboola_AUBI&utm_medium=exchange&tblci=GiBwGBzAFCA3Iff2EU0w6fmcWkJTEjhVCiWvj_pcqnGP-iDD-UYozbGQzdHvttdj#tblciGiBwGBzAFCA3Iff2EU0w6fmcWkJTEjhVCiWvj_pcqnGP-iDD-UYozbGQzdHvttdj (Beide Zugriffe: 2022–01–15)
Die Gesamtheit dieser geschwundenen Dingbeherrschung lässt sich als Verarmung begreifen. Marshall McLuhan hatte alleine schon die Tatsache, dass jedes »Medium« (worunter er auch Gebrauchsdinge wie Auto oder Flugzeug zählt) einen menschlichen Sinn »ausweitet«, als »Amputation« des entsprechenden menschlichen Organs aufgefasst. Siehe McLuhan 1994: 75.
Siehe dazu https://www.rnd.de/wirtschaft/nach-tesla-crash-ist-es-wirklich-so-schwer-ein-unfall-e-auto-zu-entsorgen-XMEPAJ6EI5DCZNUMLW5XC2NIHI.html (Zugriff: 2022–01–15)
Siehe Gransche 2021.
Ganz anders diesbezüglich der Philosoph Michel de Montaigne, der sich solchen Anwandlungen einerseits durch aristokratische Souveränität, andererseits durch sein der antiken Schule der pyrrhonischen Skepsis verpflichtetes Denken zu entziehen wusste: »›Er hat sein Leben in Müßiggang hingebracht‹, sagen wir; ›heute habe ich nichts getan.‹ Wie das? Haben wir nicht gelebt? Das ist nicht nur die grundlegende, sondern auch unsere vornehmste Tätigkeit.« (Montaigne 2011, III: 511)
Marks bemerkt diesbezüglich treffend: »Wir leben in einer Atmosphäre der Scham.« (Marks 2016: 13) Vgl. dazu z.B. auch Becker 2017.
Hessel 2011. Vgl. Lotter 2021.
Siehe dazu Marks 2016: 25f.; Han 2011: 20ff. Zu den aktuellen, zu Selbstmord oder Erschöpfung führenden »toxischen« Arbeitsverhältnissen am Beispiel Japans siehe https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/japan-der-druck-auf-die-menschen-ist-enorm-1.3417221 (Zugriff: 2022–01–12)
Siehe dazu z.B. Hilgers 2008.
Zur intersubjektiven Dynamik solcher Vorgänge siehe Greenblatt 1995: 36; vgl. Pfaller 2011: 51–59; 2012: 8–10; 2017: 101–105.
Ich bin Romana Kanzian (Berlin/Wien) dankbar für Gespräche zu diesem Phänomen sowie für den Hinweis auf diese Szene.
Das vieldiskutierte Problem der sogenannten »fake news« bildet sozusagen nur die Spitze des Eisbergs eines weitaus größeren Problems. Die Schwierigkeit der Informationsgewinnung besteht heute nicht nur darin, das Wahre vom Falschen zu trennen, sondern zunächst und vor allem darin, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden; aus der Flut von Unbedeutendem das Relevante und Entscheidende an die Oberfläche zu holen beziehungsweise dringen zu lassen.
Selbst so mächtige Personen wie der ehemalige US-Präsident Donald Trump können offenbar von den Inhabern der socialmedia-Plattformen von jeglichem Zugang ausgeschlossen werden. Auch für Beobachter, die keinerlei politische Sympathien für den Expräsidenten hegen, muss es unheimlich erscheinen, dass eine solche durchgängige Verbannung aus der Öffentlichkeit verhängt werden kann, und dass derartige Maßnahmen keinerlei demokratischer Kontrolle unterliegen. Siehe dazu https://www.spiked-online.com/2022/01/07/the-unpersoning-ofdonald-trump/; https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-01/meinungsfreiheit-soziale-medien-donald-trump-twitter-sperre; https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/die-maechtigen-des-internets-muessen-reguliert-werden-17728409.html?xtor=EREC-7-%5BDer_Tag_am_Morgen%5D-20220116&campID=MAIL_REDNL_AUDI_OWN_na_na_na_na_na_na_na_Der-Tag-am-Morgen_FD_Abo_PEM21596 (alle Zugriffe: 2022–01–15)
Dies hat Schultheiss richtig festgestellt (Schultheiss 1997: 98).
Köhler formuliert schön: »Ich kann mich entschuldigen, nicht aber entschämen« (Köhler 2017: 60).
Siehe dazu https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.cringe-bedeutung-und-verwendung-mhsd.b8ab89a3-eba9-404a-9b66-e18ea08faa32.html (Zugriff: 2022–01–04). Ich bin den Studierenden des Lehrgangs Dramaturgie an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien im Wintersemester 2021/22 dankbar für den Hinweis auf diesen Begriff sowie für eine lebhafte Diskussion zum Thema.
