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Christian Mann

SCHACH

Die Welt auf 64 Feldern

C.H.Beck


Zum Buch

64 Felder, 32 Figuren, ein schlankes Regelwerk – und doch eine ganze Welt für sich! Schach, das «königliche Spiel», zieht seit über 1500 Jahren Menschen in allen Weltregionen in seinen Bann. Zug um Zug folgt Christian Mann diesem faszinierenden Phänomen, erklärt Geschichte, Regeln und Kultur eines Spiels, das stets mehr war als bloßer Zeitvertreib. Im alten Indien galt es als Allegorie der Herrschaft, für Napoleon war es eine Schule guter Feldherren und heute sieht man es gemeinhin als Gradmesser menschlicher – und künstlicher – Intelligenz. Schach prägt: nicht nur seine Spieler, sondern en passant auch unsere Sprache. Alles, was die Faszination von Schach ausmacht – von den Regeln bis zu den Turnieren der Groß- und Weltmeister, vom Leben und Denken der Schachspieler bis zur gesellschaftlichen Bedeutung des Spiels –, findet sich hier, schwarz auf weiß.

Über den Autor

Christian Mann ist Professor für Alte Geschichte in Mannheim. Er war in seiner Jugend Kaderspieler des Deutschen Schachbunds und führt den Titel eines Internationalen Meisters. Bei C.H.Beck erschien von ihm bereits Die Gladiatoren (2013).

Inhalt

Abbildung

1. Einleitung: Faszination Schach

2. Geschichte des Schachs

Ursprünge und Verbreitung

Die ersten Weltmeister: von Steinitz bis Aljechin

Sowjetische Dominanz: Schach nach dem Zweiten Weltkrieg

Schach im Zeichen des Kalten Krieges: Spasski gegen Fischer 1972

Epische Duelle der drei großen «K»: Karpow, Kortschnoi, Kasparow

Spaltung und Wiedervereinigung des Spitzenschachs

Eine multipolare Welt: Schach im 21. Jahrhundert

3. Leben und Denken des Schachspielers

Schach als Wettkampfsport

Die Einkünfte professioneller Schachspieler

Elo-Zahlen und Meistertitel

Training und Wettkampf

Die Gedanken eines Schachspielers: das Geheimnis von Spielstärke

Psychologie, Doping, Computerbetrug

«Genie» und «Wahnsinn»

4. Das Schachspiel in der Gesellschaft

Schach im Alltag und in der Wissenschaft

Lebensunfähige Genies und zynische Meisterdenker: Schach in Literatur, Film und Kunst

Ein brisantes Thema: Schach und Geschlechterbeziehungen

Die «Drosophila der Künstlichen Intelligenz»: Computerschach vom «Schachtürken» bis zu AlphaZero

Anhang: Die Spielregeln und die Schreibweise der Züge (Notation)

Ausgangsstellung und Spielziel

Die Gangart der Figuren

Das Ende der Partie

Die Schreibweise der Züge (Notation)

Glossar schachlicher Fachbegriffe

Literatur und Webseiten

Bücher

Zeitschriften

Webseiten

Bildnachweis

Register

Die Schachweltmeister

Abbildung

Schachfiguren, etwa Ende des 12. Jahrhunderts, aus Walrosselfenbein und Walfischzähnen gearbeitet, auf der Isle of Lewis entdeckt.

1. Einleitung: Faszination Schach

Dieses Buch richtet sich nicht an Schachgroßmeister oder solche, die es werden wollen. Es ist geschrieben für alle diejenigen, die sich für das «königliche Spiel», seine Geschichte und seine Bedeutung in der Politik, der Literatur oder der Informatik interessieren. Auch wer nicht die Regeln kennt, ist vom Psychogramm eines Schachspielers bei Stefan Zweig oder von einer Schachweltmeisterschaft fasziniert, dem Inbegriff eines geistigen Duells auf höchstem Niveau. Für alle «Schachneulinge» werden im Anhang die Regeln des Spiels und die Schreibweise der Züge erläutert.

