Der schwarze Revolutionär
C.H.Beck
Er galt als der «zornigste Mann Amerikas±. Wohl kein anderer hat sich so radikal und sprachgewaltig für die Rechte der Schwarzen eingesetzt wie Malcolm X. Bis heute werden die USA in regelmäßigen Abständen von Rassenunruhen erschüttert – ein Phänomen, das ohne die lange Geschichte des amerikanischen Rassismus nicht zu verstehen ist. Malcolm X prangerte den weißen Rassismus seiner Zeit gnadenlos an und trat für das Recht der Schwarzen auf bewaffnete Selbstverteidigung ein. Daher zählt er nicht nur zu den bekanntesten, sondern auch zu den umstrittensten Personen der amerikanischen Geschichte. Am 21. Februar 1965 wurde er in New York ermordet. Britta Waldschmidt-Nelson erzählt dieses revolutionäre Leben und führt in die Geschichte des schwarzen Amerika ein. Dabei stützt sie sich auf die neueste Forschung, neu erschlossenes Quellenmaterial sowie auf Gespräche mit Weggefährten und Angehörigen.
Britta Waldschmidt-Nelson ist stellvertretende Direktorin des Deutschen Historischen Instituts in Washington und Professorin für amerikanische Geschichte und Kultur an der LMU München.
EINLEITUNG
1.
UP FROM SLAVERY:
Die Geschichte der Afroamerikaner
bis zu den 1920er Jahren
2.
MALCOLM LITTLE:
Kindheit und Jugend eines schwarzen
Jungen im weißen Amerika (1925–1940)
3.
DETROIT RED:
Ein neues Leben und eine
kriminelle Karriere (1940–1946)
4.
VON «SATAN» ZU «MALCOLM X»:
Gefängnisaufenthalt und
Bekehrung zum Islam (1946–1952)
5.
MINISTER MALCOLM:
Der Aufstieg von Malcolm X in der
Nation of Islam (1952–1958)
6.
KRONPRINZ UND MEDIENSTAR:
Malcolm als Stellvertreter Elijah Muhammads
und Gegenspieler Martin Luther Kings (1959–1963)
7.
IKARUS:
Malcolms politische Interessen und sein
Bruch mit der Nation of Islam (1963–1964)
8.
EL-HAJJ MALIK EL-SHABAZZ:
Malcolms spirituelle Neuorientierung und sein
Engagement für Bürger- und Menschenrechte (1964–1965)
9.
DAS ENDE EINES NEUANFANGS:
Malcolms letzte Wochen und seine Ermordung (1965)
10.
EPILOG:
Die Folgen von Malcoms Tod
und sein Vermächtnis (1965–2015)
Danksagung
Anmerkungen
Zeittafel
Bibliographie
Abkürzungsverzeichnis
Bildnachweis
Register
In ihrem Buch The Heart of a Woman schrieb die bekannte afroamerikanische Dichterin Maya Angelou über ihre erste Begegnung mit Malcolm X, seine unglaubliche Ausstrahlung und maskuline Kraft habe sie wie ein heißer Wüstensturm berührt, der jede einzelne Pore ihrer Haut durchdrang. Dreißig Jahre später, 2011, knüpfte der schwarze Schriftsteller Touré in seiner Besprechung einer neuen Malcolm-X-Biographie an diesen Gedanken mit folgenden Worten an: «Malcolm X hatte so eine knochentiefe, in die Eingeweide eindringende Wirkung auf Amerika. Er ging jedem unter die Haut.»[1] Ohne Zweifel war Malcolm X ein Mann, der die Menschen in besonderer Weise beeindruckte, der sie aufrüttelte und bei manchen eine radikale Veränderung ihrer Lebenseinstellung bewirkte. Tausende bewunderten und liebten ihn, andere hassten und fürchteten ihn, aber kaum jemand konnte ihm gegenüber gleichgültig bleiben.
Auch ein halbes Jahrhundert nach seiner Ermordung am 21. Februar 1965 gehört Malcolm X weiterhin zu den berühmtesten und zugleich kontroversesten Figuren der amerikanischen Geschichte. Während die Mehrheit der Afroamerikaner und Afroamerikanerinnen ihn als großen Helden und Begründer eines neuen schwarzen Selbstwertgefühls verehrt, sehen viele weiße Amerikaner und Amerikanerinnen in ihm einen von religiösem Fanatismus und Rassenhass getriebenen Demagogen.[2] Statt im Laufe der Jahrzehnte allmählich zu verblassen hat die Erinnerung an Malcolm X eher eine gegenteilige Entwicklung erlebt. Die intensiven Debatten über Rassenpolitik und kulturelle Authentizität in den 1980er und 1990er Jahren haben dem Gedenken an ihn sogar eine phänomenale Renaissance beschert.[3] Bereits 1986 wurde die von dem Komponisten Anthony Davis geschriebene Oper X, The Life and Times of Malcolm X mit großem Erfolg in New York City uraufgeführt, Spike Lees Hollywood-Film Malcolm X von 1992 wurde ein internationaler Hit und Neuauflagen von Malcolms Reden auf CDs sind seither Bestseller; besonders provokative Passagen werden vielfach in der Rap- und Hip-Hop-Szene zitiert. Der Verkauf aller Arten von «X»-Produkten ist inzwischen ein weltweites Millionen-Dollar-Geschäft. Viele schwarze Theater- und Tanzgruppen, Schulen, Kulturzentren, Straßen und öffentliche Grünanlagen wurden nach ihm benannt und allein in den letzten zehn Jahren sind rund drei Dutzend neue Bücher über ihn erschienen. Als 2009 Barack Obama, der erste afroamerikanische Präsident der USA, sein Amt antrat, wurden Poster und Buttons verkauft, die ein Gruppenporträt von Malcolm X, Martin Luther King Jr. und Barack Obama mit dem Titel Fulfilling the Dream zeigten. Letzteres ist vor allem deshalb bemerkenswert, da Malcolm X seine größte Bekanntheit gerade als Gegenspieler des für Rassenintegration eintretenden und Gewalt strikt ablehnenden Martin Luther King erreichte. Diese Tatsache scheint in der kollektiven Erinnerung zunehmend verdrängt zu werden.[4]
Im Leben von Malcolm X spiegeln sich in vielerlei Weise die angespannten, oft destruktiven Rassenbeziehungen der amerikanischen Gesellschaft seiner Zeit wider. Auf dem Höhepunkt seiner öffentlichen Karriere, in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren, wurde er vielfach als «der zornigste Mann Amerikas» bezeichnet.[5] Nach einer von Armut und Instabilität geprägten Jugend und einer kriminellen Karriere, die im Gefängnis endete, gelang ihm ein phänomenaler Aufstieg innerhalb der schwarz-nationalistischen Religionsgemeinschaft Nation of Islam (NoI), als deren nationaler Sprecher er eine bekannte Figur im öffentlichen Leben der USA wurde. Wie er den weißen Rassismus gnadenlos anprangerte, zur afroamerikanischen Solidarität aufrief und für das Recht auf bewaffnete Selbstverteidigung eintrat, begeisterte Millionen von Schwarzen. Gleichzeitig bestürzten seine Auftritte viele Weiße. Nicht zuletzt aus Furcht vor dem von ihnen als bedrohlich empfundenen schwarzen Radikalismus kamen sie den Forderungen von moderateren Anführern der Bürgerrechtsbewegung (wie King) weiter entgegen, als dies sonst der Fall gewesen wäre. Als einer der geistigen Väter der Black is Beautiful-Bewegung der 1960er Jahre trug Malcolm X zudem maßgeblich dazu bei, das Selbstwertgefühl schwarzer Amerikaner und ihre Einstellung gegenüber der eigenen Rasse positiv zu verändern. Galt «Blackness» (Schwarz-Sein) vorher vielen als Merkmal von Minderwertigkeit und Unterlegenheit, so wurde es nun als Zeichen von Schönheit und Grund zum Stolz auf das eigene Erbe gesehen.
