DER UNTERGANG DES
SOWJETISCHEN
IMPERIUMS
HERAUSGEGEBEN VON
CHRISTIAN BEETZ UND
OLIVIER MILLE
VERLAG C.H.BECK
Im Jahr 2011 erinnerten sich Europa und die Welt daran, dass 20 Jahre zuvor, im Dezember 1991, Gorbatschow das Ende der Sowjetunion verkündet hatte. Dieses einschneidende Ereignis der Weltgeschichte ist Anlass für den Schriftsteller György Dalos, Glanz und Untergang dieses historischen Experiments näher zu beleuchten. Nur 16 Jahre nach dem Höhepunkt der sowjetischen Machtausdehnung 1975, als fast die Hälfte der Weltbevölkerung in ihrem Einflussbereich lebte, kam das unspektakuläre Ende. Welche Kräfte dazu beitrugen oder welche Episoden am Rande die Risse offenbar werden ließen – in einer außergewöhnlichen chronologischen Erzählung wird der Sowjetunion und ihrer Satelliten noch einmal gedacht.
György Dalos, 1943 in Budapest geboren, lebt heute als freier Schriftsteller in Berlin. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter 1995 der «Adelbert-von-Chamisso-Preis», 2000 die «Goldene Plakette der Republik Ungarn» und 2010 der «Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung». Zuletzt erschien von ihm bei C.H.Beck: «Gorbatschow. Mensch und Macht. Eine Biografie» (2011).
Das Buch ist Teil des multimedialen Projekts «Lebt wohl, Genossen!», das von der gebrueder beetz filmproduction (Berlin) und Artline Films (Paris) in Zusammenarbeit mit ARTE das Ende der Sowjetunion für ein großes internationales Publikum erzählt. Neben dem Buch umfasst das Projekt eine TV-Serie und ein interaktives Webformat. Das Projekt ist in Kooperation mit 16 internationalen Sendeanstalten und einem Netzwerk von 30 nationalen und internationalen Partnern entstanden.
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www.gebrueder-beetz.de
www.artlinefilms.com
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I. KOSMISCHE ERFOLGE, IRDISCHE SORGEN (1975–1980)
Der Umgang mit dem Dissens
Die Antragsteller nach Punkt
Popmusik, Theater und Zensur
Mischa fliegt gen Himmel
Polen – ein anderes Warenzeichen
Probleme eines treuen Verbündeten – die DDR
Die «normalisierte Republik» – ČSSR
Die «lustigste Baracke im Lager» – Kádárs Ungarn
Das Land, das aus der Reihe tanzte – Rumänien
II. KRÄNKELNDE STAATSMÄNNER, MARODE STAATEN (1980–1985)
Die «polnische Lösung» – Versuch einer Militärdiktatur
Der schlecht verschleierte Bankrott – Ungarn
In der Falle zwischen Ost und West – die DDR
Todor Schiwkows unrühmliche Kampagne
Unter der «Sonne der Karpaten» – Rumänien in den Achtzigerjahren
Die nationale Despotie – Widerstandsversuche
Frühe sowjetische Einsichten
Der heiße und der Kalte Krieg – Moskaus Vietnam
Das Wegsterben der Führer
Warten auf Godot
III. DER GORBATSCHOW-MOMENT (1985–1988)
Der lange Weg zur Abrüstung
Die Antialkohol-Kampagne
Schwere Anfänge
Lücken in der Rechtssicherheit
Eine Katastrophe und ihre Lehren
Die Heimkehr eines Verbannten
Die Luft zum Atmen – Lockerung der Zensur
Die Auferstehung der Nationalismen
Der erste Dominostein – Polen
Ungarn – die «weiche Diktatur»
IV. KONTROLLVERLUST (1988–1989)
Sowjetunion: Die schwierige Geburt der Demokratie
Rückzug aus Afghanistan
Die halb freien Parlamentswahlen
Das Blutbad von Tiflis
Die Menschenkette
Der Dominoeffekt
Der Besuch des Präsidenten Bush senior
Der zweite Dominostein – Ungarn
Kádárs Tod
Abschied der ungarischen KP von ihrer führenden Rolle
V. BESCHLEUNIGUNG DER GESCHICHTE (1989)
Der dritte Dominostein – die DDR
Massenflucht und Staatskrise
«Jubiläum 40»
Honeckers Sturz
Ende des Kalten Krieges
Der vierte Dominostein – Bulgarien
Todor Schiwkows letzte Sünde
