Titel der Originalausgabe: How to get away with Myrtle
Erschienen bei Algonquin Young Readers, einem Imprint von
Algonquin Books of Chapel Hill, Post Office Box 2225, Chapel Hill,
North Carolina 27515-2225
A division of Workman Publishing, New York, New York 10014
Copyright © 2020 Stephanie Elizabeth Bunce
Published by arrangement with Erin Murphy Literary Agency
through Rights People, London
Deutsche Erstausgabe
Copyright © 2022 von dem Knesebeck GmbH & Co. Verlag KG,
München
Ein Unternehmen der Média-Participations
Projektleitung und Lektorat: Theresa Scholz, Knesebeck Verlag
Übersetzung: Nadine Mannchen, Helmbrechts
Umschlaggestaltung: Felicitas Horstschäfer, Berlin
Satz und Herstellung: Arnold & Domnick, Leipzig
eISBN 978-3-95728-677-2
Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise.
www.knesebeck-verlag.de
1 Auslieferung
2 Caveat Viator
3 Straßenraub
4 Pflichtvernachlässigung
5 Veni, vidi
6 Herrenloses Gepäck
7 Grand Hotel
8 Wegfall der Geschäftsgrundlage
9 Promenade
10 Inter rusticos
11 Prima facie
12 Justizbehinderung
13 Zimmerservice
14 Amicus curiae
15 Kurze Abstecher
16 Cui bono?
17 Schatzsuche am Strand
18 Regionale Raritäten
19 Unvermeidbare Entdeckung
20 Bitte nicht stören
21 Mare apertum
22 Wünschte, du wärst hier
Anmerkung der Autorin
Niemand würde je auf eine wissenschaftliche oder militärische Expedition aufbrechen, ohne zuvor die nötigen Vorräte, Ausrüstung und Informationen über das betreffende Gebiet besorgt zu haben — für einen Freizeitausflug ist dies nicht weniger wichtig.
— Hardcastles Praktisches Reisehandbuch: Ein Leitfaden voll nützlicher Ratschläge & ausgewählter Reiseziele von Bedeutung für den Touristen von heute, Ausgabe I, 1893.
»Betrachte es als akademische Übung.« Miss Judson, meine Gouvernante, warf eine weitere Armladung Chemisetten aufs Bett. Peony stieß ein Protestmiauen aus und suchte Zuflucht im Koffer.
»In welcher Disziplin?« Heimlich holte ich zwei Unterröcke aus meinem Gepäck und ersetzte sie durch die neueste Ausgabe von Englische Gerichtsurteile und drei Bände meiner Enzyklopädie. Alle Lexika mitzunehmen, erschien mir übertrieben, allerdings konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, ob es in Fairhaven einen Buchladen oder eine Leihbücherei gab. Die Broschüre hatte dahingehend nichts erwähnt.
»Leg den Oberfähnrich1 zurück«, sagte Miss Judson. »Tante Helena wird erwarten, dich darin zu sehen. Und Disziplin trifft den Nagel auf den Kopf. Du und ich werden uns in einzigartiger Selbstbeherrschung üben.«
»Ich dachte, wir vergnügen uns an sonnigen Stränden und bei dem großen Unterhaltungsangebot für die ganze Familie.« Zwar hatte es die Broschüre versäumt, näher auszuführen, was unter »dem großen Unterhaltungsangebot für die ganze Familie« zu verstehen war, doch ich vermutete, nichts Gutes. »Außerdem ist dieser Anzug lächerlich! Ich will doch nicht auf einem Schiff anheuern.«
Wenngleich ich mir wie eine vorkam: zwangsrekrutiert zu einem Urlaub am Meer von skrupellosen Verschwörern, die taub waren für meine Einwände.
Miss Judson holte das Kostüm zurück und faltete es erneut. »Wir haben das doch längst besprochen. Deine Tante will mit dir in den Urlaub fahren –«
»Nein, will sie nicht.«
»Myrtle. Du hast deine Möglichkeiten zur Berufung ausgeschöpft. Akzeptiere dein Urteil mit Würde.« Kaum hatte sie das gesagt, hätte sie ihre Worte offensichtlich gern zurückgenommen.
»Mein Urteil?«, rief ich. »Also ist es doch eine Strafe.« Ich warf den Haufen Unterröcke auf den Boden.
»Natürlich nicht«, sagte Miss Judson. »Nun hör auf, dich so hineinzusteigern.«
»Was im Sommer passiert ist, war nicht meine Schuld! Das hat sogar Vater gesagt.« Mit verschränkten Armen forderte ich Miss Judson dazu heraus, es zu widerlegen.
»Und er hat es auch so gemeint. Dieser Urlaub soll dazu dienen, Abstand zu gewinnen von all dem –«
»Vater ist extra nach Paris gereist, um von mir fortzukommen.«
Die Hand auf die Brust gepresst, trat sie einen Schritt zurück. »Glaubst du das wirklich?«
Ich wandte mich ab und schob die Chemisetten in den Koffer. In einen vernünftigen Urlaub würde Vater uns begleiten, anstatt einen riesigen Abstand zwischen uns zu bringen.2 Bei einem richtigen Urlaub würden sich Vater und Miss Judson vielleicht sogar gemeinsam am Strand vergnügen. Sie würden gemeinsam auf dem Pier spazieren gehen. Wir könnten eine richtige Familie sein, nur wir drei. Stattdessen schickte man Miss Judson und mich an die Küste ins Exil, während Vater so weit wie möglich vor uns die Flucht ergriff.
Miss Judson drehte mich zu sich um. »Du magst es nicht wahrhaben wollen, doch dein Vater will lediglich, dass du eine gute Zeit verbringst …«
»In Paris hätte ich eine gute Zeit. Mit ihm.«
»… und diese Zeit mit etwas verbringst, das nichts mit Mord zu tun hat.«
Ich funkelte sie finster an. »Ein ganz normaler Urlaub. Wie ein ganz normales Mädchen.«
»Ganz recht. Ich bin zuversichtlich, dass du das hinbekommst. Man munkelt, du bist schlau und einfallsreich.«
Sie nahm mir die Ballingall-Ausflugsbroschüre ab und steckte sie in meine kleine Reisetasche. »Pack deine restlichen Sachen ein, sonst verpassen wir den Zug. Sei in fünfzehn Minuten unten, und falls dieser Hut dann nicht auf deinem Kopf sitzt, zwinge ich dich, die gesamte Anreise über neben Tante Helena zu sitzen.«
Das war ihr absolut zuzutrauen. Peony schenkte mir leise gurrend ihr Mitleid.
Bezwungen musterte ich das Meer an Kleidung vor mir. Meine Großtante Helena hatte mir seit Wochen ganze Ladungen neuer Gewänder geschickt. Inzwischen hatte meine Urlaubsgarderobe den dreifachen Umfang meiner normalen Ausstattung und beinhaltete den bereits erwähnten Matrosenanzug (für Bootsausflüge), ein Flanierensemble (für Spaziergänge), ein Spazierkleid (für …?) und ein durch und durch grauenhaftes Badekostüm, auf das ich mit Rücksicht auf das Zartgefühl meiner Leser und Leserinnen nicht näher eingehen will.