Bei dieser Transformation des schwarzen Selbstbewusstseins spielten natürlich auch andere Faktoren eine Rolle, vor allem die Erfolge der Bürgerrechtsbewegung und der große Einfluss Martin Luther Kings. Von vielen jüngeren Schwarzen, insbesondere im Norden der USA, wurde der aus Georgia stammende King allerdings oft als ein zu friedfertiger und zu sehr auf das Wohlwollen der Weißen bedachter christlicher Idealist angesehen, den man mit einer ländlichen oder kleinstädtischen Lebenssituation im Süden assoziierte, auch wenn Kings Heimatstadt Atlanta zu den bedeutendsten Großstädten der USA zählt. Malcolm X dagegen, der seine Kindheit in einer deutlich ländlicheren Gegend als King verbracht hatte, wurde stets als ein Produkt des urbanen schwarzen Ghettos angesehen. Sein Zorn und seine Entrüstung spiegelten die Emotionen vieler Schwarzer gegenüber dem Rassismus in den amerikanischen Großstädten des Nordens wider, wo es zwar keine gesetzliche Rassentrennung gab, dafür jedoch eine Form des institutionalisierten Rassismus, die sich in de-facto-Segregation der Wohnbezirke und Schulen und einer allgegenwärtigen Benachteiligung der Schwarzen manifestierte.
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts lebte die Mehrheit aller Afroamerikaner in Großstädten, und viele schwarze Jugendliche, insbesondere junge Männer, gerieten hier in eine Abstiegsspirale aus mangelhaften Bildungschancen, Armut, Arbeitslosigkeit, Drogen und Kriminalität. Auch heute noch befindet sich fast ein Viertel (24 Prozent) aller schwarzen Männer zwischen 18 und 28 Jahren in den USA entweder im Gefängnis oder verbüßt eine Bewährungsstrafe, meistens wegen Drogendelikten.[6] Die desolate Lage dieser jungen Afroamerikaner war eines der zentralen Themen von Malcolm X. Seine Kritik an den weißen Machthabern war stets mit der Aufforderung an seine schwarzen Zuhörer verbunden, sich aus Abhängigkeiten zu befreien und ihre Rechte aktiv zu verteidigen. So rief er seine Zuhörer immer wieder dazu auf, mit allen notwendigen Mitteln für Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen, und die Formulierung «by any means necessary» wurde sein bekanntestes Zitat, das bis heute häufig auf Postern, für Buchtitel sowie in Texten und Liedern verwendet wird.[7] Insofern war und ist Malcolm X eine ideale Projektionsfläche für die aufgestaute Wut und Frustration, aber auch für die Hoffnung schwarzer Ghettobewohner. Bei der jüngeren Generation gilt er, nicht King, als die zentrale Symbolfigur der eigenen kulturellen Identität.
Sowohl bei der afroamerikanischen Bevölkerung als auch bei einer wachsenden Zahl weißer Jugendlicher ist Malcolm X heute weltweit populärer, als er es zu Lebzeiten war. Allerdings überwiegt bei vielen der jugendlichen «X»-Anhänger das Bild des radikalen, alle Weißen schonungslos verteufelnden Rebellen. Die Wandlung Malcolms zu einem für allgemeine Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit eintretenden Humanisten, die er nach seiner Loslösung von der Nation of Islam (1964) und seiner Pilgerfahrt nach Mekka durchmachte, sowie die neue, wesentlich komplexere Weltsicht des sogenannten post-Mekka Malcolm findet vergleichsweise wenig Beachtung. Gerade diese Kehrtwendungen und Neuanfänge im Leben des Malcolm X sind jedoch für das Verständnis seiner historischen Bedeutung entscheidend. Die beeindruckende Dynamik dieses Mannes, sein Intellekt, seine Offenheit, sein Humor und die Bereitschaft, sich vollkommen rückhaltlos für den schwarzen Freiheitskampf einzusetzen, machen ihn zu einer der größten und zugleich vielschichtigsten afroamerikanischen Führungspersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts.