Palastrevolution in Sofia
Der fünfte Dominostein – die ČSSR
Sowjetische Nichteinmischung
Der 17. November
Der sechste Dominostein
Der Terminkalender des Diktators
Die Schlacht vom Temesvar
Die «Telerevolution»
VI. DAS ENDE DER SOWJETUNION (JANUAR 1990 – DEZEMBER 1991)
Deutsche Frage – sowjetische Antwort
Die Gnadenfrist
Gorbatschows bittere Lorbeeren
Das Elend der einsamen Supermacht
Die Partei verabschiedet sich von ihrer führenden Rolle
Die formale Machtabsage
Das Drama Litauen: Erster Akt
Die russische Karte
Reformpläne
Am Bettelstab
Der Staat als Bankräuber
Warteschlangen, Trostsuche, Wundererwartungen
Die Neureichen
Gorbatschow als Bittsteller
Das Drama Litauen: Zweiter Akt
Licht am Ende des Tunnels
Der Putsch
Die Ansichten gehen auseinander
Die Welt nach der Sowjetunion
NACHWORT
ZEITTAFEL
LITERATURHINWEISE
ABBILDUNGSNACHWEIS
War das edle Römerreich auch schon fast zerfallen,
so bewahrt’ es doch den Schein – Ordnung sei in allem!
Caesar stand an seinem Platz, Mitstreiter daneben,
und das Leben war so schön – laut Berichten eben.
Bulat Okudshawa, Barde, 1979
Am 15. Juli 1975 startete das Raumschiff Sojus mit den Kosmonauten Alexej Leonow und Walerij Kubassow vom Kosmodrom Baikonur. Fast gleichzeitig machte sich die amerikanische Apollo-Raumfähre mit Tom Stafford, Vance Brand und Deke Slayton auf den Weg ins All, wo es wenige Stunden später zum historischen Andockmanöver und zum Handschlag zwischen sowjetischen Kosmonauten und amerikanischen Astronauten kam. Aus Anlass dieser Begegnung führte Philip Morris für sowjetische Verbraucher eine neue, edle Filterzigarette namens «Sojus-Apollo» ein.
Als die sowjetischen Kosmonauten aus schwindelerregenden Höhen auf die damalige Erdkugel hinunterschauten, erblickten sie einen Planeten, auf dem der Weltkommunismus seine höchste Ausdehnung erreicht hatte. Er verfügte über zahlreiche Ableger und Einflusssphären in Asien, Afrika und Lateinamerika, während die USA ihre größte Nachkriegsniederlage in Vietnam erlitten hatten und zunehmend mit innenpolitischen Schwierigkeiten kämpften – so zum Beispiel dem Watergate-Skandal, der zum Sturz des Präsidenten Richard Nixon führte. Der größte Erfolg der Sowjetunion bestand jedoch in der Stabilisierung ihrer europäischen Position. Insbesondere die Regelung der «deutschen Frage» machte den Weg zur KSZE-Konferenz von Helsinki im August 1975 frei. Die in der Schlussakte der Konferenz von 35 Staaten bestätigte Nachkriegsordnung brachte zwar keine vollständige Entspannung, aber zumindest eine wackelige «Waffenpause» im Kalten Krieg – besser gesagt eine Rauchpause, ein Zurücklehnen mit der Zigarette «Sojus-Apollo» im Mund. Für die Sowjets bedeutete Helsinki vor allem die Legitimierung des Einflusses über ihre Satelliten.
Entspannung im Weltall – sowjetische und amerikanische Astronauten 1975 mit dem Modell der Sojus-Apollo
Auch innenpolitisch hatte die Kommunistische Partei mit ihrem Parteichef Leonid Breschnew Mitte der Siebzigerjahre den Zenit ihrer Macht erreicht. Breschnew hatte 1975 bereits die elf Jahre dauernde Amtszeit seines Vorgängers Nikita Chruschtschow überrundet, und man begann mit der Kanonisierung seiner «Ära». 1976 wurde er zum Marschall, ein Jahr später zum Staatschef ernannt, und zu seinem 70. Geburtstag veranstaltete man eine große Feier. 1978 wurden seine drei «Werke» veröffentlicht, allesamt von Journalisten zu Memoiren aufgebauschte Interviews, für die er 1979 sogar mit dem literarischen Leninpreis ausgezeichnet wurde. Dieser bescheidene Personenkult – die Menschen sprachen von «Kultchen» – schien ihm zu schmeicheln.