Trotz all meiner Einwände erschien mir ein Urlaub an und für sich nicht unangebracht. Die vergangenen Wochen waren tatsächlich anstrengend gewesen. Der Redgraves-Mord war landesweit in den Nachrichten, doch selbst ich hatte aufgehört, Zeitungsausschnitte darüber zu sammeln. Mich hatte man überhaupt nicht zur Zeugenaussage vorgeladen, obwohl ich dieses Verbrechen (fast) im Alleingang aufgeklärt hatte! Es war mein erster professioneller Erfolg als Ermittlerin gewesen, doch der Staatsanwalt von Swinburne (Vater) hatte es eingefädelt, dass mein Name aus den offiziellen Berichten herausgehalten wurde, und verweigerte sich der Logik, dass man mir eine Aussage erlauben sollte. Stattdessen, während der Fall kilometerweit entfernt in London verhandelt wurde (ein übrigens absolut vernünftiges Urlaubsziel, möchte ich anmerken und auf das Naturkundemuseum, Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett und den Strafgerichtshof hinweisen), war über mein Schicksal bereits entschieden worden, und dies war Vaters Urteil.
Und wo würde Vater selbst sein, während all der Vergnügungen für die ganze Familie? In Paris! Beim Symposium International sur la Médecine Légale, einer Konferenz über forensische Wissenschaft. Die genialsten Kriminologen aus der ganzen Welt würden dort sein, um sich über die neuesten Entwicklungen in der Tatortanalyse und Autopsie auszutauschen. Berühmte französische Experten wie Dr. Lacassagne, Gründer von Europas angesehenster Schule für Kriminalmedizin, und Monsieur Bertillon, der Polizist, der das Fahndungsfoto und die Anthropometrie3 erfunden hatte, würden dort Vorträge halten, außerdem sollte es eine Debatte über den Nutzen von Fingerabdrücken geben.
Während ich im sonnigen Fairhaven dahinvegetieren und Muscheln sammeln sollte.
»Einzigartige Selbstbeherrschung, in der Tat«, sagte ich zu Peony. »Solange ich nicht gleich vor Langeweile sterbe.« Noch war mir kein Fall untergekommen, der Überdruss verlässlich als Todesursache angab – doch sollte ich zum Paradefall werden, hätte dieser Urlaub am Ende wenigstens doch einen (wissenschaftlichen) Wert.
»Mrriau«, gab Peony mir recht.
»Du hast gut reden«, sagte ich. »Du wirst immerhin hier sein, bei deinen Sonnenstrahlen, Fischköpfen und Köchin.« Mit einem letzten, herzzerreißenden Seufzen griff ich mir den »Hut« – die sprichwörtliche wie tatsächliche Krönung der Erniedrigung, welche diese Tortur für mich bedeutete. Durch die enorme rotbraune4 Schleife, winzige Samtkürbisse und eine getrocknete Weizenähre sah er aus wie eine verrottende Herbstwiese. Fehlten nur noch die fleischfressenden Käfer.
Peony fauchte und schlug nach der Schleife.
Ich betrachtete Peony. Ich betrachtete den Hut. Ich betrachtete meine Truhe, die vor Urlaubskleidung nur so überquoll, dafür nicht annähernd genug Bücher in sich trug. Peony folgte meinem Blick aufmerksam.
»Nein«, sagte sie entschlossen.
»Wenn ich das durchstehen muss, bleibt es dir auch nicht erspart.« Ich hob sie hoch und ließ sie ohne Umschweife gemeinsam mit einem hübschen Unterrock aus Flanell und einem übrig gebliebenen Keks in die Hutschachtel5 plumpsen. Bevor ich die Koffertruhe schloss, warf ich trotzig meine Lupe, die Zwille und ein robustes Paar Gummistiefel hinein, die vom letzten Ausflug eventuell noch etwas feucht waren. Den Hut jedoch behielt ich wie eine Märtyrerin auf dem Kopf.
Mit der Pferdetrambahn fuhren wir bis zum Bahnhof in Upton, wo ein Banner verkündete: »WILLKOMMEN, REISEGESELLSCHAFT FAIRHAVEN!« Tante Helena marschierte über den Bahnsteig, wobei sie wie eine Tambourmajorin bei einer Militärparade mit ihrem Gehstock herumfuchtelte.
»Sie scheint sich köstlich zu amüsieren.« Ich verlagerte den Griff um die Hutschachtel und zwang den Inhalt in Gedanken, still und leise zu sein.
Miss Judson murmelte: »Wenn sie ganz brav und artig ist, lässt man sie vielleicht sogar in der Lokomotive fahren.«
Ich biss mir auf die Lippe, um ein höchst unziemliches Schnauben zu unterdrücken, das Tante Helena gewiss bemerkt hätte. Es war ein stürmischer Oktobernachmittag (und sollte Ihnen dies als ein merkwürdiger Zeitpunkt für einen Urlaub am Meer vorkommen, lieber Leser und liebe Leserin, sind Sie damit nicht allein) und am Bahnhof wimmelte es von erwartungsvollen Passagieren, die Regenschirme, Hutschachteln und Fahrpläne jonglierten. Alle schienen den bereitstehenden Zug zu bewundern, ein modernes Ding mit glänzend schwarzvioletten Waggons und einer Lok, auf der »Ballingall Kaiserinnen-Express« stand. Abgesperrt wurde der Zug von einem langen roten Band, das sich über den gesamten Bahnsteig spannte.
Ein stämmiger Herr, der wie ein Zirkusdirektor gekleidet war, stolzierte mit einem breiten Lächeln unter dem umfangreichen Schnurrbart umher. Dank seiner Broschüre erkannte ich ihn als den Reiseleiter Sir Quentin Ballingall – derjenige, der hinter Tante Helenas perfidem Plan steckte. Im Laufe der vergangenen Jahre hatte sie pausenlos von ihm geredet, immer in den höchsten Tönen, und viele seiner Urlaubsreisen mitgemacht. Den Großteil des Sommers hatte sie auf einer seiner Strandtouren verbracht. Allerdings war dies nun das erste Mal, dass sie Miss Judson und mich zwang, sie zu begleiten.
»Ah, Judson. Da sind Sie ja endlich.« Tante Helenas ernster Blick wanderte zu mir. »Helena Myrtle. Was um alles in der Welt ist das für ein Ding auf deinem Kopf? Das kann unmöglich der Hut sein, den ich für dich bestellt habe.«
Ich warf beiden einen entrüsteten Blick zu, jedoch kam meinem Protest die Ankunft einer gehetzten jungen Frau in einem biederen schwarzen Kleid zuvor, die eine Häkeltasche und einen aufgerollten Reiseteppich mit sich schleppte. »Miss Hardcastle«, japste sie, »ich soll Ihnen ausrichten, wenn Sie ihre Bestellung fürs Abendessen ändern möchten, sollen Sie das mit dem Personal an Bord klären.«
»Hat Tante Helena schon wieder ihr Hausmädchen gefeuert?«, fragte ich mitfühlend, doch das Mädchen sah mich nur begriffsstutzig an.