Das wichtigste Dokument, das die Geschichte von Malcolm X über ein halbes Jahrhundert lang nach seiner Ermordung lebendig gehalten und in aller Welt bekannt gemacht hat, ist seine zusammen mit Alex Haley verfasste Autobiographie. Dieses Buch ist eine erzählerische Meisterleistung und wurde über sieben Millionen Mal verkauft sowie in viele Sprachen übersetzt, darunter Deutsch, Französisch, Arabisch, Indonesisch und Japanisch. Es gilt zudem als das persönliche und politische Testament Malcolms und gehört mittlerweile zum etablierten Kanon der afroamerikanischen Literatur und Geschichte.[8] Tausende von Lesern konnten sich mit Hilfe des Buches auch noch Jahrzehnte nach seinem Tod mit ihm identifizieren. Für einige wurde die Lektüre sogar zur lebensverändernden Erfahrung. Insbesondere für junge schwarze Männer, die Malcolms Mut, seine intellektuelle Kraft und seine Entschlossenheit im Kampf gegen die Unterdrückung der Schwarzen bewunderten, ist die Autobiographie zum zentralen Baustein ihres politischen Erbes und ihrer kulturellen Inspiration geworden. Dabei übersehen allerdings viele Leser, dass dieser Text keine historisch korrekte Faktenwiedergabe ist, sondern – wie alle Autobiographien – die Konstruktion eines Selbstbildnisses darstellt. Es ist dem Genre inhärent, dass aus persönlichen oder politischen Gründen bestimmte Dinge ausgelassen, andere hinzugefügt oder Details inkorrekt wiedergegeben werden. Im Fall von Malcolms Autobiographie spielen zudem nicht nur seine eigenen Intentionen, sondern auch die des afroamerikanischen Mitautors Alex Haley eine Rolle. Der aus der schwarzen Mittelschicht stammende Journalist Haley, der über zwanzig Jahre lang in den US-Streitkräften und der Coast Guard gedient hatte, stand als amerikanischer Christ dem schwarzen Nationalismus von Malcolm X durchaus skeptisch gegenüber, bewunderte zugleich jedoch dessen Charisma und persönliche Integrität. Zwar betont Haley in seinem fast achtzig Seiten langen Nachwort, dass er in der Autobiographie nur das niederschrieb, was Malcolm ihm in mehr als fünfzig Interviewsitzungen erzählt hatte, aber neuere Forschungen haben gezeigt, dass es sich bei diesem Schreibprozess nicht um ein klassisches Diktat, sondern vielmehr um eine kreative Kooperation beider Männer handelte, in der Haleys Einfluss auf die Struktur der Erzählung von nicht zu unterschätzender Bedeutung war.[9]
Die Autobiographie von Malcolm X wird daher im Folgenden als Ausgangsbasis genommen, jedoch gestützt auf vorhandene Quellen und Sekundärliteratur zugleich auch ergänzt und korrigiert. Aufbauend auf einem knappen Überblick zur afroamerikanischen Geschichte schildern die folgenden Kapitel den Lebensweg dieses bedeutenden Mannes und verdeutlichen seine Metamorphosen vom guten Schüler zum drogensüchtigen Kriminellen, zum Prediger und nationalen Sprecher der separatistischen Nation of Islam, zum internationalistischen Humanisten und schließlich zum «Märtyrer». Dabei werden sein öffentliches Auftreten und sein politischer Einfluss ebenso geschildert wie seine sozialen und religiösen Überzeugungen, seine persönlichen Beziehungen und seine inneren Konflikte. Eine Diskussion des kulturellen und politischen Erbes von Malcolm X sowie des Mythos, der ihn seit seiner Ermordung umgibt, runden dieses Buch ab. Erst wenn sein Vermächtnis in den Kontext der sich verändernden Situation der Afroamerikaner seit den 1960er Jahren eingebunden wird, lässt sich verstehen, warum Malcolm X bis heute und weit über die Grenzen Amerikas hinaus so viele Menschen anspricht und Diskussionen über die Bedeutung von Freiheit und Gleichberechtigung inspiriert.
Als meine Mutter mit mir schwanger war, so erzählte
sie mir später, kam eines Nachts eine Horde in weiße
Kutten gehüllte Ku-Klux-Klan-Reiter zu unserem Haus
in Omaha, Nebraska, galoppiert. Sie umringten das
Haus, hielten ihre Gewehre und Flinten im Anschlag und
brüllten, mein Vater solle herauskommen. Meine Mutter
ging zur Tür und öffnete sie. Dort stehend, wo alle sehen
konnten, dass sie ein Kind erwartete, sagte sie ihnen,
dass sie alleine mit ihren drei kleinen Kindern sei und
dass mein Vater fort war, um in Milwaukee zu predigen.
Die Klansmänner stießen Drohungen und Warnungen
aus, dass wir aus der Stadt verschwinden sollten. ….
Weitere Drohungen rufend, gaben sie schließlich ihren
Pferden die Sporen, galoppierten um unser Haus und
schlugen alle Fensterscheiben mit ihren Gewehrkolben
ein. Dann ritten sie mit ihren lodernden Fackeln wieder
fort, hinaus in die Nacht, so plötzlich, wie sie gekommen
waren.
Malcolm X, Autobiography[1]
Mit dieser nächtlichen Überfallszene beginnt die Autobiographie von Malcolm X. Es ist ein dramaturgisch perfekter Anfang für seine Lebensgeschichte, zeigt er doch die Bösartigkeit und Brutalität der weißen Rassisten gegenüber einer schwangeren schwarzen Frau mit ihren Kindern. Malcolms Familie erscheint als Opfer weißer Gewalt, der man sich entgegenstellen muss. Letzteres, so impliziert die Szene, tat Malcolm im Grunde sogar schon im Mutterleib. Die Geschichte hat allerdings einen Haken: Späteren Aussagen von Malcolms Mutter und seiner Tante Rose zufolge hat dieser Vorfall so nie stattgefunden, sondern ist vermutlich entweder eine Erfindung oder eine falsche Erinnerung Malcolms.[2] Obwohl das bereits seit 1992 bekannt ist, wird die Überfallszene weiterhin in fast allen Schriften zur Biographie von Malcolm X als historische Tatsache präsentiert. Dies wiederum zeigt, wie glaubhaft die Szene amerikanischen Lesern erscheinen muss.[3] Besonders afroamerikanische Leser, die sich der langen Geschichte von rassistischer Gewalt und Unterdrückung in Amerika bewusst sind, haben kaum Anlass, an Malcolms Darstellung zu zweifeln. Schließlich erlebte der Ku Klux Klan (KKK) in den 1920er Jahren tatsächlich eine neue Blüte und hatte allein in Nebraska zur Zeit von Malcolms Geburt rund 45.000 Mitglieder, die sowohl öffentliche Paraden abhielten als auch mit nächtlichen Kreuzverbrennungen und anderen Terroraktionen die schwarze Bevölkerung einschüchterten.
Der Angriff auf Malcolms Familie kann somit ungeachtet seiner historischen Authentizität als Symbol für weißen Rassismus und schwarzen Widerstand verstanden werden, deren Spannungsverhältnis das Grundelement im Leben von Malcolm X darstellt. Um auch nur ansatzweise nachvollziehen zu können, welche Bedeutung dies für seinen Werdegang hatte und warum das Verhältnis von weißen und schwarzen Amerikanern schon lange vor der Geburt Malcolms vielfach von gegenseitigem Misstrauen, Furcht, Verachtung und manchmal sogar blankem Hass geprägt war, ist es nötig, einen kurzen Blick auf die Geschichte dieser Beziehung zu werfen.[4]
Bereits 130 Jahre vor dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und der Gründung der USA (1776) existierte die Sklaverei als legale Institution auf dem nordamerikanischen Kontinent. In den spanischen Kolonien war es seit dem 16. Jahrhundert üblich, Afrikaner als unfreie Arbeitskräfte zu importieren. Die ersten afrikanischen Sklaven in Nordamerika wurden von Lucas Vásques in das Gebiet des heutigen North Carolina gebracht, als er 1526 dort eine spanische Siedlung aufbauen wollte. Der Versuch scheiterte allerdings nach wenigen Monaten kläglich, nicht zuletzt deshalb, weil die mitgebrachten Sklaven rebellierten und bei in der Nähe lebenden Indianerstämmen Zuflucht fanden.[5] Zwei Jahre später scheiterte eine weitere spanische Exkursion unter Pánfilo de Narváez. Von den dreihundert Mann, die im April 1528 an der Westküste Floridas in der Nähe des Rio de las Palmas gelandet waren, um das Gebiet zu kolonialisieren, erreichten nach einem Jahr nur vier Überlebende Mexiko. Zu diesen zählte der afrikanische Sklave Estevanico, der eine Dekade später die Expedition von Fray Marcos di Nizza durch das heutige Gebiet von Arizona und New Mexico führte. Zu den ersten Bewohnern der 1565 in Florida schließlich erfolgreich etablierten spanischen Siedlung St. Augustin zählten nicht nur schwarze Sklaven, sondern auch eine Reihe afrikanischer Farmer und Handwerker. Schwarze spielten somit bereits in der Frühphase der europäischen Besiedlung Amerikas eine wichtige Rolle.