Ihren Ausdruck fand diese «goldene Ära» in einem populären Schlager, der das gewachsene Selbstbewusstsein des Homo sowjeticus demonstrieren sollte: «Meine Anschrift hat kein Haus und keine Straße./Meine Anschrift heißt Sowjetunion». Entsprechend der kommunistischen Tradition sollte auch die Ära Breschnew durch grandiose Bauten verewigt werden. Eines der wichtigsten Projekte war die Baikal-Amur-Magistrale (BAM), eine modernisierte Version der Transsibirischen Eisenbahn. Dafür wurden neben normalen Arbeitskräften massenhaft Jugendbrigaden mobilisiert.
Ein Souvenir: das Sojus-Apollo-Emblem
Von seinen Nachfolgern wurde Breschnews Herrschaft wegen der Stagnation kritisiert, die auf Russisch «sastoj» heißt. Allerdings mutierte dieser verächtliche Ausdruck angesichts der enormen Schwierigkeiten der Neunzigerjahre im Volksmund zu «sastolje», was «gedeckter Tisch» bedeutet. Die Lebensqualität, die sich in Essen und Trinken manifestierte, wurde 1976 durch die bereits sechste Ausgabe des Standardwerks «Buch über schmackhafte und gesunde Nahrung» propagiert, eine Rezeptsammlung in Millionenauflage. Vor allem in Großstädten wie Moskau und Leningrad versuchte man die alte Restaurantkultur zu beleben. Gleichzeitig begann man mit Hotelneubauten, darunter das Großhotel Rossija und die Intourist-Kette, und öffnete sich dem Tourismus – inklusive dem Gruppentourismus nach Moskau, Leningrad, der Krim, dem Kaukasus und nach Usbekistan. Parallel dazu wurde das Devisenladennetz «Berjoska» ausgebaut, und nach 1975 konnte man an einigen ausgewählten Orten führende Westzeitungen erwerben. Neugierige Bürger mit entsprechenden Sprachkenntnissen kauften in der Halle des Hotels Inturist ältere Nummern der New York Times oder der Neuen Zürcher Zeitung für je 60 Kopeken und verpackten sie vorsichtshalber in die großformatige «Prawda» oder die «Iswestija», die einen Verkaufspreis von vier Kopeken hatten.
Insgesamt blieben die Preise für die notwendigsten Produkte in den Siebziger- und Achtzigerjahren unverändert. Bei einem Existenzminimum von 40–50 Rubeln, das gleichzeitig der Durchschnittsrente entsprach, konnte man sich wenig leisten: Ein Kilo Brot kostete 30 Kopeken, 100 Gramm Wurst 2,60 Rubel, die billigste Kinokarte 25 Kopeken, eine Fahrkarte für die Straßenbahn 3, für die Metro 5 Kopeken, die preiswerteste Wodkasorte 3 Rubel, der etwas feinere «Stolichnaja» 4 Rubel, der seltener erhältliche armenische Cognac 5 Rubel und der exotisch wirkende kubanische Rum sogar 8 Rubel. Für eine von der Zensur zähneknirschend zugelassene Beatles-LP als bulgarische Lizenzpressung verlangte man im staatlichen Musikladen 4 Rubel. Allerdings war der Erwerb dieser LP auf normalem Wege mangels Masse wenig wahrscheinlich, und auf dem Schwarzmarkt kostete sie gleich 25 Rubel. Das Monatsgehalt eines Ingenieurs betrug 100 Rubel – das entsprach ungefähr dem Preis für einen Jeansanzug.
