© Detlef Lafrentz
Mit HEIKE GÖTZ von
Usedom bis Bremen
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IMPRESSUM
Copyright © 2022 Cadmos Verlag GmbH, München
Covergestaltung, grafisches Konzept: Gerlinde Gröll, www.cadmos.de
Layout, Satz: Tanja Bauer, Hantsch PrePress Services OG, Wien
Lektorat: Ing. Barbara P. Meister MA, FachLektor.at, Wien
Coverfotos: Heike Götz und Detlef Lafrentz
Druck: www.graspo.com
Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten. Abdruck oder Speicherung in elektronischen Medien nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung durch den Verlag.
Printed in EU
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ISBN: 978-3-8404-3064-0
eISBN: 978-3-8404-6638-0
EINLEITUNG
KAPITEL 1: SWINEMÜNDE–GREIFSWALD
TAG 1: Swinemünde–Zirchow
TAG 2: Zirchow–Usedom
TAG 3: Usedom–Pinnow
TAG 4: Pinnow–Hohendorf
TAG 5: Hohendorf–Kemnitzerhagen
TAG 6: Kemnitzerhagen–Greifswald
KAPITEL 2: GREIFSWALD–ROSTOCK
TAG 7: Greifswald–Grimmen
TAG 8: Grimmen–Tribsees
TAG 9: Tribsees–Kölzow
TAG 10: Kölzow–Sanitz
TAG 11: Sanitz–Rostock
KAPITEL 3: ROSTOCK–LÜBECK
TAG 12: Rostock–Bad Doberan
TAG 13: Bad Doberan–Alt Karin
TAG 14: Alt Karin–Neuburg
TAG 15: Neuburg–Wismar
TAG 16: Wismar–Grevesmühlen
TAG 17: Grevesmühlen–Schönberg
TAG 18: Schönberg–Lübeck
KAPITEL 4: LÜBECK–WEDEL
TAG 19: Lübeck–Reinfeld
TAG 20: Reinfeld–Nütschau
TAG 21: Nütschau–Nahe
TAG 22: Nahe–Hamburg/Poppenbüttel
TAG 23: Hamburg/Poppenbüttel–Hamburg/Zentrum
TAG 24: Hamburg/Zentrum–Wedel
KAPITEL 5: WEDEL–BREMEN
TAG 25: Wedel–Harsefeld
TAG 26: Harsefeld–Zeven
TAG 27: Zeven–Otterstedt
TAG 28: Otterstedt–Lilienthal
TAG 29: Lilienthal–Bremen/Dom
GASTKOMMENTARE & INTERVIEWS
Philipp Schmid
Detlef Lafrentz
Klaas Grensemann
Kristina Lohe
Karsten Schulz
Franziska Flügler, Stephanie Thieß
Henrike Kern
Interview mit Bernd Lohse
Interview mit Henner Flügger
DANKE
KARTEN
© Detlef Lafrentz
… ich gehe los!
Was heißt das eigentlich? Ohne Planung, ohne Vorbereitung, ohne Gepäck? Ohne Abschied von zu Hause? Ich begreife das eher so, dass das Losgehen auch ein Loslassen ist. Vom Vertrauten, Gewohnten, auch Sicheren. Ich verlasse meine Wohnung, in der ich mich wohlfühle, und gehe raus. In die Fremde, in das Unsichere. Nur mit dem Nötigsten im Rucksack. Ich verlasse mich auf mich. Dass mich meine Füße tragen, dass ich mit dem Wetter, dem Weg, den Schwierigkeiten zurechtkomme.
Einfach heißt für mich auch, dass ich wenig Gepäck habe. Ein schwerer Rucksack ist furchtbar. Was brauche ich denn auf so einer Pilgerreise? Schlafsack, Regenjacke, Wäsche zum Wechseln, ein bis zwei Wandershirts, Waschzeug (wenig!) und vor allem gut eingelaufene Schuhe. Wasser und etwas zu essen für unterwegs. Mehr nicht!!! Na gut, noch das Handy, mein Notizbuch, den Sonnenhut, ein Tuch, einen dünnen Schlafanzug und einen warmen Pullover. Aber das muss jetzt wirklich reichen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich nichts für Eventualitäten mitnehme. Zur Not kann ich alles unterwegs kaufen.
