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Volker Reinhardt

GESCHICHTE
DER SCHWEIZ

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Direkte Demokratie und außenpolitische Neutralität, der Zusammenhalt unterschiedlicher Sprachgruppen, wirtschaftliche Modernität, Wohlstand, Weltoffenheit, Sauberkeit: das sind nur einige der Tugenden, für die die Schweiz weltweit bewundert wird. Die Gründe für das «Phänomen Schweiz» werden immer wieder in der geographischen Lage – in der Mitte Europas und doch durch das Hochgebirge abgeschottet – gesucht. Am besten aber lassen sich die Besonderheiten im historischen Rückblick verstehen. Dieses Buch schildert knapp und kenntnisreich die Geschichte der Eidgenossenschaft vom Bundesschluß der «Urkantone» am Vierwaldstätter See im Jahr 1291 über die schrittweise Erweiterung des Bundes, seine Unabhängigkeit vom Deutschen Reich und die Wirren der Napoleonischen Zeit bis hin zur politischen Neutralität, Industrialisierung und allmählichen europäischen Integration der modernen Schweiz. Dabei fragt der Autor immer wieder nach dem Selbstverständnis der Schweiz als auf sich selbst gestellte wehrhafte Nation, für das der Mythos um Rütlischwur und Wilhelm Tell konstitutiv ist und das in den letzten Jahren durch die Offenlegung wirtschaftlicher Verflechtungen mit dem Dritten Reich sowie die zunehmende Einwanderung und europäische Integration in eine Krise geraten ist.

Über den Autor

Volker Reinhardt, geb. 1954, ist Professor für allgemeine und Schweizer Geschichte an der Universität Fribourg. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. die große Gesamtdarstellung «Die Geschichte der Schweiz» (2. Aufl. 2014) sowie zuletzt «De Sade oder Die Vermessung des Bösen» (2014). Für seine Biographie «Machiavelli oder Die Kunst der Macht» (Paperback-Ausgabe 2014) wurde er mit dem Golo-Mann-Preis für Geschichtsschreibung ausgezeichnet.

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Inhalt

  1. Apfelschuss und Tyrannenmord – ein produktiver Mythos

  2. Vom Bundesbrief zur Bundeserweiterung (1291–1370)

  3. Verdichtungen und Zerreißproben (1370–1450)

  4. Institutionen und Verfassungen

  5. Europäische Verwicklungen und Großmachtpolitik (1450–1520)

  6. Die Reformation und ihre Folgen (1520–1560)

  7. Konfessionelle Bündnisse, Kriegsvermeidung und Bauernkrieg (1560–1655)

  8. Die Zeit der Villmerger Kriege (1656–1712)

  9. Die Spätzeit der Alten Eidgenossenschaft (1713–1797)

10. Revolution, Chaos und neue Ordnungen (1798–1814)

11. Von der Restauration zum Bundesstaat (1815–1848)

12. Mehr Demokratie wagen (1848–1919)

13. Zwischen Faschismus, Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg (1920–1945)

14. Allein in Europa? (1946–2005)

Zeittafel

Literaturhinweise

Personenregister

1. Apfelschuss und Tyrannenmord – ein produktiver Mythos

Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,
In keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein, wie die Väter waren,
Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.
Wir wollen trauen auf den höchsten Gott
Und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.

