Vollständige Ausgabe
Herausgegeben und eingeleitet von
Dirk Kaesler
Verlag C.H.Beck

Max Webers berühmte Studie zur Protestantischen Ethik hat bis heute nichts von ihrer Faszination eingebüßt. Ausgehend von der Frage, worin die Besonderheit der abendländischen Moderne besteht, beginnt Max Weber mit der Suche nach den Grundlagen und Voraussetzungen des modernen Kapitalismus. Er stößt auf eine spezifische, protestantische Ethik als eine der entscheidenden Wurzeln der typisch abendländischen Form des Wirtschaftens, die dem Kapitalismus eine ideelle Grundlage bot und am weitesten entgegenkam. In der vorliegenden vollständigen Ausgabe sind – neben den Originaltexten von 1920 – auch Webers leidenschaftliche Reaktionen auf die Kritiker seiner Schrift nachzulesen. Es ist die erste vollständige Sammlung aller Schriften Max Webers zur Rolle des Protestantismus bei der Herausbildung des modernen Kapitalismus.
Dirk Kaesler, geb. 1944, lehrte bis zu seiner Emeritierung 2009 zuletzt als Professor für Allgemeine Soziologie an der Philipps-Universität Marburg. Sein zentrales Arbeitsgebiet ist die Geschichte der deutschen und der internationalen Soziologie, die Auseinandersetzung mit ihren „Klassikern“ und „Hauptwerken“, sowie die wissenschaftliche Erforschung von Leben, Werk und Wirkung des deutschen Soziologen Max Weber. Bei C.H.Beck erschienen von ihm: «Klassiker der Soziologie» (Hrsg. 2 Bände) (5. Aufl. 2006), «Aktuelle Theorien der Soziologie» (Hrsg.) (2005).
Vorwort des Herausgebers
DIE PROTESTANTISCHE ETHIK UND DER GEIST DES KAPITALISMUS
Nachdruck der Fassung der von Max Weber redigierten Aufsätze von 1920
I. Das Problem
1. Konfession und soziale Schichtung
2. Der «Geist» des Kapitalismus
3. Luthers Berufskonzeption. Aufgabe der Untersuchung
II. Die Berufsethik des asketischen Protestantismus
1. Die religiösen Grundlagen der innerweltlichen Askese
2. Askese und kapitalistischer Geist
DIE PROTESTANTISCHEN SEKTEN UND DER GEIST DES KAPITALISMUS
Nachdruck der Fassung aus dem Jahr 1920
«KIRCHEN» UND «SEKTEN»
Nachdruck der Fassung aus dem Jahr 1906
DIE «ANTIKRITIKEN» MAX WEBERS
1. Kritische Bemerkungen zu den vorstehenden «Kritischen Beiträgen» (1907)
2. Bemerkungen zu der vorstehenden «Replik» (1908)
3. Antikritisches zum «Geist» des Kapitalismus (1910)
4. Antikritisches Schlusswort zum «Geist des Kapitalismus» (1910)
4.1 Antikritisches Resumé
4.2 Positives Resumé
Personenregister
Sie haben einige der spannendsten und folgenreichsten Texte vor sich, welche die wissenschaftliche Soziologie im Laufe ihrer vergleichsweise kurzen, etwa 150jährigen Geschichte erzeugt hat. Der deutsche Gelehrte Max Weber trug seine ersten Gedanken «über diese Dinge» bereits im Jahr 1897 im Seminar der Universität Heidelberg vor.[1] Mit der allmählichen schriftlichen Ausarbeitung seiner Gedankenketten begann er etwa ab dem Jahr 1900, das erste Mal veröffentlichte er fast fertige Versionen dieser Texte in den Jahren 1904 bis 1906.
Viele werden zu diesem Buch greifen, weil sie wissen, daß es sich um ein «wichtiges» Buch handelt. Warum gelten Texte, die vor hundert Jahren verfaßt wurden, auch heute noch als «wichtig»? Gibt es inzwischen nicht aktuellere, noch viel wichtigere Veröffentlichungen zum gleichen Thema? Wieso sind die hier versammelten Texte nicht schon längst «überholt»? Warum sollten Sie sich das Ihnen hier angebotene Leseabenteuer keinesfalls entgehen lassen?
Der wichtigste Grund, den ich nennen möchte, lautet: Sie halten in Ihren Händen den Beginn einer der Großen Erzählungen der Soziologie, mit denen Menschen auf der ganzen Welt sich seit genau hundert Jahren einen Reim auf ihre Geschichte und Zukunft zu machen versuchen. Mit diesem Buch wurde – zwar keineswegs zum ersten Mal, dafür jedoch mit der größten Wirkung – eine These in die Gedankenwelt der Menschen gesetzt, die bis heute an Vehemenz nicht viel verloren hat, vielleicht gegenwärtig sogar eher zunimmt. Diese hier nachzulesende These des Max Weber lautet: Einige jener Ideen, die radikale Protestanten des 16. und 17. Jahrhunderts auf der Suche nach einigermaßen verläßlichen Zeichen Gottes für ihre Erlösung von der ewigen Verdammnis entwickelten, wirkten entscheidend mit am Bau einer Welt von Glaubensinhalten und Verhaltensweisen. Dieser Gedankenkosmos seinerseits erbaute ganz allmählich jene Gehäuse der Hörigkeit und Unfreiheit des Menschengeschlechts auf dem ganzen Globus, die man unter der Überschrift «moderner Kapitalismus» zusammenfassen kann. Zum Kernbestand der Großen Erzählungen der Menschheit zählend, kann diese These, die üblicherweise als «Protestantismus-Kapitalismus-These» bezeichnet wird, im angloamerikanischen Kulturraum abgekürzt als «Weber-These» gehandelt wird, empirisch nicht widerlegt werden. Trotz ihres Alters von genau hundert Jahren kann sie daher auch nicht «überholt» werden.
Es kann sich noch aus einem ganz anderen, sehr viel persönlicheren Grund lohnen, diese Texte zu lesen: Sie wären nicht die ersten, die sich durch deren Lektüre selbst begegnen, die sich selbst und ihre Mitmenschen dadurch besser verstehen. Vielleicht haben auch Sie sich schon manchmal gefragt, wieso Sie Ihrem Beruf, Ihrer Arbeit, Ihrer Tätigkeit eine so große Bedeutung zumessen. Wieso Sie so viel Ihrer Freizeit, Ihres Soziallebens, Ihrer nichtberuflich bestimmten Neigungen opfern, nur Ihrer Arbeit wegen. Und wieso Menschen, die keinen Beruf haben, ihn noch nicht haben oder arbeitslos geworden sind, derart darunter leiden, daß sie diese Tatsache auf vielerlei Weise zu leugnen, zu verbergen suchen. Sie wären nicht die ersten, die nach der beendeten Lektüre der hier versammelten Texte eine bessere Antwort auf diese Fragen liefern können als davor.
