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Aleida Assmann

DAS NEUE UNBEHAGEN
 AN DER
 ERINNERUNGSKULTUR

Eine Intervention

 

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

 


 

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ZUM BUCH

Im Ausland gilt die deutsche Erinnerungskultur als Erfolgsgeschichte und Vorbild. Innerhalb des Landes aber ist sie immer öfter Gegenstand von Unbehagen und Kritik. Indem die Generation der Zeitzeugen abtritt, die Deutungsmacht der 68er schwindet und Deutschland sich zunehmend als eine Einwanderungsgesellschaft begreift, steht auch die Erinnerung an den Holocaust vor neuen Herausforderungen. Aleida Assmann greift in ihrem Buch Themen und Stichworte aus dem aktuellen Diskurs des Unbehagens auf und nimmt sie zum Ausgangspunkt für eine grundsätzliche Befragung unserer Erinnerungskultur. Welche Rolle soll diese Erinnerung fortan in unserer Gesellschaft spielen? Soll sie überhaupt fortgesetzt werden, und wenn ja, wie? Wohin soll der Weg gehen, und wer soll ihn gehen? Dabei richtet Aleida Assmann den Blick auch auf andere Länder und deren Umgang mit der Vergangenheit und befreit die deutsche Debatte damit aus ihrer Selbstbezüglichkeit.

ÜBER DIE AUTORIN

Aleida Assmann ist Professorin für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Sie ist Mitglied zahlreicher Akademien und erhielt 2008 die Ehrendoktorwürde der theologischen Fakultät der Universität Oslo. Bei C.H.Beck sind von ihr u.a. erschienen: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses (62011) und Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik (2006).

INHALT

EINLEITUNG

VERGESSEN, BESCHWEIGEN, ERINNERN

1. Probleme mit der Gedächtnisforschung

Individuelles und kollektives Gedächtnis

Geschichte und Gedächtnis

Kulturelles Gedächtnis

Identitätsbezug

Bedeutungen des Begriffs ‹Erinnerungskultur›

2. Arbeit am deutschen Familiengedächtnis – eine unendliche Geschichte?

Das Schweigen brechen – der ZDF-Dreiteiler ‹Unsere Mütter, unsere Väter›

Die Latenz des Schweigens – Hermann Lübbes Thesen zur deutschen Nachkriegsgeschichte

Schlussstrich und Trennungsstrich

Externalisierung und Internalisierung

Das Crescendo der Holocaust-Erinnerung

3. Probleme mit der deutschen Erinnerungskultur

Weltmeister im Erinnern?

Deutungsmacht und gefühlte Opfer – Erinnerungskultur als Generationenkonflikt

Der Holocaust als negativer Gründungsmythos

Fertig erinnert?

Ritualisierung

Political Correctness

Moralisierung und Historisierung

PRAXISFELDER DER DEUTSCHEN ERINNERUNGSKULTUR

4. Die Erinnerung an zwei deutsche Diktaturen

Die Erinnerung an die DDR – ein deutscher Sonderweg?

Die Rede von den beiden deutschen Diktaturen

Vergangenheitsbewahrung und Vergangenheitsbewältigung

Die Erinnerung an die Opfer der DDR

Die Europäisierung der DDR-Erinnerung

5. Erinnern in der Migrationsgesellschaft

Negative Erinnerung als Bürgerrecht?

Das ethnische Paradox und die Pluralisierung des nationalen Gedächtnisses

Der Schock des 4. November 2011

Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit

Empathie zwischen Differenz und Ähnlichkeit

TRANSNATIONALE PERSPEKTIVEN

6. Opferkonkurrenzen

Exklusive und inklusive Opferdiskurse

Europas gespaltenes Gedächtnis

Politik der Reue

Historische Wunden

Verknüpfte Erinnerungen (multidirectional memories)

7. Vier Modelle für den Umgang mit traumatischer Vergangenheit

Erinnern oder vergessen?

Dialogisches Vergessen

Erinnern, um niemals zu vergessen

Erinnern, um zu überwinden

Dialogisches Erinnern

SCHLUSS: PRÄMISSEN DER NEUEN ERINNERUNGSKULTUR

ANHANG

Anmerkungen

Personenregister

EINLEITUNG

1930 veröffentlichte Sigmund Freud in Wien einen Text mit dem Titel Das Unbehagen in der Kultur. Darin beschäftigte er sich mit Kultur als einem kollektiven Projekt, das die Wünsche des Ichs zum Wohle der Allgemeinheit beschneidet. Der technische Fortschritt, der das Projekt der modernen Kultur antreibt, führt, so Freud, weder geradewegs zu einem subjektiven Glückszustand noch zu einer wirklichen Befriedigung angesichts der permanent gesteigerten Verfügungsmacht über die Umwelt. Den Grund für ausbleibendes Glück und Befriedigung sah Freud noch nicht in einem gesteigerten Bewusstsein wachsender Gefahren und Risiken der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation, sondern in dem Umstand, dass mit der Ausweitung der Kultur auch das Über-Ich angewachsen sei und das Ich immer stärker unter Druck gesetzt habe. Denn die Kultur, so Freud, konfrontiert das Individuum mit einer Reihe von Zumutungen und ethischen Überforderungen. Die «kulturellen Ideale», die die Gesellschaft den Menschen auferlegt, sind deshalb teuer erkauft mit einem künstlich in Gang gehaltenen Bewusstsein für Schuld, das zur Grundlage des individuellen Gewissens geworden ist, sodass «der Preis für den Kulturfortschritt in der Glückseinbuße» besteht und «durch die Erhöhung des Schuldgefühls bezahlt wird».[1]

Wenn wir uns auf dieses Kernargument konzentrieren, trifft Freuds Argumentation auch den Nerv der deutschen Nachkriegsgeschichte: Der Kulturfortschritt wird mit einer Erhöhung des Schuldgefühls bezahlt. Die Reintegration des Landes in den Kreis der zivilisierten Nationen geschah auf der Basis eines negativen Gedächtnisses, das die eigene verbrecherische Vorgeschichte ins kollektive Selbstbild integriert und durch öffentliches Bekennen von Schuld rituell in Gang hält. Die Schuld, um die es inzwischen geht, ist allerdings nicht mehr die fiktive Konstruktion der Tötung eines archaischen Stammvaters durch die Vereinigung der Brüder, sondern der von den Deutschen ausgedachte, durchgeplante und mit transnationaler Kollaboration ausgeführte Mord an den europäischen Juden und anderen zivilen schutzlosen Minderheiten. War Freuds Vorstellung von der Tötung des Urvaters ein wissenschaftlicher Mythos, so ist der Genozid an den Juden ein rezentes und von historischen Quellen akribisch dokumentiertes Menschheitsverbrechen. Da diese Schuldlast bei Weitem alles übersteigt, was emotional getragen und abgegolten werden kann, betrifft sie auch zukünftige Generationen und ist in die Zukunft hinein mitzunehmen.