»Miss Highsmith ist meine Gesellschafterin.« Tante Helena redete, als wäre das eine große Ehre. »Die Ballingalls haben sie in meinem Namen angestellt. Damen aus gutem Hause reisen nicht allein.« Sie wandte sich zu Miss Highsmith um. »Kümmern Sie sich nicht darum, Cicely. Gehen Sie nachsehen, was es mit dieser Verzögerung hier auf sich hat. Sir Quentin kann uns ja unmöglich in diesem Zugwind stehen lassen wollen.« Aus einem perlenbesetzten Pompadour nahm sie eine Münze. »Helena Myrtle, kauf dir etwas, das du im Zug lesen kannst. Ich will nicht, dass du die Reise mit deinem geistlosen Geschwätz störst.«
Als ich das Geld sah, schluckte ich meine Antwort hinunter: ein ganzer Schilling! Mehr als genug, um eine ganze Woche lang Zeitung zu lesen – was wieder einmal bewies, wie viele Zeitschriften Tante Helena in ihrem Leben bisher erstanden hatte. Bevor Miss Judson mich zwingen konnte, das Geld zurückzugeben, eilte ich über den Bahnsteig zum Bahnhofsgebäude. Eine Frau in Rot, die am Fahrkartenschalter wartete, nickte mir freundlich zu, als ich hineinging.
Der Zeitungskiosk war gut bestückt und ich verbrachte einige Augenblicke damit, mich für die kommenden vierzehn Stunden einzudecken. Ich wählte eine Tageszeitung (The Times), eine monatlich erscheinende Zeitschrift (The Strand Magazine) und Die Londoner Illustrierte, die zwar nicht unbedingt seriös war, doch mit sehr unterhaltsamen Schlagzeilen aufwartete. Da ich mir wohl bewusst war, dass Miss Judsons prüfender Blick auf mir ruhte (sogar durch die Mauern des Bahnhofs hindurch), nahm ich pflichtbewusst außerdem noch Die Zeitschrift für Mädchen, in der ich die übrigen verbergen konnte.
Ich nahm meinen Lesestoff, die Hutschachtel und mein großzügiges Wechselgeld und kehrte zum Bahnsteig zurück, wo ich feststellte, dass Tante Helena losgezogen war, um sich über die unzumutbare Verspätung zu beschweren, und Miss Judson inzwischen ganz darin vertieft war, den Kaiserinnen-Express zu skizzieren.
Dabei stellte sie selbst eine eindrucksvolle Erscheinung dar in ihrer dunkelgrünen Reisegarderobe, die weit eleganter war als ihre übliche Kleidung. Ihr dunkler Teint kam darin voll zur Geltung, allerdings wirkte der Stoff extrem anfällig für Salzwasser- und Sandflecken. Gleich drei Reisekoffer hatte sie dabei, zuzüglich zu ihrem kleinen Handkoffer. Und obwohl ich wusste, dass sich in einem davon lediglich Staffeleien, Pastellkreiden, ihr Aquarellset und leere Malblöcke befanden, konnte ich mir schlicht nicht vorstellen, wozu sie die vielen Kleider, die sie offenbar eingepackt hatte, benötigen sollte. Mir war nicht einmal klar, dass sie überhaupt so viele besaß.
Da kam mir ein erschreckender Gedanke. Miss Judson stammte ursprünglich aus Französisch Guinea, einem Teil der Welt, der für seine prächtigen tropischen Strände bekannt war.6 Während ich auf die Finger meiner Handschuhe biss, dachte ich darüber nach. Ging sie etwa davon aus, diesen Urlaub genießen zu können? Diese Idee versetzte mir einen seltsamen Stich – es hatte mit dem Gefühl von Verrat zu tun, auch wenn ich nicht hätte sagen können, wer wen verriet.
Nun ja, man mochte mir zwei Wochen Urlaub aufgedrängt haben, doch das war kein Grund, meine Fähigkeiten einrosten zu lassen. Ein geschäftiger Bahnhof lieferte ein hervorragendes Umfeld, meine Beobachtungstechniken zu schulen. Neben einem Mauerpfeiler, an dem ein Plakat den Fahrgästen einschärfte, sich vor verdächtigen Personen in Acht zu nehmen, bezog ich Stellung. Von hier aus hatte ich einen uneingeschränkten Blick auf den gesamten Bahnsteig und die ganze Länge des purpurfarbenen Zuges. Nachdem ich die Hutschachtel ordentlich neben meine Knöchel gestellt hatte, verbarg ich mich hinter meinen Zeitschriften, um heimlich das Geschehen zu verfolgen.
Schwarz gekleidete Bahnhofsaufseher und Kofferkulis schwärmten über den Bahnsteig und durch den Zug, um alles für die Reise vorzubereiten. Ein identisches Paar älterer Damen mit einheitlichen Körben in der Hand plauderte aufgeregt und gestikulierte, wobei die flauschigen weißen Köpfe wie bei Tauben hin und her ruckten, während ein Kerl mit einem übergroßen Handkoffer vorüberschlich, den Hut tief ins Gesicht gezogen, sodass man ihn kaum erkennen konnte – was mir hochgradig verdächtig erschien. Ich machte mir eine geistige Notiz, ihn an Bord des Zuges im Auge behalten zu müssen. Eine Krankenschwester schob eine gebrechlich wirkende junge Frau in einem Weiden-Rollstuhl durch die Menge. Schließlich winkte sie einem Mann mit einem Kofferkuli, der ihr dabei half, das Gefährt und seine Insassin an dem roten Band vorbei in einen der Passagierwaggons zu schleusen.
Während ich weiter beobachtete, verließ die Frau in Rot den Fahrkartenschalter, ohne ein Ticket gekauft zu haben, und lief auf den Bahnsteig – direkt zum Kaiserinnen-Express. Kritisch beäugte sie den Zug, gänzlich anders als die übrigen Fahrgäste. Das große Trara ringsum schien sie gar nicht zu bemerken, so vertieft musterte sie den Zug selbst.
Lieber Leser, liebe Leserin, ich muss wohl nicht erst erklären, welche Gefahr Saboteure für Eisenbahnen darstellen. Die Sensationsblätter waren voller Warnungen vor Anarchisten, die an Bord von Lokomotiven Sprengkörper versteckten, Brücken zum Einsturz brachten oder Signalampeln ausschalteten, damit Züge entgleisten. Obwohl ich nichts dagegen gehabt hätte, sollte etwas diesen Urlaub entgleisen lassen, noch bevor er begann, hoffte ich durchaus, einer Katastrophe zu entgehen, hätte er erst seinen Anfang genommen. Beladen mit Peony in der Hutschachtel und meinen Zeitschriften, beschloss ich, mir die Sache aus der Nähe anzusehen.
Ich folgte der Dame. Vorsichtig, versteht sich – ich hatte die Beschattungstechniken von Mr Holmes geübt. Obwohl es sich als Herausforderung erwiesen hatte, heimlich Peony zu folgen, wurde ich immer besser darin, Köchin zu beschatten, ohne dass sie es bemerkte.7 Ich ließ mich ein Stück zurückfallen und tat so, als wäre ich ganz auf meine Zeitung konzentriert – zugegeben, nicht die überzeugendste Fassade (ein zwölfjähriges Mädchen, das die Londoner Illustrierte liest, erntet zwangsläufig hochgezogene Augenbrauen). Peony verlieh ihrer Unzufriedenheit in der Hutschachtel mit einem mürrischen Grummeln Ausdruck, das über all dem Trubel und Lärm jedoch kaum zu hören war.