Aber was ist mit einem Buch, wenn auch ganz dünn, für abends? Ich lese doch zu Hause auch immer. Ja, aber… es wiegt, egal wie dünn es ist. Und ich habe bemerkt, dass es tatsächlich auch ohne geht. Ich bin so voller Eindrücke vom Pilgertag, die ich abends aufschreiben und sacken lassen möchte. Da tut es mir richtig gut, nicht noch in eine andere Geschichte abzutauchen, sondern einfach nur mal die Augen zu schließen und zu spüren, wie es mir geht. Oder in einer Kirche zu sitzen und die wohltuende Atmosphäre wirken zu lassen. Eine Meditation am Abend und Morgen ist erfrischend und bringt den Geist zur Ruhe. Na, und zur größten Not findet sich in jedem Gemeindehaus etwas zum Lesen. Da habe ich schon wunderbare Anregungen und Ideen bekommen.
Und das Wetter? Natürlich wünschen wir uns alle am liebsten keinen Regen auf dem Weg, schon gar kein Gewitter, dazu etwas Sonne, aber nicht zu viel, es soll nicht zu warm, aber auch nicht zu kalt sein. Solche idealen Tage sind allerdings äußerst selten. Was nun? Zu Hause bleiben? – Einfach losgehn heißt für mich auch, eben wirklich jeden Tag wieder neu loszugehn. Egal wie das Wetter ist. Selbstverständlich stellen wir uns bei Gewitter oder starkem Regen unter, haben Regenkleidung und Sonnenhut dabei, Blasenpflaster und etwas zu essen und zu trinken. Es ist mehr eine innere Einstellung, die ich unterwegs gelernt habe. Die Fähigkeit, mit dem umzugehen, was jetzt in diesem Moment ist, hilft mir auch im Alltag sehr.
Heike Götz
© Heike Götz
Wo beginnt eigentlich der Jakobsweg?
An der französischspanischen Grenze?
Bei mir vor der Haustür?
100 km vor Santiago de Compostela?
Oder hier in Świnoujście (deutsch: Swinemünde)?
© Philipp Schmid
Gut gerüstet für den Weg …
Wir entscheiden uns für diesen Startpunkt. Einfach, weil wir dem „gelben Büchlein“ folgen, unserer „Bibel“ für die nächsten 30 Tage. Und auch, weil ich diesen Weg vor ein paar Jahren schon einmal hier gestartet habe, als ich für die NDR-Sendung „Pilgern im Norden“ mit meinem Radiokollegen Philipp Schmid und einer Gruppe gepilgert bin. Nun also noch einmal und ganz privat mit meinem Mann Detlef Lafrentz.
Das ist ein vollkommen willkürlicher Startpunkt. Der Blick auf die Karte und in das erste Gästebuch in Zirchow zeigen, dass es tatsächlich Pilgerinnen und Pilger gibt, die ihren Jakobsweg im Baltikum beginnen. Von Swinemünde bis Bremen liegen ca. 600 km vor uns.
© https://www.kirche-mv.de/pilgerwege
© Heike Götz
Muschel in Swinemünde
© Heike Götz
Der Pilgerpass ist ein schönes Andenken
Los geht’s! Voller Vorfreude und Spannung starten wir – mein Mann Detlef und ich – in unser Abenteuer „Via Baltica“. Mit dem M-V-Ticket fahren wir zusammen für unglaublich günstige 25 € von Hamburg bis ins polnische Swinemünde. Kaum aus dem Bahnhof, entdecken wir auch schon die erste gelbe Muschel, DAS Zeichen der Jakobspilger. Sie wird uns den gesamten Jakobsweg bis Bremen (und letztendlich bis Santiago) Orientierung geben.