Dies ist der folgenreichste Eid der Literaturgeschichte. Im erhabenen Licht der Morgendämmerung schwören ihn die Landleute von Uri, Schwyz und Unterwalden. Ort des Bühnengeschehens von Friedrich Schillers Wilhelm Tell ist eine stille Wiese an den Gestaden des Vierwaldstättersees, Rütli genannt. Anlass des hier beschworenen Bundes ist nackte Willkür. Im Namen des Hauses Habsburg, das die seit je her freien Bauern unterjocht, rauben, plündern und schänden dessen Handlanger scham- und straflos, allen voran der sadistische Vogt Gessler. Das Ziel der Allianz ist also, heiliges, natürliches Recht wieder in Kraft zu setzen, das von Österreich mit Füßen getreten wurde, und zwar veredelt durch das kostbarste Gut der Zivilisation: Menschlichkeit. Die Freiheit, in der sich diese Humanität entfalten soll, kommt nicht durch Aufbruch in eine voraussetzungslose Zukunft, sondern durch belebende Rückbesinnung auf den Geist der Vergangenheit zustande; der Bund, der im abgeschiedenen Grün des Rütli geschlossen wird, versteht sich als Bekräftigung einer älteren Union. Er kennt am Ende keinen Adel mehr, sondern nur noch Brüderlichkeit. Sie entsteht nicht aus erzwungener Gleichmacherei, sondern aus einem Akt freiwilliger Selbstangleichung der Vornehmen, ist also ebenfalls Wiederherstellung eines älteren, besseren Zustands. Eine klassenlose Gesellschaft aber ist nicht geplant. Wer Hirt war, bleibt es auch nach dem Bundesschluss. Das Recht zum Widerstand, das auf dem Rütli so erhaben beschworen wird, leitet sich daraus ab, dass ein jeder seinen Boden der Natur abgerungen hat und nun kraft natürlichen Rechts sein Eigen nennt; Feudalherren können da nur als Räuber auftreten. Legitim ist allein die Oberhoheit des Reichs, unter der Voraussetzung, dass dessen Oberhaupt, der Kaiser, das Recht schützt – was er im Falle von Uri, Schwyz und Unterwalden schmählich versäumt. So vereinbaren die Verschwörer auf dem Rütli, zum Äußersten getrieben, an Weihnachten die Zwingburgen zu stürmen. Spontane Selbsthilfe oder gar Rache wird ausdrücklich untersagt.

Dennoch wird sie nötig. Denn allzu zahm gebärdet sich in der Folgezeit das Bündnis der Widerstandswilligen. Der einsame Alpenjäger Wilhelm Tell wird vom Landvogt Gessler gezwungen, mit der Armbrust auf einen Apfel zu schießen, den sein kleiner Sohn auf dem Haupte trägt. Der Kunstschuss gelingt zwar, doch wird der Schütze danach von den Mächten des Bösen gefangen gesetzt, ohne dass ihm die Rütlischwörer zur Hilfe eilen. So muss sich der unzähmbare Jäger selbst helfen, bevor er den anderen hilft. Er lauert dem Despoten Gessler in der Hohlen Gasse vor Küssnacht auf und erschießt ihn. Das ist das Fanal zum Aufstand. Überall im Lande fallen die Zwingburgen. Mit der wieder erkämpften Urfreiheit wird die Gemeinde der Brüderlichen in die Geschichte entlassen. Auf der Bühne.

Schillers 1804 uraufgeführtes Schauspiel ist eine späte, doch dafür um so wirkungsvollere Version einer mehr als dreihundert Jahre alten Geschichte. Nach anfänglich offenbar eher spröden Reaktionen in der Eidgenossenschaft wurde das Stück des deutschen Autors zur maßgeblichen Vergegenwärtigung des mythischen Anfangs der Schweizer Nationalgeschichte. Unzählige Schützen-, Trachten- und Gesangvereine, religiöse, politische und sonstige Gruppierungen haben den Schwur, vorzugsweise auf dem Rütli, nachgesprochen, nachgesungen, nachgebetet. Die Dichtung traf das Selbstgefühl der bürgerlichen Eliten im 19. Jahrhundert, erfüllte ihr Bedürfnis, sich der nationalen Geschichte zu versichern und ihr Wirken als bruchlose Anknüpfung an hehre Uranfänge zu legitimieren. Durch Schillers Schauspiel wurde die Nation im Namen ihrer Historie zum Heiligtum erhoben und überbrückte so die Kluft zwischen Konfessionen und Weltanschauungen. Ihre Geschichte ist von einem allen gemeinsamen Gott gelenkt, ja vorherbestimmt. Mächtige und Volk sind eine Einheit; die einfachen Leute überlassen sich vertrauensvoll der Führung der Regierenden, von denen sie sich väterlich angeleitet wissen. Die Schweiz, die sich in Schillers Schwur selbst begründet, ist kein vom Makel der Revolution beflecktes, sondern ein rechtmäßiges, heroisch und honorig zugleich begründetes Staatswesen. Es kommt durch Abgrenzung gegen eine feindliche Außenwelt zustande, vermag aber mit verständnisbereiten Nachbarn sehr wohl in Frieden, d.h. Neutralität, zu leben: auf der Höhe des liberalen Zeitgeistes und zugleich für alle Zeit genossenschaftlich, bedürfnislos, einträchtig, im Einklang mit der Natur, Tradition und Moderne harmonisch verschmelzend. Bis heute glaubt – wie aus Befragungen hervorgeht – ein großer Teil der Schweizer, aber auch der übrigen Europäer, dass es so, wie bei Schiller beschrieben, und nicht anders bei der Gründung der Nation zugegangen sei.