Pernlochner-Kügler (2003: 38ff.) argumentiert, dass es Scham nie ohne Peinlichkeit, wohl aber Peinlichkeit ohne Scham gäbe. Sich für jemanden zu schämen, sei nur bei enger, etwa familiärer Verbundenheit möglich. Richtig stellt sie fest, dass Schambehauptungen gegenüber Fremden – zumindest oft – keiner wirklichen Scham entspringen, sondern nur dem Ziel, den anderen zu beschämen (ebd.: 42). Dennoch scheint der Begriff »Fremdschämen« etwas Richtiges zu treffen. Es ist nicht nur möglich, sich für jemanden (mit dem man eng verbunden ist) zu schämen, sondern auch, sich anstelle von jemandem zu schämen.
Bernard Williams bemerkt sehr richtig: »… there has to be something for these interrelated attitudes to be about. […] These reciprocal attitudes have a content: some kinds of behavior are admired, others accepted, others despised, and it is those attitudes that are internalised, not simply the prospect of hostile reactions.« (Williams 1993: 83) Auch Wurmser hält fest, dass es bei der Scham sowohl ein Wovor als auch ein Wofür gibt (siehe Wurmser 2010: 60).
Das verbindende Prinzip lautet hier: »Jemand könnte glauben, wir gehörten zusammen«. Dieser »Jemand« – übrigens der Beziehungsstifter in vielen Komödien (siehe dazu Pfaller 2019: 97) – muss nicht unter den Anwesenden zu finden sein. Es ist eine Spielart von Mannonis »on dirait« (»man könnte sagen«; siehe Mannoni 2006: 18); eine Leistung der innerpsychischen Instanz des »naiven Beobachters«. Dazu mehr unten, in Kapitel 1.
»Leoparden küsst man nicht« (»Bringing Up Baby«), USA 1938, R: Howard Hawks, D: Katherine Hepburn, Cary Grant. Zu dieser Szene siehe https://www.youtube.com/watch?v=BVrZAIo3wX4 (Zugriff 2022–03–22)
Man mag sich bei dieser Szene erinnert fühlen an die Bemerkung Max Schelers: »Daß die Negerin, die ihre Schamteile nicht bedeckt, sogar ein sehr ausgeprägtes Schamgefühl besitzt, zeigt die Tatsache, daß sie, durch den Missionar aufgefordert, ihre Schamteile zu bedecken, sich unter allen Zeichen des natürlichen Schamausdrucks lebhaft weigert, dies zu tun; […] Diese Tatsache ist eine einfache Folge davon, daß sie ihre Haut als Kleid empfindet, […] aber […] den Rock als etwas ansehen muß, was gerade die öffentliche Beachtung auf ihre Schamteile lenkt.« (Scheler 1957: 76) Genauso verhält es sich mit Grants Zylinder. Schelers heute anstößig anmutender Gebrauch des »N-Wortes« sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Scheler hier ein antirassistisches Argument vorbringt. Es richtet sich ja gegen die von den Kolonisatoren gebrauchte Behauptung der »Schamlosigkeit« der Afrikaner. Scheler führt hier – um ein Wort von Friedrich Engels zu gebrauchen – ein »Gefecht auf dem Terrain seines Gegners«. Darum muss er wohl auch dessen Worte gebrauchen, um desto besser dessen Behauptungen widerlegen zu können. Sonst könnte ja leicht der Eindruck entstehen, er spräche von anderen Menschen. Schelers Beispiel verdeutlicht außerdem sehr gut, dass die Beziehung zwischen Nacktheit und Scham weitaus komplexer ist, als oft angenommen wird. Nicht immer wird Nacktheit als »loss of power« empfunden (siehe dazu z.B. Williams 1993: 220). Über den Stoiker Kleanthes, der in seiner Jugend Faustkämpfer war, wird berichtet: »Als er eine Anzahl Epheben (erwachsene Jünglinge) zu einem Schauspiel führte, soll er vom Winde ganz entblößt worden sein und ohne Gewand vor ihnen dagestanden haben; darüber hätten ihm die Athener Beifall geklatscht«. (Diogenes Laertios 1990: VII: 169)
Siehe dazu Pfaller 2002: 25–47; 2008; 2017.