Nicht nur die hier versammelten Texte sind bereits hundert Jahre alt. Ebenso lange hält auch die Auseinandersetzung mit ihnen an. Denn, kaum war diese Große Erzählung mit ihrer zentralen These in der Gedankenwelt der Menschheit etabliert, entwickelte sich eine Mehrzahl von Diskussionen und Mißverständnissen. Das bis heute entscheidende Mißverständnis war, Weber habe seine These als Gegenargument, als Anti-These zu jener des Karl Marx entwickelt. Wieso wurde die Webersche Große Erzählung von der «Wahlverwandtschaft» von Protestantismus und Kapitalismus als Gegenthese zur Großen Erzählung des Karl Marx vom Aufstieg und zwangsläufigen Ende des Kapitalismus und der mit diesem verflochtenen «bürgerlichen Gesellschaft» eingeordnet?
Marx hatte in seinem Hauptwerk Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie (1867–1894) das Entstehen der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung vor allem «materialistisch» zu erklären versucht, d.h. von der «realen Basis» der ökonomischen Verhältnisse ausgehend. Für Marx bildeten die Produkte des menschlichen Geistes, die Ideen, Gedanken, Glaubensüberzeugungen, Gesetze, Ordnungen, Theorien usw., den sogenannten «Überbau» über dieser realen Basis. Die eigentlich treibenden Kräfte der Entwicklung der Geschichte der ganzen Menschheit bis zum Kapitalismus – und darüber hinaus bis zur kommunistischen Gesellschaft – waren nach Marx sozialökonomisch bestimmt, ihre wesentlichen Komponenten nannte er «Produktivkräfte» und «Produktionsverhältnisse» («Produktionsweisen»). Diese beiden Komponenten schweben für Marx nicht frei in der Luft, sie werden vielmehr von sozialen Gruppen vertreten, die Marx «Klassen» nannte. Immer gäbe es, so die Große Erzählung des Karl Marx, die Klasse derer, die ein Interesse daran haben, die bestehenden Produktionsverhältnisse zu verteidigen, und eine andere Klasse, die im Namen neuer Möglichkeiten die grundsätzliche Veränderung dieser Strukturen fordert, letzten Endes deren Revolution. Im und durch den so entstehenden «Klassenkampf» zeige sich die Unvereinbarkeit von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Es sind also, das war eine der wichtigsten Botschaften des deutschen Privatgelehrten und Publizisten Karl Marx (1818–1883), der seinen Lebensunterhalt vor allem von den Kapitalerträgen seiner Förderer bestritt, die materiellen Bedingungen, allen voran die ökonomischen Bedingungen, die den Gang der Menschengeschichte zum Kapitalismus und darüber hinaus bestimmen. Die Texte, die diese Botschaft der Menschheit verkündeten, gehören ganz zweifellos zu den wirkungsmächtigen Büchern der Weltgeschichte.[2]
Als der deutsche Privatgelehrte und Publizist Max Weber, der seinen Lebensunterhalt die längste Zeit seines Lebens von den Kapitalerträgen seiner Familie bestritt, sich an jene Texte zu machen begann, die nun in Ihren Händen liegen, war die Große Erzählung des Karl Marx überaus gegenwärtig, sowohl in der deutschen Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie, die sich beide inhaltlich auf Marx bezogen, als auch in der zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskussion, vor allem in den Staats- und Wirtschaftswissenschaften. Auch Max Weber kannte und schätzte das Werk von Karl Marx, selbst dessen explizit parteipolitisch-ideologische Arbeiten, wie beispielsweise Das Kommunistische Manifest von 1847, von dem er sagte: «Dieses Dokument ist in seiner Art, so sehr wir es in entscheidenden Thesen ablehnen (wenigstens ich tue das), eine wissenschaftliche Leistung ersten Ranges.»[3]
Das grundlegende Mißverständnis der hier versammelten Texte als einer Anti-These zu Marx, das ihrem Verfasser bis heute bei vielen, die diese Texte zumeist nie wirklich gründlich gelesen haben, das Image des «Anti-Marx», eines «bürgerlichen Marx» eintrug, war eines, an dessen Entstehen Weber nicht ganz unschuldig war. An verschiedenen Stellen grenzte er sich vehement von einer materialistischen Analyse ab, so etwa, wenn es heißt: «Damit jene der Eigenart des Kapitalismus angepaßte Art der Lebensführung und Berufsauffassung ‹ausgelesen› werden, d.h.: über andere den Sieg davontragen konnte, mußte sie offenbar zunächst entstanden sein, und zwar nicht in einzelnen isolierten Individuen, sondern als eine Anschauungsweise, die von Menschengruppen getragen wurde. Diese Entstehung ist also das eigentlich zu Erklärende. Auf die Vorstellung des naiven Geschichtsmaterialismus, daß derartige ‹Ideen› als ‹Wiederspiegelung› oder ‹Ueberbau› ökonomischer Situationen ins Leben treten, werden wir eingehender erst später zu sprechen kommen. […] In diesem Falle liegt also das Kausalverhältnis jedenfalls umgekehrt als vom ‹materialistischen› Standpunkt aus zu postulieren wäre. Aber die Jugend solcher Ideen ist überhaupt dornenvoller, als die Theoretiker des ‹Ueberbaues› annehmen und ihre Entwicklung vollzieht sich nicht wie die einer Blume. Der kapitalistische Geist in dem Sinne, den wir für diesen Begriff bisher gewonnen haben, hat sich in schwerem Kampf gegen eine Welt feindlicher Mächte durchzusetzen gehabt.»[4]
Schon zu Lebzeiten mußte sich Max Weber mit dem Vorwurf auseinandersetzen, er habe die Bedeutung der Ideen, in diesem Fall also der Ideen und Glaubensinhalte der Protestanten für die Entwicklung des Kapitalismus, überbewertet, er sei ein «Idealist», ja gar ein «Ideologe» des Kapitalismus. In seiner unten aufgenommenen Replik auf seinen Kritiker Karl (Heinrich) Fischer verteidigte er sich: «Gar keine solche [Differenz zwischen ihm und Fischer. DK] besteht insbesondere, soweit ich sehen kann, bezüglich der Stellung zum historischen Materialismus. Wenn etwa seitens Andrer die Tragweite meiner Ausführungen für die Würdigung ‹ideologischer› kausaler Momente überschätzt worden ist, – so ist dies nicht meine Schuld. Es ist sehr gut möglich, daß, wenn meine Untersuchungen einmal zu Ende kommen sollten, ich zur Abwechslung ganz ebenso entrüstet der Kapitulation vor dem historischen Materialismus geziehen werde, wie jetzt der Ideologie.»[5] Und im Text selber merkte er an: «daß ich den Einfluß der wirtschaftlichen Entwicklung auf das Schicksal der religiösen Gedankenbildungen für sehr bedeutend halte und später darzulegen suchen werde, wie in unserem Falle die gegenseitigen Anpassungsvorgänge und Beziehungen beider sich gestaltet haben. Nur lassen sich jene religiösen Gedankeninhalte nun einmal schlechterdings nicht ‹ökonomisch› deduzieren, sie sind – daran läßt sich nichts ändern – eben ihrerseits die mächtigsten plastischen Elemente der ‹Volkscharaktere› und tragen ihre Eigengesetzlichkeit und zwingende Macht auch rein in sich.»[6]