Dementsprechend lebt die Legende fort. Am Beginn des 21. Jahrhunderts lässt sich aus der Rütli- und Tell-Erzählung ableiten, dass die Schweiz am besten fährt, wenn sie alleine fährt, d.h. außerhalb der Europäischen Union bleibt. Man kann die Tat des solidarisch-anarchischen Selbsthelfers Tell aber auch als wackeren Einsatz für eine übernationale Gemeinschaft aller Menschen guten Willens interpretieren. Der Nutzanwendung des Mythos scheinen kaum Grenzen gesetzt.

Schiller schöpfte seinen Stoff aus den Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft des Schaffhauseners Johannes von Müller (1752–1809), der den «Volksgeist» zur tragenden Kraft der Geschichte erhob. Müller wiederum stützte sich überwiegend auf die Darstellung der Ereignisse, die Ägidius Tschudi (1505–1572) in seinem Chronicon Helveticum bot. Tschudi, als Politiker von nationaler, als humanistischer Geschichtsschreiber von europäischer Statur, setzte mit seinem Bericht das Siegel unter die Geschichte des nationalen Befreiungskampfes und rechtfertigte damit die Existenz der Eidgenossenschaft. Diese nämlich war im fürstlichen Europa alles andere als unbestritten. Durch den Nachweis, dass der Aufstand gegen Habsburg Widerstand gegen blutige Unterdrückung, also ein Akt der Notwehr zwecks Wiederherstellung rechtmäßig erworbener und verteidigter Freiheit, war, sollte dem Bund Legitimität und Anerkennung verschafft werden. Überdies erscheint dieser bei Tschudi durchaus auf aristokratische Werte, nämlich Alter und Vornehmheit, gegründet. Die Eidgenossenschaft war für Tschudi – ihrer Entstehung gemäß – aristokratisch und unbeugsam freiheitsliebend, zeichnete sich durch die Nähe zwischen den Großen und dem Volk aus und war dadurch ihren Vorvätern, den von Cäsar zwar vertriebenen, doch nie unter das Joch gebeugten Helvetiern der Antike, wesensgleich.

Tschudi benutzte für seine Darstellung Vorlagen, deren Entstehungszeit ein knappes Jahrhundert zurücklag. Rütlischwur und Apfelschuss wurden erstmals im Weißen Buch von Sarnen aufgeführt, einer um 1470 angelegten Obwaldner Chronik bzw. Dokumentensammlung offizieller Natur; ihr Zweck war, Belege für Rechtsansprüche zu liefern. Ältere Zeugnisse über die Vorgänge aber fehlen. Damit klaffte, wie auch immer man den Eid und den Tyrannenmord im einzelnen datierte, ein Zeitabstand von mehr als anderthalb Jahrhunderten zwischen den Ereignissen und deren erster Erwähnung. Diese Lücke gab zu denken, um so mehr, als im 18. Jahrhundert eine umstürzende Entdeckung gemacht wurde: Die Geschichte vom Apfelschuss hatte ältere, skandinavische Ursprünge. War sie also nichts als eine Wandersage und als solche nicht einmal bodenständig?

Der Mythos war also bereits von der unaufhaltsam fortschreitenden kritischen Geschichtswissenschaft bedroht, als Schiller ihn allgemeingültig niederschrieb – ein wesentlicher Grund für den Erfolg seines Stückes. Doch auch wenn sich noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einzelne Historiker berufen fühlten, Tells geschichtliche Authentizität zu «retten» – Rütlischwur und Apfelschuss gehören unwiderruflich ins Reich der Legende. Dass «alles ganz anders gewesen ist»: diese Erkenntnis mindert nicht die Faszination des Mythos, sondern verleiht ihm zusätzliche Dimensionen und Tiefe. Denn was immer sich auf dem Gebiet der späteren «Urkantone» um 1300 abgespielt hat, die idealisierte Darstellung dieser Vorgänge ist durch die Kluft zu den ermittelten Fakten nicht als «Fälschung» abgewertet. Im Gegenteil, der Mythos zeigt, wie sich die politischen Akteure in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Vorgeschichte der Eidgenossenschaft vorstellten und dadurch ihr eigenes Wirken rechtfertigten. Zur Entstehungszeit der Befreiungserzählung nämlich trat die Schweiz erstmals als ein genauer abgegrenztes ideologisches, politisches und militärisches Sondergebilde, ja ansatzweise sogar als eigene Nation innerhalb des Heiligen Römischen Reiches hervor, das sich ungefähr gleichzeitig mit dem Zusatz «deutscher Nation» genauer zu definieren begann. Die Geschichte von Rütli und Tell ist die eidgenössische Visitenkarte im Europa der um Rang und Rechte rivalisierenden Nationen.