Mit seiner Interpretation des »Dosengelächters« hat Slavoj Žižek einen entscheidenden Hinweis für die Entstehung der Interpassivitätstheorie geliefert. Er schrieb: »denken wir nur an ein in den populären TV-Shows und TV-Serien ganz übliches Phänomen: das sogenannte »canned laughter«. Nach einer vermeintlich lustigen oder witzigen Bemerkung kann man Lachen und Applaus hören; beides ist auf der Tonspur der Sendung schon enthalten […] Wozu dieses Lachen? […] Die einzig richtige Antwort wäre […] die, daß der andere – diesmal vom Fernsehapparat verkörpert – uns sogar von unserer Pflicht zu lachen befreit, d.h. er lacht an unserer Stelle. Selbst wenn wir also, von einem stumpfsinnigen Tagwerk ermüdet, den ganzen Abend nur träge auf den Bildschirm starren, können wir danach doch sagen, daß wir objektiv, durch das Medium des anderen, einen wirklich schönen Abend verbracht haben.« (Žižek 1991: 50) Für Žižek war diese Beobachtung der psychoanalytische Beleg dafür, dass »intime« Empfindungen außen existieren können. Für die Ästhetik bedeutete dies aber zugleich, dass die (von der Interaktivitätstheorie so bezeichnete) »passive« Rezeption eines Kunstwerkes an das Werk delegiert werden kann und dass es Zuseher gibt, die dies auch wollen. Aus diesem Gedanken entwickelte sich die Ästhetik der Interpassivität.
Jacquet 2015.
Das Zeitwort »schämen« hat im Englischen somit auch eine »transitive« Form, ähnlich wie zum Beispiel »schlagen« oder »küssen«. Man kann – wörtlich übersetzt – sagen: »Ich schäme dich«. Im Deutschen lässt sich diese aggressive, transitive Form des Umgangs mit Scham kaum wiedergeben, ohne dass der Wortstamm verlorengeht. Am ehesten entspricht dem englischen »shaming« wohl das deutsche Verbum »anprangern«.
Siehe Jacquet 2015: 14.
Jacquet 2015: 18. Man könnte in diesem Satz auch eine Fehlauffassung der Scham lesen – nämlich die in Kapitel 1 der Kritik unterzogene Auffassung vom »außengeleiteten«, d.h. fremdbestimmten Charakter der Scham. Allerdings dürfte Jacquets Thema, wie ich im Folgenden zu zeigen versuche, nur bedingt mit der Scham zu tun haben. Was sie interessiert, ist wohl tatsächlich etwas »Außengeleitetes«.
Siehe Freud [1930a]: 251.
Siehe dazu Marx [1867]: 559–561; Althusser, in Althusser et al. 2015: 29–35.
Siehe Jacquet 2015: 113ff.; vgl. auch Campbell/Manning 2014: 714ff.
Zur Kritik des Begriffs der »Binarität« bestehender Geschlechterverhältnisse siehe Pfaller 2020a.
Dieselben, freilich schon in Bezug auf ihren Ursprungsort hochgradig fragwürdigen Kategorien werden dann auch zur Anwendung in Länder importiert, die – wie zum Beispiel Österreich – in ihrer Geschichte niemals Kolonien in Afrika oder schwarze Sklaven besaßen; in denen es dafür aber im 20. Jahrhundert eine Geschichte von Faschismus, Genozid und Zwangsarbeit gab. Deren Opfer waren weiße Menschen (und vorwiegend Männer). Angewandt auf diese Verhältnisse führt der Antikolonialismus-Import zu merkwürdigen Verzerrungen. So wurde vor kurzem bei einer Konferenz französischer und österreichischer Psychoanalytiker an einer Wiener Universität den Vortragenden – unter ihnen Nachfahren von Holocaust-Überlebenden – vorgehalten, sie seien »alte, weiße Männer«. Dieses besonders im Kulturbetrieb beliebte unreflektierte Übertragen von modischen US-amerikanischen Diskursklischees auf mitteleuropäische Verhältnisse kann man auch als koloniale Dekolonisierung bezeichnen (siehe dazu Pfaller 2017: 37ff.).
Max Scheler bemerkt treffend: »… eine Schamregung zu gebieten wäre lächerlich«. (Scheler 1957: 82)
Siehe dazu Basad 2021: 117ff. Hier eines ihrer Beispiele: »Ein … Student entschuldigt sich dafür, weiß zu sein: ›Ich bin ein Mann und habe noch dazu blaue Augen‹, schreibt er voller Reue, aber er sei auch ein ›wirklich sensibler und einfühlsamer Mensch‹. (…) Hier wird klar, worauf diese Art von Antirassismus im Kern abzielt: Weiße müssen leiden, weil Schwarze leiden. … Sie dürfen nicht glücklich sein, wenn andere unglücklich sind.« (ebd.: 121)
Basad 2021: 65.
Siehe dazu https://www.focus.de/politik/deutschland/unreflektierte-kindheitserinnerung-indianer-eklat-spitzenkandidatin-bettina-jarasch-erntet-bei-gruenen-parteitag-kritik_id_13108083.html (Zugriff: 2022–01–20)
Fourest 2020: 11f.
Fourest 2020: 12.
Siehe dazu z.B. den von Lukas Cejpek herausgegebenen Band »Der Geschmack der Fremde« (Wien: Sonderzahl, 2004) oder auch die Wiener Initiative »Habibi & Hawara« (https://habibi.at/ Zugriff: 2022–03–14).
Spiked2016802016