Die Person, die ich beschattete, war etwas älter als Vater, hatte blonde Locken, die unter einem roten Hut hervorlugten und trug eine in die Jahre gekommene Reisetasche in den Händen, durch deren Griffe sie einen Regenschirm gesteckt hatte. Von den anderen Damen mittleren Alters hob sie sich kaum ab und auch sonst war sie nicht auffällig, merkwürdig war nur, wie hoch konzentriert sie zur Lok schritt, in die Fahrerkabine und zu den Rädern hinabspähte. Plötzlich wurde nicht nur ihre, sondern auch meine Aufmerksamkeit von einem Tumult auf sich gezogen: Der Lokführer stritt mit einem untersetzten, rotgesichtigen Schaffner. Was sie redeten, konnte ich nicht verstehen, ohne ihnen zu dicht auf die Pelle zu rücken und entdeckt zu werden – doch die Frau hielt inne, um zu lauschen.
Kurz darauf stürmte der Schaffner aus der Kabine und verschwand den Zug hinab. Meine zu beschattende Person ging weiter, nachdem sie offenbar den Entschluss gefasst hatte, ihr Sabotagegerät an einer anderen Stelle zu platzieren, und schaute sich schnell auf dem Bahnsteig um. Ich erstarrte und richtete den Blick stur auf die Zeichnung von einem explodierenden Dampfer in Preußen, auf der nach allen Seiten Menschen davonflogen. »Sei froh, dass wir nicht nach Fairhaven segeln«, sagte ich zu Peony – und blickte rechtzeitig auf, um zu beobachten, wie die Frau in Rot sich unter dem Band hindurchduckte und in einen unbewachten Passagierwaggon stieg.
Ich flitzte hinterher und erreichte die bereitgestellte Treppe, die den Zustieg erleichtern sollte, als die roten Rüschen bereits im Innern verschwanden. Ich duckte mich unter dem Band hindurch, schob Peonys Schachtel vor mir die Stufen hinauf und schlich mich an Bord des Ballingall Kaiserinnen-Express.
Wo ich zwischenzeitlich von meiner Verfolgung abgelenkt wurde. Vollkommen überwältigt stieß ich den Atem aus und blickte mich um. Selbstverständlich war ich schon öfter Zug gefahren, doch dies hier war weniger ein Waggon, als vielmehr ein überladener Salon. Jeder Zentimeter war purpurfarben – zumindest alles, was nicht aus poliertem Messing, glitzerndem Kristall, veredeltem Holz oder kunstvoll geschnitzten, vergoldeten Schnitzereien bestand. Über allem wölbte sich eine Glasdecke, von der elektrische Lampen hingen, die den purpurnen Plüschteppich und die dick gepolsterten Samtmöbel beleuchteten. Die hingebungsvollen Innenausstatter hatten selbst an ein Klavier gedacht.
Nun, da ich der Saboteurin in den Zug gefolgt war, war meine Deckung aufgeflogen: Sie konnte mich ebenso deutlich sehen wie ich sie. Allerdings schenkte sie mir keinerlei Beachtung. Reisetasche samt Schirm hatte sie abgestellt und inspizierte nun einen mit Stoff verhängten Kasten auf einem Podest, wie in einem Museum, wobei sie höchst unzufrieden wirkte. Mit tief gerunzelter Stirn notierte sie kopfschüttelnd etwas in einem kleinen Buch.
»Nein, nein und nein.« Dies betonte sie mit mehreren Stiftstichen. »Alles andere als zufriedenstellend.«
»Dürfen Sie hier sein?«, fragte ich laut. Die Frau in Rot drehte sich nicht einmal um.
»Dieselbe Frage könnte ich auch stellen, Myrtle Hardcastle. Dies ist der Damensalon und ich bin – zumindest soweit mir bewusst ist – eine Dame.«
Ein überraschter Schauer durchzuckte mich. »Woher kennen Sie meinen Namen?«
»Das gehört zu meinen Aufgaben.«
Was hatte das zu bedeuten? »Sir Quentin hätte sicher etwas dagegen, dass Sie hier sind«, wagte ich eine Vermutung.
Endlich blickte sie auf – und lachte. »Ganz bestimmt sogar. Kommen Sie her und verraten mir Ihre Meinung.«
Ich zögerte. Doch meine Neugier gewann die Oberhand – wer war sie und was an diesem Kasten verärgerte sie so? Ich schlich vorwärts und machte mich auf etwas Widerliches gefasst (Klapperschlangen? Schrumpfköpfe?), während sie das Tuch wegzog.
Darunter befand sich eine große und zierliche Krone, die vor Diamanten und zahllosen grünlich lila Steinen schimmerte. Auf einer Plakette stand:
NORDLICHT-TIARA:
in Auftrag gegeben anlässlich der Königlichen Hochzeit8
aus dem Hause Jolie, königlicher Hofjuwelier
»Ist sie echt?« Wie unter dem Zauber eines Märchens veränderten sich die Farben der Steine, während ich sie betrachtete. »Was macht sie hier?«
Die Frau schloss ihr Notizbuch. »Das, Miss Hardcastle, frage ich mich auch. Es entspricht keineswegs der Abmachung.«
»Gehört sie Ihnen?« Ich musterte sie noch einmal gründlicher. Sie schien eine gewöhnliche Frau zu sein, noch dazu ließen ihre alte Reisetasche und die praktische Kleidung keineswegs auf großen Reichtum schließen, erst recht nicht auf eine Vorliebe für Diademe.
Sie lachte erneut. »Könnte man so sagen! Aber dennoch: Nein. Trotzdem bin ich dafür verantwortlich, und diese Art der Präsentation«, sie zeigte auf den Kasten, »ist gänzlich inakzeptabel.«
»Wenn Sie sie stehlen wollen, kommen Sie damit nicht durch«, stellte ich klar. »Ich werde Sir Quentin sofort berichten, dass Sie hier sind und sich zu schaffen machen an seiner … Tiara.« Dieser Satz fand ein holpriges und unmögliches Ende, das meinem kleinen Sidekick in der Hutschachtel ein abwertendes Miau entlockte.
Die Frau wandte sich von dem Schaukasten ab. »Und was genau wollen Sie ihm sagen, Miss Hardcastle?«
»Dass Sie ohne Ticket in den Zug gestiegen sind. Ich habe gesehen, dass man Ihnen am Fahrkartenschalter keines verkauft hat. Für diese Reise musste man im Voraus einen Platz buchen – man kann nicht einfach im letzten Moment noch das Fahrticket lösen. Außerdem hatten Sie offenbar etwas Übles im Sinn, als Sie sich in den Damensalon geschlichen haben. Ich merke Ihnen deutlich an, dass Sie überlegen, wie man diese Glasvitrine aufbrechen könnte.«
Sie schenkte mir ein breites Lächeln. »Oh, bravo!«
Sie bekam keine Gelegenheit, sich näher zu erklären, denn in diesem Moment öffnete sich quietschend die schwere Tür zum Verbindungsgang und Sir Quentin persönlich platzte herein.
Sie legte los, noch bevor er ein Wort sagen konnte. »Mr Ballingall, dies hier ist ein klarer Verstoß gegen die Geschäftsbedingungen der Versicherung. Das Diadem hat zu jeder Zeit im Safe des Zuges aufbewahrt zu werden – nicht für alle Augen zur Schau gestellt wie Gemüse auf einem Marktstand!«
»Aber, aber, Mrs Bloom.« Sir Quentin schob sich mit ausgebreiteten Armen an den Möbeln vorbei. Seine Zirkusdirektorenjacke passte perfekt zu den purpurfarbenen Polstern. »Nun regen Sie sich doch nicht gleich so auf. Diesen Schaukasten habe ich extra anfertigen lassen, und zwar von denselben Burschen, die diese Vitrinen auch für die Kronjuwelen zur Verfügung stellen. Oder haben Sie etwa kein Vertrauen in die Schutzmaßnahmen des Towers von London?« Er hatte eine laut dröhnende Stimme, die sogar noch den Lärm der Dampfmaschine und das erwartungsvolle Vibrieren des Waggons übertönte.