Die ‹Erinnerungskultur›, von der dieses Buch handelt, ist eine Antwort auf dieses historische Ereignis. Seit den 1990er Jahren hat sich dieser Begriff in wissenschaftlichen Diskursen, in den Ansprachen der Politiker, aber auch in den Medien und sogar in der Alltagssprache immer mehr durchgesetzt. Wir stoßen regelmäßig auf ihn, von der Sonntagsrede bis zum Spiegel-Titel, sodass wir uns schon nicht mehr darüber im Klaren sind, dass es sich dabei um eine neue Wortschöpfung handelt. In diesem Fall ist, wie ich zeigen werde, nicht nur das Wort, sondern auch die Sache neu. Warum kam diese Antwort auf das Jahrhundertverbrechen erst so spät? Warum gab es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs keine ‹Erinnerungskultur›? Warum galt lange Zeit das Schweigen als die bessere Option? Mit dem neuen Wort kam auch eine neue Einstellung in die Welt, die das bislang gültige Verhältnis zwischen Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit grundsätzlich verändert hat. Wir können auch von einem tiefgreifenden Wertewechsel sprechen, der in die 1980er Jahre zurückreicht. Es handelt sich dabei um eine Verschiebung im Kanon unserer unbefragten Selbstverständlichkeiten, die als solche selbst nicht thematisiert werden, weil sie Teil unseres Weltbildes sind. Die Umwelttheoretiker sprechen von ‹Shifting Baselines›, wenn sie die stillschweigende Verschiebung normativer Referenzpunkte beschreiben. Menschen nehmen Veränderungen ihrer sozialen oder physischen Umwelt in der Regel nicht bewusst wahr, weil sie «immer jenen Zustand ihrer Umwelt für den ‹natürlichen› halten, der mit ihrer Lebens- und Erfahrungszeit zusammenfällt».[2]

Als 1989 die Berliner Mauer fiel und mit ihr das politische Gefüge des sowjetischen Ostblocks, brach gleichzeitig noch etwas anderes zusammen, nämlich der Modernisierungsglaube mit seiner Zukunftserwartung und Vergangenheitsvergessenheit. Die Entstehung der Erinnerungskultur und der Niedergang des Modernisierungsglaubens stehen in einem direkten Verhältnis zueinander und markieren einen Wandel westlicher Zeitorientierung, der erst allmählich ins Bewusstsein tritt.[3] Mit der neuen Erinnerungskultur haben sich die traditionellen Formen des Erinnerns radikal verschoben. Zum ersten Mal sind es nicht mehr nur die eigenen Opfer der Kriege, derer heroisch gedacht und die trauernd beklagt werden, sondern auch die Opfer der eigenen Verbrechen, die in die Verantwortung der Staaten und nachwachsenden Generationen mit einbezogen werden. Diese selbstkritische Erinnerung ist eine historisch völlig neue Entwicklung.

In den letzten drei Jahrzehnten ist diese Erinnerungskultur in Deutschland mit großer Energie, finanziellem Aufwand und bürgerschaftlichem Engagement aufgebaut worden und seither mit einer Fülle von Institutionen und Initiativen, Gedenkstätten und Museen, Veranstaltungen und Programmen für alle erreichbar und unübersehbar geworden. Sie ist durch die Medien ganz selbstverständlich in den Alltag eingelassen, vor der Haustür in Gestalt von Stolpersteinen präsent und überregional sichtbar in herausragenden Bauten und Monumenten. Nach dieser emsigen Phase des Aufbaus steht die deutsche Erinnerungskultur nun auf dem Prüfstand. Welche Rolle soll diese Erinnerung fortan in unserer Gesellschaft spielen? Soll sie überhaupt fortgesetzt werden, und wenn ja, wie? Wohin soll der Weg gehen, und wer soll ihn gehen? Das sind einige der Grundfragen, die sich auf der aktuellen Agenda angesammelt haben.

«Der letzte Pimpf, dem man noch vorhalten könnte, ein solcher gewesen zu sein und sich dazu nicht rechtzeitig reumütig bekannt zu haben, wird bald unter der Erde liegen», schrieb Hermann Lübbe im Jahr 2008.[4] Nach Harald Welzers Auskunft «spricht viel dafür, dass die Intensität der Erinnerung an die NS-Vergangenheit, den Krieg und den Holocaust künftig abnehmen, sich devitalisieren wird». Er bringt das in Zusammenhang mit der Tatsache, dass «mit dem Heranwachsen der vierten und fünften Generation nach dem Holocaust die unmittelbare generationelle Verbindung zu diesem historischen Geschehenszusammenhang verschwindet».[5]

«Die kurze Ära der Zeitzeugen» liegt bald hinter uns. Aber können wir daraus schließen, dass damit auch das Ende der Erinnerung an diese Geschichtsepoche zu ihrem ‹natürlichen› Ende kommen wird? Werden Zweiter Weltkrieg und Holocaust bald nur noch «ein Kapitel im Geschichtsbuch» sein? (Frank Schirrmacher) Ereignisse können als historisch geworden und vergangen gelten, wenn sie aufgehört haben, Teil der normativen Selbstdefinition eines kollektiven ‹Wir› zu sein: Das können ‹wir› vergessen (und den Historikern überlassen). Andernfalls lautet die Formel: Das dürfen ‹wir› als Bürger dieses Landes nicht vergessen. Die Möglichkeit eines verlängerten Identitätsbezugs zu einer negativen Geschichtserfahrung hat bereits Nietzsche thematisiert, als er schrieb: «Da wir nun einmal die Resultate früherer Geschlechter sind, sind wir auch die Resultate ihrer Verirrungen, Leidenschaften und Irrtümer, ja Verbrechen; es ist nicht möglich, sich ganz von dieser Kette zu lösen. Wenn wir jene Verirrungen verurteilen und uns ihrer für enthoben erachten, so ist die Tatsache nicht beseitigt, dass wir aus ihnen herstammen.»[6]

Die Frage ist deshalb wohl weniger, ob es für die Erinnerungskultur nach der nächsten oder übernächsten Generationenwende noch eine Zukunft geben wird, als vielmehr, wie diese Erinnerungskultur zu gestalten ist, d.h. welche aktuellen Probleme, Gefahren, Herausforderungen und Chancen in dieser Zukunft auf uns zukommen. Erinnern ist ein dynamischer Prozess, der sich durch inneren Druck und veränderte äußere Konstellationen in permanenter Veränderung befindet. Nietzsches genealogisches Konzept der ‹Kette› und des ‹Herstammens› zum Beispiel setzt ein ethnisches Schuldkollektiv voraus, das im Zeitalter von Globalisierung, Migration und der damit einhergehenden Pluralisierung von Erinnerungen nicht mehr haltbar ist. Wir befinden uns in einer demographischen und kulturellen Wende und haben deshalb nicht nur einen aktuellen Bedarf an Erneuerung und Anpassung an die veränderten Verhältnisse, sondern auch an Reflexionen und Kommunikation über anstehende Richtungsentscheidungen. Deshalb erscheint eine selbstkritische Diskussion über die Standortbestimmung und Entwicklungsdynamik der deutschen Erinnerungskultur zum gegenwärtigen Zeitpunkt dringend geboten.