Der idealtypische Homo sowjeticus der Siebzigerjahre ging seiner Arbeit nach, widmete sich in seiner Freizeit der Familie, verfügte über eine Anderthalb- oder Zweizimmerwohnung in einer Neubausiedlung mit Zentralheizung und Bad, über ein Sparbuch, kaufte sich nach und nach einen Plattenspieler, einen Fernseher etwa der Marke «Junost», einen Kühlschrank «Saratow» oder «Minsk», eine Waschmaschine und einen Staubsauger. Er stand geduldig Schlange beim täglichen Einkauf, wartete ewig auf einen Telefonanschluss oder gar auf einen Lada, der als Fiat-Lizenz in der Stadt Togliatti produziert wurde. Die beiden dreitägigen Staatsfeiern zum 1. Mai und 7. November feierte er im Freundeskreis mit Lachs, Torte und reichlich Wodka. Außerdem feierte er, je nach Profession, den «Tag des Fischers», den «Tag des Eisenbahners» oder den «Tag des Lehrers». Seinen Sommerurlaub verbrachte er entweder in einer bescheidenen hölzernen Datscha in der Freizeitkolonie, oder er vergnügte sich während seiner Familienausflüge mit Angeln. Für Leute aus der Provinz war ein Aufenthalt in Moskau, möglichst mit einer Aufführung des Balletts «Schwanensee» im Kongresspalast, oder in Leningrad mit Besuch in der Eremitage ein besonderes Erlebnis. Seltener kam es zu einem Urlaub auf der Krim oder im Kaukasus und als Höchstgenuss zu einer Reise nach Ungarn, in die ČSSR oder die DDR – selbstverständlich in einer gut kontrollierbaren Gruppe.
Postkarte aus Moskau
Bahnhof Tinda an der Baikal-Amur-Eisenbahnlinie («Trasse der Kühnheit» genannt)
Die Siebzigerjahre waren die ruhigste, besser gesagt die einzig relativ ruhige Zeitspanne in der Geschichte der Sowjetunion. Die Menschen erhielten mehr Freiräume und Konsummöglichkeiten als früher, während die ideologische Mobilisierung immer lascher wurde. Gleichzeitig kostete es das System enorme Summen und Anstrengungen, diese heute nostalgisch betrachtete Stabilität aufrechtzuerhalten. Das Verteidigungsbudget belief sich unter Breschnew und seinen unmittelbaren Nachfolgern auf 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Ergebnisse dieses Aufwands wurden bei den jährlichen Maiparaden auf dem Roten Platz vorgeführt, um die militärische Stärke des Landes sowohl dem In- als auch dem Ausland zu präsentieren. Die «Schönheitskönigin» der sowjetischen Rüstungsproduktion war zweifellos die Rakete SS-20.
Ballett war und blieb ein Sinnbild der sowjetischen Hochkultur: Primaballerina Maija Plissezkaja
Während die Abrüstungsverhandlungen mit den USA liefen, wurde paradoxerweise das Rüstungsniveau künstlich aufrechterhalten. Dies diente dem innenpolitischen Ziel, die Ansprüche des militärisch-industriellen Komplexes zu befriedigen, der circa zwei Millionen Menschen umfasste und in viel höherem Maße als der passive Staats- und Parteiapparat auf die Regierenden Einfluss nehmen konnte. Die größte und effektivste Macht war jedoch das Komitee für Staatssicherheit, verkürzt KGB, eine Art Staat im Staate mit ungefähr 700.000 hauptamtlichen Mitarbeitern und Millionen von Zuträgern. Ihr Sitz auf dem Moskauer Derschinskiplatz in der ehemaligen Lubjanka war, zusammen mit seinem umfangreichen Lagersystem in entlegenen Provinzen, eine ständige Drohung gegenüber politischen Dissidenten oder kritischen Intellektuellen. Die Arbeit dieses «Organs», die unter Stalin Millionen Todesopfer zur Folge hatte, wurde jetzt unter der Führung von Jurij Andropow praktisch blutlos verrichtet, mit kalter, genau berechneter Gewalt.
Das Dissidentenehepaar Podrabinek. Der Mann, Alexander, studierter Feldscher, entlarvte in seinem Buch die psychiatrische Zwangsbehandlung von Andersdenkenden in der Sowjetunion und wurde deswegen ins Lager eingeliefert
Im Jahre 1976 befanden sich laut geheimer KGB-Statistik insgesamt 851 politische Gefangene in Kerkern («isoljatory») und Lagern. 68.000 Menschen wurden der «antisowjetischen Propaganda» verdächtigt und waren als sogenannte «politisch gefährliche Elemente» registriert, ohne dass gegen sie ein Verfahren eingeleitet worden wäre. Offensichtlich suchte das System politische Prozesse weitgehend zu vermeiden, denn auch geschlossene Verhandlungen konnten in die westliche Öffentlichkeit kommen und das Image des Regimes schädigen. So versuchte man die Menschenrechtsbewegung mit polizeilichen Mitteln unter Druck zu setzen bzw. aus dem Land zu vertreiben. Man wollte «keine Märtyrer produzieren» und produzierte dennoch genug, um die Gesichter dieser kämpfenden Minderheit weltweit bekannt zu machen.