Dieser Konkurrenz entsprechend ist sie ein Produkt von Propagandakämpfen. Sie stellt einer habsburgisch-österreichischen Erzählung, die von Verrat, Heimtücke und Unrecht der Eidgenossen zu berichten weiß, eine exemplarisch gute Gründungsgeschichte gegenüber. Der von weit entfernter Vergangenheit handelnde Mythos ist somit im 15. Jahrhundert erregende Zeitgeschichte und zugleich mehr. Er wird nach und nach zu einem Kernstück des Nationalbewusstseins und damit selbst eine geschichtsmächtige Kraft. Denn die Entstehung von Nationen im Europa der Frühen Neuzeit ist in hohem Maße ein Prozess der Selbsterfindung. In ihm hat der Mythos seine kreativen Wurzeln.

Die Differenz zwischen dem Mythos und den geschichtlichen Abläufen auszuloten, wie sie von der historischen Forschung rekonstruiert wurden – und zwar ohne den Anspruch, das «letzte Wort» gesprochen zu haben –, heißt deshalb nicht, dem Mythos am Zeug zu flicken. Im Gegenteil: die dabei zutage tretende Spannweite zeigt, wie aus der Geschichte Sinn für die Gegenwart gefiltert und die Vergangenheit zur Verpflichtung für Gegenwart und Zukunft erhoben wird. Überdies zeigt sich, wie generationenübergreifend verbindliche Normen geschaffen werden und daraus ein Bild der Nation hervorgeht, das im Kern bis heute Gültigkeit beansprucht.

2. Vom Bundesbrief zur Bundeserweiterung (1291–1370)

Vor die schwierige Aufgabe gestellt, Apfelschuss, Rütlibund und die Folgen in eine logische Abfolge zu bringen und in den übergeordneten Geschichtszusammenhang einzuordnen, datierte der humanistische Historiker Tschudi den Schwur auf den 8. November 1307 und den Burgenbruch auf die darauf folgende Neujahrsnacht. In Frage gestellt wurde diese Chronologie seit 1724, als der lateinisch abgefasste auf das Jahr 1291 datierte Bundesbrief entdeckt wurde. In diesem Dokument schlossen sich die Einwohner von Uri, Schwyz und «zwischen den Bergen im unteren Tal», was gemeinhin mit Nidwalden gleichgesetzt wurde, zusammen, um den Landfrieden zu wahren, das heißt, um geregelte Rechtswege zu sichern und Ansprüche nicht mehr gewaltsam durchzusetzen, und um weitere gemeinsame Interessen zu schützen. Die den Vertrag schließenden Parteien versprachen sich wechselseitige Unterstützung bei Gewalt von innen und außen, legten Schlichtungsverfahren bei Streitigkeiten untereinander fest und verpflichteten sich zum Gehorsam gegenüber rechtmäßiger Herrschaft und Richtern. Die Letzteren durften allerdings nicht von auswärts kommen und ihr Amt nicht kaufen. Auf diese Weise konstruierte der Landfriedensbund Umrisse eines einheitlichen Gebiets mit gemeinsamem Rechtsstatus. Dieser lief auf Reichsfreiheit hinaus, modern ausgedrückt: auf Selbstverwaltung und regionale Autonomie unter der alleinigen Hoheit des Reiches. Dieser «zu Beginn des Monats August» datierte Bund wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts zum eigentlichen Gründungsakt der Schweiz erhoben. Dementsprechend wurde der Nationalfeiertag auf den 1. August datiert und 1891 eine aufwendige Sechshundertjahrfeier inszeniert.

