Über das Buch:
Westerwald, 1649: Die dreißigjährige Sophie betreibt mit ihrem alternden Vater eine Mühle in einem kleinen Dorf bei Altenkirchen. Eigentlich hatte sie gedacht, dass mit Ende des Krieges alles besser und ihr Mann endlich heimkehren würde. Stattdessen wird im Mühlengraben die Leiche eines Soldaten entdeckt. Danach ereignen sich seltsame Dinge. Sophie hört des Nachts Schritte, Haushaltsgegenstände verschwinden oder finden sich plötzlich am falschen Ort wieder. Die alte Magd Martha ist felsenfest überzeugt: In der Mühle spukt es. Doch diesen Gedanken weist Sophie weit von sich – nicht nur wegen der romantischen Gedichte, die sie findet. Es muss eine natürliche Erklärung geben. Kommt sie dem Geheimnis auf die Spur?
Über die Autorin:
Annette Spratte, Jahrgang 1970, lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in einem kleinen Dorf im Westerwald. Die Liebe zu Büchern begleitet sie in ihrem Leben schon länger als die Liebe zu Pferden und Bücher waren es auch, die ihr den Weg zum Glauben gewiesen haben, als sie noch sehr weit von Gott entfernt war. Heute arbeitet sie als Autorin und Übersetzerin. Wenn sie gerade nicht am Computer sitzt, kann man sie im Garten oder im Pferdestall antreffen. Über einen Besuch auf ihrer Homepage oder in den sozialen Medien freut sie sich sehr.
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Triggerwarnung: Dieses Buch enthält Szenen häuslicher Gewalt.Im Anhang findet sich ein Glossar mit Worterklärungen und historischen Fakten.
8. Kapitel
Michelbacher Mühle, 19. Juni 1649
Die Wächter nahmen die Schüsseln mit Haferbrei gern entgegen, die Sophie ihnen zum Frühstück brachte.
»Still hier draußen«, sagte der eine und ließ den Blick über den Hof schweifen.
Fast hatte Sophie den Eindruck, als wäre ihm diese Stille nicht geheuer.
»Ich bin jedes Mal froh, wenn ich aus der Stadt zurück bin und hier meine Ruhe habe«, erwiderte Sophie.
Der Wächter sah sie verwundert an und schien nicht so recht zu wissen, was er darauf antworten sollte.
»War etwas Besonderes in der Nacht?«, fragte Sophie weiter.
»Nein. Einmal dachte ich, ich hätte jemanden unter den Bäumen gesehen, aber das war wohl nur ein Fuchs oder so. Sonst war nichts. Habt Ihr ein Fuhrwerk?«
Sophie schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Die Schweden …«
Der Wächter winkte ab. »Wir werden sehen, wie wir den da zum Schindanger bekommen.« Er zeigte mit dem Daumen über die Schulter, ohne sich umzuwenden. »Ich glaube nicht, dass sich noch ein Hinweis findet, wer das ist.«
»Ob er wohl Familie hat …?«, sagte Sophie mehr zu sich selbst als zu ihrem Gegenüber und wartete dementsprechend keine Antwort ab, sondern ging in den Stall, um die Tiere zu füttern. Schweine wie Hühner stürzten sich mit Begeisterung auf die Gemüsereste, die gestern beim Kochen abgefallen waren.
Das Herz war ihr schwer, während sie die Eier aus dem Hühnerstall sammelte. Wenn nun ihr Dietrich auch irgendwo in der Fremde in einem Graben gelandet war, bis zur Unkenntlichkeit entstellt wie diese Leiche hier? Ebenso gut konnte er in einer Schlacht gefallen und mit Hunderten anderen in ein Massengrab geworfen worden sein. Man hörte auch oft, dass die Pest unter den Truppen grassiert hatte. Zum ersten Mal ließ sie den Gedanken zu, dass es äußerst unwahrscheinlich war, ihren Mann nach vier Jahren Krieg lebend wiederzusehen.
Mit dem Korb voller Eier auf dem Schoß saß sie auf einem Stein hinter dem Hühnerhaus und weinte still in ihre Schürze, während ein Teil von ihr sich darüber wunderte, dass ausgerechnet der Tod eines Fremden ihr den Verlust ihres Mannes vor Augen führte. Martha, ihr Vater, ihre Schwester Margret, alle hatten schon oft auf sie eingeredet, dass Dietrich nicht zu ihr zurückkehren würde. Doch sie klammerte sich an ihre Hoffnung, bockig wie ein kleines Kind und aller Vernunft zum Trotz, auch jetzt. Ihr Dietrich würde zurückkommen. Der grausame Tod des tauben Soldaten änderte nichts daran. Wenn er es denn war, der da kopflos neben dem Mühlengraben lag. Sophie richtete sich auf und wischte sich die Tränen ab, seufzte tief, stand auf und ging zurück an die Arbeit, als wäre nichts geschehen.