»Auch nicht mehr als in andere«, entgegnete Mrs Bloom. »Selbst die junge Miss Hardcastle hat den Fehler in ihren Sicherheitsvorkehrungen sofort bemerkt.«
»Woher kennen Sie denn nun meinen Namen?«, fragte ich noch einmal. Es erschien immer unwahrscheinlicher, dass sie eine Diebin oder Saboteurin sein könnte.
»Weil sie in alles ihre Nase stecken muss, darum.«
Offensichtlich war ich mitten in einen Streit geraten und hätte mich zurückziehen sollen, doch dafür war ich viel zu neugierig.
Mrs Bloom reichte mir eine Visitenkarte. »Ich arbeite für die Albion Unfallschutzversicherung, im Auftrag der Eigentümer dieses Diadems, um sicherzustellen, dass dieses Schmuckstück wohlbehalten in Fairhaven ankommt. Miss Hardcastle, was halten Sie von Vertragsbruch?«
Es war, wie in eine Prüfung geraten zu sein, auf die ich nicht vorbereitet war – verwirrend und ein klein wenig aufregend. »Äh – nichts?«
»Ganz recht. Mr Ballingall, ich erkläre Ihren Versicherungsschutz für nichtig.« Sie machte Anstalten, ihre Tasche aufzuheben, doch Sir Quentin verstellte ihr den Weg und packte sie am Ellbogen.
»Das wagen Sie nicht«, sagte er leise.
Er wirkte doppelt so groß wie sie, wie ein Berg ragte er vor ihr auf. Doch Mrs Bloom hob den Kopf und betrachtete ihn gelassen. »Sie werden feststellen, dass es sich nicht empfiehlt, mir zu drohen.«
Diesmal wirkte sein Lachen gezwungen. »Ich drohe Ihnen nicht, Misses! Sicher können wir uns auf irgendeinem Weg einigen. Lassen Sie mich Ihnen zeigen, was ich getan habe, bevor Sie eine Entscheidung fällen.« Er griff mich an den Schultern und dirigierte mich um den Kasten herum, während er mir ins Ohr donnerte: »Laminiertes Glas!« Kräftig klopfte er gegen die Scheiben. »Praktisch nicht zu zerbrechen. Und ein solider Stahlrahmen, den man nicht kleinkriegt.« Er versetzte dem gesamten Schaukasten einen kräftigen Stoß, was diesen nicht im Geringsten erschütterte. »Festgeschraubt!«
»Und das Schloss?« Ich zeigte darauf und Sir Quentin strahlte so stolz, als bewunderte ich sein Baby.
»Das fortschrittlichste Zahlenschloss der Welt: Sechs Stellen und außer mir kennt niemand die Kombination. Absolut nicht zu knacken. Sehen Sie, meine Damen? Absolut sicher. Man müsste schon verrückt sein, an Bord des Kaiserinnen-Express ein Verbrechen zu versuchen! Was diesen Zug betrifft, habe ich an wirklich alles gedacht, an alles. Mrs Bloom, wenn Sie uns noch eine Weile Gesellschaft leisten, schaffen wir es womöglich doch noch, Sie zu beeindrucken.«
Sie sah nicht aus, als könne man sie überhaupt beeindrucken. In diesem Augenblick bedachte sie Sir Quentin mit einem Blick unverhohlener Missbilligung. »Das bezweifle ich, Mr Ballingall. Und keine Sorge. Ich habe nicht vor, irgendwohin zu gehen. Ich werde diese Tiara nicht aus den Augen lassen.«
1ein Kleidungsstück, unerklärlicherweise im Stil der Uniform eines Oberfähnrichs gehalten; id est: ein Matrosenanzug
2422 Kilometer. Ich habe es ausgemessen.
3auch Bertillonage genannt: ein cleveres System dafür, Gefangene zu vermessen, um sie später identifizieren zu können. Ich habe mir die Frage gestellt, ob Kriminelle es wohl ähnlich lästig finden wie ich das Maßnehmen für Tante Helenas Garderobe.
4Eine Farbe, die man in England so gern »puce« nennt, nach dem französischen Wort für »Floh«, entspricht diese Schattierung doch dem schmeichelnden Farbton von verdautem Blut.
5Nur für den Fall, dass Sie um ihre Sicherheit besorgt sind: In eben jener Hutschachtel hatte sie bereits den Großteil der Woche geschlafen. Noch dazu entsprach diese Schachtel dem neusten Stand von Hutschachtelbaukunst: Sie bestand aus stabilem Karton und Drahtgewebe, was eine ausreichende Sauerstoffzufuhr gewährleistete.
6und für eine beträchtlich weniger prächtige französische Strafkolonie, in der ihre Eltern als Seelsorger für die Gefangenen arbeiteten
7sagte sie zumindest
8Prinzessin Mary von Teck mit Seiner Königlichen Hoheit Prinz George, Herzog von York, am 6. Juli 1893. Es war eine landesweite Sensation. Wenn man solche Dinge mag.
Eine Zugfahrt ist mit Abstand der effizienteste Weg, unsere schöne Insel zu besichtigen. Die Bequemlichkeit der modernen Zugwaggons erlauben es dem Reisenden, die Sehenswürdigkeiten Englands zu genießen, ohne sein Klima oder seine Bewohner ertragen zu müssen.
— Hardcastles Praktisches Reisehandbuch
Tante Helena und Miss Judson waren nicht besonders erfreut, mich allein in der Begleitung von Sir Quentin und Mrs Bloom zu finden. Sie stürmten an Bord, dicht gefolgt von der gehetzten Miss Highsmith, die inzwischen die gehäkelte Tasche, den Reiseteppich, einen Picknickkorb und einen Tennisschläger schleppte und aussah, als müsste sie gleich in Ohnmacht fallen.
»Helena Myrtle!«, kläffte meine Tante. »Wo warst du? Du hast Judson in Angst und Schrecken versetzt – einfach so zu verschwinden!«
Ich hatte Miss Judson noch nie in Angst und Schrecken versetzt erlebt, allerdings wirkte sie durchaus verärgert. Mit hochgezogener Augenbraue lockte sie mich mit gekrümmtem Finger zu sich. Ich umklammerte Peonys Hutschachtel und legte mir eine Verteidigung zurecht, doch Sir Quentin machte das unnötig. Und unmöglich.
Noch einmal legte er erdrückend fest die Arme um mich. »Helena, haben Sie ein bisschen Vertrauen in das Kind! Sie ist ein mutiges Mädel, genau wie Sie.«
Nun erst entdeckte Tante Helena Mrs Bloom. »Das hätte ich mir ja denken können«, sagte sie und fegte wie ein Stier durch den Waggon auf sie zu. »Sind Sie anständigen Leuten nicht schon genug auf die Nerven gefallen, Mrs Bloom, müssen Sie nun auch noch deren Kinder belästigen?!«
Sie riss mich an sich. Wenn das so weiterging, würde ich noch eine Gehirnerschütterung erleiden.