Hinter dieser soziologischen Perspektive, die, von den Ideen der Menschen ausgehend, die historische, wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche und kulturelle Wirklichkeit zu verstehen und dadurch zu erklären sucht, steht das wissenschaftliche Programm Max Webers, wie er es bereits unmittelbar nach der Übernahme der Schriftleitung eben jener wissenschaftlichen Zeitschrift formulierte, in der die ersten Fassungen der hier aufgenommenen Texte gedruckt wurden. In dem gleichermaßen berühmten Aufsatz Die «Objektivität» sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis von 1904 formulierte Weber programmatisch[7]: «Denn es ist selbstverständlich eine der wesentlichsten Aufgaben einer jeden Wissenschaft vom menschlichen Kulturleben, diese ‹Ideen›, für welche teils wirklich, teils vermeintlich gekämpft worden ist und gekämpft wird, dem geistigen Verständnis zu erschließen. Das überschreitet nicht die Grenzen einer Wissenschaft, welche ‹denkende Ordnung der empirischen Wirklichkeit› erstrebt, so wenig die Mittel, die dieser Deutung geistiger Werte dienen, ‹Induktionen› im gewöhnlichen Sinne des Wortes sind. Allerdings fällt diese Aufgabe wenigstens teilweise aus dem Rahmen der ökonomischen Fachdisziplin in ihrer üblichen arbeitsteiligen Spezialisation heraus; es handelt sich um Aufgaben der Sozialphilosophie. Allein die historische Macht der Ideen ist für die Entwicklung des Soziallebens eine so gewaltige gewesen und ist es noch, daß unsere Zeitschrift sich dieser Aufgabe niemals entziehen, deren Pflege vielmehr in den Kreis ihrer wichtigsten Pflichten einbeziehen wird.»
Weil Weber im Laufe der Jahrzehnte der Auseinandersetzung über diese Scheinalternative – «idealistisch» oder «materialistisch» – die Geduld abhanden gekommen war, stellte er in seiner Einleitung zur Buchausgabe seiner Aufsätze zur Religionssoziologie von 1920/21 noch einmal programmatisch klar: «Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ‹Weltbilder›, welche durch ‹Ideen› geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.»[8]
Dennoch bleibt richtig und festzuhalten, und das belegen die unten versammelten Texte, daß Weber in seinen Analysen der Kulturbedeutung des Protestantismus die Wirkung von menschlichen Ideen mit Absicht sehr betont hat, man könnte sogar sagen, überbetont hat. Wie schon die obigen Zitate illustrieren, und der größte Teil seines wissenschaftlichen Werkes es deutlich macht, wäre es jedoch falsch, daraus zu schließen, daß Weber diese «idealistische» Perspektive durchgehend für die entscheidende, gar für die bessere gehalten hätte. Ganz im Gegenteil, wer das Gesamtwerk Webers im Auge hat, wird nicht umhin kommen, das durchgehend dominante sozial-ökonomische Erkenntnisinteresse Webers zu sehen. Wie hätte er es aber anders machen können, als immer wieder darauf hinzuweisen, daß die Perspektive, die er den Protestantismus-Aufsätzen zugrunde legte, eine absichtsvoll einseitige ist? Marianne Weber berichtet davon, daß Weber regelrecht darunter litt, daß nicht zuletzt unsere Sprache uns dazu zwingt, einen bestimmten Gedanken nur zu einer Zeit formulieren und erst im daran anschließenden Satz dessen Korrektur, bzw. den Widerspruch zu diesem Gedanken artikulieren zu können: «Welche Schranke des diskursiven Denkens, daß es nicht gestattet, mehrere zusammengehörige Gedankenreihen gleichzeitig auszusprechen! So muß denn vieles hastig in lange Schachtelsätze gepackt und was dort nicht Platz findet, in Fußnoten untergebracht werden.»[9]
Bevor weiter unten ein wenig über Geschichte, Wirkung und Einbettung dieser Texte berichtet wird, sollten Sie wissen, was Sie hier erwartet und wie Sie sich diesem Buch annähern sollten. Diese Texte, die es seit nun genau hundert Jahren im deutschsprachigen Raum gibt und die seitdem in alle Kultursprachen übersetzt worden sind, werden von manchen als eine Art großartiger Kathedrale behandelt, durch die ehrfurchtsvolle Besucher nur von eingeweihten, durch ihre intime Textkenntnis geweihte Führer geleitet werden können. Allein die lizenzierten Verehrer, Interpreten und Schriftgelehrten verwahren die Schlüssel zur wahren Kenntnis dieser heiligen Texte der Soziologie, die Laien bleiben besser demütig davor stehen.
Für diese wird, anstelle der Texte selbst, jene leichtverdauliche Häppchen-Kost serviert, wie sie handelsübliche «Führer» parat halten, die ihrer zahlreichen Käuferschaft vorgaukeln, daß selbst die dicksten und schwierigsten Bücher auf einen ganz einfachen Nenner zu bringen seien. So heißt es beispielsweise im weitverbreiteten Buch[10] meines ehemaligen Hamburger Kollegen aus der Anglistik, Dieter Schwanitz, unter der Überschrift «Der calvinistische Gottesstaat von Genf und der Geist des Kapitalismus», daß der Genfer Reformator Jean Calvin zum «protestantischen Ajatolla» geworden sei, als ein solcher einen Gottesstaat geschaffen habe, in dem Pflichterfüllung, Sittenreinheit, Mildtätigkeit und Askese durch Arbeit herrschten. Der Calvinismus, so heißt es weiter, paßte sehr gut zu den Handelsinteressen Genfs, zum Kapitalismus überhaupt und – mit einem etwas überraschenden geographischen Schlenker – zum amerikanischen (!) Erfolgsdenken. «Das wissen wir», so läßt uns Schwanitz wissen, «spätestens seit dem Buch des deutschen Kirchenvaters der Soziologie, Max Weber, über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus.»
So kann man das also auch machen! Die einzigen, die dabei Schaden nehmen, sind jene Menschen, die glauben, sie hätten durch solche vermeintlich witzigen Textchen irgend etwas von Max Weber und seiner «Protestantischen Ethik» verstanden. Aber vor allem leiden sie Schaden darunter, daß ihnen durch diese Häppchenfütterung die schönsten und eindrucksvollsten Passagen vorenthalten werden. Das eigene Lesen der nachfolgenden Texte vermeidet solchen Schaden.