* * *
Entgegen ihren Erwartungen tummelten sich an diesem Vormittag doch wieder eine ganze Reihe von Besuchern im Hof der Mühle. Aus Michelbach gab es jetzt auch mehrere Beschwerden über Diebstähle, die sich bei genauerem Nachfragen der Wachen jedoch als nicht haltbar erwiesen. In jedem Fall ging es um Essen und in jedem Fall hätte es auch ein Familienmitglied gewesen sein können, denn es fehlten nie größere Mengen. Nur in einem Haushalt war angeblich ein Trinkbecher verschwunden.
Worüber sich aber alle Michelbacher einig waren, war das Hundegebell in der Nacht. Geschichten über den Wilden Mann wurden erst unterbrochen, als der Richter in Begleitung des Schultheißen von Michelbach in den Hof geritten kam. Er hielt sich nicht lange auf. Da keine neuen Hinweise zur Identität des Toten gefunden worden waren, der Kopf verschollen blieb und niemand vermisst wurde, ordnete er an, den Leichnam zum Schindanger zu bringen und zu begraben.
»Ich werde den Vorfall in meinen Akten vermerken. Ansonsten sehe ich keinen Handlungsbedarf. Herr Schneider, Ihr kümmert Euch um alles. Der Graf bittet alle darum, wachsam zu sein und sofort Bescheid zu geben, falls sich Ähnliches ereignet.« Damit verabschiedete sich der Richter und ritt davon, derweil der Schultheiß einen der Wagen auf dem Hof mitsamt Fahrer in Beschlag nahm, um die Leiche zum Schindanger zu bringen.
Gefangen in einer seltsamen Mischung aus Ekel und Faszination schaute Sophie zu, wie die Bauern die Leiche auf den Wagen luden. Natürlich nutzten die Wächter ihre Autorität, um den Toten nicht selbst anfassen zu müssen, begleiteten den Tross jedoch, um für einen reibungslosen Ablauf zu sorgen. Sobald Wagen und Reiter unter den Bäumen des Weges verschwunden waren, atmeten alle auf. Das gesamte Ereignis wurde bei einem Bierchen noch einmal aufgerollt, dann gingen auch die letzten Neugierigen zu ihrer jeweiligen Arbeit zurück und es kehrte wieder Ruhe auf der Mühle ein.
* * *
Am Sonntag war der Leichenfund nach dem Gottesdienst Gesprächsthema Nummer eins. Von allen Seiten drängten sich die Leute um Henrich, Sophie und Konrad, der ausnahmsweise nicht sofort verschwunden war, sondern sich in der Aufmerksamkeit sonnte. Während Henrich mit Begeisterung alles erzählte, was sich zugetragen hatte, hätte Sophie sich gern zurückgezogen, was leider nicht möglich war. Sie war nur froh, dass Martha nicht dabei war. Henrich sagte nichts vom Wilden Mann, vermutlich weil der Pfarrer in der Nähe stand und genau zuhörte, was der Müller zum Besten gab. Er hatte den Vorfall in seiner Predigt nicht erwähnt, wohl aber zu erhöhter Vorsicht vor Fremden aufgerufen und alle Christenmenschen ermahnt, sich gegenseitig die Nächstenliebe nicht schuldig zu bleiben, sondern sich auszuhelfen, wo es möglich war. Sophie vermutete, dass er damit auf die Essensdiebstähle anspielte.
Nach einer Weile spürte Sophie, wie ihr jemand am Ärmel zupfte. Elßgen hatte sich durch die Menge zu ihr vorgearbeitet und hakte sich bei ihr ein.
»Du siehst so aus, als wärst du lieber woanders«, flüsterte sie Sophie ins Ohr. »Komm, lass die Kerle reden, wir machen einen gemütlichen Spaziergang nach Hause.«
»Ich kann doch nicht einfach …«
»Herr Neuhoff, wir gehen schon mal. Mein Vater hat sicher einen Platz in der Kutsche für Euch!«, rief Elßgen mitten in die Erzählung des Müllers hinein und wartete nicht einmal auf eine Antwort. Sie zog Sophie einfach hinter sich her und hatte kein Problem damit, die Zuhörer unsanft zur Seite zu schieben, wenn sie ihr nicht bereitwillig Platz machten. Dafür wäre Sophie viel zu zurückhaltend gewesen.