»Niemand hat mich belästigt! Ich bin ihr gefolgt.«
»Myrtle hatte mich in Verdacht, den Zug sabotieren zu wollen.« Mrs Bloom sagte dies vollkommen ernst, nicht um die anderen Erwachsenen zum Lachen zu bringen. »Selbstverständlich war sie besorgt.«
»Selbstverständlich«, murmelte Miss Judson.
»Sabotage?« Tante Helena rümpfte die Nase. »An einem englischen Zug? Wohl kaum.«
Miss Judson hustete höflich. Ich befreite mich und Peony endlich und hastete zu ihr.
Derweil war Tante Helena mit Mrs Bloom noch lange nicht fertig. »Ihre Anwesenheit an Bord ist eine Schande für anständige Leute und ich werde dafür sorgen, dass Sir Quentin Sie auf der Stelle hinauswirft.« Um dies zu unterstreichen, rammte sie ihren Gehstock mehrfach in den Teppichboden. Tante Helena war grundsätzlich aufbrausend und nahm an allem Anstoß – doch dies schien selbst für ihre Verhältnisse übertrieben.
»Nun, das können Sie versuchen«, meinte Mrs Bloom im Plauderton. »Doch Mr Ballingall und ich sind zu einer Übereinkunft gekommen. Habe ich nicht recht? Miss Hardcastle, bitte setzen Sie sich, bevor der Zug noch ihretwegen entgleist. Und Miss Highsmith, Sie sind kein Packesel. Lassen Sie sich von ihr nicht wie einer behandeln.«
Sir Quentin versuchte, die Wogen zu glätten. »Mrs Bloom ist nur hier, um zu … nun, sagen wir, um die Maßnahmen zu beaufsichtigen. Nicht wahr, Myrtle?«
Es gefiel mir nicht, in ihre Meinungsverschiedenheit hineingezogen zu werden, und war unsicher, was ich antworten sollte. Jedoch blieb mir die Antwort erspart, da die Verbindungstüren erneut kreischend bekanntgaben, dass wir Gesellschaft bekamen.
»Vater! Wo steckst du nur? Alle warten auf deine Ansprache!« Dies wurde von einer jüngeren, weiblichen Version Sir Quentins vorgebracht. Mehrere Jahre älter als Miss Judson, war sie außerdem plump und gedrungen, hatte farbloses Haar, das sie zu einem straffen Knoten trug, und Augen im runden Gesicht, die an einen Vogel erinnerten.
»Temperance!«, dröhnte Sir Quentin. »Lass dir unsere Gäste vorstellen. Wir haben uns früher zusammengefunden. Einen Frühstart hingelegt, sozusagen.«
Miss Ballingall trampelte an Bord, gekleidet in einen langweiligen karierten Umhang über einem ausgeblichenen Wanderrock. Den rechten Arm hatte sie auf Taillenhöhe angewinkelt, die Faust geballt, als würde sie darin etwas verbergen, während sie in der linken Hand eine verblüffend große goldglänzende Schere hielt.
»Oh, schön«, sagte Tante Helena. »Ich dachte schon, Cicely hätte sie verloren.«
»Es war außerordentlich freundlich von Ihnen, sie mir zu leihen, liebe Helena«, sagte Miss Ballingall. »Sie wissen ja, wie sehr Vater seine Zeremonien liebt!« Sie reichte die Schere Sir Quentin, der mit einem enttäuschten Stirnrunzeln reagierte.
»Sie alle sind in meinen Zug eingedrungen, bevor wir die Zeremonie abhalten konnten«, schnaubte er. »Nun hat es kaum noch einen Sinn.«
»Vater, sei nicht albern. Du hast extra eine Rede vorbereitet und mehr zählt nicht. Wir würden sie zu gern hören.«
»Nein. Nein. Ich will nichts mehr davon hören. Ich werde veranlassen, dass man das Band entfernt. Wo steckt dieser Kofferkuli? Wir müssen die Damen einquartieren.« Damit nahm er die Schere und rauschte zur gegenüberliegenden Tür, hinter dem Klavier, und ging hinaus.
Miss Ballingall kam lächelnd auf uns zu. »Ach. So ein Durcheinander! So schnell wird Vater das nicht vergessen«, sagte sie zwinkernd. »Diese Geschichte wird er noch jahrelang zum Besten geben. Aber nun nehmen Sie doch bitte alle Platz, oder soll ich die Gepäckträger rufen, damit Sie Ihre Quartiere beziehen können? Ja, das wäre wohl das Beste, oder?«
Mit der linken Hand griff sie nach einem Draht, der knapp unterhalb der Decke verlief. »Aber machen Sie das nicht während der Fahrt – sonst hält der Zug an.«
Feierlich und fröhlich wandte sie sich zu mir um. »Miss Myrtle, wir schätzen uns überaus glücklich, Sie an Bord begrüßen zu dürfen. Ich hoffe, Sie finden Freude an unserem kleinen Ausflug. Die liebe Helena spricht pausenlos von Ihnen, es kommt mir direkt vor, als würde ich Sie – und natürlich auch die liebe Miss Judson! – bereits seit Jahren kennen.«
Sie wandte sich Mrs Bloom zu. »Ich bedaure, dass ich vorhin noch keine Zeit für Sie hatte. Ich hoffe, Vater hat sich nicht zu schrecklich benommen.«
»Aber gar nicht, Miss Ballingall. Ich hoffe, es geht Ihnen gut.«
Miss Ballingalls Gesicht verdüsterte sich, während sie sich gedankenverloren den Arm rieb. »Vater bei einem seiner Projekte zu begleiten, macht das Leben immer so stürmisch!«
»Gewiss wird er damit großen Erfolg haben, meine Liebe«, sagte Mrs Bloom.
Miss Ballingall rang sich ein Lachen ab. »Nun, jedenfalls werden wir es versuchen! Das sonnige Fairhaven erwartet uns. Gut, dass Sie ihren Regenschirm mitgebracht haben.« Während sie sich noch immer den Arm rieb, lief sie in Richtung der Verbindungstür. »Lassen Sie mich für Sie ein Abteil organisieren. So voll belegt sind wir gar nicht.«
Unter der fröhlichen Aufsicht von Miss Ballingall bezogen wir unsere Abteile, sofern man sie so nennen konnte.
»Wie kannst du nur enttäuscht sein?«, wollte Miss Judson wissen, die ihr Bett in all seiner vergoldeten, mit Rüschen und Fransen besetzten Pracht, den glitzernden Kristalllüster und den Orientteppich begutachtete. »Das ist reiner Luxus!«
»In der Broschüre war von Schlafwagen die Rede.« Ich hatte clever ausklappbare Möbel erwartet: Sofas, die sich in Schlafkojen verwandelten, oder Pritschen, die man aus der Decke ziehen konnte. »Das sind einfach nur Schlafzimmer. Gibt es hier denn gar nichts, das wie in einem richtigen Zug ist?«
Kopfschüttelnd verstaute Miss Judson ihr Handgepäck in einer Nische, genau groß genug für exakt diesen Zweck. Derweil ließ sich Peony, kaum war sie aus ihrer Hutschachtel befreit, auf mein Kopfkissen im angrenzenden Abteil sinken. Ich folgte ihr, konnte Miss Judson durch die Verbindungstür aber weiterhin gut hören.