Zu einer solchen Überhöhung ist das Dokument jedoch nicht geeignet, da der Zeitpunkt seiner Ausstellung und seine Funktion nach neuesten Forschungen grundlegend in Frage gestellt sind. Demnach gehört die Urkunde am ehesten in die Zeit um 1308/09 und in einen ganz andersartigen politischen Zusammenhang. 1308 war mit dem Grafen Heinrich von Luxemburg ein neues Oberhaupt des Heiligen Römischen Reiches gewählt worden, zu dem sämtliche Gebiete der späteren Schweiz gehörten. Dieser neue «römische König» Heinrich VII. war bestrebt, seinen Titel in den eines römischen Kaisers umzuwandeln und mit dieser Rangerhöhung seine bislang schwache Stellung im Reich zu stärken. Zu diesem Zweck musste er nach Rom ziehen, um sich dort von einem Vertreter des (in Avignon residierenden) Papstes krönen zu lassen. Ein solcher «Romzug» konnte jedoch nur gelingen, wenn dem künftigen Imperator eine ansehnliche Truppenmacht zur Verfügung stand. Von den Reichsfürsten war in dieser Hinsicht nicht viel zu erwarten; sie hatten an einem mächtigen Reichsoberhaupt erfahrungsgemäß kein Interesse – im Gegenteil. Heinrich musste also Söldner anwerben; diese wiederum kosteten mehr Geld, als er hatte. In solchen Fällen bot sich ein politischer Deal an, und damit kam das Gebiet der heutigen Innerschweiz ins Spiel. Schon bald nach seiner Wahl ernannte Heinrich VII. den Grafen Werner von Homberg zum Vikar einer Reichsvogtei, die aus den drei «Waldstätten» Uri, Schwyz und Unterwalden, also Nidwalden und Obwalden zusammen, bestand. Damit waren diese Gebiete reichsunmittelbar, das heißt nur dem Reichsoberhaupt und dem von diesem eingesetzten Herrschaftsstellvertreter, dem Reichsvikar, unterstellt. Einen solchen Rechtsstatus beanspruchten Uri und Schwyz seit 1231 bzw. 1240; schon damals dürften sie sich diese Freiheit von feudaler Herrschaft – falls die Dokumente echt sind – durch die Stellung von Söldnerkontingenten erkauft haben. Unterwalden hingegen besaß diese Reichsunmittelbarkeit mit Sicherheit nicht.

Der erfolgreiche Militärunternehmer Werner von Homberg war einer der Erben, die sich um die Hinterlassenschaft der Grafen von Rapperswil stritten; sein Hauptkonkurrent entstammte einem Zweig der Familie Habsburg, die 1273 durch die Königswahl Rudolfs I. zu europäischer Geltung aufgestiegen und im heutigen Schweizer Mittelland begütert war. Als frisch ernannter Reichsvikar zog Werner von Homberg mit Heinrich VII. nach Italien, wo dieser zwar 1312 die Kaiserkrone erhielt, doch nach mancherlei Misserfolgen schon im darauf folgenden Jahr starb. Sieben Jahre später folgte ihm sein Condottiere ins Grab nach. Damit war die Reichsvogtei der drei Waldstätte vakant, gewissermaßen herrenlos. Und das sollte sie nach Meinung der einheimischen Eliten, die damit ins Blickfeld gerieten, auch bleiben. Diese Führungsschicht – die Attinghusen in Uri, die Ab Iberg in Schwyz, die Waltersberg in Nidwalden und die von Hunwil in Obwalden – rekrutierte sich aus regionalen nobiles, Adelsfamilien von mittlerem Rang, die weit unter den Habsburgern standen, doch seit Generationen solide vor Ort begütert, vernetzt und damit verwurzelt waren. Diese Familien darf man also mit Fug und Recht hinter den «homines», den Einwohnern der drei Waldstätte, vermuten, die im «Bundesbrief» Erwähnung finden. Sie wollten sich darin fähig zeigen, Frieden, Recht und Ordnung in ihrer Gegend selbst zu garantieren, gewiss ursprünglich im Zusammenspiel mit dem Reichsvikar, doch musste es notfalls eben auch ohne diesen gehen.