Die erste britische Kolonie, die afrikanische Arbeitskräfte importierte, war Virginia. Im August 1619 ging ein holländisches Handelsschiff bei Jamestown vor Anker, und der Kapitän verkaufte zwanzig Afrikaner, die er vorher von einem portugiesischen Schiff übernommen hatte, an die britischen Kolonisten. Deren Aufzeichnungen zufolge waren diese zwanzig Schwarzen jedoch keine Sklaven sondern «indentured servants», d.h. Zwangsarbeiter, die nach einem bestimmten Zeitraum – in der Regel sieben Jahre – freigelassen wurden. Es gab im 17. Jahrhundert auch zahlreiche weiße Zwangsarbeiter in Virginia und den anderen britischen Kolonien in Nordamerika. Manche waren deportierte Verbrecher, die meisten jedoch mittellose Neuankömmlinge, die sich in England freiwillig zwangsverpflichtet hatten, um so ihre Überfahrt in die «neue Welt» bezahlen zu können. Die weißen Landbesitzer dort brauchten dringend billige Arbeitskräfte für ihre Zucker- und Tabakplantagen. Da der Versuch, die eingeborene Bevölkerung zu diesem Zweck zu benutzen, sowohl an deren erbitterten Widerstand als auch an deren Anfälligkeit für europäische Krankheiten gescheitert war, präsentierte sich das System der «indenture» zumindest vorübergehend als günstige Lösung für die Weißen. Um die Anzahl ihrer Siedler in den Kolonien zu erhöhen, förderte die britische Regierung das System auch durch finanzielle Anreize. In der Anfangszeit waren hierbei bemerkenswerterweise schwarze und weiße «indentured servants» rechtlich gleichgestellt, d.h. nach ihrer Freilassung konnten schwarze ehemalige Zwangsarbeiter genau wie weiße ein Stück eigenes Land erwerben und so zu stimmberechtigten Bürgern der Kolonie aufsteigen. Einige wenige schwarze Landbesitzer kamen so im 17. Jahrhundert sogar zu beachtlichem Wohlstand und beschäftigten auf ihren Ländereien selbst später unfreie Arbeitskräfte.
Solche schwarzen Erfolgsgeschichten erregten den Neid weißer Kolonisten, denen die Gleichstellung schwarzer und weißer Zwangsarbeiter ohnehin ein Dorn im Auge war. Auch deswegen verschlechterte sich die rechtliche Stellung der Schwarzen in den britischen Kolonien Nordamerikas schrittweise.
Aufgrund eines spürbaren Geburtenrückgangs in England in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts reichte das bisherige Zwangsarbeitersystem nicht mehr aus, um den steigenden Bedarf an billigen Arbeitskräften in den Kolonien zu decken. Angesichts der gestiegenen Lebenserwartung in den Kolonien war es zudem für Landbesitzer profitabler geworden, in Sklaven statt in «indentured servants» zu investieren. Außerdem gab es zu dieser Zeit zunehmend Spannungen zwischen verschiedenen weißen Interessengruppen, die sich manchmal in blutigen Unruhen äußerten, beispielsweise 1676 beim Aufstand Nathaniel Bacons gegen Virginias Gouverneur William Berkeley. Die britische Regierung hoffte, durch Gesetze, welche die Minderwertigkeit der schwarzen Rasse festschrieben, das Solidaritätsgefühl innerhalb der weißen Bevölkerung in den Kolonien sowie die eigene Autorität zu stärken. So wurde das Zwangsarbeitersystem in Nordamerika nach und nach durch die Einführung schwarzer Sklaverei ersetzt: in Maryland bereits 1641, in Virginia und den meisten anderen Kolonien zwischen 1660 und 1715, als letzte folgte 1750 das erst 1732 gegründete Georgia. Gleichzeitig wurden zwischen 1660 und 1720 in fast allen Kolonien Gesetze verabschiedet, welche die Heirat zwischen Weißen und Schwarzen (auch freien Schwarzen) generell verboten. Außerdem wurde im Unterschied zu dem in England gültigen Abstammungsrecht für die Kolonien festgelegt, dass Kinder von Sklavinnen, auch wenn ihr Vater ein freier Mann war, den Status ihrer Mutter übernahmen, d.h. ebenfalls Sklaven und Eigentum des Besitzers der Mutter waren. So wurde der Grundstein für die Ausbeutung von Millionen schwarzer Frauen und Männer in der Neuen Welt gelegt, welche in den folgenden drei Jahrhunderten die amerikanische Geschichte, Kultur und Wirtschaft entscheidend prägen sollte.
Ohne Sklavenarbeit wären die riesigen Zucker-, Baumwoll- und Tabakplantagen der Südstaaten und der quasiaristokratische Lebensstil ihrer Besitzer nicht zu halten gewesen. Der Handel mit afrikanischen Sklaven wurde zu einem überaus einträglichen Geschäft, das in dem «goldenen Dreieck» zwischen England beziehungsweise Europa, Afrika und den amerikanischen Kolonien stattfand. Die Händler segelten von England oder Holland aus mit Geld, Alkohol, Waffen und anderen Waren nach Afrika, kauften dort Sklaven ein und brachten so insgesamt von Beginn des 17. bis zum zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts rund elf Millionen Afrikaner nach Nord- und Südamerika sowie auf die westindischen Inseln. Hier wurden die Schiffe mit Zucker, Baumwolle, Tabak und anderen Kolonialwaren beladen, um mit diesen Waren wieder zurück nach Europa zu segeln. Profitmaximierung war vielen Händlern oberstes Gebot, und so wurden bei der Überfahrt die Afrikaner in Ketten auf allerengstem Raum zusammengepfercht. Im Fall dieser «tight pack» genannten Beladepraxis mussten die Sklaven die Fahrt auf übereinandergestapelten Holzpritschen in Seitenlage verbringen, oft tagelang in ihrem eigenen Kot, Blut oder Erbrochenen liegend. Viele starben deshalb an Infektionen, andere begingen aus Verzweiflung Selbstmord, und manchmal wurden nicht nur tote, sondern auch kranke Sklaven über Bord geworfen, um kein Trinkwasser an «schlechte Ware» zu vergeuden. Historiker schätzen, dass mindestens ein Fünftel der so in die amerikanische Sklaverei verschleppten Afrikaner die Überfahrt nicht überlebte.