Der unmittelbare Anstoß für dieses Buch ist das wachsende Unbehagen an der Erinnerungskultur, das derzeit in vielen Stellungnahmen und Stimmungen zum Ausdruck kommt. Diese sind ein deutliches Signal dafür, dass wir an einem Wendepunkt angekommen sind, wo wichtige Veränderungen dieser Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert anstehen und bereits im Gange sind. Vorrangig stellt sich diese Wende als ein doppelter Generationswechsel dar. Zum einen befinden wir uns, wie erwähnt, am Ende der Ära der Zeitzeugen, die bislang als Mittler eine wichtige Brücke zwischen Geschichte als persönlicher Erfahrung und bloßem Lernstoff geschlagen haben. Auftritte von Überlebenden und Zeitzeugen in Schulen und Gedenkstätten konnten immerhin zu einer Erfahrung aus zweiter Hand beitragen und blieben als Begegnung und Ereignis im persönlichen Gedächtnis der Nachwachsenden anders haften als Zahlen und Fakten im reinen Wissensgedächtnis.

Zum anderen befinden wir uns zum gegenwärtigen Zeitpunkt am Ende der Deutungsmacht der 68er-Generation, die zusammen mit den noch älteren Generationen der Flakhelfer und der Kriegskinder als Architekten, Planer und Betreiber der deutschen Erinnerungskultur verantwortlich zeichnet. Diese Generation muss ihre Verantwortung nun in jüngere Hände legen. Der aktuelle Diskurs des Unbehagens ist ein klares Zeichen dafür, dass nachwachsende Generationen vermehrt ihre Deutungsmacht wahrnehmen und sich mit ihren Vorstellungen, Emotionen, Ideen, Werten und Gestaltungskonzepten in der Diskussion zu Wort melden. Wenn ich mich selbst in dieser Diskussion noch einmal zu Wort melde, dann nur, weil ich diese Diskussion, die grundsätzliche Fragen über Verfassung, Zweck, Form und Perspektive der deutschen Erinnerungskultur aufwirft, für ebenso aktuell wie anregend halte. Es ist an der Zeit, sich diesen wichtigen Fragen und Herausforderungen zu stellen, die in der allgemeinen Routine und Betriebsamkeit der Erinnerungsaktivitäten keine Chance haben.

Neben dem Abtreten der Zeitzeugen und dem Generationswechsel gibt es weitere Gründe für das gegenwärtige Unbehagen an der deutschen Erinnerungskultur. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und an den Holocaust wird bald ausschließlich mediatisiert sein. Dabei spielt auch eine wichtige Rolle, dass sich die Medienlandschaft durch den allgemeinen Zugang zu digitalen Medien und insbesondere zu den sozialen Medien stark verändert. Welche Bedeutung haben nationale Zugehörigkeiten noch in einer digitalen Welt, in der jede von jedem gleich weit entfernt ist und auf dasselbe Repertoire von Bildern, Texten und Tönen zugreifen kann? Ebenso hat sich die Zusammensetzung der Gesellschaft in Zeiten der Einwanderung grundsätzlich gewandelt. Hinzu kommt, dass die Deutschen immer stärker im Begriff sind, ihre Geschichte auch als Teil einer gemeinsamen europäischen Geschichte zu begreifen. All das erfordert und ermöglicht neue Zugänge zur Vergangenheit, die Auswirkung auf die Qualität der Erinnerungskultur haben werden.

1998 war es die Rede Martin Walsers in der Frankfurter Paulskirche, die Anlass zu einer ähnlichen Generalreflexion bot und mich damals zu einer Anatomie der Debatte anregte.[7] Diesmal sind es die Stimmen des Unbehagens, die mir den Anstoß geben, Schlüsselbegriffe der Debatte zu identifizieren und sie zum Gegenstand einer vertiefenden Reflexion zu machen. Die hier angebotene kritische Durchleuchtung der deutschen Erinnerungskultur reicht von aktuellen Medienangeboten wie dem ZDF-Dreiteiler Unsere Mütter, unsere Väter bis zu weitreichenden transnationalen Bezügen. Sie beschränkt sich dabei nicht auf die Momentaufnahme des gegenwärtigen Zeitpunkts, sondern bettet die Debatte in einen weiteren europäischen und globalen Kontext ein. Damit soll der Erinnerungsdiskurs ein Stück weit aus seiner deutschen Selbstbezüglichkeit herausgelöst und die Frage nach Bedeutung und Zukunft der Erinnerung auch in eine transnationale Perspektive gestellt werden.

Die vielen Fragen, die an diesem Wendepunkt anstehen, können hier in keiner Weise erschöpfend thematisiert werden. Es ist aber das Anliegen dieser Intervention, wichtige Stichworte und wiederkehrende Themen aus dem Unbehagen-Diskurs aufzunehmen und als kritische Denkanstöße zu würdigen. Dabei soll gleichzeitig der Versuch unternommen werden, die Begrifflichkeit zu schärfen und konkrete Probleme zu konturieren, um damit eine breitere Grundlage für diese wichtige Auseinandersetzung zu schaffen. Mein Anliegen geht dahin, die Erinnerungskultur trotz evidenter Probleme und Fehlentwicklungen als tragendes Element unserer Zivilgesellschaft auszuweisen. Unbehagen artikuliert sich oft als Unmut; es macht sich Luft in der Abfuhr von Frustrationen und verdichtet sich in Polemik. Nicht immer ist ganz klar, wogegen sich das Unbehagen genau richtet: Handelt es sich um persönliche Invektiven? Um einen fachlichen Richtungsstreit? Um Überdruss und allgemeine Abwehr? Ich werte die unterschiedlichen Stimmen als Ausdruck einer Krise, die sich in emotional gefärbten Ausdrucksformen niederschlägt. Diese wiederum sind Fingerzeige auf unbearbeitete Probleme, die sich angestaut haben und noch nicht wirklich in die Form einer Diskussion oder Debatte überführt worden sind. Zu einer solchen Übersetzung von Unbehagen in kritische Auseinandersetzung möchte diese Intervention beitragen – in der Hoffnung, damit zugleich auch einen Beitrag zur Selbstaufklärung und Erneuerung des gemeinsamen Projekts der Erinnerungskultur zu leisten.