Dieser Wille zur regionalen Autonomie war ein Leitmotiv der Zeit, und zwar weit über die Grenzen der heutigen Schweiz hinaus. Allerdings fiel dieses Streben nach politischer Kleinräumigkeit jetzt wie später im Alpenraum besonders zäh und oft auch erfolgreich aus. Dennoch war diese Selbstbestimmung der regionalen Eliten bedroht. Ob in Italien oder nördlich der Alpen: im Laufe des 14. Jahrhunderts bildeten sich immer größere und im Inneren zunehmend vereinheitlichte Herrschaftsgebiete mit stetig weiter ausgebauten Machtzentralen heraus – ein Prozess, der auch als «Territorialisierung» bezeichnet wird. Diese Entwicklung, die bis zum Ende Alteuropas in den Stürmen der Französischen Revolution nirgendwo zum Abschluss gelangte, prägte über Jahrhunderte das politische Klima und vor allem das Verhältnis zwischen regierender Dynastie und örtlicher Aristokratie.

Gegen wen hatten sich die Führungsschichten von Uri, Schwyz und Unterwalden konkret zu wehren? Die traditionell vorgegebene Antwort lautet selbstverständlich: gegen die Habsburger. Doch auch hier drängen sich mittlerweile begründete Zweifel auf. Zwar steht das Streben der Dynastie nach konsolidierten Landesherrschaften außer Frage, doch lag das Gebiet der drei Waldstätte allenfalls am Rande dieser Territoriumsbildung. Das geringe Interesse der Habsburger hatte viel mit den bescheidenen wirtschaftlichen Ressourcen der überwiegend kargen Gebirgsregion zu tun. Die vorher geostrategisch randständige Gegend war zwar um 1230 durch die Überbrückung der Schöllenen-Schlucht, die den Gotthardpass aufwertete, handelspolitisch attraktiver geworden, doch besaßen die Habsburger andere, kommerziell und militärisch günstigere Alpenübergänge wie etwa den Brenner. Außer Frage steht jedoch, dass die Gotthardroute für die wirtschaftlich aufsteigende Schicht der Waldstätte, die wohlhabenden Viehzüchter, die Überschüsse für den Markt produzierten, stetig an Bedeutung gewann. Ihr Exportschlager, der Hartkäse, wurde in immer größeren Mengen in die Weltstadt Mailand transportiert, die mit 100.000 Einwohnern die späteren eidgenössischen Städte Luzern, Zürich und Bern um mehr als das Zwanzigfache übertraf. Lukrativ war in Anbetracht der unruhigen Zeiten und zahlreicher Kriege auch die Pferdezucht. So dürfte im Bundesbrief weniger die Abwehrhaltung gegen eine bestimmte Dynastie als vielmehr das Streben der regionalen Eliten nach Selbstbestimmung seinen Niederschlag gefunden haben.

Trotzdem ließ ein erster Konflikt mit dem Hause Habsburg nicht lange auf sich warten. Allerdings entsprang er aus heutiger Sicht wohl anderen Ursachen, als der Mythos erzählt. War die feudale Durchdringung in den drei Gebirgsgegenden insgesamt schwach, so zeigte sich die Stellung lokaler Herrschaftsträger wie die des Klosters Einsiedeln umso stärker. Um die Einkünfte einzuziehen, die ihm aus seiner ausgedehnten Grundherrschaft zustanden, und um seine Rechtsprechungskompetenzen wahrzunehmen, war der Abt darauf angewiesen, Amtsleute aus der wohlhabenden Bauernschaft zu rekrutieren. Diese wiederum arrondierten ihre Besitzungen mit Billigung des Klosters, was auf die Eingliederung von Gemeindebesitz hinauslief. Diese Allmenden waren jedoch für die weniger begüterten Bauern lebenswichtig – und schwere soziale Auseinandersetzungen damit vorgezeichnet. Im Zuge dieses so genannten Marchenstreits überfielen Schwyzer Landleute, die sich durch die neue Besitzaufteilung geschädigt fühlten, Anfang 1314 das Kloster und verschleppten dessen Bewohner. Dieser Überfall zog weite Kreise. Der Papst exkommunizierte die Übeltäter. Und auch Herzog Leopold I. von Habsburg musste sich in seiner Ehre gekränkt fühlen. Als Vogt des gestürmten Klosters hatte er für dessen Sicherheit und Wohlergehen zu sorgen; wer sich daran verging, minderte seine Reputation.