Smolensk: Eine der vielen «Spezialkliniken», in denen Zwangspsychiatrie gegen Dissidenten angewandt wurde
Zur Zeit des Helsinki-Abkommens gelang es dem seit 1967 von Jurij Andropow gelenkten KGB vor allem, die erste Welle der demokratischen Bewegung aufzulösen. Kaum ein Jahr nach der Konferenz-Schlussakte versammelten sich in der Wohnung des Atomphysikers Andrej Sacharow und seiner Frau Jelena Bonner in der Moskauer Tschkalowstraße die Führer einer Gruppe zu einer Pressekonferenz. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, die Einhaltung des Helsinki-Abkommens seitens der UdSSR zu beobachten. Formal war dieses Vorgehen legitim, denn die KSZE hielt eine solche Kontrolle für notwendig und bereitete zu diesem Zweck sogar die erste Nachfolgekonferenz in Belgrad vor. Heikel für die Sowjetregierung waren vor allem die Punkte des Abkommens, die sich auf den sogenannten «dritten Korb» (Menschenrechte, Reisemöglichkeiten, Glaubensfreiheit) bezogen. Die Moskauer Helsinkigruppe und ähnliche Gruppen in Kiew und Tiflis bestanden aus einer Reihe von außergewöhnlichen Persönlichkeiten – dem Mathematiker Jurij Orlow, der Historikerin Ljudmila Alexejewa, dem Arbeiter Anatolij Martschenko und dem General a. D. Pjotr Grigorenko. Letzterer engagierte sich vor allem für die 1944 auf Stalins Befehl nach Sibirien und Zentralasien deportierten Krimtataren. Deren Rückkehr durchzusetzen war das erste Anliegen der Helsinki-Gruppe. Eine spezielle Untergruppe beschäftigte sich mit der Verfolgung von Andersdenkenden in der Psychiatrie – über dieses Thema schrieb Alexander Podrabinek das Buch «Strafmedizin».
Die Behörden reagierten auf die neue Welle der demokratischen Opposition einerseits mit erhöhtem Terror, etwa dem spektakulären Prozess gegen Jurij Orlow oder der dritten Gefängnisstrafe für Martschenko, andererseits mit Zwangsausbürgerungen. Davon waren zum Beispiel Leonid Pljuschtsch und Ljudmila Alexejewa betroffen. Der spektakulärste Fall war zweifelsohne 1976 der Austausch des Dissidenten Wladimir Bukowskij, der zuvor zwangspsychiatrisiert worden war, gegen den chilenischen KP-Chef Luis Corvalán, der seit dem Putsch vom Herbst 1973 in Pinochets Gefängnis saß. Da Bukowskij in den sowjetischen Medien als «Hooligan» verunglimpft worden war, reagierte der derbe Volkshumor auf die Aktion mit einem Spottgedicht, das Leonid Breschnew zum Ziel hatte: «Frei ist nun der Hooligan/im Tausch mit Luis Corvalán./Ist keine Schlampe in der Ferne?/Wir tauschen gegen Ljonja gerne.»
Neben den nicht sehr zahlreichen sowjetischen Dissidenten – sie selbst definierten sich als «prawosaschtschitniki» (Rechtsschützer) – bereitete ein Phänomen dem Regime viel mehr Kopfzerbrechen: die Auswanderungsbewegung hauptsächlich jüdischer Sowjetbürger, aber auch der deutschen Minderheit. Die lange Schlange der Ausreisewilligen vor dem Haus des Passamtes auf der Altmoskauer Straße Kolpatschnyj pereulok brachte die Behörden in eine prekäre Lage. Einerseits war die Ausreisebewegung durch Verbot oder Druck auf Einzelne nicht mehr aufzuhalten, andererseits sorgte hier jedes Zugeständnis für Spannung bei anderen Nationalitäten, die nicht über eine «historische Heimat» außerhalb der UdSSR verfügten. Juden galten als «Nationalität», was in der entsprechenden Rubrik des Personalausweises unter Punkt 5 eingetragen wurde. Dabei dachten die sowjetischen Führer bis zuletzt nicht daran, mehr konfessionelle oder kulturelle Freiräume etwa für sowjetische Juden zu gewähren. So existierte beispielsweise in der Metropole Moskau mit mehr als 100.000 jüdischen Einwohnern nur eine einzige Synagoge. Der Rabbiner Fischman und auch sein Nachfolger Schajewitsch waren von den Entscheidungen des Staatskomitees für Religion abhängig, und ihre Tätigkeit diente dazu, das Image der Regierung bei internationalen Konferenzen aufzupolieren.