VERGESSEN, BESCHWEIGEN, ERINNERN

Ist Erinnern notwendig ein Segen? Ist Vergessen
immer ein Fluch? Ist jeder Gebrauch, den wir
von der Vergangenheit machen, legitim?
Tzvetan Todorov[1]

1. Probleme mit der Gedächtnisforschung

Ich beginne diese Studie über das Unbehagen an der Erinnerungskultur mit einem kurzen Auftakt über das Unbehagen an den Grundlagen des Erinnerns selbst und über die Kritik an der Begrifflichkeit, die diesem Konzept zugrunde liegt. Denn es gibt einige, die nicht nur mit den Formen der Erinnerungskultur unzufrieden sind, sondern bereits die Tatsache als solche in Abrede stellen. Sie hadern schon mit der Voraussetzung, dass Erinnern und Vergessen kognitive Tätigkeiten sind, die nicht nur Individuen, sondern auch Kollektiven wie Gruppen, Gesellschaften und Staaten zuzurechnen sind. Deshalb sollen hier zunächst einige begriffliche Grundlagen geklärt und soll insbesondere auf das Konzept des ‹kollektiven Erinnerns› eingegangen werden, dem sich manche nach wie vor hartnäckig widersetzen.

Individuelles und kollektives Gedächtnis

Es gibt insbesondere unter Historikern eine konstante Gruppe von Agnostikern, die mit der Begrifflichkeit des ‹kollektiven Gedächtnisses› nichts anfangen können. Diese Tradition beginnt bereits mit Marc Bloch in den 1920er Jahren. Der Mitbegründer der Annales-Schule hielt Maurice Halbwachs, dem Pionier der Gedächtnisforschung, vor, der Begriff des ‹kollektiven Gedächtnisses› stütze sich auf eine Metapher und sei deshalb fiktiv. Die Metapher lege die Vorstellung nahe, ein Kollektiv ‹habe› ein Gedächtnis, so wie Organismen ein Gedächtnis ‹haben›. Davon war bei Halbwachs allerdings nie die Rede, der in sehr konkreten soziologischen Studien untersuchte, wie sich Gruppen ein Gedächtnis schaffen. Dieses gemeinsame Gedächtnis schließt allerdings nicht individuelle Gehirne wie die Computer einer LAN-Party zusammen, sondern beruht auf gemeinsamen Riten, Symbolen und Geschichten, an denen man teilnimmt und die man sich gegenseitig erzählt. Es führt kein direkter Weg von individuellen Erfahrungen und Erinnerungen zu einem kollektiven Gedächtnis. Dieses ist keine Ansammlung von Einzelerinnerungen, sondern eine rekonstruierte Geschichte, die den Rahmen absteckt für die eigenen Erinnerungen, sodass man sich mit selbst Erlebtem in ihr wiedererkennt oder sich dieser Geschichte zurechnen kann. Das kollektive Gedächtnis ist im doppelten Sinn repräsentativ: Es repräsentiert einen als zentral bewerteten Ausschnitt der Vergangenheit und ist repräsentativ für Einzelschicksale. Dabei geht es immer um die doppelte Frage: Was wollen wir erinnern, was können wir vergessen? Diese Frage muss von Mal zu Mal unterschiedlich beantwortet werden – genau darin liegt die Dynamik des Erinnerns als eines unabschließbaren Prozesses.

Durch Einbindung in Kommunikation und Teilnahme an gemeinsamen Überlieferungsbeständen werden Gruppengedächtnisse aufgebaut, die jeweils ganz unterschiedliche Grade der Festigkeit, Reichweite und Verbindlichkeit aufweisen. Nur das, was in Museen ausgestellt, in Denkmälern verkörpert und in Schulbüchern vermittelt wird, hat auch die Chance, an nachwachsende Generationen weitergegeben zu werden. Ein kollektives Gedächtnis ermöglicht es den Mitgliedern einer Gesellschaft, über räumliche und zeitliche Entfernungen hinweg Bezugspunkte in der Vergangenheit festzuhalten und gemeinsame Orientierungsformen aufzubauen. Auf diese Weise kann man sich als Teil einer größeren Einheit begreifen, die weit über die individuelle Erfahrung hinausgeht. Diese hier in aller Kürze zusammengefassten Grundlagen der kulturellen Gedächtnisforschung finden bei den besagten Agnostikern keinerlei Zustimmung; im Gegenteil fühlen diese sich berufen, den erinnerungskulturellen Forschungskonsens mit militanten Common-Sense-Argumenten immer von Neuem in Frage zu stellen. Nehmen wir als prominentes Beispiel den 2006 verstorbenen Historiker Reinhart Koselleck:

Meine These ist: ich kann nur das erinnern, was ich selber erfahren habe. Erinnerung ist an die persönliche Erfahrung zurückgebunden. Ich habe keine Erinnerung bis auf das, was ich selbst erfahren habe. Ich würde sogar soweit gehen zu sagen, dass jeder Mensch ein Recht auf seine eigene Erinnerung hat. Das ist das Recht auf seine eigene Biographie, das Recht auf seine eigene Vergangenheit, die ihm durch keine Kollektivierung, durch keine Homogenisierung, durch keine Zumutung genommen werden kann. Diese Erinnerung ist etwas völlig anderes als die Erinnerung, die das deutsche Volk zum 27. Januar, dem Tag der Befreiung von Auschwitz durch die Russen, offiziell feiert.[2]

In dieser These stecken mehrere Überzeugungen, die hier einzeln diskutiert werden sollen. «Ich habe keine Erinnerung bis auf das, was ich selbst erfahren habe.» Jedem ist sofort verständlich, was damit gemeint ist: Erinnerungen kann man sich (bisher noch) nicht implantieren lassen, sie sind an die genuin eigene Wahrnehmungs- und Erfahrungsperspektive gebunden und gehören damit zum unveräußerlichen Besitz der Person. Es soll, so Koselleck, daher ein Menschenrecht auf diese Erinnerung geben, weil sie wie die Glaubensüberzeugungen zum Grundbestand des freien und authentischen Selbst gehört. Diese Überzeugung leuchtet ein, auch wenn hier bei näherer Betrachtung einige Fragezeichen angebracht werden könnten. Koselleck betont bereits selbst, «dass es zwar keine kollektiven Erinnerungen gibt, aber (…) kollektive Bedingungen der möglichen Erinnerungen». Jeder weiß von sich selbst, dass der eigene Fundus der Erinnerungen unweigerlich mit Bildern und Anekdoten anderer durchsetzt ist und dass sich gerade bei den frühen Erinnerungen keine scharfe Grenze zwischen dem Selbsterlebten und dem, was man erzählt bekommen hat, ziehen lässt. Darüber hinaus teilen wir mit anderen nicht nur unsere Sprache und kulturellen Kategorien, sondern auch das, was Maurice Halbwachs ‹Gedächtnisrahmen› genannt hat. Unter diesem Begriff fasst er gruppenbezogene Kriterien der Auswahl und Relevanz, der kollektiven Deutungsmuster und emotionalen Besetzung von Ereignissen zusammen.[3] Deshalb kann man den Spieß auch umdrehen und die umgekehrte Frage stellen: «Kann es – wie Kritiker des Gruppenkonzeptes behaupten – ein rein individuelles Erinnern geben?»[4] Individuen, so die Gegenthese, erinnern eben nicht nur solipsistisch für sich selbst, sondern gehören, ob ihnen das bewusst ist oder nicht, immer schon größeren Erinnerungskollektiven an, in deren Rahmen sie sich mit den Anderen oder gegen die Anderen erinnern.