Sobald sie die Menschentraube hinter sich gelassen hatten, atmete Sophie auf. »Danke für die Rettung«, sagte sie lächelnd.
»Nicht der Rede wert. Die letzten Tage habe ich nichts anderes gehört, als dass die Leute sich das Maul über eure Leiche zerrissen haben. So langsam habe ich genug davon.«
»Das ist nicht unsere Leiche!«, warf Sophie empört ein.
Bevor sie weitersprechen konnte, sagte Elßgen: »Du weißt schon, wie ich das meine. Mein Vater hat gesagt, es wäre der taube Soldat gewesen. Denkst du das auch?«
»Elßgen, du strafst dich gerade selber Lügen. Hast du nicht vor wenigen Augenblicken behauptet, du hättest genug davon?«
Elßgen lachte auf. »So langsam, habe ich gesagt. Diese eine Sache will ich noch wissen, dann können wir gern über etwas anderes reden.«
Sophie schwieg einen Moment. »Ja, ich denke das auch. Es war seine Kleidung und die drei Kumpanen sind ohne ihn verschwunden. Sonst kommt niemand infrage. Keiner wird vermisst, außer diesem Unbekannten, von dem wir nicht einmal den Namen wissen.«
»Die anderen haben ihn Jofri genannt. Das war irgendeine Abkürzung.«
»Jofri«, sagte Sophie leise und dachte an den Abend nach der Beerdigung, als er ihr gewunken hatte. Keinen Moment hatte sie darüber nachgedacht, ob sie ihn je wiedersehen würde. Jetzt war er tot.
»Warum macht dir das so zu schaffen?«, fragte Elßgen verwundert.
Mit einem Ruck kehrte Sophie aus ihrer Erinnerung in die Gegenwart zurück. »Wer sagt, dass es mir zu schaffen macht?«
Elßgen zog eine Augenbraue hoch.
Sophie seufzte tief. »Es ist nur …«, begann sie zögernd und stockte.
Elßgen wartete tatsächlich geduldig, bis sie weitersprach. Das dauerte eine Weile, in der sie das Schloss passierten und Altenkirchen durch das offene Stadttor verließen. Das Wetter hatte sich nicht nennenswert gebessert. Noch immer hing eine dichte Wolkendecke über der Gegend und es war relativ kühl. Zum Glück regnete es nicht.
»Ich dachte an Dietrich«, gab Sophie schließlich zu. »Was ist, wenn er wie dieser Soldat irgendwo gestorben ist? Ich werde nie erfahren, was mit ihm passiert ist.«
»Und ich dachte schon, du hättest mit dem Tauben angebandelt!«, rief Elßgen lachend.
»Elßgen, also wirklich«, protestierte Sophie.
»Hässlich war er ja nicht. Apropos, hast du Graf Christian gesehen? Sah er nicht unverschämt gut aus?«
Sophie überlegte kurz, ob sie Elßgen rügen sollte, entschied sich aber dagegen. Für ihre Freundin war Dietrich schon lange Geschichte und sie machte kein Hehl daraus, dass sie Sophies Hoffnungen auf seine Rückkehr nicht nachvollziehen konnte. Es schmerzte, ihre Gefühle für sich zu behalten, doch Sophie kannte es kaum anders. Seit ihre ältere Schwester ausgezogen war, hatte sie niemanden mehr, dem sie sich anvertrauen konnte.
»Natürlich habe ich den Grafen gesehen, der ist ja lange genug auf der Empore herumstolziert. Er hätte sich lieber mal um seine Frau kümmern sollen, die war furchtbar blass.«
»Findest du? Wahrscheinlich plagt sie die Schwangerschaft. Lange kann es nicht mehr dauern, bis das Kind kommt. Vielleicht gibt es einen kleinen Erbgrafen. Es würde Christians Stellung sichern.«
»Mir wäre es lieber, er würde seinen Platz endlich der Gräfin Luise Juliane räumen. Ihre Töchter sind die rechtmäßigen Erbinnen.«
»Das ist gar nicht sicher. Angeblich soll die Grafschaft geteilt werden! Soweit ich weiß, gibt es da schon Verhandlungen. Und wer weiß, wen wir dann hier vor die Nase bekommen. Graf Christian macht seine Sache eigentlich gut.«
»Die Hungergräfin macht es besser. Die sorgt sich wenigstens um ihr Volk, anstatt es nur auszubeuten. Man sollte meinen, unser armes Fleckchen Erde wäre aus reinstem Gold, so wie die hohen Herren sich darum zanken.«
»Da hast du wohl recht. Ich weiß auch nicht, was die alle hier wollen. Als hätten wir es nicht schwer genug. Sieh mal, die Hasen!« Elßgen deutete auf ein Gebüsch, unter dem sich zwischen zwei Feldern eine Hasenfamilie tummelte. Bei ihrem Ausruf hatten sie die Löffel aufgestellt und waren blitzschnell verschwunden.