Um diesen Schaden zu reparieren, musste die Ordnung wiederhergestellt und Präsenz demonstriert werden. Und damit erscheint ein weiterer eidgenössischer Gründungsmythos in einem anderen Licht: die Ereignisse am Morgarten im November 1315. Die eidgenössische Geschichtsschreibung gestaltete die Schlacht, die am Südende des Ägerisees, im Grenzgebiet von Schwyz und Zug, stattgefunden haben soll, zu einem heroischen Ringen zwischen tapferen und freiheitsdurstigen Landleuten und arroganten, herrschsüchtigen Rittern aus. Am Ende, so die patriotische Überlieferung, entschied Gott den Kampf zugunsten der edlen, frommen Bauern. Dass es in diesem beengten Gelände zwischen Sumpfwiesen und Berghängen zu einem gewaltsamen Zusammenstoß kam, bei dem das adelige Aufgebot des Habsburgers den Kürzeren zog, geht aus dem drei Jahre danach geschlossenen Frieden hervor. Doch dürfte es sich dabei eher um eine überraschende Attacke mit Felsbrocken und Baumstämmen als um ein regelrechtes Gefecht gehandelt haben. Daran beteiligt waren mit Sicherheit die Schwyzer, die eine Einmischung der fremden Dynastie in ihre inneren Angelegenheiten verhindern wollten. Ob Werner von Homberg und Aufgebote der übrigen Waldstätte mit von der Partie waren, muss offen bleiben.

Nach diesem Affront war die Führungsschicht der Waldstätte selbstverständlich daran interessiert, die Konkurrenten der Habsburger um die höchste Würde des Reiches gestärkt zu sehen. Ja, diese Parteinahme wurde geradezu zu einem Leitmotiv eidgenössischer Politik in der Folgezeit. Konkret, im Hier und Jetzt, hieß das, die Anlehnung an König Ludwig IV., genannt der Bayer, aus dem Hause Wittelsbach zu suchen. Dieser war 1314 eines von zwei Reichsoberhäuptern, da sich die Kurfürsten nach dem Tode Heinrichs VII. nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen konnten. Sein Rivale war Friedrich der Schöne von Habsburg, den der Wittelsbacher 1322 militärisch besiegte. In der Zwischenzeit, aber auch danach, als er sich mit dem Papst entzweite, war Ludwig der Bayer seinerseits auf die Söldner aus der Innerschweiz angewiesen, am intensivsten 1328, als er gegen den Willen der Kirche seinen Romzug zur Kaiserkrönung vorbereitete. In den Jahren seit 1315 ging dementsprechend ein warmer Regen von Freiheits- und Privilegienbestätigungen auf die Waldstätte nieder. Was diese wert waren, musste sich erweisen.

Die unmittelbare Folge der Ereignisse am Morgarten aber war der am 9. Dezember 1315 in Brunnen geschlossene Bund, der die Bestimmungen des «Bundesbriefs» aufnahm und in räumlicher Hinsicht erweiterte; diesmal nämlich war Obwalden mit aufgenommen. Die antihabsburgische Stoßrichtung der Allianz war jetzt unübersehbar. So verpflichteten sich die drei Waldstätte, ohne die Billigung der anderen Bundesglieder keinen Oberherrn anzuerkennen und, mehr noch, ohne diese Zustimmung nicht einmal mit fremden Mächten Verträge zu schließen oder auch nur Verhandlungen zu führen. Die grundherrlichen Rechte blieben zwar prinzipiell in Kraft, doch wurden sie im Fall aggressiver Mächte (d.h. Habsburgs) bis zum Frieden suspendiert. In ihrer Summe liefen die wichtigsten Klauseln also auf die Bewahrung des Status quo, das heißt auf Herrschaftssicherung und damit eine Bestandsgarantie der regierenden Eliten hinaus.

Eine weitere bedeutsame Neuausrichtung vollzog sich 1332. In diesem Jahr schlossen die drei Waldstätte ein Bündnis mit Luzern. Die dortigen Verhältnisse waren wie in so vielen städtischen Gemeinwesen nördlich und südlich der Alpen chronisch konfliktträchtig; die Frontlinien verliefen innerhalb des regierenden Patriziats selbst, doch sorgten darüber hinaus die Ansprüche wohlhabender Familien aus Handwerk und Handel für Zündstoff. Zusätzlich angefacht wurden die Auseinandersetzungen durch den Streit über die künftige Orientierung der Stadt. Luzern gehörte zum österreichischen Herrschaftsbereich, doch hegte zumindest ein Teil der führenden Bürger weiterreichende