Berlin, 10. Februar 1910. Im Hotel de Rome verfolgen die Zuschauer gebannt die zehnte und letzte Partie des Wettkampfes um die Weltmeisterschaft im Schach. Der Titelverteidiger, Dr. Emanuel Lasker aus Deutschland, war als klarer Favorit in das Match gegangen. Seit bereits 16 Jahren trägt er den Titel des Weltmeisters, ist Sieger zahlreicher Turniere und hat insbesondere noch nie einen Zweikampf verloren, da bei diesem Format seine variable und erfindungsreiche Spielweise besonders wirkungsvoll ist. Doch diesmal setzt ihm sein Herausforderer, der Österreicher Carl Schlechter, unerwartet zähen Widerstand entgegen. Gegen dessen solides Positionsspiel und präzise Verteidigung hat Lasker noch kein Gegenmittel gefunden und von den ersten neun Partien keine einzige gewonnen, ja sogar die fünfte Partie verloren, als er im Gewinnstreben seine Stellung überzog. Schlechter führt vor der letzten Partie mit 5:4; gewinnt er diese oder erzielt er ein Remis, ist er der neue Weltmeister. Gewinnt Lasker die Partie, behält er seinen Titel, so sieht es das Reglement im Falle eines unentschiedenen Ausgangs vor. Es hängt also alles von dieser einen Partie ab, ob Lasker oder Schlechter auf dem Schachthron sitzt, ob der Weltmeistertitel in Deutschland bleiben oder auf einen Österreicher übergehen wird. Denn es handelt sich nicht allein um einen Wettkampf zwischen zwei Menschen, sondern auch zwischen Wien und Berlin, den beiden wichtigsten Metropolen deutscher Kultur – auch schachlich. Die ersten fünf Partien haben in Wien stattgefunden, danach ist der Wettkampf nach Berlin umgezogen; zu Hause in Wien erwarten Schachenthusiasten ungeduldig telegraphische Nachrichten über die Partie ihres Vorkämpfers.

Diese zehnte Partie entwickelt sich ganz anders als die übrigen neun. Bislang standen ruhige Stellungen auf dem Brett, die von den Kontrahenten geduldiges Manövrieren erforderten. Nun aber kommt es zu einem wilden Schlagabtausch, bei dem beide Könige ihren schützenden Bauernwall verlieren und bedroht sind. Schlechter, mit Schwarz spielend, erlangt durch druckvolle Züge eine gute Stellung, kann mehrfach klaren Vorteil erlangen, greift dann aber zu einem zweifelhaften Opfer. Doch im 39. Zug könnte er das Remis erzwingen und den Wettkampf für sich entscheiden (Abb. 1).

Abb. 1: Lasker – Schlechter, Weltmeisterschaftskampf 1910, 10. Partie. Stellung nach dem 39. Zug von Weiß

Schwarz ist materiell leicht im Nachteil, doch von den weißen Figuren steht der Springer abseits, der Turm auf c8 ist ungedeckt, und der König ist den Schachgeboten der schwarzen Dame ausgesetzt. Nach 39… Dh2–h4+ hat Weiß nichts Besseres, als mit 40. Ke1–f1 Dh4–h1+ 41. Kf1–f2 Dh1–h2+ 42. Kf2–e1 Dh2–h4+ 43. Ke1–d2 Dh4–h2+ 44. Kd2–e1 Dh2–h4+ in die Zugwiederholung einzuwilligen. Versuche, davon abzuweichen, enden mit schwarzem Gewinn, 40. Tf3–g3 Dh4–h1+ 41. Ke1–d2 Tf4–f2+ oder 40. Ke1–d1 Dh4–h1+ 41. Kd1–e2 Tf4xf3 42. Dd3xf3 Sb5xd4+. Doch Schlechter wählt das falsche Feld für das Schachgebot und zieht schwächer 39… Dh2–h1+, dies gibt Lasker die Möglichkeit, mit dem Turm dazwischen zu ziehen und seine Königsstellung zu konsolidieren. Nach 40. Tf3–f1 Dh1–h4+ 41. Ke1–d2 Tf4xf1 42. Dd3xf1 Dh4xd4+ 43. Df1–d3 Dd4–f2 44. Kd2–d1 kommt Lasker in Vorteil, führt die Partie zum Sieg und verteidigt seinen Titel.