Insgesamt barg die friedliche Koexistenz zwischen Ost und West in der Zeit nach Helsinki für die Sowjetunion innenpolitisch größere Risiken als zuvor die latente Kriegsgefahr, die immerhin durch das atomare Gleichgewicht der Supermächte begrenzt wurde. Bei allem Erfolg bei den Bestrebungen, das Riesenland vom Westen abzuschotten, war doch der kulturelle Einfluss der freien Welt auf die UdSSR unaufhaltsam. Westliche Popmusik und die Unterhaltungsindustrie prägten zunehmend auch die Jugendkultur der östlichen Großstädte. Nach anfänglichen Schwierigkeiten mit den konservativen Kulturfunktionären eroberten Tänze wie Twist oder Letkiss die Tanzparketts der Siebzigerjahre. In den frühen Achtzigern wurde die reiche Jazztradition der Zwanzigerjahre wiederentdeckt. Gleichzeitig wurden ganze Musikströmungen, die westliche Vorbilder hatten, bestenfalls geduldet. Ein Beispiel hierfür ist der steinige Weg der von Bob Dylan inspirierten Gruppe «Zoopark», die 1980 gegründet wurde.
Während die Avantgarde in der Massenkultur mit dem allmählichen Abbau der Tabus begann, spielte sich einige Etagen höher ein erbitterter Kampf zwischen Künstlern und Bürokraten ab. Neben dem Kampf mit dem politischen Dissens versuchte der Staat auch Teile der Intelligenz strenger zu kontrollieren, die sich bis dahin im Rahmen der offiziellen Institutionen bewegt hatten. Die exzessive Zensur führte zu Beginn der Achtzigerjahre dazu, dass weltbekannte Künstler wie Jurij Ljubimow, Direktor des Moskauer Theaters an der Taganka, oder der Filmregisseur Andrej Tarkowskij von einem Westaufenthalt nicht zurückkehrten. So wurden sie letzten Endes aufgrund ihres künstlerischen Credos zur Unperson in ihrer Heimat.
Jurij Ljubimow. Der weltberühmte Regisseur des Moskauer Taganka-Theaters wurde während einer Westtournee von dem Obersten Sowjet ausgebürgert
Schließlich bereitete sich die Altherrenriege um den greisen Breschnew auf ihren grandios inszenierten internationalen Ruhm vor: Als symbolischer Abschied von den «goldenen Zeiten» der Stagnation kann im Nachhinein die Abschlussfeier der Moskauer Olympischen Sommerspiele betrachtet werden, die am Sonntag, dem 3. August 1980, im Moskauer Luschniki-Stadion stattfand. Auf der Ehrentribüne saßen die Mitglieder des Politbüros der KPdSU mit dem sichtlich geschwächten Parteichef Breschnew an der Spitze, Vertreter des Internationalen Olympischen Komitees, ausländische Diplomaten und Ehrengäste. Die Liveübertragung des Moskauer Fernsehens verfolgten viele Millionen Bürger der Sowjetunion und der Ostblockstaaten. Als Höhepunkt stieg unter süßlicher Glockenmusik, an ein Luftschiff gekettet, der «olympische Mischa», der siegreich lächelnde sowjetische Bär, in den Moskauer Nachthimmel. Dieser Talisman, ein Werk des Buchillustrators Wiktor Tschissikow, stammte aus der Pelzfabrik der Stadt Scholtye Wody. Mischa diente als Symbol der drei sportlichen Tugenden Stärke, Ausdauer und Mut, die in lateinischer Sprache auch das Stadion schmückten.
Anachronistisch charmant – von den Luxusgeschäften bis zu den Marktständen rechnen Verkäufer mit dem Abakus
Diente der olympische Mischa als Markenzeichen für eine bärenstarke Supermacht, so tauchte plötzlich ein anderes, ein bedrohliches Symbol am Horizont auf. Zeitgleich mit dem Beginn der Olympischen Spiele begann in dem größten Ostblockland Polen eine landesweite Streikbewegung gegen die restriktive Politik der Kommunistischen Partei. Als Reaktion auf die Entlassung der Kranführerin Anna Walentinowicz, eine der Schlüsselfiguren der Streikbewegung, wurde am 16. August 1980 in Danzig die Gewerkschaft Solidarność gegründet. Ihr berühmtes Logo mit den marschierenden Buchstaben entwarf der Grafiker Jerzy Janiszewski, den Namen erfand der Dissident und Historiker Karol Modzelewski.