Wir gehen schnell noch zur Christkönigkirche, in der Hoffnung, hier unseren ersten Stempel für den Pilgerpass zu bekommen. Dieser Pilgerpass oder „Crendencial del Peregrino“ ist sozusagen unser offizielles Dokument, das uns als Pilgernde ausweist. Damit bekommen wir Obdach für eine Nacht in den kirchlichen und auch privaten Pilgerherbergen. Üblicherweise geben die Pilger dafür eine Spende (etwa 10 €). Und in jeder Herberge und auch in manchen Kirchen unterwegs bekommt man in den Pass einen Stempel. Das ist ein willkommenes Andenken an den Weg.
© Heike Götz
1 Eine kleine Holzbrücke führt über die Grenze
© Detlef Lafrentz
2 Einfach zu Fuß von Polen nach Deutschland
Leider ist an diesem Nachmittag niemand in der Christkönigkirche, trotzdem fühlen wir uns nun „auf dem Weg“. Ab sofort sind Detlef und ich also keine Touristen mehr, sondern Pilger. Wie fühlt sich das denn an? Ist es wirklich ein Unterschied? Eindeutig JA. Wir sind zu Fuß unterwegs, haben ein klares Ziel und folgen den uralten Wegen der Jakobspilger, wie schon so viele vor uns. Wir haben nur das Nötigste im Rucksack und werden ab jetzt – soweit es irgend geht – in Gemeindehäusern übernachten und uns in allem etwas einschränken. Sei es der Komfort beim Schlafen, Duschen oder Essen oder bei all den Bequemlichkeiten, die wir zu Hause selbstverständlich haben. Was sich vielleicht wie ein Verzicht anhört, ist in Wirklichkeit für uns in unserer Überflussgesellschaft ein großer Gewinn. Aber der stellt sich erst nach und nach heraus. Zuerst und jeden Tag neu heißt es: Gehen. Bei jedem Wetter, jeder Laune, jedem Weg. Das ist der Gewinn und gleichzeitig die Herausforderung.
Was nehme ich in meinem
(Lebens-)Gepäck mit?
Was kann ich an
Vertrautem weglassen?
Was ist nicht (mehr) nötig,
überflüssig?
Was ist nur noch Ballast?
Wie bei jedem Anfang ist etwas Aufregung dabei. Gleichzeitig eine große Freude. Wir verlassen den sicheren Hafen unserer Wohnung und brechen auf ins Unbekannte. Wie wird es werden? Habe ich auch nicht zu viel oder zu wenig im Rucksack? Tragen mich meine Füße und Beine jeden Tag zwischen 18 und 28 km? Wie werden wir unterkommen? Können wir überall Lebensmittel einkaufen? Was „macht“ so ein Weg mit mir, mit uns als Paar?
© Heike Götz
3 In der Kirche Zirchow finden Sie eines der an der Küste verbreiteten Votivschiffe
© Heike Götz
4 Landschaft hinter Zirchow
Der Fußweg von Polen nach Deutschland ist gleichzeitig ein internationaler Radweg. Wir überqueren das Grenzflüsschen und denken über Nachbarschaften, vom Menschen geschaffene Grenzen nach, über Sprachen, Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Verbindendes.
Über Kamminke und Garz geht es vorbei an einem kleinen Flugplatz auf schönen Wegen durch Wiesen und Wälder bis nach Zirchow. Das Stettiner Haff ist nicht weit. Heute ist für uns so etwas wie „Anpilgern“.
Es ist mit 14 km eine relativ kurze Strecke und trotzdem haben wir schon ein richtiges „Pilgergefühl“, als wir in Zirchow ankommen und Frau Schwichtenberg, die Pilgerverantwortliche der Gemeinde, uns herzlich begrüßt. In der Herberge im Gemeindehaus ist alles da: von einer Dusche über richtige Betten bis zu einer kleinen Küche. Die Kirche gegenüber ist offen. Sie ist schlicht und schön und heißt auch noch St.-Jacobus-Kirche. Wenn das kein gelungener Start ist! Wir schlafen wie die Murmeltiere und können es kaum erwarten, morgen weiterzugehen.