Dem Sklaven Gordon aus Louisiana gelang im März 1863 während des Bürgerkriegs die Flucht. Abolitionisten nutzten die Aufnahme seines durch Peitschenhiebe stark vernarbten Rückens, um die Brutalität der Sklaverei zu demonstrieren.
Das Los der anderen war allerdings auch nicht beneidenswert. Wie Tiere wurden sie auf öffentlichen Sklavenmärkten zum Verkauf angeboten, Familien und Freunde rücksichtslos auseinandergerissen, sogar Mütter von ihren Kindern getrennt. Manche Besitzer kennzeichneten Sklaven wie neuerworbenes Vieh mit Brandeisen. Allerdings waren nicht alle Sklavenhalter gleich grausam. Die Lebensbedingungen der einzelnen Sklaven hingen sowohl von der Persönlichkeit ihres Eigentümers als auch davon ab, ob ihr Besitzer eine Plantage, eine kleine Farm oder ein anderes Gewerbe betrieb, ob er in der Stadt oder auf dem Land wohnte, ob er viele oder wenige Sklaven besaß, ob sie zur Feld-, Haus- oder Fabrikarbeit eingesetzt wurden. Grundsätzlich galt jedoch für alle Sklaven, dass sie in den britischen Kolonien und später in den Südstaaten der USA vor dem Gesetz so wie Vieh als Eigentum galten und keinerlei persönliche Rechte hatten. Sie waren der Willkür ihres Besitzers schutzlos ausgeliefert, d.h. er konnte sie einsperren, hungern lassen, auspeitschen oder in anderer Form misshandeln, ja sogar töten, ohne dafür rechtlich belangt zu werden. Junge schwarze Frauen wurden zudem oft von ihren Besitzern oder von Aufsehern vergewaltigt bzw. dazu genötigt, so oft wie möglich «Nachwuchs zu produzieren», um den Besitzstand ihres Eigentümers zu vermehren. Sklaven war es streng verboten, lesen und schreiben zu lernen, sie durften keine Waffen tragen und ohne Erlaubnis das Grundstück ihres Eigentümers nicht verlassen. Weiter hatten sie kein Recht auf Eigentum oder auf Familiengründung. Auch wenn viele Eigentümer informelle Eheschließungen unter ihren Sklaven duldeten, so waren diese gesetzlich nicht anerkannt, d.h. boten keinen Schutz vor Trennungen, wenn zum Beispiel im Todesfall eines Besitzers die Sklaven unter den Erben aufgeteilt oder verkauft wurden.
Natürlich waren nicht alle Sklavenhalter grausame Unmenschen. Da ihr menschliches Eigentum eine wertvolle Kapitalanlage darstellte, behandelte die Mehrheit der Eigentümer ihre Sklaven wohl ohne übermäßige, absichtliche Grausamkeit, solange sie gut arbeiteten und gehorsam waren. Es mag sogar in Einzelfällen schwarze Sklaven gegeben haben, die in Bezug auf Kleidung und Ernährung besser gestellt waren als manche notleidende weiße Lohnarbeiter im Norden der USA. Aber es gab auch sadistische Sklavenhalter, und Sklaven verfügten im Gegensatz zu Lohnarbeitern nicht über die Freiheit davonzugehen, wenn ihre Situation unerträglich wurde. Sie konnten sich gegen Misshandlungen nicht wehren und mussten immer mit der Angst leben, durch Verkauf von der eigenen Familie getrennt zu werden. Nur wenige amerikanische Sklavenhalter waren sich der menschenverachtenden Dimension dieses Systems bewusst. Viele meinten dagegen, sie würden wie gute Väter für ihre schwarzen Sklaven sorgen, die doch – so wurde behauptet – aufgrund ihrer angeborenen Triebhaftigkeit, Unreife und ihres minderwertigen Verstandes unbedingt der Aufsicht und Fürsorge eines weißen Herrn bedurften. Diese als «Paternalismus» bekannte Sichtweise war besonders bei christlichen Sklavenhaltern populär, die stolz darauf waren, durch die – teilweise unfreiwillig herbeigeführte – Christianisierung ihrer Sklaven deren heidnische Seelen vor der ewigen Verdammnis gerettet zu haben. Christliche Sklaven standen zudem in dem Ruf, gefügiger als heidnische zu sein. Die Sklavenhalter gingen nämlich davon aus, dass die an Jesus glaubenden Schwarzen sich durch die Verheißung des christlichen Paradieses von ihrem elenden Dasein leichter ablenken ließen und in Befolgung der Zehn Gebote ihre Herren nicht so oft bestehlen oder belügen würden. Mit Ausnahme der deutschstämmigen Quäker, die bereits 1688 in Germantown, Pennsylvania einen Aufruf gegen die Sklaverei verfassten, hat bis zum 19. Jahrhundert keine der zahlreichen weißen Kirchen und Sekten in Amerika gegen die Versklavung schwarzer Mitmenschen (und Mitchristen) protestiert. Im Gegenteil, die meisten weißen Christen der Zeit hielten die Sklaverei nicht nur für eine von Gott tolerierte, sondern sogar für eine von ihm ausdrücklich gutgeheißene Institution. Hierfür glaubten sie zahlreiche Belege in der Bibel finden zu können.