»Hast du die Tiare Aurore gesehen?« Sie betonte es mit einem deutlich französischen Akzent, sodass es noch verführerischer klang. »Ich frage mich, ob ich diese Farben wohl genauso wiedergeben könnte. Ich habe nämlich meine Ölfarben mitgebracht.«
»Sir Quentin sollte sie eigentlich im Safe transportieren.« Ich fasste seinen Streit mit Mrs Bloom zusammen.
Miss Judson betrat schwungvoll mein Abteil. »Vielleicht werden wir noch von Straßenräubern heimgesucht.«
»Wir befinden uns in einem Zug.« Obwohl so etwas tatsächlich in Amerika andauernd passierte.
»Oder vielleicht sogar …«, sie griff sich Peony und ließ deren weiße Vorderpfoten baumeln, »Katzenräubern.«
»Nein«, sagte Peony und wand sich aus ihrem Griff.
Ich war unschlüssig, ob es mich enttäuschte, dass Miss Judson so rein gar keine Reaktion zeigte, obwohl ich Peony mit an Bord des Zuges geschmuggelt hatte – und entschied dann, dass ich es nicht kommentieren würde, solange sie es nicht tat. Stattdessen stopfte ich den Welkenden Hut in ein Fach und holte meinen Lesestoff heraus.
»Ahem«, hüstelte Miss Judson und streckte mir erwartungsvoll die Hand hin. Ich übergab ihr die Zeitschriften und sie seufzte leise.
»Was?«
»Das weißt du ganz genau.« Mit heftig gerunzelter Stirn ging sie die Blätter durch. »Das hier verstößt gegen den Sinn und Zweck dieser Reise. Du bist im Urlaub.« Wie um es zu unterstreichen, deutete sie auf die Luxuskabine.
Mit einer tiefen Sehnsucht, die ich mir selbst nicht erklären konnte, blickte ich auf die Zeitschriften. Vor allem weil Vater in Paris war, musste doch jemand ein Auge auf die Dinge haben. »Ich muss einfach wissen, was los ist. In London. Bei … bei den Sitzungen.« Das Wort Gerichtsverfahren wollte mir nicht über die Lippen kommen.
Ihr Gesichtsausdruck wurde freundlicher. »Dein Vater hält sich auf dem Laufenden, was den Fall angeht, und er hat versprochen, dir wichtige Entwicklungen zu berichten.«
»Alles ist wichtig!«
»Tatsächlich?« Sie blätterte durch das Upton Verzeichnis. »Welche Erkenntnisse erhoffst du dir von einer Befragung von Mr Ambroses Grundschullehrer?« Sie warf die Zeitungen zu Peony aufs Bett, schob mich auf den Flur hinaus und schloss die Tür zum Abteil.
Zurück im Damensalon bewunderten alle die Tiara. Man hatte das Tuch vom Schaukasten genommen, sodass die Juwelen in der Nachmittagssonne blaugrün erstrahlten. Unsere Reisegesellschaft hatte sich um die zwei älteren Damen und die geheingeschränkte Frau mit ihrer Pflegerin erweitert – selbst deren müde Augen wurden von den Edelsteinen angezogen.
»Sind diese Steine nicht hinreißend?«, flötete eine der alten Ladys. Das Diadem war doppelt so groß wie ihr Kopf und um kurzsichtig in die Vitrine blinzeln zu können, musste sie auf den Zehenspitzen stehen.
»Hinreißend«, stimmte ihre Begleiterin piepsend zu.
Tante Helena spähte durch ihre Stielbrille in den Glaskasten. »Ich für meinen Teil war natürlich bei der königlichen Hochzeit.« Sie stellte es so hin, als wäre sie ein geladener Gast gewesen – nicht, als hätte sie sich wie Tausend andere in London durch die Menschenmenge in der Marlborough Street gequetscht, um einen flüchtigen Blick zu erhaschen. »Welch gelungener Coup für Sir Quentin, sie in seinem Zug auszustellen, damit wir sie aus der Nähe sehen können.«
»Sie haben wirklich ganz außergewöhnliche Farben.« Cicely betrachtete die Juwelen mit leuchtenden Augen.
»Nicht wahr?«, pflichtete Miss Ballingall bei. »Alexandriten erscheinen grün im Sonnenlicht, doch bei künstlicher Beleuchtung verströmen sie ihr hinreißendes Violett. Vater hat extra Stromleitungen verlegen lassen, damit die Nordlichter ihren ganzen Zauber entfalten können. Die Wirkung ist so viel prächtiger als bei Gaslampen oder Kerzenschein.«
»Sie erinnern wirklich an die Polarlichter, die Aurora Borealis«, sagte Miss Judson. »Was haben Sie in Fairhaven damit vor, Sir Quentin? Vergeben Sie mir, aber ich glaube, die Tiara passt nicht zu ihrem Anzug.«
Sir Quentins Lachen war so dröhnend und laut wie Kanonenschüsse. »Sie wird das Herzstück meines neuesten Hotels. Von nah und fern werden die Leute in Scharen anreisen, um sie zu sehen – vielleicht wird es die Juweliere von Jolie sogar davon überzeugen, in der Stadt eine Filiale zu eröffnen.«
»Es wäre ein Jammer, sie wegzusperren.« Mir fiel auf, dass Miss Judson eine Skizze von einer Frau anfertigte, auf deren kunstvoll geflochtenem und hochgestecktem Haar das Diadem prangte – nur das Gesicht hatte sie noch leer gelassen.
»Ihnen würde sie hervorragend stehen, Miss Judson! Ich sollte Sie als Modell anstellen – der perfekte Blickfang für all die reichen jungen Männer.«
Miss Judson betrachtete ihn auf unergründliche Weise. »Hmm.«
Ich warf einen verstohlenen Blick zu Mrs Bloom, die uns alle im Auge behielt und mit kalter Berechnung musterte, als überlegte sie, wer wohl am ehesten »einen Versuch wagen« würde, den Schmuck zu stehlen. Es verursachte mir leichtes Unbehagen, weshalb ich auch am Kragen meines Mantels zog. Sie hatte sich Strickzeug zur Hand genommen und ihre fliegenden Nadeln erinnerten mich an Peonys empfindliche Schnurrhaare, die Gefahr witterten.
Während Tante Helena auf andere Dinge konzentriert war, trat ich an Mrs Bloom heran und setzte mich ihr gegenüber auf einen Stuhl. »Glauben Sie wirklich, dass die Tiara einem Risiko ausgesetzt ist?«
Klick-klack machten die Nadeln, während die Räder unter uns in einem antreibenden Rhythmus, der mir durch Mark und Bein ging, dahinratterten. »Miss Hardcastle, ich verdiene mein Geld damit, davon auszugehen, dass grundsätzlich ein gewisses Risiko besteht.«
Ich hatte noch immer ihre Visitenkarte, die ich nun endlich gründlicher betrachtete. Unter der Prägung eines von Wolken eingehüllten Berges stand folgender Text:
Mrs Bloom, Detektivin
Albion Unfallversicherungs-Gesellschaft
MANCHESTER * LEEDS * LONDON
»Detektivin!«, hauchte ich und konnte es kaum glauben. »Wie die Pinkertons oder so?«
»Bei Weitem nichts so Melodramatisches. Ich bin Versicherungsdetektivin.«
»Was ist das?« Mir war nicht klar gewesen, dass Frauen in England als professionelle Ermittlerinnen arbeiten konnten. Ich hatte damit gerechnet, dass ich nach Amerika zur Pinkertons Nationaler Detektivagentur auswandern müsste, sollte es mit Scotland Yard nicht klappen.