Die genannten Varianten sind für einen Spieler vom Kaliber Carl Schlechters problemlos zu berechnen, doch warum spielte er dann nicht 39… Dh2–h4+? Darüber ist in der Schachwelt oft und hitzig diskutiert worden. So wurde die Vermutung geäußert, laut Reglement habe Schlechter das Match mit zwei Punkten Vorsprung gewinnen müssen, um den Weltmeistertitel zu erringen, und aus diesem Grund habe er jede zum Remis führende Variante vermieden. Doch für eine solche Regel, die in der Geschichte der Schachweltmeisterschaften ohne Parallele wäre, fehlen stichhaltige Belege. Eine literarische Verarbeitung des Matches und der letzten Partie hat Thomas Glavinic in seinem Erstlingswerk «Carl Haffners Liebe zum Unentschieden» (1998) vorgelegt. Glavinic, in seiner Jugend einer der stärksten österreichischen Spieler seiner Altersklasse, entwarf auf der Grundlage der Zeugnisse über Schlechters zurückhaltendes Auftreten das Psychogramm eines fast pathologisch bescheidenen Carl Schlechters, der die letzte Partie in glänzendem Stil gewinnen wollte, um des Weltmeistertitels würdig zu sein, und deshalb ganz gegen seine sonstige Gewohnheit scharf und riskant auf Sieg spielte.

Man benötigt solche Erklärungen nicht, um Schlechters Fehler zu verstehen. Schachspieler stehen während einer Partie unter permanentem starken Druck. Anders als ein Tennisspieler, der ein Match auch trotz einiger Fehler souverän gewinnen kann, muss beim Schachspieler jeder Zug gut sein, ein einziger Fehler kann eine bis dahin glänzend gespielte Partie ruinieren und zur Niederlage führen. In bedeutenden Partien ist der Druck noch höher, und ein Weltmeisterschaftskampf bedeutet für die Kontrahenten eine enorme psychische und auch körperliche Belastung. Schlechter ist nicht der einzige Großmeister, dem in einer entscheidenden Situation ein unerklärlicher Fehler unterlief. In seinem Fall aber hat es eine tragische Note, dass er den Titelgewinn um Haaresbreite verfehlte: Als professioneller Schachspieler verfügte er nicht über ein festes Einkommen, seine finanzielle Situation war prekär. Der Weltmeistertitel hätte ihm neben Ruhm und Ehre auch wirtschaftliche Möglichkeiten eröffnet, so aber musste er weiter von der Hand in den Mund leben. Der Erste Weltkrieg bedeutete einen weiteren Einbruch, denn die Unterstützung von Schachspielern durch wohlhabende Mäzene kam zum Erliegen. Schlechter hatte häufig nicht ausreichend Geld für Nahrung, er starb 1918 im Alter von nur 44 Jahren an einer verschleppten Lungenentzündung.