Es geht darin um zwei recht große Zusammenhänge, es geht um Protestantismus und es geht um Kapitalismus. Vom Kapitalismus reden viele, zu Webers Zeiten wie zu unseren, auch wenn nicht immer ganz klar ist, was damit gemeint ist. Weiter unten führt Weber aus, daß folgende Aussage das «Leitmotiv» des Kapitalismus sei: «Der Mensch ist auf das Erwerben als Zweck seines Lebens, nicht mehr das Erwerben auf den Menschen als Mittel zum Zweck der Befriedigung seiner materiellen Lebensbedürfnisse bezogen.»[11] Und damit Menschen so weit kommen, daß sie im «Erwerben» den Zweck ihres Lebens sehen, haben sie etwas entwickelt, was Weber die «Berufspflicht» nennt, die Pflicht jedes Menschen, einen Beruf zu finden, zu ergreifen, auszufüllen, zu leben. Dieser «Beruf» ist nicht einfach nur «Job», wie wir das heute nennen würden, also eine Tätigkeit, die man «halt so» ausübt, wenn auch für Geld. Innerlich ist man von einer Tätigkeit wohl nicht ergriffen, wenn man beispielsweise die Toiletten in einer Autobahnraststätte putzt, im Schnellrestaurant die Tische abräumt oder in einer Großhalle Mobiltelefone zusammensetzt. Was Weber mit «Beruf» im Sinn hatte, ist eine Tätigkeit, die den ganzen Menschen erfaßt, mit Haut und Haar, mit Geist, Seele und Herz gewissermaßen, zumeist ein ganzes Leben lang. Einen Beruf also, der zur «Berufung» geworden ist. Und weil sich im Prinzip kein Mensch solcher «Berufspflicht» entziehen kann, entsteht eine Ordnung, eine wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche, kulturelle und mentale Ordnung, die Weber Kapitalismus nennt, oder genauer: moderner, rationaler Betriebskapitalismus. Und von dieser Ordnung sagt er in dem Text, der nun auf Ihre Lektüre wartet, in seiner starken Sprache mit ihren vielen eindrucksvollen Bildern: «Die heutige kapitalistische Wirtschaftsordnung ist ein ungeheurer Kosmos, in den der einzelne hineingeboren wird und für ihn, wenigstens als einzelnen, als faktisch unabänderliches Gehäuse, in dem er zu leben hat, gegeben ist. Er zwingt dem einzelnen, soweit er in den Zusammenhang des Marktes verflochten ist, die Normen seines wirtschaftlichen Handelns auf.»[12]
Mit diesem Zitat erklingt bereits das Leitmotiv jener Erzählung, die Max Weber hier vermitteln möchte: Wie konnte das geschehen, so fragt er sich, daß dieser «ungeheure Kosmos» des modernen Kapitalismus entstand, der für jeden Menschen zum «unabänderlichen Gehäuse» wurde, von dem er an anderer Stelle als einem «stahlharten Gehäuse» spricht? Wer Webers Antwort auf diese Frage hören will, wird sie in diesen Texten finden. Er sollte sich dabei Zeit nehmen und Weber geduldig durch die verschiedenen Etappen seines eigenen Fragens und Antwortens folgen, nicht die Geduld verlieren, wenn er sich zuweilen in recht speziellen Zusammenhängen zu verirren scheint, wenn er sich und seine Leserschaft beispielsweise mit diversen Spielarten des Protestantismus befaßt oder sich mit so manchen theologischen Spitzfindigkeiten plagt. Weber findet immer wieder zu seiner eigentlichen Frage zurück, der nämlich nach den Konstrukteuren dieses unabänderlichen Gehäuses des Kapitalismus.
Verfolgen Sie die Technik seines Arguments, von statistischen Daten und Anekdoten ausgehend, über die Heranziehung einer eindrucksvollen Fülle von Literatur bis hin zu sehr eigenen Schlußfolgerungen mit oft drastischen und plastischen Formulierungen. Und lassen Sie sich nicht zu sehr abschrecken von der ständigen Kursivsetzung (die in den ursprünglichen Druckfassungen auch noch leseunfreundlich «gesperrt» gesetzt war), versuchen Sie, die überaus zahlreichen Anführungszeichen ein wenig zu ignorieren, die eine immer wieder aufflammende gedankliche Relativierung signalisieren sollen, und vor allem scheuen Sie nicht zu sehr zurück vor diesem insgesamt doch recht schulmeisterlichen Ton und Gestus des Autors Weber. Dahinter steckt, wie leicht zu erkennen ist, ein geradezu inständiger Appell an seine Leserschaft, seine Akzentsetzungen zu beachten und, vor allem, sehr genau zu lesen. Und Sie sollten sich auch nicht zu sehr abschrecken lassen von seiner Rechthaberei, seiner Aggressivität und seinem Sarkasmus bei seinen Repliken auf seine Rezensenten. Das geradezu störrische Beharren auf der Richtigkeit seiner Einschätzungen, sein auftrumpfendes Pochen, wie es in der Bemerkung zum Ausdruck kommt, «daß ich nicht einen einzigen Satz meines Aufsatzes […] gestrichen, umgedeutet, abgeschwächt oder sachlich abweichende Behauptungen hinzugefügt habe»,[13] sind einerseits Ausdruck einer zeitgenössischen Streitkultur deutscher Gelehrter des frühen 20. Jahrhunderts, andererseits aber auch seinem Charakter als dem einer überaus reizbaren und geradezu streitsüchtigen Person geschuldet.
Wer sich von solchen stilistischen Eigenarten nicht vergraulen läßt, wird durch Passagen belohnt, die in ihrer sprachlichen Gewalt und ihrem Bilderreichtum noch lange im Gedächtnis bleiben werden. So etwa jene, mit der Weber zu zeigen versucht, was aus der noch ganz religiös geprägten klösterlichen Askese wurde, als sie auf die Straßen und Marktplätze vor den Klöstern trat: «Die christliche Askese, anfangs aus der Welt in die Einsamkeit flüchtend, hatte bereits aus dem Kloster heraus, indem sie der Welt entsagte, die Welt kirchlich beherrscht. Aber dabei hatte sie im ganzen dem weltlichen Alltagsleben seinen natürlich unbefangenen Charakter gelassen. Jetzt trat sie auf den Markt des Lebens, schlug die Türe des Klosters hinter sich zu und unternahm es, gerade das weltliche Alltagsleben mit ihrer Methodik zu durchtränken, es zu einem rationalen Leben in der Welt und doch nicht von dieser Welt oder für diese Welt umzugestalten.»[14] Oder jene, geradezu legendäre Stelle, in der Weber die Auswirkungen des vollkommen «entfesselten» Erwerbsstrebens für jene Menschen zu beschreiben sucht, die in dem «stahlharten Gehäuse» zu leben gezwungen sind: «Auf dem Gebiet seiner höchsten Entfesselung, in den Vereinigten Staaten, neigt das seines religiösethischen Sinnes entkleidete Erwerbsstreben heute dazu, sich mit rein agonalen Leidenschaften zu assoziieren, die ihm nicht selten geradezu den Charakter des Sports aufprägen. Niemand weiß noch, wer künftig in jenem Gehäuse wohnen wird und ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden, oder aber – wenn keins von beiden – mechanisierte Versteinerung, mit einer Art von krampfhaftem Sichwichtignehmen verbrämt. Dann allerdings könnte für die ‹letzten Menschen› dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit werden: ‹Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.›»[15] Solche und viele ähnliche Sätze warten auf diejenigen, die sich diesem Leseabenteuer aussetzen.