»Schadensverhütung. Ich stelle sicher, dass sämtliche Ansprüche wegen Diebstahls oder Schadens tatsächlich rechtens sind.« Sie wühlte in ihrer Reisetasche und beförderte eine Papiertüte voll Bonbons zutage. »Pfefferminzbonbon? Hundertprozentig nicht vergiftet. Ein zweites Bradford will keiner, richtig?«
Meine Augen weiteten sich ankerkennend. Im berühmtberüchtigten Fall von mit Arsen gewürzten Bonbons von 1858 waren einundzwanzig Menschen ums Leben gekommen, was zu wichtigen Gesetzen geführt hatte, um Lebensmittel vor Verunreinigung zu schützen. Ich genehmigte mir eines und lutschte es gesellig, während Mrs Bloom strickte. Versicherungsbetrug zu verhindern und aufzudecken, klang nicht gerade schrecklich interessant – nicht wie eine Mordermittlung –, aber trotzdem! »Warum glauben Sie, das Diadem könnte gefährdet sein?«
Mit einem gerissenen Blick holte Mrs Bloom eine Zeitung hervor, und zwar das wenige Tage alte Portsmouther Abendblatt. Die Titelseite war dem bevorstehenden Mordprozess von John Monson in Schottland gewidmet (noch ein Ort, an dem wir anstelle von Fairhaven hätten reisen können). »Werfen Sie einen Blick auf Seite drei.«
Ich linste zu Miss Judson, da ich diesen nächsten Verstoß ungern begehen wollte, ohne wenigstens einige Minuten verstreichen zu lassen, doch sie war voll und ganz in ihr Skizzenbuch vertieft. Als ich die Zeitung aufschlug, entdeckte ich einen kleinen Beitrag, den man in eine Ecke gezwängt hatte:
BANDIT VON BRIGHTON
SCHLÄGT ERNEUT ZU!
Berichten der Polizei von Brigthon, Southsea und Eastbourne zufolge kommt es erneut gehäuft zu Schmuckdiebstählen, was diese Urlaubsorte schon den vergangenen Sommer über in Atem gehalten hat. Der Dieb oder die Diebe haben bereits Beute im Wert von über 100 Pfund entwendet. Noch gibt es keine konkreten Verdächtigen, das Diebesgut gilt weiterhin als vermisst.
Ich stieß hörbar die Luft aus, während ich über die Seite hinweg zu Mrs Bloom spähte. Juwelendiebe! In Urlaubsorten an der Küste! »Darum wollten Sie, dass die Tiara im Tresor aufbewahrt wird.«
Mrs Bloom lehnte sich in ihrem purpurfarbenen Sessel zurück. »Trotzdem hat Sir Quentin vermutlich recht. Man müsste schon verrückt sein, in einem fahrenden Zug einen Raub zu versuchen.«
»Oder wagemutig«, sagte ich, während ich an Billy Garrett dachte, den Helden meiner Lieblingsromane. Ich schaute mich im Waggon um und versuchte, die Passagiere mit Mrs Blooms Augen zu sehen – als potenzielle Verbrecher. »Woher haben Sie meinen Namen denn nun gekannt? Kennen Sie alle, die mitfahren?«
Erneut warf sie mir ihren gerissenen Blick zu und deutete auf ihre Tasche. »Passagierliste«, sagte sie. »Und Personalakten. Zur Verfügung gestellt von der Eastern Coastal Railways- Eisenbahngesellschaft.« Sie verströmte eine Art Genugtuung, die mich umso mehr an Peony erinnerte. »Ich kenne diesen Zug besser als Sir Quentin, dabei hat er das Ding bauen lassen.«
Solch eine Unmenge an Informationen zu haben – über uns, über alle … Ich war unsicher, ob ich neidisch sein oder mich unwohl fühlen sollte. Doch Verbrechen verhindern, noch bevor sie geschehen – diese Idee war neuartig. Ich wollte mehr darüber erfahren. »An was für Fällen haben Sie sonst so gearbeitet? Geht es immer um berühmte Schmuckstücke?«
»Wäre das nicht grandios? Nein, vor allem sind es Unfälle. Manchmal auch verdächtige Todesfälle.« Ihr Blick fiel auf mich. »Aber nichts in der Art, was Sie so getrieben haben, Miss Myrtle Hardcastle aus Swinburne. Der Redgraves-Mord? Beeindruckend.«
Ich merkte, wie mir die Röte in die Wangen stieg. »Das stand auf der Passagierliste?«, fragte ich kleinlaut.
Ihre Augen funkelten. »Ich habe meine Quellen. Trotzdem würde ich zu gern die wahre Geschichte erfahren.«
Ich verschränkte die Finger ineinander und spähte zu Miss Judson hinüber – auch sie hatte eine entscheidende Rolle gespielt. »Eigentlich soll ich Urlaub machen.« Meine Stimme war leise und gequält.
Mrs Bloom nickte. »Ich verstehe.« Ich konnte mir die Woge der Enttäuschung nicht verkneifen, die mich erfasste. »Vielleicht ein andermal.«
»Bleiben Sie denn in Fairhaven?«, fragte ich.
»Oh ja, und ob.«
»Geschäftlich?« Ich klang neugierig.
»Alte Freunde besuchen. Wie lange werden Hardcastle und Partner denn dort sein?«
»Zwei Wochen«, antwortete ich mit einem schweren Seufzen.
Sie griff in ihre Tasche und reichte mir ein dickes Buch mit verblichenem schwarzen Leineneinband. »Hier bitte. Falls Ihnen langweilig wird, ist die Küste in der Gegend eine exzellente Fundgrube.«
»Fundgrube?« Das Buch, Abbildungen charakteristischer Fossilien in England von William Hellier Baily, enthielt lauter detailreiche Skizzen von Schnecken, Farnen und fremdartigen Lebewesen wie albtraumhaften Insekten. Trilobiten, stand über dem Kapitel: Lebensgröße. Schaudernd schloss ich das Buch.
»Diese Art von Ermittlungen finde ich höchst zufriedenstellend«, sagte sie. »Die Vorstellung, dass die Vergangenheit nie für immer und ewig vergraben ist, sondern nur darauf wartet, dass jemand, der nur entschlossen genug ist, sie aufdeckt.«
Das gefiel mir. Es beschrieb Ermittlungsarbeit recht gut.
»Behalten Sie es«, fügte sie hinzu. »Wer weiß, was Sie an diesem Strand alles ans Licht befördern.«
»Brauchen Sie es nicht mehr?«
Mrs Bloom schüttelte den Kopf. »Ich habe in Fairhaven schon genug gegraben«, sagte sie – und wie sie es sagte, auf diese Art, auf die Erwachsene solche Dinge öfter betonen, brachte mich auf den Gedanken, dass sie eigentlich von etwas völlig anderem redete.
»Was meinen Sie? Sind Sie hier, um ein anderes altes Geheimnis auszugraben?«
Sie schenkte mir nur erneut ihr rätselhaftes Lächeln. »Wie es scheint, ruft man Sie.«
Unwillig drehte ich mich um und folgte ihrem Blick durch den Waggon an die Stelle, wo Tante Helena auf mein geistloses Geschwätz