Ich finde es total verrückt, dass man tatsächlich „einfach losgehn“ kann. Der Weg ist da. Es gibt einfache, preiswerte Unterkünfte in vielen Gemeindehäusern am Weg, offene Kirchen und viele unbekannte Menschen, die uns Pilgern den Weg ermöglichen. Seien es die Herbergseltern, Ehrenamtliche, die den Weg erkundet, mit Muscheln und Pfeilen markiert und die Gemeinden „mit ins Boot“ geholt haben. Oder auch all die Pilgerinnen und Pilger, die vor mir gegangen sind.
Ich erlebe heute Usedom von seiner stillen Seite. Viele Male war ich „vorn“ an den Stränden und den bekannten Badeorten und Seebädern wie Ahlbeck, Heringsdorf oder Bansin. Unvergessliche Kindheitserinnerungen habe ich an Sommerferienlager in Ückeritz. Ich mag die Seebrücken und wunderbaren Strände sehr. Aber Usedom heute so ganz anders zu erleben, nämlich zu Fuß und auf einsamen Wegen, ist eine besondere Erfahrung für mich.
© Detlef Lafrentz
1 Am Eingang des DDR-Museums in Dargen gibt es noch ein Kult-Moped
© Heike Götz
2 Geh aus, mein Herz, und suche Freud
Es ist Hochsommer. Das Getreide färbt sich langsam von Grün zu Gelb. Es sieht so herrlich weich aus. Große runde Heuballen liegen auf gemähten Wiesen. 30 Grad im Schatten, es ist mitten in der Woche und wir sind unterwegs. Es ist wunderschön!
Der Weg führt teilweise auf einer stillgelegten Bahnstrecke entlang. Es ist die ehemalige Zugverbindung zwischen Berlin und Usedom, die um die Jahrhundertwende die „Sommerfrischler“ aus Berlin in nur zwei Stunden an die Ostsee gebracht hat. Es war die Blütezeit der sogenannten Kaiserbäder. Usedom hatte auch den Namen „Badewanne Berlins“. Diese schnelle Bahnverbindung gibt es seit Ende des Zweiten Weltkriegs leider nicht mehr. Aber schön, dass die vorhandene Trasse heute ein Wanderweg ist. Wir werden noch des Öfteren auf der Via Baltica auf stillgelegten Kleinbahntrassen pilgern.
In Dargen werden für mich Jugenderinnerungen wach. In der DDR aufgewachsen, bin ich natürlich begeistert über die „Schwalbe“, unser Kult-Moped, das gleich am Eingang des Dargener DDR-Museums steht. Für eine Besichtigung nehmen wir uns heute keine Zeit, aber ein Fotostopp muss natürlich sein.
Bald erreichen wir Stolpe, ein Dorf mit Kopfsteinpflasterstraße, schöner Kirche, einem Schloss und einem hervorragenden Pausenplatz auf Bänken am Dorfteich oder beim Bäcker mit Cafégarten. Gut gestärkt geht’s weiter nach Usedom-Stadt. Ich bin begeistert von der einsamen Natur. Und das auf Usedom! An den Stränden drängeln sich an so einem Sommertag wie heute die Leute und wir sind hier nahezu allein. Die Vögel zwitschern, Mohnblumen, wilde Rosen und Ginster blühen am Wegesrand. „Geh aus, mein Herz, und suche Freud in dieser lieben Sommerzeit!“ Dieses Kirchenlied von Paul Gerhardt passt genau zu meiner heutigen Stimmung.
© Heike Götz
3 Stadttor und Kirche in der Stadt Usedom
© Heike Götz
4 Pausenbank am Haff
Die Stadt Usedom hat der Insel ihren Namen gegeben. Es ist die älteste Stadt der Insel und ein typisches norddeutsches Ackerbürgerstädtchen. Die riesige Marienkirche ist am hübschen Marktplatz und direkt gegenüber ist das Gemeindehaus, in dem wir heute freundliche Aufnahme bei Herrn Tiede, dem Pastor, finden.