Wer nach beendeter Lektüre neugierig darauf geworden ist, wie bei Weber diese Geschichte weiterging, wird vielleicht Interesse an jenen Texten bekommen, in denen Weber nicht nur den modernen Kapitalismus als Baumeister dieses stahlharten Gehäuses ansieht, sondern auch noch eine zweite Ordnung wahrnimmt, die ebenfalls an diesem Gehäuse mitbaut: die Bürokratie. Am Ende seines Lebens malte Weber dann folgendes Bild von diesem Gehäuse, dem es an Düsternis nur wenig mangelt: «Eine leblose Maschine ist geronnener Geist. Nur daß sie dies ist, gibt ihr die Macht, die Menschen in ihren Dienst zu zwingen und den Alltag ihres Arbeitslebens so beherrschend zu bestimmen, wie es tatsächlich in der Fabrik der Fall ist. Geronnener Geist ist auch jene lebende Maschine, welche die bureaukratische Organisation mit ihrer Spezialisierung der geschulten Facharbeit, ihrer Abgrenzung der Kompetenzen, ihren Reglements und hierarchisch abgestuften Gehorsamsverhältnissen darstellt. Im Verein mit der toten Maschine ist sie an der Arbeit, das Gehäuse jener Hörigkeit der Zukunft herzustellen, in welche vielleicht dereinst die Menschen sich, wie die Fellachen im altägyptischen Staat, ohnmächtig zu fügen gezwungen sein werden, wenn ihnen eine rein technisch gute und das heißt: eine rationale Beamten-Verwaltung und -Versorgung der letzte und einzige Wert ist, der über die Art der Leitung ihrer Angelegenheiten entscheiden soll.»[16]
In den hier versammelten Texten gelangte Weber noch nicht so weit. Hier fragte er noch nicht nach der universalhistorischen Kulturbedeutung der Bürokratie, hier fragte er vor allem nach dem modernen Kapitalismus und dessen geistigen Voraussetzungen, den menschlichen Ideen also, die hinter dieser Ordnung stehen. Die hier versammelten Texte gehören in einen größeren Komplex, den man überschreiben kann mit «Die Kulturbedeutung des Protestantismus». Dazu zählen alle Texte, die hier versammelt sind, erstmals in einem einzigen Band, auch zur Würdigung der Erstpublikation vor genau hundert Jahren.
Am Beginn dieser Sammlung steht jener Text, dem sie ihren Namen verdankt, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Dieser Text hat eine schnell erzählte Geschichte: Eine erste Fassung veröffentlichte Weber in zwei Aufsätzen in der von ihm mitherausgegebenen wissenschaftlichen Zeitschrift, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, unmittelbar hintereinander. Den ersten Aufsatz mit dem Titel Die protestantische Ethik und der «Geist» des Kapitalismus. I. Das Problem im Heft 1 von Band 20, das im November 1904 erschien, die Fortsetzung mit dem Titel Die protestantische Ethik und der «Geist» des Kapitalismus. II. Die Berufsidee des asketischen Protestantismus im Heft 1 von Band 21, das im Juni 1905 veröffentlicht wurde.
Wie kam Weber auf dieses Thema? In mancher Hinsicht kann man sagen, daß dieses Thema vom möglichen Zusammenhang zwischen bestimmten christlichen Glaubensinhalten und dem sich entwickelnden Wirtschaftssystem des modernen Kapitalismus um die Wende vom 19. in das 20. Jahrhundert gewissermaßen «in der Luft lag». Es stand in dem ganz großen Zusammenhang, mit dem Weber sich schon von Beginn seines Studiums an in vielfältiger Weise beschäftigt hatte: den Auswirkungen und Ursachen des Kapitalismus. Weiter unten werde ich einige wenige Anmerkungen dazu machen, womit Weber sich vor diesen Texten beschäftigte und was ihn zu seiner Beschäftigung mit der Kulturbedeutung des Protestantismus führte.
Auch die Zuspitzung auf die Frage, ob und inwiefern der Protestantismus etwas mit dem modernen Kapitalismus zu tun haben könne, war keine gedankliche Erfindung Max Webers. In den Jahren um die Wende zum 20. Jahrhundert gab es eine ganze Reihe deutscher Gelehrter, die sich mit eben diesem Thema befaßten, mit den meisten von ihnen war Weber zudem persönlich und fachlich eng verbunden, so etwa mit Eberhard Gothein, Werner Sombart, Georg Jellinek und Ernst Troeltsch. An dieser Stelle seien allein ihre Namen genannt, wer weiterführende Angaben und Literaturhinweise sucht, sei auf die unten genannte Literatur verwiesen. Weiterhin dürfte Webers Interesse an gerade dieser Themenstellung geweckt worden sein, als im April 1903 ein Deutscher Historikertag in Heidelberg stattfand, den Weber besuchte und auf dem der mit Weber befreundete Heidelberger Staats- und Völkerrechtler Georg Jellinek sich sehr kritisch mit dem zweibändigen Unternehmen von Werner Sombart Der moderne Kapitalismus (1902) auseinandersetzte, das damals viel Aufsehen erregte. Wir wissen, daß auch Weber in mancherlei Hinsicht mit Sombarts Interpretation unzufrieden war, worauf manche Anmerkungen in den nachfolgenden Texten hinweisen, so daß er mit seiner eigenen Arbeit wohl auch zeigen wollte, daß er selbst die Ursprünge des modernen Kapitalismus um einiges besser erklären könne als sein Freund und Kollege Sombart. Ab etwa dem April des Jahres 1903 sammelte Weber zudem gezielt und konsequent Material für eine eigene Untersuchung; die Reisen in die Niederlande im Sommer und Herbst des gleichen Jahres dienten ihm nicht nur als «Befreiung und Ablenkung», wie es seine Witwe darstellte,[17] sondern er nutzte diese Wochen auch für seine intensiven Recherchen zum Protestantismus-Thema, wie die vielen Anmerkungen zu den holländischen Verhältnissen belegen.