Kosellecks leidenschaftliches Plädoyer läuft darauf hinaus, dass zwischen einer persönlichen und einer kollektiven Erinnerung unbedingt zu unterscheiden ist. Damit bestätigt er aber zugleich die Existenz des Phänomens der kollektiven Erinnerung. Sie ist also keine reine Metapher und kein referenzloses Hirngespinst der Theoretiker, sondern existiert durchaus, wenn auch auf einer anderen Ebene: der Ebene des Gedenkens. Koselleck wehrt sich mit Recht gegen den Versuch, diese beiden Formen von Erinnerung gleichzusetzen, auch wenn nicht ganz klar wird, wer je den Anspruch erhoben hätte, persönliches Erinnern und kollektives Gedenken in eins zu setzen.[5] Ich gehe jedenfalls davon aus, dass die Deutschen, die am 27. Januar an die Befreiung von Auschwitz denken, sehr gut wissen, dass sie keine persönliche Erinnerung an diesen Ort haben. Sie können sich Bilder und Filme anschauen oder Reden anhören, Texte lesen und sich mit anderen Menschen darüber unterhalten, Ausstellungen und Gedenkorte besuchen und sich dabei jährlich an dieses historische Ereignis erinnern lassen. Sie können das Datum aber auch ganz einfach ignorieren, denn die Teilnahme an diesem Wissen und seinem kollektiven Identitätsbezug ist grundsätzlich freiwillig und kann in einer Demokratie nicht erzwungen werden. Das Datum im Kalender entspricht deshalb keiner allgemeinen und gleichförmigen Erinnerungsverordnung, sondern bietet lediglich einen Erinnerungsanlass, den jeder und jede nach eigenen Interessen und Motivationen wahrnehmen kann.

Geschichte und Gedächtnis

Es ist mit Koselleck also unbedingt zwischen kollektiver und persönlicher Erinnerung zu unterscheiden. Mit großem Pathos betont Koselleck, dass die persönliche Erinnerung nicht von der kollektiven Erinnerung gleichgeschaltet und mundtot gemacht werden dürfe. Offenbar denkt er hier an seine eigene Erfahrung in der totalitären Gesellschaft des Nationalsozialismus, die er als Schüler und Soldat bewusst und aktiv miterlebt hat. Wie Orwell nach dem Krieg in seinem Roman 1984 anschaulich dargestellt hat, versuchen totalitäre Gesellschaften die Vergangenheit nach dem Bilde ihrer jeweiligen Machtinteressen zu formen und unterdrücken dabei die subversive Kraft der persönlichen Erinnerung, die dieser kollektiven Fiktion ein Veto entgegensetzen könnte. Derselbe Widerstand gegen eine politisch gefährliche, ausschließlich Machtinteressen stützende Konstruktion der Vergangenheit bestimmt auch Kosellecks Zugang zur Geschichtswissenschaft. Als Historiker steht er auf der Seite der Wahrheit, «die von niemandem bestritten und geändert werden darf und kann, was immer Gedächtnis und Erinnerung sonst produzieren».[6] So leidenschaftlich er für die Authentizität des persönlichen Erinnerns und gegen das kollektive Erinnern eintritt, so leidenschaftlich tritt er für die historische Wahrheit und gegen die Machenschaften des Gedächtnisses ein: «Es gibt so viele Erinnerungen wie Menschen und jede Kollektivität, die darüber gestülpt wird, ist m. E. a priori Ideologie oder Mythos. Keine Ideologie und kein Mythos ist dagegen jene Erinnerung, die durch die Düse der historischen Kritik gelaufen ist.»[7]

In die von Koselleck konstruierten Oppositionspaare ist die klare Wertung ‹gut vs. schlecht› bzw. ‹real vs. fiktiv› eingeschrieben. Wer würde sich hier nicht sofort für die kritische Historiographie und gegen Ideologie und Mythos entscheiden? Auf dieser epistemologischen Basis ist der Zugang zur Thematik des kollektiven oder kulturellen Gedächtnisses allerdings ein für allemal versperrt. Der Schlüssel, mit dem dieser Zugang aufzuschließen wäre, lautet Identität. Menschen leben, so diese Prämisse, nicht nur als Individuen zusammen, die sie selbstverständlich immer bleiben, sondern sie leben auch in Gesellschaften, Gruppen und Kulturen, denen sie sich zugehörig fühlen und mit deren Hilfe sie sich selbst verstehen und definieren. Solche Identitäten kommen nicht ohne Rückbezüge auf die eigene Vergangenheit aus, sei es, um sich an Vorbildern zu orientieren, sei es, um sich Rechenschaft abzulegen. Für Koselleck muss der Historiker jedoch immer auf der Gegenseite stehen. «Der Auftrag der Historie (ist) m. E. höher und wichtiger als der Anspruch, Erinnerungen kollektiv zu verkaufen.» Und er geht noch einen Schritt weiter: Der Historiker «hat nicht die Aufgabe, Identität zu stiften, sondern sie zu vernichten».[8]

Diese Worte sind eine klare Kampfansage nicht nur an die Gedächtnisforschung, sondern auch an die Gedächtnismacher. Wer zeichnet verantwortlich für die Konstruktionen des Gedächtnisses? Die Antwort hängt von der Form des politischen Gemeinwesens ab. In totalitären Gesellschaften ist es der Staat, der das kollektive Gedächtnis schafft und kontrolliert; in Demokratien sind es obendrein auch die Bürger, die Künstler, die Parteien und vor allem die Medien. Koselleck verwischt diesen wichtigen Unterschied, wenn er die folgenden «sieben großen Ps» als Chef-Ideologen und Mythenfabrikanten für die Gedächtniskonstruktionen verantwortlich macht: «die Professoren, die Priester, die Pfarrer, die PR-Spezialisten, die Presseleute, die Poeten und die Politiker. Das sind sieben Kategorien in der Gesellschaft, deren Referenzbestimmungen sich auf Kollektivität beziehen, die sie durch Homogenisierung, Kollektivierung, Vereinfachung, Verschlichtung und Mediatisierung selber stiften wollen.»[9] Wer sich auf Kosellecks Opposition ‹geschichtliche Wahrheit› vs. ‹Mythos der Erinnerung› einlässt, kann deshalb nicht anders, als den neuen Forschungszweig der Gedächtnisstudien in toto abzulehnen. Wer jedoch davon ausgeht, dass Menschen nicht nur als vereinzelte Individuen, sondern auch in Gruppen leben, die durch Bande der kulturellen Erfahrung, der historischen Prägung und der sozialen Loyalität zusammengehalten werden, dem eröffnet die Frage nach den Bindungs- und Konfliktpotentialen des Gedächtnisses ein weites neues Forschungsfeld.