Besonders gerne wurde zum Beispiel der sogenannte «Fluch des Ham» angeführt. In dieser Geschichte aus dem Buch Genesis (9:20–27) bedeckt Noahs Sohn Ham die Blöße seines schlafenden Vaters nicht, die von ihm herbeigerufenen Brüder Sem und Jafet decken ihn dagegen sofort zu. Der über Hams Verhalten erboste Noah bestraft diesen damit, dass er dessen Sohn Kanaan dazu verdammt, Sems und Jafets niedrigster Diener (Sklave) zu sein. Die meisten Auslegungen der Heiligen Schrift gehen davon aus, dass die Söhne Noahs für die Stammväter der Völker der Welt stehen: Jafet als der Stammvater der Europäer, Sem der Semiten (Asiaten) und Ham der Afrikaner. Für die Befürworter der Sklaverei bedeutete dies, dass die Versklavung der schwarzen Nachfahren des Ham eine Erfüllung des in der Bibel beschriebenen Fluchs des Noah und somit als ein göttlich sanktionierter Tatbestand zu verstehen war.[6] Darüber hinaus konnte auf zahlreiche weitere Stellen im Alten und Neuen Testament verwiesen werden, aus denen sich eine Rechtfertigung der Sklaverei konstruieren ließ.[7] Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts begann langsam eine Mehrheit der Christen zu der Überzeugung zu gelangen, dass es dem Geist der christlichen Nächstenliebe widerspricht, einen anderen Menschen zu versklaven. Aber gerade angesichts der ab den 1830er Jahren zunehmenden Kritik christlicher Abolitionisten an der Sklaverei nutzten die Sklavenhalter in den Südstaaten mit Vorliebe die Bibel zur Rechtfertigung ihres Verhaltens. Viele von ihnen hielten auch nach dem Ende der Sklaverei weiter an dem Glauben fest, dass Gott die schwarze Rasse im Vergleich zur weißen als minderwertig geschaffen habe. Dies trug zweifellos dazu bei, dass im Süden der USA bis in die Mitte der 1960er Jahre die Diskriminierung, Segregation und politische Entmündigung der schwarzen Bevölkerung von einer weißen Mehrheit befürwortet und aufrechterhalten wurde.[8]
Die Sklaven selbst – ob Christen oder nicht – waren allerdings in den wenigsten Fällen davon überzeugt, dass Gott sie als minderwertige Wesen geschaffen habe, deren Lebensbestimmung es sei, den Weißen zu dienen. Viele schwarze Christen identifizierten sich stattdessen mit dem biblischen Volk Israel, dem schließlich mit Gottes Hilfe die Flucht aus der ägyptischen Sklaverei gelungen war. Schwarze Pfarrer und später auch schwarze Kirchen sollten darum vom frühen 18. bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle im afroamerikanischen Kampf um Freiheit und Gleichberechtigung spielen. Angesichts der überwältigenden Macht der Weißen, die jeden Widerstand durch grausame Strafen im Keim ersticken konnten, blieb vielen Sklaven allerdings nichts anderes übrig, als sich irgendwie mit dem System zu arrangieren, wenn sie überleben wollten. Manche Schwarze, insbesondere diejenigen, die bereits als Sklaven geboren wurden und gutmütige Besitzer hatten, fanden es leichter, sich mit ihrem Status abzufinden, als andere. Einige entwickelten sogar ein relativ positives Verhältnis zu ihren weißen Herren, zum Beispiel gab es durchaus echte Zuneigung zwischen schwarzen «Nannies» (Kindermädchen) und den von ihnen betreuten weißen Kindern. Oft dienten diese Nannies ihren Schützlingen später weiter als Zofe oder Köchin, und manchmal wurden besonders treue Dienerinnen oder Diener sogar freigelassen bzw. ihre Freilassung testamentarisch verfügt.
In der Regel waren auf einer Plantage die Sklaven, die ihren Dienst im Herrenhaus leisteten und Tag und Nacht mit den weißen Herren zusammenlebten – die sogenannten Haussklaven –, materiell besser gestellt, d.h. sie erhielten besseres Essen und bessere Kleidung als die Sklaven, die draußen auf den Feldern arbeiteten. Die Feldsklaven, die in der Regel von Aufsehern überwacht wurden und ihre Besitzer nur selten sahen, hatten dafür ein klein wenig mehr Freiraum. Sie konnten nach Sonnenuntergang in ihren Unterkünften mehr oder weniger ungestört von den Weißen zusammenkommen, Informationen austauschen, afrikanische Geschichten erzählen, Musik machen und in vielen Fällen auch noch eigene religiöse Bräuche praktizieren. Viele dieser Bräuche vermischten sich schließlich mit christlichen Ritualen, afrikanische Musik- und Tanzformen verbanden sich mit westlichen Traditionen, auch in Bezug auf Speisen, Sprachgebrauch und vieles mehr. So entstand im Laufe der Zeit in den USA eine neue, spezifisch afroamerikanische Kultur und Tradition.
Malcolm X machte sich später in seinen Ausführungen zur afroamerikanischen Geschichte oft über die seiner Ansicht nach verweichlichten, angepassten Haussklaven lustig und kritisierte diese dafür, sie hätten wie brave Hunde ihrem Herrn treu gedient. Die Feldsklaven lobte er dagegen dafür, dass sie unabhängiger geblieben wären, sich ihre eigene Kultur bewahrt und den Weißen mehr Widerstand entgegengesetzt hätten. Besonders gerne verglich Malcolm die Haussklaven mit den seines Erachtens zu braven, angepassten Führern der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, die sich für die Zusammenarbeit mit Weißen und für die Integration aussprachen. Er selbst sah sich und andere schwarze Nationalisten dagegen als geistige Nachfahren der Feldsklaven. Bei solchen Vergleichen wird jedoch nicht berücksichtigt, dass die Sklaven sich in der Regel nicht aussuchen konnten, ob sie im Haus oder auf dem Feld arbeiteten, und ihr Arbeitsplatz nicht immer – wie von Malcolm suggeriert – als Hinweis auf ihre innere Einstellung verstanden werden konnte. Die Haussklaven mussten ihren Herren auch abends und nachts ständig zur Verfügung stehen und nicht selten Schikanen erdulden, wenn diese ihre schlechte Laune an ihnen ausließen. Junge Haussklavinnen waren zudem besonders häufig sexuellem Missbrauch ausgesetzt und wurden dann manchmal zusätzlich von rachsüchtigen Ehefrauen ihrer Besitzer gepeinigt.[9] Es gab daher nicht nur Feldsklaven, sondern auch viele Haussklaven, die ihre Besitzer hassten und gegen ihre Unterdrückung rebellierten.
Solchen Widerstand gegen Sklaverei gab es in verschiedenen Formen: Besonders beliebt und weit verbreitet war der sogenannte passive oder im Geheimen ausgeübte Widerstand, zum Beispiel sich dumm zu stellen und Arbeiten möglichst langsam und ineffektiv auszuführen. Da die meisten Sklavenhalter ihre Theorie von der geringeren Intelligenz der Schwarzen durch solches Verhalten nur bestätigt sahen, wurde es selten und kaum schwer bestraft. Auf die Idee, dass der «dumme Sambo» – so ein beliebtes Stereotyp der Zeit – sich absichtlich wie ein Idiot verhielt, um seinem Besitzer zu schaden und sich selbst das Leben zu erleichtern, kamen die meisten Weißen nicht. Auch Diebstahl, insbesondere von Lebensmitteln, Lügen und kleinere Sabotageakte, zum Beispiel die absichtliche Beschädigung von Arbeitsgeräten, Zäunen oder Pflanzen, gehören in diese Kategorie des geheimen Widerstandes. Manche schwarzen Köche und Köchinnen rächten sich für Gemeinheiten ihrer Besitzer, indem sie in die Suppe spuckten oder urinierten. Es gibt auch eine Reihe von dokumentierten Fällen, in denen schwarzen Köchinnen nachgewiesen wurde, ihre Herren vergiftet zu haben. Über die Anzahl unentdeckter Versuche kann man nur spekulieren. Die relativ weit verbreitete Anwendung von hausgemachten Verhütungsmitteln sowie der für Sklavinnen oft mit hohen Risiken verbundene Abbruch von erzwungenen Schwangerschaften und auch das allerdings eher seltene Phänomen des «infanticide» (Tötung der eigenen Kinder) können ebenfalls als Widerstand gegen die Sklaverei verstanden werden.