Der erste publizierte Hinweis darauf, daß Weber einen Zusammenhang zwischen «bestimmten puritanischen Vorstellungen» und der Entstehung des kapitalistischen Geistes zu erkennen glaubte, findet sich im ersten Teil seiner Abhandlung über Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie, die im Jahr 1903 erschien und in der er anmerkt: «Eine eingehendere Untersuchung würde ergeben, daß diese Scheidung [zwischen Privatwirtschaft und öffentlicher Tätigkeit. DK] auf ganz bestimmte puritanische Vorstellungen zurückgeht, die für die ‹Genesis des kapitalistischen Geistes› von sehr großer Bedeutung gewesen sind.»[18] Weitere Hinweise darauf, daß sich in der Gedankenwelt Webers allmählich ein Bild von diesen Zusammenhängen formierte, finden wir auch in seinem erwähnten wissenschaftstheoretischen Aufsatz über Die «Objektivität» sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, der ebenfalls im Jahr 1904 im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik veröffentlicht wurde, im Band 19, einem Band also vor der Publikation des ersten Aufsatzes über die «Protestantische Ethik». In diesem ebenfalls klassischen und programmatischen Text Webers finden sich mehrere Hinweise sowohl auf die Notwendigkeit der «Zeichnung einer ‹Idee› der kapitalistischen Kultur»[19] als auch auf den für Weber so zentral bedeutsamen Unterschied zwischen «Kirche» und «Sekte»[20] und auf den Prädestinationsglauben Calvins[21].
Als der erste Aufsatz über die protestantische Ethik und den «Geist» des Kapitalismus in den deutschen Universitätsbibliotheken auf die Lesepulte gelegt wurde, weilte dessen Autor gerade in den Vereinigten Staaten von Amerika. Weber hatte den ersten Teil seines Vorhabens bereits Monate zuvor an den Tübinger Verleger Paul Siebeck geschickt, bevor er am 20. August 1904 an Bord des Überseedampfers Bremen ging. Das gedruckte Heft selbst erschien im November 1904, also genau zu jener Zeit, während der Weber in New York weilte, von wo er erst am 19. November wieder nach Europa zurückkehrte. Der zweite Teil dieses Aufsatzes erschien im Juni 1905 in Heft 1 des 21. Bandes, nur dort also hätte Weber seine frischen Amerika-Eindrücke einbauen können. Wenn man den Text und insbesondere die Fußnoten daraufhin durcharbeitet, was Weber im Zusammenhang mit seiner These vor seiner Amerikafahrt wußte und was er nach seiner Rückkehr von dort hinzufügte, so fällt auf, daß sich weder im Detail noch grundsätzlich irgend etwas geändert hat. Man könnte insofern sagen, daß Weber sich für diesen so famosen Text, der nicht zuletzt seine Berühmtheit im englischsprachigen Raum bis zum heutigen Tag begründete, geradezu als unbelehrbar zeigte. Allein in zwei Fußnoten aus dem zweiten Artikel verweist Weber auf amerikanische Erlebnisse. In der einen führt er an, daß er eine Quäkerpredigt gehört habe, «welche den ganzen Nachdruck auf die Interpretation von ‹saints› = sancti = separati legte».[22] Weber hatte diese «sehr gelehrte» Predigt aus dem Mund des «wackeren College-Bibliothekars» während seines Besuches des Haverford College bei Philadelphia gehört. In der anderen Fußnote fügt Weber – offensichtlich erst nachdem der Text bereits gesetzt worden war – eine weitere kleine Anekdote ein, mit der er den zwanghaften Charakter des rastlosen Erwerbsstrebens der echten Amerikaner – im Gegensatz zu den Deutschen! –, wie er es während seiner ausgedehnten Tour von vielen seiner Gesprächspartner berichtet bekommen hatte, illustrieren möchte:[23] «‹Könnte der Alte nicht mit seinen 75.000 $ jährlich sich zur Ruhe setzen? – Nein! Die Warenhausfront muß nun auf 400 Fuß verbreitert werden. Warum? – That beats everything, meint er. – Abends, wenn Frau und Töchter gemeinschaftlich lesen, sehnt er sich nach dem Bett, Sonntags sieht er alle 5 Minuten nach der Uhr, wann der Tag zu Ende sein wird: – so eine verfehlte Existenz!› – dergestalt faßte der (eingewanderte) Schwiegersohn des führenden dry-good-man (deutscher Abkunft) aus einer Stadt am Ohio sein Urteil über den letzteren zusammen, – ein Urteil, welches dem ‹Alten› seinerseits wiederum zweifellos als gänzlich unbegreiflich und ein Symptom deutscher Energielosigkeit erschienen wäre.»
Man wird wohl kaum behaupten wollen, daß Max Weber wegen dieser beiden Anekdoten, deren letztere vermutlich in Cincinnati spielte, drei Monate durch Nordamerika hätte fahren müssen. Auch als er die Texte von 1904/05 für die Buchausgabe von 1920/21 überarbeitete, ist nicht zu erkennen, daß ihn seine Amerika-Erlebnisse dazu motiviert hätten, seine Meinung über diesen Kontinent und seine Bewohner maßgeblich zu ändern. Die immer wiederholte Vorstellung also, daß es gerade die Amerika-Eindrücke gewesen seien, die Weber zu seiner famosen These geführt hätten, verdankt ihren Ursprung wohl vor allem einer oberflächlichen Lektüre jener Darstellung, die Marianne Weber von den Entstehungszusammenhängen der Protestantischen Ethik sechs Jahre nach Max Webers Tod publiziert hatte. Darin heißt es:[24] «die Beschäftigung mit kulturlogischer Problematik entfaltete sich nur als Nebenzweig von Webers neuer Produktion. Er begann im Jahre 1903, vermutlich in der zweiten Hälfte, gleich nach Abschluß des ersten Teils der Abhandlung über Roscher und Knies, seine bis dahin berühmteste Schrift über Die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus. Der erste Teil wurde noch vor der amerikanischen Reise, im Frühsommer 1904 abgeschlossen, der zweite erschien ein Jahr später und zeigt den Niederschlag der neuen Eindrücke. Sie hatten Weber nicht zum wenigsten deshalb so stark bewegt, weil er drüben noch überall die lebendigen Spuren der Ursprünge des modernen kapitalistischen Geistes und diesen selbst in ‹idealtypischer› Reinheit beobachten konnte. Wahrscheinlich hatte er sich schon länger, jedenfalls seit beginnender Genesung, mit der Idee dieses Werkes getragen. Vorstudie dazu mag u.a. die intensive Versenkung in Geschichte und Verfassung der mittelalterlichen Klöster und Orden während des römischen Aufenthalts gewesen sein. Diese Arbeit ist die erste einer Reihe von weitausgreifenden universalhistorischen Untersuchungen, in denen polar entgegengesetzte Erscheinungen, nämlich religiöse Bewußtseinsinhalte und wirtschaftlicher Alltag zusammengebracht und darüber hinaus: das Verhältnis des Religiösen zu allen wichtigen Strukturformen des gesellschaftlichen Lebens durchforscht werden.»