Als hätten die Tiere die ernsten Themen mit sich genommen, plauderten die beiden Frauen fröhlich, bis sie die Mühle erreicht hatten.
»Komm, Elßgen, trink etwas, bevor du weitergehst«, lud Sophie ihre Freundin ein, die gern zustimmte.
Kaum hatte sie sich in der Stube an den Tisch gesetzt, fing sie an zu lachen. »Meine liebe Sophie, hatte ich nicht gesagt, du sollst diese Kanne nicht als Blumenvase benutzen?«
»Aber es sieht so hübsch aus«, verteidigte sich Sophie mit einem breiten Grinsen. »So macht sie mir viel mehr Freude, als wenn ich daraus einschenke.« Sie stellte einen Becher vor Elßgen ab. »Versuche ja nicht, mich umzustimmen.«
Elßgen hob in einer hilflosen Geste beide Hände. »Tu ich nicht. Ich wusste sowieso, dass da Blumen drin landen. Ein bisschen kenne ich dich.« Sie zwinkerte und trank den Becher in einem Zug leer. »Lange bleibe ich nicht. Ich will allerdings sehen, wo ihr die Leiche gefunden habt. Vater hat mir die ganze Zeit verboten herzukommen.«
Jetzt, wo der Tote weg war, machte es Sophie nichts aus, ihrer Freundin die Stelle zu zeigen. Es gab nichts mehr zu sehen als platt gedrücktes Gras und das Kräuterbüschel, das am Geländer des Wehrs baumelte. Dennoch wirkte Elßgen beeindruckt.
»War es sehr schlimm?«, fragte sie.
»Ja«, erwiderte Sophie knapp und schüttelte sich. »So ziemlich das Widerlichste, was ich seit Langem gesehen habe. Dein Vater hat dir einen Gefallen getan.«
Elßgen verzog das Gesicht. Sie sah das offensichtlich anders. »Nun denn … Ich muss los. Mach es gut, meine Liebe. Wir sehen uns morgen beim Feuer!«, verabschiedete sie sich und machte sich auf den Heimweg nach Widderstein.
Sophie blieb noch einen Moment stehen und winkte ihr hinterher.
Ein Niesen ließ sie herumfahren. »Konrad! Bis du allein zurückgekommen?«
Der Junge wischte sich mit dem Ärmel über die Nase und nickte. »Der Müller ist in die Wirtschaft gegangen. Er hat gesagt, ich sehe krank aus und soll mich ins Bett legen.«
Dem konnte Sophie nur zustimmen. Konrads Wangen schienen zu glühen und sein Blick wirkte trüb. »Ich glaube, du hast Fieber. Leg dich hin und ruh dich aus. Martha wird dir einen Tee und Umschläge machen. Ich sage ihr gleich Bescheid.«
Konrad sah sie mit großen Augen an, bewegte sich jedoch nicht vom Fleck.
»Was ist?«, fragte Sophie.
»Werde ich auch sterben, wie der Sepp?« Von seiner sonst oft so frechen Art war plötzlich nichts mehr übrig.
Sophie sah ihn betreten an. Diese Möglichkeit war ihr noch gar nicht in den Sinn gekommen bei allem, was sich auf dem Hof abgespielt hatte. »Das hoffe ich nicht. Wir werden dich gut versorgen, versprochen. Der Sepp hatte ja keine Martha bei sich, die sich so gut mit Heilkräutern auskennt. Mach dir mal keine Sorgen, du wirst schon wieder gesund.« Sie legte ihm den Arm um die Schultern und begleitete ihn zur Haustür. »Ab in deine Kammer mit dir.«
Konrad trollte sich und Sophie klopfte gleich an Marthas Tür. Der Duft von frischer Minze und Thymian schlug ihr entgegen, als sie eintrat.
»Bin schon dabei, bin schon dabei«, sagte Martha und wedelte mit der Hand, als wollte sie Sophie hinausscheuchen.
»Wobei bist du?«, fragte Sophie unbeirrt.
»Kräuter für die Kranken. Während ihr euch in der Kirche gelangweilt habt, war ich im Wald draußen und habe die Schätze aus Gottes guter Natur gesammelt.« Mit geübten Fingern hackte sie die Blätter auf einem dicken Holzbrett klein, dessen Oberfläche von Pflanzensäften grün verfärbt war.