Eine wesentlich bekanntere, in Literatur und im Film öfter dargestellte Widerstandsform war die Flucht. Wie sich aus den zahlreichen Anzeigen über entflohene Sklaven in zeitgenössischen Zeitungen schließen lässt, waren Fluchtversuche von Sklaven, insbesondere jungen Männern, relativ häufig. Die meisten wurden wieder eingefangen – oft von auf diese Form der Jagd spezialisierten, mit Bluthunden ausgestatteten Suchtrupps –, aber manchen gelang es, in den von Weißen unbewohnten Wäldern und Sumpfgebieten Unterschlupf zu finden. Einige schlossen sich hier den dort lebenden Indianerstämmen an, insbesondere in Florida, andere bildeten eigene, im Verborgenen lebende Gemeinschaften, Maroon Societies genannt. Wieder anderen gelang es, bis nach Kanada zu fliehen.
Durch den Unabhängigkeitskrieg (1776–1783) veränderte sich die Situation, und schon bald wurden die Nordstaaten das «gelobte Land» für fliehende Schwarze. Dort hatten die Revolution und die allgemeine Begeisterung für die neuen egalitären Ideale («All men are created equal») der jungen Republik einer wachsenden Anzahl von Gegnern der Sklaverei (den sogenannten Abolitionisten) den Rücken gestärkt. Einige der wichtigsten amerikanischen Patrioten – zum Beispiel James Otis, Benjamin Franklin und John Adams – lehnten die Sklaverei entschieden ab. Auch einige der selbst sklavenhaltenden Gründerväter – unter ihnen George Washington, James Madison und Thomas Jefferson – hegten massive Zweifel an der moralischen Legitimität der Sklaverei, hielten aber gleichwohl ihre Abschaffung für unmöglich. In der verfassunggebenden Versammlung war das Thema heftig umstritten. Während Kritiker auf die Unvereinbarkeit des amerikanischen Freiheitsideals mit der Versklavung von Menschen hinwiesen, wurde Sklavenbesitz von den Südstaatlern als ihr «unantastbares Recht auf Eigentum» gesehen, das sie unter keinen Umständen preisgeben wollten. Nach langen Diskussionen lenkten die Gegner der Sklaverei in der Versammlung schließlich ein, denn angesichts der harten Haltung des Südens schien vielen andernfalls ein Scheitern der Republikgründung unausweichlich. So wurde aus politischem Pragmatismus das Recht auf Eigentum von den «Founding Fathers» den Menschenrechten der Schwarzen übergeordnet. Die Verfassung von 1787 überließ die Entscheidung für oder gegen Sklaverei jedem einzelnen Staat. So kam es im postrevolutionären Amerika nur im Norden, wo Sklavenarbeit im Gegensatz zu dem von Plantagenwirtschaft dominierten Süden nur eine relativ geringe wirtschaftliche Bedeutung hatte, zur Abschaffung der Sklaverei. Einige Nordstaaten taten dies auf direktem Wege (als erster 1777 Vermont). Andere erließen erst später graduelle Emanzipationsgesetze (New York zum Beispiel erst 1799). In jedem Fall war zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Sklaverei in den Nordstaaten der Republik praktisch beendet, wodurch sich der Weg in die Freiheit für Sklaven aus dem Süden erheblich verkürzte und sich der Anreiz zur Flucht erhöhte. Denn Städte wie New York, Philadelphia oder Boston waren für die meist zu Fuß Flüchtenden wesentlich einfacher zu erreichen als Kanada.
Seit Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden im Norden zudem zahlreiche Gesellschaften, die sich für die Abschaffung der Sklaverei einsetzten (die sogenannte Abolitionisten-bewegung) und die, wo immer möglich, fliehenden Sklaven behilflich waren. Geleitet wurden die meisten dieser Gruppen von weißen Gegnern und Gegnerinnen der Sklaverei, aber auch freie Afroamerikaner und schwarze Kirchen, insbesondere die Black Baptist Church, spielten hierbei eine wichtige Rolle. Im Süden boten Gottesdienste beispielsweise oft die einzige Möglichkeit zum Informationsaustausch für Sklaven. Schwarze Kirchenlieder («spirituals») enthielten oft versteckte Hinweise über Fluchtmöglichkeiten und andere Informationen, und die Kellerräume von schwarzen Kirchen dienten oft als Versteck für entlaufene Sklaven, die mit Hilfe des sogenannten «Underground Railroad» in den Norden fliehen konnten.
Trotzdem blieben Fluchtversuche sehr riskant für Sklaven, denn wenn sie wieder eingefangen wurden, mussten sie mit drakonischen Strafen rechnen. Das Weglaufen mit Kindern war besonders schwierig, und da fast alle Sklavinnen Kinder hatten und diese nicht zurücklassen wollten, wählten nur wenige Frauen diesen Weg. Es gab allerdings einzelne Fälle, in denen Sklavinnen, die auf der Flucht in die Enge getrieben wurden, aus Verzweiflung lieber ihre eigenen Kinder töteten, als diese den Sklavenfängern zu überlassen.
Zahlreiche Schwarze, deren Flucht in den Norden erfolgreich war, widmeten später ihr Leben dem Kampf gegen die Sklaverei. Der 1838 aus Maryland geflohene Frederick Douglass wurde zum Beispiel eine der bekanntesten Führungsfiguren der Abolitionistenbewegung. Er hielt öffentliche Vorträge gegen die Sklaverei in Nordamerika und England, gab eine eigene Zeitung (The North Star) heraus und veröffentlichte 1845 seine Autobiographie, Narrative of the Life of Frederick Douglass: An American Slave, die schnell zu einem internationalen Bestseller wurde. Ein anderes Beispiel ist die 1848 ebenfalls aus Maryland entkommene Harriet Tubman, auf die weiße Südstaatler ein hohes Kopfgeld ausgesetzt hatten. Sie entging allen Versuchen, sie zu fangen oder zu töten, kehrte immer wieder heimlich in den Süden zurück, um mehr als 300 andere Sklaven in die Freiheit zu führen, und arbeitete im Bürgerkrieg als Spionin für die Unionstruppen.