Schon aus dieser Darstellung hätte eigentlich deutlich sein können, daß Weber ganz allmählich seine Grundideen vor allem bereits während seiner mehrmonatigen Aufenthalte in Rom in den Jahren 1900–1904 entwickelt hatte, so daß ihm seine Eindrücke während der Amerika-Fahrt nur mehr als illustrierende Bestätigung dienten. Wer nachlesen will, was Weber aus seinen Amerika-Monaten machte, wird also nicht zu den ersten beiden Texten in dieser Sammlung greifen wollen, sondern sehr viel eher zum Aufsatz über «Kirchen» und «Sekten» [in Nordamerika] in seinen drei Varianten der Jahre 1906 und dann 1920. Insgesamt wollen wir festhalten, daß die hier vorliegenden Texte zwar an vielfältigen Stellen, gerade auch in den Antikritiken, auf die Reiseerlebnisse Max Webers in Amerika zurückgreifen, für die Entwicklung des eigentlichen Arguments über die von Weber gesehenen Zusammenhänge zwischen Protestantismus und Kapitalismus jedoch weitgehend irrelevant waren. Die immer wieder zu lesende Behauptung, daß Weber diese Zusammenhänge erst während seiner Fahrt durch Amerika gesehen hätte, entbehrt der sachlichen Grundlage. Max Weber sah diese Zusammenhänge möglicherweise zuerst in der Bibliothek des 1888 gegründeten Königlich-Preußischen Historischen Instituts in Rom, in der er während der Jahre 1900 bis 1901 saß und sich systematisch in Arbeiten über Geschichte, Verfassung und Wirtschaft der mittelalterlichen Klöster vertiefte, er sah sie zunehmend deutlicher im Lesesaal der Universitätsbibliothek in Heidelberg, und er begann sie zu formulieren an seinem Schreibtisch in Heidelberg oder an den Schreibtischen in den diversen Hotels und Häusern, in denen er während seiner zahlreichen Reisen in den Jahren 1900 bis 1904 abstieg. Ganz allmählich entstand so im Kopf dieses Gelehrten das Bild eines Zusammenhanges, den er mit Worten zu fassen suchte. Und diese Gedankenbilder sind es, die mit den hier gesammelten Texten weitergegeben werden sollen.
Tatsächlich von seiner Amerika-Reise profitierten vor allem jene zwei Zeitungsartikel, die Weber im April des Jahres 1906 kurz hintereinander in der Frankfurter Zeitung unter der Überschrift «Kirchen» und «Sekten» (13. April 1906 und 15. April 1906) veröffentlichte. Auch diese Texte werden in dieser Sammlung abgedruckt, weil man ihnen noch die besonders lebhafte Wirkung der Reiseeindrücke anmerkt. Weber publizierte diese kleinen Texte nur wenig verändert nochmals im Juni 1906 an anderer Stelle unter dem Titel «Kirchen» und «Sekten» in Nordamerika. Eine kirchen- und sozialpolitische Skizze.[25] Sie dokumentieren die soziologische Entdeckung Webers von der Bedeutung der Organisationsform der «Sekte», ohne die er die Gesellschaft der Vereinigten Staaten nicht zu erklären vermochte. Insbesondere mit diesem Begriff wollte er zeigen, daß diese Gesellschaft «nicht ein formloser Sandhaufen von Individuen» sei, «sondern ein Gewirr streng exklusiver, aber voluntaristischer Verbände».[26]
Auf die Veröffentlichung dieser so unterschiedlichen Texte folgte eine heftige und leidenschaftliche wissenschaftliche Diskussion. Weber hatte ganz offensichtlich einen Nerv seiner Zeitgenossen getroffen. Seine Position, das läßt sich generell sagen, fand bei den damaligen Theologen breite Zustimmung, bei Historikern und Nationalökonomen dagegen traf sie überwiegend auf Kritik. Die ersten Rezensionen, mit denen sich Weber auseinandersetzte, kamen von dem Geschichtsphilosophen Karl (Heinrich) Fischer (1879–1975) und dem Historiker Felix Rachfahl (1867–1925).
Mit dem Aufsatz Kritische Beiträge zu Professor Max Webers Ab handlung «Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus»[27] beurteilte Fischer die Arbeit Webers insgesamt als verdienstvoll, referierte sie ausführlich, stand ihr jedoch im Ganzen kritisch gegenüber. Webers Versuch einer «idealistischen Geschichtsdeutung» könne eine religiöse Begründung des Berufsgedankens nicht überzeugend nachweisen, auch sei das Zusammentreffen von Protestantismus und Kapitalismus historisch nicht überall gegeben; Fischer selber offerierte eine vermeintlich «psychologische» Erklärung der Zusammenhänge. Auf diese Kritischen Beiträge antwortete Weber seinerseits mit Kritischen Bemerkungen zu den vorstehenden «Kritischen Beiträgen» im gleichen Heft des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik.[28] Einigermaßen aufgebracht legte Fischer mit einem zweiten Aufsatz nach, Protestantische Ethik und «Geist des Kapitalismus». Replik auf Herrn Professor Max Webers Gegenkritik,[29] mit dem er nachzuweisen suchte, daß Webers Thesen nur dann Gültigkeit beanspruchen könnten, wenn sie alle anderen Faktoren der Entstehung des Kapitalismus ausschließen könnten. Weber beschränkte sich in seinen beiden Antworten, die hier abgedruckt werden, vor allem auf wenige Verdeutlichungen, Richtigstellungen und Zurückweisungen. Gerade darum sind diese Texte von hervorgehobener Wichtigkeit, kommt Weber doch hier selber beim Versuch zu Wort, die Anlage seiner Fragestellung, deren Ergebnisse und vor allem deren Begrenztheit zu betonen.