New York, 30. November 2016. Im Fulton Market Building im Süden Manhattans sitzen sich Magnus Carlsen und Sergei Karjakin zum Stechen um den Titel des Schachweltmeisters gegenüber. Wie einst Lasker ist auch diesmal der Titelträger als großer Favorit in den Wettkampf gegangen, der Norweger Carlsen trägt den Weltmeistertitel seit 2013 und steht bereits seit 2010 durchgängig an der Spitze der Weltrangliste. Sergei Karjakin gehört seit Jahren zur Weltspitze, dennoch war seine Qualifikation für den Titelkampf eine Überraschung gewesen. Als ein auf der Krim geborener Ukrainer, der 2009 zum russischen Verband übergetreten war und sich öffentlich für Präsident Putin und später auch für die russische Annexion der Krim ausgesprochen hatte, ist er für Moskau der ideale Repräsentant auf dem Feld des Schachsports, das lange Zeit eine russische Domäne gewesen war. Die Hoffnung darauf, die Schachkrone wieder nach Russland zu holen, macht den Weltmeisterschaftskampf aus russischer Perspektive zu einem auch politisch bedeutsamen Ereignis.

Wie 106 Jahre zuvor tut sich auch diesmal der Weltmeister schwer, denn Karjakins extrem defensive, auf Vermeidung jeglicher Risiken angelegte Matchstrategie trägt Früchte. Zwar gelingt es Carlsen in den ersten Partien des auf zwölf Partien angesetzten Wettkampfs mehrfach, durch sein überlegenes Positionsverständnis gewinnträchtige Stellungen zu erreichen, aber er scheitert immer wieder an Karjakins Verteidigungskünsten. So enden die ersten sieben Partien remis, und die achte Partie verliert der Weltmeister sogar, als ihm beim Spielen auf Gewinn das Gespür für eigene Gefahren abhandenkommt. Immerhin gleicht er mit einem Sieg in der zehnten Partie das Match aus, nach zwölf Partien steht es damit 6:6. Die Regel, dass der Weltmeister bei einem Unentschieden seinen Titel verteidigt, ist längst abgeschafft, und so muss jetzt ein Stichkampf entscheiden: vier Schnellpartien, bei denen jeder Spieler eine Bedenkzeit von 25 Minuten plus zehn Sekunden pro gespieltem Zug erhält. In diesen Schnellpartien setzt sich Carlsens Klasse durch; nach drei Partien führt er 2:1, und in der vierten Partie ergibt sich die oben gezeigte Stellung (Abb. 2).

Abb. 2: Carlsen – Karjakin, Weltmeisterschaftskampf 2016, 4. Stichkampfpartie. Stellung nach dem 49. Zug von Schwarz

Schwarz droht Matt mit Df2–f1 oder mit Df2–g2, und für das ungeübte Auge hat Weiß keine sinnvolle Möglichkeit, diese Drohungen abzuwehren. Doch Carlsen hat diese Stellung herbeigeführt, weil er längst gesehen hat, dass sie für Weiß gewonnen ist. Er spielt das Damenopfer 50. Df4–h6+, und gleichgültig wie Schwarz die Dame schlägt, im nächsten Zug folgt das Matt: 50… Kh7xh6 51. Tc8–h8# oder 50… g7xh6 51. Tf5xf7#.

Diesmal müssen keine Saaldiener die Züge auf Demonstrationsbretter übertragen, und es sind auch nicht nur die Zuschauer in einem überfüllten Raum live dabei. Diesmal verfolgen Millionen Schachfans in aller Welt die Partien im Internet. Mit einem zugeschalteten Computerprogramm oder den Livekommentaren starker Großmeister kannten auch sie die finale Mattkombination schon, bevor Carlsen sie spielte und einen eher zäh verlaufenen Wettkampf glanzvoll beendete.