Das Wahrzeichen der Moskauer Olympischen Spiele: der lächelnde Bär Mischa – heute Symbol der seligen Zeiten der «Stagnation»
Kongress der Gewerkschaft Solidarność in Danzig, Herbst 1981. In der Mitte die Kranführerin Anna Walentinowicz. Einige Monate später folgte der Ausnahmezustand
Die wichtigsten Momente der Streikbewegung waren die katholische Messe auf der Leninwerft und am 31. August 1980 die Unterzeichnung des Forderungskatalogs der Arbeiter durch den stellvertretenden Regierungschef Mieczyslaw Jagielski und den Führer des Streikkomitees, den Elektriker Lech Walesa. Beide Ereignisse wurden von dem Regisseur Andrzej Wajda in seinem Film «Mann aus Eisen» verewigt, der im Rekordtempo gedreht worden war. Das berühmte Lied aus diesem Film über den Arbeiter Janek Wiśniewski, ein imaginäres Opfer der Unruhen vom Winter 1970 in den Küstenstädten, trug die Schauspielerin Krystyna Janda vor: «Weint nicht, ihr Mütter, es war nicht umsonst … Über der Werft weht die schwarze Fahne/(…) Für Brot und Freiheit, für das neue Polen ist Janek Wiśniewski gefallen.»
Polen war von Anfang an das Ostblockland, das vom Kreml aus am schwersten zu lenken war. Bereits 1956, kurz nach dem Aufstand in Posen, erzwang dort die Gesellschaft den Rücktritt der stalinistischen Garnitur und setzte den «Nationalkommunisten» Wladyslaw Gomulka an die Spitze. Im Sommer 1976 vereitelten die Arbeiter des Traktorenwerks Ursus in Radom unter Androhung eines allgemeinen Streiks die Preiserhöhungspläne der Regierung. Diese besondere Entschlossenheit der Arbeiterschaft hing damit zusammen, dass zu dieser Zeit eine Bewegung der Intellektuellen um Adam Michnik und Jacek Kuroń entstanden war (KOR/KOS), die immer stärker wurde. Soziale und politische Forderungen waren eng miteinander verknüpft und wurden seit 1968 im Slogan der polnischen Studentenbewegung vereint: «Kein Brot ohne Freiheit!»
Bergmannfeier zur Zeit des Aufschwungs der Solidarność, Sommer 1981
Noch wichtiger für die polnische Sonderrolle war die mächtige katholische Kirche, die immer stärker in die Rolle der ausgleichenden Kraft zwischen der Regierung und der Gesellschaft geriet. Als Kardinal Karol Wojtyla im Oktober 1978 zum Papst gewählt wurde, hatte dies eine gewaltige Wirkung auf die Atmosphäre in der polnischen Gesellschaft. Die erste Reise des Pontifex maximus im Jahr 1979 in seine Heimat verwandelte sich in einen Triumphzug ohnegleichen. Im Sog dieser Euphorie entstand eine neue Welle von nationalen und sozialen Freiheitsträumen. Die Kremlführung verfolgte die polnische Entwicklung zunehmend besorgt. Zuerst versuchte man die Ereignisse zu verschweigen. In der russischen Zeitung Prawda oder im Moskauer Fernsehen sickerten nur Informationen mit unpolitischem Inhalt durch. So wurde etwa über den Erfolg der polnischen Trickfilmserie «Lolek und Bolek» berichtet. Später mussten die sowjetischen Medien angesichts der russischsprachigen Auslandssender diese passive Haltung aufgeben. Nun ging es nur noch um die jeweilige Sprachregelung. In Polen sei es, so hieß es nun, aufgrund von Preiserhöhungen zu vereinzelten «Arbeitsunterbrechungen» gekommen – das Wort «Streik» wurde, solange es irgend ging, auch in der Berichterstattung anderer Ostblockstaaten vermieden.