Der Kieler Historiker Felix Rachfahl, selbst Verfasser eines umfangreichen Werks über die reformatorischen Einflüsse auf Wilhelm v. Oranien[30] und insofern ausgewiesener Kenner der Materie, griff Weber sehr viel vehementer an als Fischer.[31] Rachfahls Abneigung gegen historisch unzureichend abgesicherte Kategorien und Konzepte hatte ihn schon früh gegen die sich in Deutschland gerade erst akademisch formierende Soziologie eingenommen. Auch aus seiner Kritik seien nur einige zentrale Punkte hervorgehoben: Zum einen erscheint ihm der Begriff des «kapitalistischen Geistes» als ungeeignet für die Erfassung der ökonomischen Motivation zum Kapitalismus, zum anderen tritt nach seiner Ansicht der Kapitalismus auch dort auf, wo ein «Geist» mit dem von Weber behaupteten religiösen Ursprung nicht nachzuweisen ist. Gerade diese Kritik weist auf ein durchgängiges Charakteristikum dieser frühen – und nicht nur dieser – Rezeption der Weberschen Studien hin: die Unkenntnis und das Unverständnis des Weberschen Konzeptes des «Idealtypus», das er zur gleichen Zeit im angeführten «Objektivitätsaufsatz» vorgestellt hatte. Nur so ist es zu verstehen, daß Rachfahl ihm genau das vorwirft, was Weber zum Prinzip seines Vorgehens gemacht hat, nämlich er habe nur einen Faktor der Entwicklung des modernen Kapitalismus untersucht, oder, daß sich seine Typen in der historischen Realität nicht finden ließen. Die hier abgedruckten Repliken Webers auf Rachfahl lassen an Schärfe und Verärgerung über die «durch oberflächliche Lektüre verschuldeten groben Irrtümer»[32] nicht zu wünschen übrig – er sieht darin nicht viel mehr als «sterile Polemiken».
Diese beiden zeitgenössischen Wissenschaftler werden hier deswegen angeführt, weil Weber auf beide direkt antwortete und weil diese Texte zum besseren Verständnis seiner Position hier mitaufgenommen wurden. Darüber hinaus jedoch läßt sich eine außerordentlich lang anhaltende weitere Wirkung dieser Aufsätze Webers konstatieren, sowohl in der Fassung der Jahre 1904/05 als auch der des Jahres 1920. Weber, der dieser Kontroverse schnell überdrüssig geworden war, wurde durch diese weitverbreiteten Schriften erstmals über seine Herkunftsdisziplinen der Agrargeschichte und Nationalökonomie hinaus bekannt, wobei diese Bekanntheit nicht ganz ohne Klippen war. Sie beruhte teilweise auf erheblichen Mißverständnissen und Fehlinterpretationen. Zum einen wurden die skrupulösen Eingrenzungen und Relativierungen Webers schlechthin nicht zur Kenntnis genommen: Vor allem die Interpretation als einer monokausalen, idealistischen Geschichtsdeutung hielt sich hartnäckig. Zum anderen wurden, wie erwähnt, die Weberschen Arbeiten außerordentlich rasch zu einem «Gegenbeweis» für jede materialistisch-marxistische Interpretation, zumindest der Geschichte des modernen Kapitalismus, gemacht.[33] Dazu kamen zahlreiche Mißverständnisse des methodischen Vorgehens, d.h. vor allem des idealtypischen Verfahrens, wie auch Mißverständnisse des Weberschen Begriffsapparats. Zusammenfassend muß Ephraim Fischoff zugestimmt werden, wenn dieser in seiner «Geschichte einer Kontroverse» zu dem Schluß kommt: «Im großen und ganzen hat die Mehrzahl seiner Kritiker die Richtung seines Interesses, die Begrenztheit des Zwecks der Untersuchung und die Behutsamkeit seines Vorgehens nicht verstanden.»[34]
Noch in einer anderen Hinsicht ist die Rezeption der «Protestantischen Ethik» von großer Bedeutung geworden. Sie leitete vor allem den Prozeß der Weber-Interpretation in den Vereinigten Staaten von Amerika ein und ist dafür bis heute auf weite Strecken im gesamten englischsprachigen Raum bestimmend geblieben. Schon ab 1910 wurde die Arbeit dort gelesen, etwa durch P. T. Forsyth, durch William J. Ashley (einen Lehrer von R. H. Tawney), durch H. D. Foster, durch Hermann Levy, durch Ch. Robinson, Preserved Smith u.a.[35] In den 1920er Jahren waren es dann vor allem der Wirtschaftshistoriker R. H. Tawney[36] und der Chicagoer H. H. Maurer, der in Marburg promoviert hatte, die für eine Verbreitung der sogenannten «Weber-These» sorgten. Von besonderer Bedeutung sollte dann der Harvarder Soziologe Talcott Parsons werden, der 1925 nach Heidelberg gekommen war, dort bei Edgar Salin über die Kapitalismustheorien bei Max Weber, Karl Marx und Werner Sombart promoviert hatte[37] und die «Protestantische Ethik» 1930 ins Englische übersetzte.[38] Gerade diese Übersetzung und ihr Übersetzer stehen an zentraler Stelle für die amerikanische Weber-Rezeption der ersten Phase. Daß auch Parsons die «Protestantische Ethik» für die Widerlegung der Marxschen Theorie in einem bestimmten historischen Fall ansah, hat bis heute anhaltende ideengeschichtliche Wirkungen für das Weber-Bild im gesamten englischsprachigen Raum gehabt.
Mit den Auseinandersetzungen im Anschluß an die Veröffentlichung der Zeitschriftenaufsätze aus den Jahren 1904 bis 1906 wollte Max Weber es eigentlich sein Bewenden lassen. In den Jahren nach 1910 wandte er sich (fast) vollkommen von diesen Themen ab. In den anschließenden Jahren bis zu seinem frühen Tod lenkte er seine schöpferische Kraft und seinen sprudelnden Einfallsreichtum auf sehr unterschiedliche Felder, die hier allein stichwortartig aufgezählt seien: ausgedehnte Reisen und mehrmonatige Aufenthalte außerhalb Deutschlands, leidenschaftliche hochschulpolitische Debatten, unermüdliches Engagement in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, intensive Auseinandersetzungen mit wissenschaftstheoretischen Problemen, nach Beginn des Ersten Weltkriegs überzeugter Wehrdienst als Disziplinaroffizier bei der Reservelazarettkommission in Heidelberg, breit angelegte Editionstätigkeit für das Großunternehmen des Grundriss der Sozialökonomik, intensive Auseinandersetzungen mit den großen, außereuropäischen Kulturreligionen Chinas, Indiens und des Vorderen Orients, vielfältiges Engagement im Arbeitsausschuß für Mitteleuropa, ausgedehnte journalistische Tätigkeit insbesondere für die Frankfurter Zeitung, aufwendige Berufungsverhandlungen mit der Universität Wien und probeweise Übernahme des dortigen Lehrstuhls für Politische Oekonomie, vehementes Engagement in der Deutschen Demokratischen Partei, und zudem auch noch einigermaßen komplizierte Verwirrungen seines Privatlebens.[39] Ihren schriftlichen Niederschlag fanden die meisten dieser überaus breitgefächerten Interessensgebiete Max Webers jener Jahre in zahlreichen Publikationen.[40]
Für unseren Zusammenhang von hervorgehobener Bedeutung ist die Tatsache der allmählichen Erarbeitung und sukzessiven Veröffentlichung der Weberschen Aufsätze zur Wirtschaftsethik der WeltreligionenArchiv für Sozialwissenschaft und SozialpolitikGrundriss der SozialökonomikWirtschaft und Gesellschaft