Schachweltmeisterschaften sind große Ereignisse, für die Zeitgenossen und in der Rückschau. Die besten Spieler, die Tausende von Stellungen im Kopf haben und in Sekundenschnelle lange Zugfolgen berechnen können, gelten als Symbole für die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns. Aber ebenso auch für dessen Fehleranfälligkeit, denn bisweilen werden auch auf höchstem Niveau schwache Züge gemacht, was der Komplexität des Spiels, der nervlichen Anspannung und der Erschöpfung nach stundenlangem Kampf geschuldet ist. Schach ist, in der Begrifflichkeit der Spieltheorie, ein endliches Zwei-Personen-Nullsummenspiel mit perfekter Information ohne Zufallseinfluss. Es gibt keine Würfel oder ähnliche Glücksfaktoren und keine verdeckten Karten, die Stellung steht offen auf dem Brett. Es kommt allein auf die Spieler an, in welche Richtung sich die Partie entwickelt, ob sie in ruhigen positionellen Bahnen verläuft, in denen das allgemeine Positionsverständnis gefragt ist, oder sich ein taktisches Handgemenge ergibt, in dem eine Vielzahl von Varianten berechnet werden muss. Insbesondere wenn grundverschiedene Persönlichkeiten aufeinandertreffen – wie Lasker und Schlechter oder später Karpow und Kasparow – oder die Kontrahenten zu Vorkämpfern politischer Ansprüche stilisiert werden, erfahren die Duelle um die Schachkrone höchste Aufmerksamkeit. Der Wettkampf, den 1972 in Reykjavik Boris Spasski aus der Sowjetunion und der US-Amerikaner Bobby Fischer austrugen, war ein mediales Großereignis, da er in der Situation des Kalten Krieges zum Kampf der zwei Supermächte und ihrer Gesellschaftsentwürfe stilisiert wurde. Dabei fiel nicht ins Gewicht, dass die Kontrahenten alles andere als typische Vertreter des Kapitalismus und des Kommunismus waren, sondern vielmehr die Systeme ihrer Länder verabscheuten.

Politische Inanspruchnahme ist auch aus anderen Sportarten bekannt, und in der Tat ist Schach ein Sport. Es handelt sich um einen Wettkampf mit festen Regeln, die für alle Teilnehmer gleich sind. Es gibt neben den Weltmeisterschaften auch kontinentale und nationale Meisterschaften, es gibt neben Einzelwettbewerben auch Mannschaftswettbewerbe, organisiert in Ligen mit Auf- und Abstiegsregelungen. Professionelle Schachspieler trainieren täglich mehrere Stunden und richten wie andere Sportler ihre Lebensführung darauf aus, im Wettkampf Höchstleistungen vollbringen zu können. Und besonders stark ist beim Schach die von Hans Ulrich Gumbrecht als Merkmal des Spitzensports benannte «fokussierte Intensität» ausgeprägt, welche die Protagonisten während einer Partie alles Weltgeschehen jenseits der 64 Felder vergessen lässt. Schach ist folgerichtig als Sportart anerkannt, auch wenn das Moment der körperlichen Bewegung fehlt.

Schach ist aber weit mehr als ein Sport. Manche Meister betreiben Schach auch als Wissenschaft, indem sie sich über Wochen mit einer einzigen Stellung befassen, um die Wahrheit über diese herauszufinden, um nachzuweisen, dass Schwarz auf Gewinn steht oder dass Weiß mit präzisem Spiel ein Remis erreichen kann. Manche Partieanalysen ähneln in Ausführlichkeit und Tiefe wissenschaftlichen Aufsätzen, zu manchen Eröffnungsvarianten sind viele Regalmeter an Literatur geschrieben worden. Viele Spieler haben ihr Leben dem Studium des Schachs verschrieben, ohne seinen Geheimnissen jemals ganz auf den Grund zu kommen. Millionen Menschen hingegen spielen Schach einfach zum Vergnügen, ob in der Familie, mit Freunden, im Verein oder im Internet. Das Spiel ist auf der ganzen Welt, in jeder Altersgruppe und in allen sozialen Schichten beliebt, es kann auf jedem Spielniveau und in jeder Umgebung Freude bereiten, ob in der strengen Stille von Turniersälen oder in fröhlich-geräuschvoller Atmosphäre. Die Regeln des Spiels sind einfach und für jeden in kurzer Zeit zu lernen, die Komplexität hingegen ist immens: Mathematiker schätzen die Anzahl möglicher Schachpartien auf 10120, weit mehr als die Summe sämtlicher Atome im Universum. Ein volkstümliches Sprichwort bringt diese Vielschichtigkeit plakativ auf den Punkt: «Schach ist ein See, in dem eine Mücke baden und ein Elefant ertrinken kann.»