Wer diesen Schritt in die Gedächtnisgeschichte tut, dem bietet sich ein vielfältiges Bild. Er hat die abgesicherte wissenschaftliche Domäne der Wahrheit und Distanz verlassen und sieht die historischen Akteure in einem Beziehungsgefüge von Werten und Aspirationen, symbolischen Praktiken und emotionalen Investitionen. Voraussetzung dafür ist nichts anderes, als dass Menschen sich brauchbare Vergangenheiten zurechtlegen, von belastenden Episoden ihrer Geschichte heimgesucht werden oder sich auf die eine oder andere Weise dem Druck dieser Vergangenheit stellen. Im Medium der Erinnerung setzt man sich in der Gegenwart für die Zukunft gemeinsam Ziele. Die Begriffe ‹Ideologie› und ‹Mythos› ändern in diesem Licht ihre Bedeutung. Sie stehen plötzlich nicht mehr für ‹Verblendung› und ‹Lüge›, sondern für symbolische Konstrukte, die Menschen zusammenhalten und mit deren Hilfe diese ihr Leben organisieren. Die Einsicht, die noch dazukommt, ist die, dass Menschen ohne solche Konstrukte nicht auskommen, sondern auf symbolische Formen gemeinschaftlicher Rückversicherung und Orientierung angewiesen sind. Wenn dieser Schritt vollzogen ist, kann und muss man auf einer nächsten Stufe freilich die Frage nach Funktion und Beschaffenheit dieser Konstrukte stellen. Denn Konstrukt ist nicht gleich Konstrukt; es gibt, wie noch ausführlicher zu zeigen sein wird, aggressive sowohl wie produktive und Gewalt mobilisierende sowohl wie zivilisierende Gedächtnishorizonte.

Wir dürfen also von unterschiedlichen Formen des Erinnerns ausgehen – persönlichen und kollektiven –, die sich keineswegs gegenseitig aufheben oder ausschalten. Dasselbe gilt für das Nebeneinander von Gedächtniskonstruktionen und historischer Forschung. Auch hier stoßen wir auf einen Problemkomplex des Unbehagens, aus dem ununterbrochen Irritationen, Vorwürfe, Polemiken, Unklarheiten hervorgehen. Deshalb sind hier ein paar (hoffentlich) klärende Sätze angebracht. Die polemische Gegenüberstellung von ‹Gedächtnis› und ‹Geschichte› wurde zu einem Topos der 1990er Jahre. Dieses Verhältnis wird heute immer seltener als eines der gegenseitigen Verdrängung und immer öfter als eines der gegenseitigen Ergänzung diskutiert. Einerseits können die Historiker einer demokratischen Gesellschaft nicht vorschreiben, was und wie sie sich zu erinnern hat. Normative Fragen dieser Art sind nicht Teil ihres Geschäfts; diese Zumutung müssen sie von sich weisen, denn mit dieser Aufgabe wären sie völlig überfordert. Das meint Koselleck, wenn er davon spricht, der Historiker «hat nicht die Aufgabe, Identität zu stiften, sondern sie zu vernichten». Identität zu stiften, das wäre das Geschäft eines ‹Historikers im Dienste der Macht›, von dem sich der ‹Historiker im Dienste der Wahrheit› so klar wie möglich distanzieren muss. Andererseits dürfen sich die Konstruktionen des Gedächtnisses nicht gegenüber der historischen Forschung immunisieren. Was eine Gesellschaft als verpflichtende Grundlage ihres Vergangenheitsbezugs auswählt, muss sich dem Licht der kritischen Forschung aussetzen. Das Vergangenheitsmonopol eines Staates, der die unabhängige Geschichtsschreibung ausschaltet, führt unmittelbar zu Ideologie und Mythos im oben beschriebenen Sinne; andererseits führt eine kritische Historiographie, die neben sich keine Möglichkeiten von Gedächtnis und Identitätsbezug zulässt, zur Selbst-Enteignung der Geschichte durch ihre Verwissenschaftlichung. Das war schon Friedrich Nietzsches großes Thema: Wie konnte man verhindern, dass sich normative kulturelle Identitätsbezüge durch die moderne historische Wissenschaft gänzlich auflösen? Ein halbes Jahrhundert später formulierte Walter Benjamin die Einsicht, «dass Geschichte nicht allein eine Wissenschaft, sondern nicht minder eine Form des Eingedenkens ist», womit sich, wie Jürgen Habermas dann später hinzufügte, «unsere Verantwortung auch noch auf die Vergangenheit ausdehnt».[10]

Da individuelles Erinnern, kollektives Gedächtnis (bzw. Eingedenken, kulturelles Gedächtnis) und Historiographie irreduzible Zugänge zur Vergangenheit sind, die sich nicht aufeinander zurückführen lassen, ist von einer Pluralisierung der Vergangenheitsbezüge auszugehen. Dieses Nebeneinander braucht nicht als postmoderne Relativierung, sondern kann als ein System der checks and balances, der gegenseitigen Ergänzungen und Kontrolle verstanden werden. Wir können gleichzeitig feststellen, dass die Grenzen zwischen den Domänen gar nicht mehr so undurchlässig sind und vermehrt auch Überschneidungen aufweisen. Die Historiker, die Kosellecks klare Dichotomie von ‹kritischer Historie› einerseits und ‹Ideologie und Mythos› andererseits unterschreiben, haben allerdings den strategischen Vorteil, dass sie sich damit in polemische Konfrontation zu einem abgewerteten Anderen begeben und immer überlegen fühlen können. Wer gegen ‹Ideologie› und ‹Mythos› zu Felde zieht, hat die moralische Sicherheit, auf der richtigen Seite zu stehen. Wer jedoch inzwischen gelernt hat, dass auch die eigene Position Anteile von Ideologie und Mythos aufweist, wird diese einfache Selbstpositionierung, außer in klaren politischen Kampfsituationen, immer weniger aufrechterhalten wollen. Das Problem ist nicht die Frage nach Ideologie und Mythos, sondern die nach gegensätzlichen politischen Optionen: Geht es im konkreten Fall um die einseitige Instrumentalisierung der Vergangenheit zu Machtzwecken oder die rechtsstaatliche Selbstkritik und Anerkennung von historischer Verantwortung? Innerhalb der Geschichtswissenschaft gibt es nicht nur Agnostiker der Erinnerungskultur, sondern inzwischen auch ein reiches Spektrum unterschiedlicher Positionierungen im Spannungsfeld von Geschichte und Gedächtnis. Jörn Rüsen zum Beispiel, ehemaliger Kollege von Reinhart Koselleck in Bielefeld, arbeitet mit einem Konzept von ‹Geschichtskultur›, das wichtige Dimensionen der Kulturwissenschaft wie traumatische Nachwirkung, Emotionalität und Identitätsbezug in sich aufgenommen hat.[11] Paradoxerweise ist festzustellen, dass der Großteil der Gedächtnisforschung inzwischen von der Zunft der professionellen Historiker getragen wird, die darin offenbar keine Gewissensentscheidung zwischen Wahrheit und Lüge mehr sehen, sondern eine willkommene Ausweitung ihrer Methoden und Fragestellungen. Diese Entwicklung zerstreut auch die Sorge, dass die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung die Frage nach der Wahrheit außen vor lässt und sich selbst hemmungslos an Ideologie- und Mythenproduktion beteiligt, denn die Untersuchung von Gedächtnisgeschichten schließt ja keineswegs kritische Perspektiven auf die untersuchten Befunde aus. Im Gegenteil hat sie sich längst zu einem reflexiven Meta-Diskurs und wichtigen Zweig der kritischen Analyse und Diagnostik von Gedächtniskonstruktionen entwickelt. Sobald man die platte Dichotomie von Geschichte und Gedächtnis aufgibt, werden die vielfältigen Bezüge zwischen beiden Formen des Umgangs mit der Vergangenheit sowie ihre gegenseitige Ergänzung sichtbar. Denn wir brauchen das Gedächtnis, um der Masse des historischen Wissens Leben einzuhauchen in Form von Bedeutung, Perspektive und Relevanz, und wir brauchen die Geschichte, um die Konstruktionen des Gedächtnisses kritisch zu überprüfen, die immer in bestimmten Machtkonstellationen entstehen und von den Bedürfnissen der Gegenwart diktiert sind.