Die letzte und radikalste Form des schwarzen Widerstandes gegen die Sklaverei war die bewaffnete Rebellion. Trotz der zahlen- und waffenmäßigen Unterlegenheit der Schwarzen in Nordamerika gab es dort insgesamt mehr als 250 solcher Aufstände schwarzer Sklaven gegen ihre weißen Herren. Nach der bereits erwähnten Rebellion und Flucht der von spanischen Soldaten 1526 an die Ostküste Nordamerikas verschleppten Schwarzen fand die erste historisch belegte Sklavenrebellion in einer englischen Kolonie 1708 in Newton, Long Island statt. Hierbei starben sieben Weiße, und alle Aufständischen wurden überwältigt und später hingerichtet. 1739 gab es in Stono, South Carolina eine weitere große Revolte, bei der 25 Weiße und alle beteiligten Schwarzen den Tod fanden. In Richmond, Virginia scheiterte 1800 ein lange vorbereiteter Aufstand von mehreren hundert Sklaven unter der Leitung von Gabriel Prosser an sintflutartigen Regenfällen und dem Verrat zweier Mitverschwörer. Prosser und 15 weitere Sklaven wurden hingerichtet. Das gleiche Schicksal ereilte eine zweite, noch größere und lange vorbereitete Sklavenverschwörung in Charleston, South Carolina. Angeführt von dem freien Schwarzen Denmark Vesey wollten über tausend Sklaven 1822 die Waffenarsenale der Armee plündern und dann die Stadt erobern. Auch dieser Plan wurde von einem Haussklaven verraten, und Vesey sowie 42 seiner Mitstreiter endeten am Galgen. Der letzte große und blutigste aller bekannten Sklavenaufstände fand 1831 in Southampton, Virginia statt. Hier erhob sich Nat Turner, ein schwarzer Mystiker, der sich von Gott erwählt glaubte, sein Volk zu befreien und die Sklavenhalter zu bestrafen. Mit Messern und Beilen bewaffnet zogen Turner und eine kleine Schar von Anhängern von Farm zu Farm und töteten insgesamt 60 Weiße, darunter auch Frauen und Kinder. Die weiße Bevölkerung Virginias mobilisierte in panischer Angst über 2000 Soldaten, um den Aufstand niederzuschlagen. In dem folgenden Racheblutbad wurden nicht nur Turner und seine Anhänger, sondern auch über 200 andere, zum Teil am Aufstand gänzlich unbeteiligte Sklaven getötet.
Obwohl somit die Sklavenaufstände in Nordamerika aufgrund der weißen Übermacht weitgehend scheiterten und fast immer mit dem Tod aller beteiligten Rebellen endeten, blieben sie trotzdem nicht ohne Wirkung. Diese radikalste Form des Widerstands demonstrierte öffentlich, dass die Sklaven genug Mut hatten bzw. verzweifelt genug waren, sich trotz der geringen Erfolgsaussichten ihren weißen Unterdrückern entgegenzustellen, und gegebenenfalls lieber den Tod in Kauf nahmen, als eine Fortdauer ihres Sklavendaseins zu akzeptieren. Somit widerlegte der bewaffnete Widerstand – genau wie die Fluchtversuche einzelner Sklaven – eindeutig das Argument der Sklavenhalter, dass es ihren Sklaven doch gut gehe und sie mit ihrem Leben im Grunde zufrieden seien. Jeder Aufstand und jeder Fluchtversuch war daher Wasser auf die Mühlen der Abolitionisten, die seit den 1830er Jahren immer mehr Anhänger im Norden gewinnen konnten. Die Südstaatler dagegen beschuldigten die Abolitionisten, durch ihre Agitation die Gemüter der eigentlich sonst ganz braven Sklaven zu vergiften, diese zur Rebellion anzustacheln und sie dabei heimlich zu unterstützen.
So wurde die Spannung zwischen Nord und Süd immer größer. Unterschiedliche Wirtschaftsinteressen, insbesondere im Hinblick auf Einfuhrzölle, trugen ebenfalls zur Verschärfung des Konfliktes bei.[10] Nach der Wahl des den Abolitionisten nahestehenden Abraham Lincoln zum Präsidenten der USA beschlossen die Südstaaten Ende 1860, sich vom Norden abzuspalten und den «Southern Way of Life», einschließlich der Sklaverei, notfalls mit Waffengewalt zu verteidigen.
Lincoln lehnte die Sklaverei zwar ab und wollte ihre Ausdehnung in den neu besiedelten Westen verhindern. Er glaubte jedoch nicht, dass die Verfassung dem Präsidenten das Recht gab, den Südstaatlern die Sklaverei zu verbieten. Erst als der Süden offen gegen die Union rebellierte, sah er sich genötigt, Waffengewalt einzusetzen. Sein primäres Ziel war es aber, die Union zu retten, nicht, die Sklaven zu befreien.[11] So kam es 1861 zum Bürgerkrieg, in dem 620.000 Amerikaner ihr Leben verloren, davon rund 40.000 Afroamerikaner, die als Freiwillige in der Unionsarmee gekämpft hatten. Nach vier langen Jahren endete dieses blutige Kapitel amerikanischer Geschichte schließlich mit dem Sieg der Nordstaaten, und im gleichen Jahr verabschiedete der Kongress den 13. Verfassungszusatz, durch den die Sklaverei in den gesamten Vereinigten Staaten endgültig abgeschafft wurde.
Es ist bemerkenswert, dass die große Mehrheit der schwarzen Abolitionisten sowie der schwarzen Soldaten, die im Bürgerkrieg mitgekämpft hatten, keinen Groll gegen Weiße im Allgemeinen, sondern nur gegen Sklavenhalter hegte. Sie verabscheuten die Institution der Sklaverei, waren aber durchaus zu einer Zusammenarbeit mit weißen Amerikanern bereit. Die meisten Afroamerikaner dieser Zeit wiesen darum in ihren Schriften auf die gemeinsamen Interessen der beiden Bevölkerungsgruppen hin und betonten, dass sie schließlich alle in erster Linie Amerikaner seien, deren unterschiedliche Hautfarbe keine große Rolle spielen dürfte. Frederick Douglass zum Beispiel unterstrich stets seinen festen Glauben an die amerikanische Verfassung, an den «American Dream» und daran, dass Schicksal und Wohlergehen schwarzer und weißer Amerikaner untrennbar miteinander verknüpft seien. Viele schwarze Geistliche, so auch der ehemalige Sklave und Methodisten-Pfarrer Richard Allen, der 1794 die African Methodist Episcopal Church gründete, teilten diese Ansicht und betonten, Gott habe alle Menschen gleich geschaffen, und als Brüder und Schwestern in Christus sollten sie einander in Liebe zugetan sein. Die Integration schwarzer und weißer Amerikaner in einer friedvollen Gemeinschaft mit Gott sei darum der einzige Weg für wahre Christen. Diese Kernüberzeugung findet sich unverändert in den Argumenten christlicher Bürgerrechtler des 20. Jahrhunderts im Kampf gegen die Rassentrennung, so auch in den Reden und Schriften von Martin Luther King Jr.
Walker’s Appeal12