Manche sehen Schach jenseits von Sport, Spiel und Wissenschaft auch als eine Kunst an. Die Anzahl der Figuren ist beschränkt, geschlagene Figuren verlassen das Brett und kommen nicht wieder. Es kann also nicht wie bei vielen anderen Spielen darum gehen, Quantitäten aufzuhäufen, vielmehr müssen die vorhandenen Figuren so gut wie möglich zusammenwirken. Und wenn es gelingt, die Figuren zu vollkommener Harmonie zu führen, sei es durch effektvolle Kombinationen oder durch geduldiges Manövrieren, bereitet dies dem Kenner höchste ästhetische Befriedigung. Um es mit den Worten Marcel Duchamps zu sagen: «Durch meinen engen Kontakt mit Künstlern und Schachspielern bin ich zu dem persönlichen Schluss gekommen, dass zwar nicht alle Künstler Schachspieler, aber alle Schachspieler Künstler sind.» Allerdings benötigt der Schachspieler, will er ein Kunstwerk schaffen, stets auch einen Gegner, der sich daran beteiligt. Um dieses Hindernis zu umgehen, gibt es mit dem Problemschach eine eigene künstlerische Spielart des Schachs, bei der Stellungen entworfen werden, in denen es eine überraschende Mattführung oder einen versteckten Weg zum Remis gibt. Auch dafür gibt es regelmäßige Wettbewerbe, bei denen, ganz wie bei anderen Kunstpreisen auch, eine Jury Preise nach Ästhetik und Originalität vergibt.

Es ist diese Vielschichtigkeit des Schachspiels, die zu seiner globalen Popularität beiträgt und es zum bedeutendsten Spiel der Menschheitsgeschichte macht. Vor allem aber ist es der Typus des Schachmeisters, der die Phantasie angeregt hat. Schon bei Gottfried von Straßburg (frühes 13. Jahrhundert) vergisst der Titelheld Tristan über dem Schachspiel die Welt um sich herum; und im 20. Jahrhundert wurde der Schachspieler, der sich auf den 64 Feldern zurechtfindet, nicht jedoch im gesellschaftlichen Leben, zum Protagonisten mehrerer bedeutender literarischer Werke. Auch in Filmen begegnet man Schachmeistern häufig, hier jedoch zumeist in der Gestalt des überlegenen Strategen, der kalt und zynisch die Handlungen seiner Mitmenschen wie Schachzüge vorausberechnet. Und schließlich ist das Schachspiel, weil es als «Probierstein des Gehirns» (Goethe) gilt, ein wichtiger Referenzpunkt in brisanten gesellschaftlichen Debatten. Seit über Künstliche Intelligenz gesprochen wird, wird das Schachspiel als Indikator für die Leistungsfähigkeit und die Grenzen von Maschinen herangezogen. Schon im ausgehenden 18. Jahrhundert machte der «Schachtürke», ein angeblicher Schachautomat, Furore, ehe sein sehr menschliches Geheimnis entdeckt wurde. Als zum ersten Mal ein Schachweltmeister einen Wettkampf gegen einen Computer verlor, wurde dies in allen Medien als Meilenstein der technischen Entwicklung wahrgenommen, und seit das selbstlernende Programm AlphaZero innerhalb weniger Stunden die kulturelle Evolution des Schachspiels nachvollzog, wird über das Potenzial von Computern für komplexe Arbeitsprozesse anders diskutiert als zuvor. Nicht zuletzt bieten der Mangel an starken Schachspielerinnen und die Suche nach den Gründen dafür reichen Diskussionsstoff im Rahmen der Debatten über das Verhältnis der Geschlechter.