Kulturelles Gedächtnis

Ähnlich wie Koselleck ist Jan Philipp Reemtsma, der Leiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung, ein Vertreter des radikalen Individualismus. Auch diese Position tritt mit einem exklusiven Anspruch auf, der andere Formen des Selbstverhältnisses negiert oder entwertet. Wie für Koselleck gilt auch für Reemtsma, dass sich nur Individuen erinnern können. Ihre Erinnerung ist ephemer und kurzfristig: «Weniges wird überhaupt bewusst wahrgenommen. Weniger wird ins Kurzzeitgedächtnis aufgenommen. Noch weniger wird längerfristig, kaum etwas als biographisch bedeutsam ein Leben lang erinnert.»[12] Die Möglichkeit eines ‹kulturellen Gedächtnisses› wird explizit ausgeschlossen. Die Einsicht, dass es auch ein auf Symbole gestütztes Gedächtnis gibt, das sich eine Gruppe als Form der Selbstvergewisserung und Orientierung für die Zukunft aufbaut und über Generationen hinweg weitergibt, war jedoch ein wichtiger Lernschritt, der seit den 1980er Jahren unser Verständnis von Kulturen und unsere Perspektive auf gegenwärtige Veränderungen erweitert hat. Kulturen, so diese These, schaffen gemeinsame überlebenszeitliche Wissens- und Bezugsräume, in denen sich die Angehörigen dieser Kultur mit ihren eigenen Erfahrungen verorten und orientieren. Vergangenheit ist deshalb nicht nur etwas, das automatisch vergeht oder was nur noch die Historiker etwas angeht. Wer sich mit Erinnerung beschäftigt, weiß, dass der Gegensatz zwischen Vergangenheit und Zukunft in die Irre führt. Erinnerung, das hat der Hirnforscher Eric Kandel am Beispiel der Wasserschnecke Aplysia nachgewiesen, dient dazu, «unter Rückgriff auf ein in der Vergangenheit etabliertes Reizmuster eine Anforderung in der Gegenwart zu meistern, um in der Zukunft überleben zu können.»[13] Auch im Bereich der Kultur dient Erinnerung «der Orientierung in einer Gegenwart zu Zwecken künftigen Handelns».[14] Es gibt, soweit wir wissen, keine Kultur, die nicht mit ihren je eigenen Mitteln Strategien und Praktiken eines kulturellen Gedächtnisses entwickelt hätte.

In westlichen Kulturen wird Vergangenheit arbeitsteilig verwaltet. Sie wird von verschiedenen Institutionen wie Bibliotheken, Archiven und Museen bereitgehalten, um als Informationsquelle, als Bildungsgut, als künstlerische Ressource, als Gegenstand der Aneignung und nachträglichen Auseinandersetzung genutzt zu werden. Persönliches Erinnern und Vergessen sind deshalb immer schon in diese größeren Zusammenhänge kulturellen Erinnerns und Vergessens integriert. Menschen entscheiden nicht nur für sich selbst, was sie erinnern wollen und was nicht, sondern auch gemeinsam über das, was auch in Zukunft noch Geltung behalten und für die Nachwelt erreichbar sein soll. In diesem Sinne wurden und werden permanent Weichen für die Zukunft des Gedächtnisses gestellt, indem Entscheidungen und Vorkehrungen darüber getroffen werden, welche Autoren noch gelesen werden, welche Musik noch gehört wird, welche Dokumente noch erhalten werden, welche Ereignisse noch im Bewusstsein bleiben sollen. Anders als die Konjunkturzyklen des Marktes, die auswählen, was in der Gegenwart ankommt und was nicht, geht es bei den Auswahlentscheidungen des kulturellen Gedächtnisses um kulturelle Nachhaltigkeit. Sie werden meist stellvertretend von einer Minderheit getragen, aber in Demokratien auch von öffentlichen Diskursen begleitet. Der abstrakte Begriff ‹kulturelles Gedächtnis› bezieht sich also auf ein breites Spektrum kultureller Praktiken wie die Konservierung von Spuren, die Archivierung von Dokumenten, die Sammlung von Kunst und Relikten einschließlich ihrer Reaktivierung durch mediale oder pädagogische Vermittlung. Das kulturelle Gedächtnis ist nämlich nicht nur ein passives ‹Speichergedächtnis›, sondern umfasst gerade auch die Reaktivierung dieser Vergangenheit und die Möglichkeit ihrer allgemeinen Aneignung als aktives ‹Funktionsgedächtnis›. Das bedeutet, dass Strukturen der Partizipation eine wichtige Rolle spielen, die Prozesse individueller oder kollektiver Wiederaneignung ermöglichen. All das unterscheidet das kulturelle Gedächtnis vom abstrakten Fundus des enzyklopädischen Wissens, das universale Geltung, aber keinen Identitätsbezug hat. Die Möglichkeiten der Teilhabe wirken in der Demokratie allerdings eher als ein Angebot denn als eine verbindliche Verpflichtung. Auf diese Weise kommen wir vom Ich zum Wir und damit zu vielen unterschiedlichen Gruppen, die keineswegs alle im Gleichklang oder Gleichschritt formiert sind. Kollektivierung in Gestalt von Homogenisierung – das wäre tatsächlich, wie Koselleck zu Recht bemerkt, eine Zumutung. Reemtsma beschreibt das kollektive Wir als Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit. In einem Aufsatz über Sinn und Unsinn der Gedenkstätten betont er, dass er «die Rede in der ersten Person Plural insofern (für) metaphorisch (hält), als mit ihr nicht einmal Mehrheiten behauptet werden. (…) Auch für Gedenkstätten – wozu sie errichtet worden sind, was aus ihnen werden soll – interessiert sich nur eine Minderheit. Aber diese Minderheit hat ihr Interesse durchgesetzt, als wäre es das aktive der Mehrheit, die es doch nur hat geschehen lassen.»[15]