Zunehmende Sorgen bereiteten dem Kreml in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre auch die anderen Verbündeten, und zwar aus völlig unterschiedlichen Gründen. Selbst beim treuesten Partner, der SED in der DDR, ließ die ideologische Standfestigkeit angesichts der großzügigen Westkredite zunehmend nach. Zudem hatte Willy Brandts Entspannungspolitik kleine Hoffnungen in Ost und West geweckt. Zwar waren die Leitartikel im Neuen Deutschland gegen den kapitalistischen «Bonner Staat» auf der Linie Moskaus, gleichzeitig breitete sich der Einfluss der BRD durch Konsumprodukte und noch mehr durch die Medien aus.
Die DDR war ein Land der Frühaufsteher und der ruhigen Schläfer. Kinder wurden bereits um 18.50 Uhr vom Sandmännchen verabschiedet: «Nun schnell ins Bett und schlaft recht schön,/dann will ich auch zur Ruhe gehen,/ich wünsch euch gute Nacht!» – klang das süße Liedchen, von dem es im Hinblick auf die größte Minderheit des Landes auch eine sorbische Fassung gab. Die Erwachsenen schauten danach die Nachrichtensendung «Aktuelle Kamera» an, schalteten dann direkt auf die Tagesschau und tauchten für ein paar Stunden in die parallele bundesdeutsche Wirklichkeit ein. Von diesem exklusiven Erlebnis, das keinem anderen Ostblockland bekannt war, blieben die südöstlichen Bezirke der DDR ausgeschlossen, in denen kein Empfang möglich war und die deshalb im Volksmund als «Tal der Ahnungslosen» galten.
Flächendeckend war hingegen das «Intershop»-Verkaufsnetz, das dichter gespannt war als das der Genex in Polen, Tuzex in der ČSSR und Corecom in Bulgarien. Hier roch es nach Kaffee, Tee, Tabak, Schokolade und Parfum. Das Angebot, zu dem auch Spirituosen, Spielzeug, Jeans, Fernseher und anderes gehörte, bestand teilweise aus westlich etikettierten Produkten «Made in GDR», zeichnete sich jedoch durch ein im westlichen Vergleich niedriges Preisniveau aus. Wer sich nach mehr sehnte und großzügige Verwandte im Westen hatte, konnte den Geschenkdienst der staatlichen Firma Genex in Anspruch nehmen, der praktisch jeden Käuferwunsch erfüllen konnte – inklusive der heiß begehrten Autos, die man sonst nur nach jahrelangem Warten erwerben konnte. Die massive Präsenz der kapitalistischen Warenwelt, ergänzt um die Fernsehwerbung, ließ eine materielle Differenzierung innerhalb der Bevölkerung sichtbar werden, die im krassen Widerspruch zur rigiden kommunistischen Gleichheitsmoral der früheren Jahrzehnte stand.
Sigmund Jähn – der DDR-Bürger im Weltall 1978
Sonntagnachmittag in Hoyerswerda, Anfang der Achtzigerjahre
Offizielle Protestkundgebung gegen die Pershings
Wachsende Probleme hatte die SED-Führung auch mit der früher vorsichtigen Intelligenz, dem beginnenden Dissens um den «ostdeutschen Sacharow» Robert Havemann und dem Liedermacher Wolf Biermann. Die Songs Biermanns zeichneten sich durch eine witzige, populäre Sprache aus und prangerten die Unfreiheit und Verlogenheit des Systems an. In einem satirischen Lied betrachtete Biermann die Grenzbefestigung der DDR sogar als eine Parodie der chinesischen Großen Mauer: «Karl Marx, der Revolutionär/hat großes Glück, er lebt nicht mehr,/denn wenn er heut am Leben wär, Genosse meiner Trauer,/dann lebte er nicht lange mehr,/man zöge ihn aus dem Verkehr,/und fragst du, wo, das ist nicht schwer:/In China hinter der Mauer.» Das System rächte sich im November 1976 an dem spöttelnden Liedermacher, indem es diesen während einer Konzertreise in die Bundesrepublik Deutschland kurzerhand ausbürgerte. Allerdings blieb diesmal der Bumerangeffekt nicht aus: Mehr als hundert Künstler, unter ihnen auch hochdekorierte SED-Mitglieder, protestierten gegen den Willkürakt. Einer der aktivsten Protestler, der Wissenschaftler Robert Havemann, wurde daraufhin unter Hausarrest gestellt, ein anderer, der Lyriker Jürgen Fuchs, ein Jahr lang im Gefängnis festgehalten und dann zum Verlassen der DDR gezwungen.
Fröhlicher sozialistischer Alltag