Trotz dieser vielfältigen Diskussionen um das Schachspiel sollte eins nicht vergessen werden: Schach ist im höchsten Maße abstrakt, es entzieht sich einer konkreten Anwendung und hat keinen direkten praktischen Nutzen. Der amerikanische Schriftsteller Raymond Chandler nannte Schach pointiert «die komplizierteste Vergeudung menschlicher Intelligenz, die sich außerhalb einer Werbeagentur nur finden lässt». Vielleicht hat aber gerade seine vermeintliche Nutzlosigkeit einen wesentlichen Anteil an der ungebrochenen Faszination des «königlichen Spiels».

2. Geschichte des Schachs

Ursprünge und Verbreitung

Der indische Herrscher Shihram war ein grausamer Tyrann, er lauschte gern dem Lob von Schmeichlern und achtete sein Volk gering. Da erfand ein weiser Brahmane das Schachspiel, um den Herrscher zu belehren, dass er allein, ohne die Unterstützung seiner Untertanen, nichts ausrichten könne; denn beim Schachspiel ist der König nur eine Figur von mehreren, zwar die wichtigste, aber nicht die stärkste. Der König verstand die Lektion und gewährte dankbar dem Brahmanen einen Wunsch. Dieser erbat sich lediglich Weizenkörner: für das erste Feld eines Schachbretts ein Korn, für das zweite zwei, für das dritte vier Körner und für alle weiteren jeweils das Doppelte des vorigen Feldes. Der König gewährte lachend diesen Wunsch, den er für bescheiden hielt, und erfuhr erst hinterher, dass alle Speicher seines Reiches nicht genug Getreide enthielten, um den Wunsch zu erfüllen. Der moralischen war eine mathematische Lektion gefolgt.

Dies ist eine bekannte Erzählung von der Erfindung des Schachspiels, aber nicht die einzige. In indischen, persischen, arabischen und europäischen Texten begegnen wir zahlreichen Legenden, wann, wo und aus welchem Anlass das Spiel erfunden wurde. Diese Legenden sagen mehr über die Vorstellungswelt ihrer Autoren aus als über die Anfänge des Schachs, und wenn man außerdem berücksichtigt, dass die heutigen Schachregeln das Ergebnis jahrhundertelanger Transformationsprozesse sind, so verliert die Suche nach dem einen Ursprung ihre Grundlage. Fakt ist, dass in Indien spätestens im 6. Jahrhundert unserer Zeitrechnung ein Spiel beliebt war, das Vorläufer der heutigen Schachfiguren benutzte: König, Wesir (Dame), Streitwagen (Türme), Elefanten (Läufer), Reiter (Springer) und Fußsoldaten (Bauern). Diese Figuren entsprechen der Gliederung einer indischen Armee und verweisen auf zwei Merkmale des Schachspiels: erstens auf seinen Charakter als abstrahierter Kampf zweier Heere, zweitens auf die Existenz unterschiedlicher Spielfiguren mit spezifischen Fähigkeiten. Die indischen Texte erwähnen neben dem Spiel für zwei Personen auch eine Variante für vier Personen, ohne dass geklärt werden kann, welche Version die ältere ist. Auch ist nicht eindeutig zu entscheiden, ob und wie lange das «chinesische Schach» Xiangqi und das «japanische Schach» Shōgi – beide werden bis heute in Turnierform gespielt – eine gemeinsame Entwicklungsgeschichte mit dem «europäischen Schach» teilen. Ein eindeutiger Vorläufer des Letzteren ist um 600 in Persien nachweisbar, dem die zentrale Rolle bei der Verbreitung des Spiels zukommt. Die persische Prägung des Spiels lässt sich auch heute noch an der Terminologie ablesen, so am Wort «Schach» selbst (= König) oder an «Roch» als Bezeichnung für den Turm (englisch «rook»; vgl. «Rochade»). Die Araber übernahmen das Spiel, als sie Persien eroberten, und durch sie gelangte Schach über das maurische Spanien und das Byzantinische Reich nach Europa.

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