Identitätsbezug

Wie viele andere seiner Generation hat Koselleck für das Konzept der Identität, wie es heute im Umlauf ist, keine Verwendung. Was zählt, ist allein die Individualität, die irreduzible Differenz des einzelnen und vereinzelten Menschen: «Das ist das Recht auf seine eigene Biographie, das Recht auf seine eigene Vergangenheit, die ihm durch keine Kollektivierung, durch keine Homogenisierung, durch keine Zumutung genommen werden kann.»[16] Koselleck spricht hier vor dem Hintergrund der totalitären Erfahrung, angesichts derer der Schutz der Individualität verständlicherweise zum höchsten Gut geworden ist. Dieser Blick hat ihn aber auch in eine dogmatische Position getrieben, die jegliche Form der Zugehörigkeit reflexartig als Kollektivierung, Homogenisierung, Zumutung denunziert. In einer Zeit, in der Bindungen an Gruppen, Traditionen und Kulturen als wichtiger Teil der Identität reklamiert und ins Selbstbild integriert wurden, ist Kosellecks Perspektive respektabel, aber als allgemeine Forderung nicht mehr haltbar. Die Welt ist inzwischen wesentlich komplexer geworden, worauf die Kulturwissenschaften zu antworten versuchen. So, wie es inzwischen nicht nur einen Begriff vom ‹Mythos als Lüge›, sondern auch vom ‹Mythos als fundierender Geschichte› gibt, gibt es inzwischen einen Identitätsbezug, der nicht automatisch als ‹Kollektivierung›, sondern als neue ‹Form der Selbstbestimmung› zu verstehen ist. Individualität wird dabei nämlich keineswegs ausgelöscht, sondern ergänzt, angereichert und neu akzentuiert.

Obwohl es inzwischen eine internationale Bibliothek zu dieser Thematik gibt, lehnen viele Historiker auch das Konzept der ‹kollektiven Identität› nach wie vor als illegitime Metapher ab. Sie perhorreszieren dieses Konzept vor allem deshalb, weil sie es mit nationalistischen Tendenzen assoziieren, die es in Deutschland nach 1945 unter allen Umständen zu bekämpfen gilt. Die Lehre, die sie aus der totalitären Vergangenheit ziehen, lautet: Nie wieder eine deutsche Identität! Damit waren jedoch Denkverbote verbunden, die sich immer mehr als problematisch erweisen. Denn dass es so etwas wie ‹politische Erinnerungsrahmen› gibt und dass sich überall auf der Welt Nationen ein Gedächtnis machen und dieses auf unterschiedliche Weise in der Gesellschaft kommuniziert und vermittelt wird, zeigt ein Blick auf die überall auf der Welt existierenden Gedenktage und Gedenkrituale sowie auf andere symbolische Praktiken der kollektiven Vergegenwärtigung der Vergangenheit.

Da jedes Gedächtnis durch seine Standpunktbezogenheit perspektivisch und parteiisch ist, wird es notwendig auch durch das bestimmt, was jeweils ausgeschlossen ist und vergessen wird. In Demokratien ist das Erinnerungskollektiv nie einheitlich; jedes Individuum steht im Kreuzungspunkt verschiedener Gruppengedächtnisse und kann sich eigenständig zwischen diesen Erinnerungsangeboten bewegen. Diese Uneinheitlichkeit wird auch durch die unterschiedlichen Ebenen der Kommunikation unterstrichen: die offizielle (was im Bundestag und den Landtagen gesagt wird), die öffentliche (was in den Medien zur Sprache kommt), die inoffizielle (was an Stammtischen diskutiert wird). In Deutschland existieren viele ‹Wirs› mit ihren Gruppengedächtnissen nebeneinander: die nichtjüdischen Deutschen als Täter des Holocaust, die jüdischen Deutschen als Opfer des Holocaust, die nichtjüdischen Deutschen als Opfer der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs, als Opfer von Flucht und Vertreibung, als Opfer von Verfolgung in der DDR, und nicht zu vergessen: die Deutschen mit Migrationshintergrund samt ihrer verschiedenen Herkunftsgeschichten. Das schließt jedoch keineswegs aus, dass es einen gemeinsamen Gedächtnisrahmen gibt, in dem diese unterschiedlichen Gruppen ihre Erinnerungen mit unterbringen können. Da es sich aber um einen Gedächtnisrahmen handelt, schließt er auch vieles aus. Dazu gehören Dinge, die die Normen des moralischen Konsenses der Gesellschaft in Frage stellen, worauf wir unter dem Stichwort Political correctness noch einmal zurückkommen werden, aber auch gedankenlos Vergessenes, das noch Teil der deutschen Erinnerung werden könnte, was unter dem Stichwort ‹dialogisches Erinnern› angesprochen werden soll.

Die Verknüpfung von Erinnerung und Kollektiv ist keineswegs trivial, weil sie ein Gedächtnis für die Zukunft begründet, das über die eigene Lebensspanne hinausweist. Wer jedoch auf einer rein individuellen Erinnerung insistiert, negiert die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Erinnerungskultur: «Mit der historisch abgeschlossenen Erfahrung endete auch das Ereignis selbst und lüde damit zum Ziehen eines Schlussstriches vor der klar abgegrenzten Gegenwart ein: Vergangenheit, die allzu schnell verginge. Es ist daher keine rein begriffliche Haarspalterei, auf den sozialen Charakter der Erinnerungen hinzuweisen, die immer schon kollektiv angelegt sind.»[17] Die Vergangenheit ist deshalb nicht nur ein Gegenstand des Wissens, den man zu den Akten legen kann, sondern auch durch Bande der Erfahrungen, Erinnerungen, Gefühle und Fragen der Identität mit der Gegenwart und Zukunft verbunden. Genau dafür hat Reemtsma in seinem Aufsatz auch sehr überzeugende Worte gefunden. Denn was ist nationale Erinnerung anderes als «Geschichtsdeutung im Sinne der Selbstdeutung: Wir wollen der Geschichte entnehmen, wer wir sind und was wir hoffen können.»[18] Auch Vera Kattermann hat aus psychoanalytischer Sicht das kollektive Gedenken mit dieser Identitätsdimension verbunden: «Auch wenn Sinnzuschreibungen und Bedeutungsgebung der Gedenktage immer wieder ausgehandelt werden und sich verändern können, sind sie doch Ausdruck der kollektiven Schlüsselbedeutung eines historischen Ereignisses, die vorläufigen Konsens gefunden hat: ‹Weil wir dieses erlebt haben, sind wir heute so. Unsere Erfahrungen begründen die Werte, die uns wichtig sind, mit dem Gedenken erinnern wir uns daran.›»[19]