»Das ist gut, danke, Martha«, sagte Sophie. »Konrad scheint Fieber zu haben. Du siehst gleich nach ihm, ja?«
»Jaja«, brummte die Alte und füllte die Kräuter in eine Kanne, in der sie sie mit heißem Wasser aufgoss.
Sophie ging wieder hinaus. Im Hof verharrte sie und schaute den Weg entlang, aber ihr Vater tauchte nicht auf. Es ärgerte sie, dass er in die Wirtschaft gegangen war. Eigentlich hatten sie heute ihre Schwester Margret besuchen wollen, doch dafür war es bald schon zu spät. In der Kirche war sie nicht gewesen, vermutlich wegen der Kinder. Um die Energie ihres Unmuts in sinnvolle Bahnen zu lenken, ging sie in die Mühle, nahm einen Besen und fing an zu fegen. Konrad würde es die nächsten Tage sowieso nicht tun. Seine Frage von vorhin hatte ihr einen Stich versetzt und sie beschloss, dafür zu sorgen, dass er ausreichend Zeit bekam, um wieder gesund zu werden. Dass ihr Vater noch immer mit seinem Katarrh zu kämpfen hatte, lag sicherlich daran, dass er nicht genug geruht hatte, als er krank gewesen war, trotz aller Ermahnungen ihrerseits.
Sophie stieg die Treppe ins Obergeschoss hinauf und sah sich um. Ein unwirscher Seufzer entfuhr ihr, als sie die vielen Spinnweben entdeckte, die an den Balken über den Mahlwerken klebten. Es war Konrads Aufgabe, alles sauber zu halten, und er hatte geschludert. Sie deckte die Trichter für das Korn mit Tüchern ab, damit kein Schmutz hineinfiel, und begann, die Spinnweben zu entfernen. Dann fegte sie systematisch den Boden um die Mahlwerke bis hinüber zu der Leiter, die in den offenen Dachspitz führte. Nur ein kleiner quadratischer Boden für Reparaturen am Steinkran war dort eingezogen worden. Diese hintere Ecke hatte Konrads Besen offensichtlich auch nicht erreicht und Sophie musste mehrmals niesen, weil ihr der aufgewirbelte Staub in der Nase kitzelte.
Unter der Leiter hielt sie überrascht inne. Auf dem Boden lag ein Blatt. Sie bückte sich und hob es auf. Es war ein welkes Eichenblatt, braun und löchrig, als wäre es vom letzten Herbst.
»Wie kommt das denn hier hin?«, murmelte Sophie und schaute nach oben. Ihr wurde etwas mulmig zumute. Es gab bloß eine Möglichkeit, wie das Blatt hier hereingekommen sein konnte: Es hatte jemandem am Schuh geklebt und war abgefallen, als derjenige die Leiter hinaufgestiegen war. Sie wusste, dass ihr Vater schon seit Monaten nicht mehr im Dachspitz gewesen war. Angesichts Konrads mangelnder Sorgfalt war es natürlich durchaus möglich, dass das Blatt schon sehr lange hier lag. Es war aber genauso möglich, dass jemand es erst kürzlich hereingetragen hatte. Jemand, der sich dort oben versteckte. Sophie schluckte.
Die Mühle war immer offen, im Prinzip konnte dort jeder ein und aus gehen. Sollte sie nachsehen? Sie spürte, wie schon der Gedanke ihre Knie zittern ließ. Hastig kehrte sie den Dreck in einen Eimer und eilte mit klopfendem Herzen die Stiege hinunter. Ihr Vater würde das überprüfen müssen. Sie wagte es nicht.
Die Zeit, bis ihr Vater endlich nach Hause kam, erschien Sophie wie eine Ewigkeit. Sie versuchte, sich im Haus mit allerlei Aufgaben abzulenken, doch ständig wanderte ihr Blick aus dem Fenster hinüber zur Mühle. Durch die Hanglage befanden sich die Fenster des Wohnhauses auf der gleichen Höhe wie deren Obergeschoss, was aber nicht bedeutete, dass sie durch die kleinen Fensterchen im Inneren irgendetwas erkennen konnte, zumal die Mühle im rechten Winkel zum Haus stand.
Als Henrich endlich auftauchte, zeigte er sich von Sophies Befürchtungen zunächst einmal völlig unbeeindruckt. Er war in Gedanken noch ganz bei den Gesprächen im Wirtshaus, wo er wahrscheinlich eine Runde nach der anderen ausgegeben bekommen hatte, nur damit er die Geschichte vom kopflosen Toten noch einmal erzählte. Sophie vermutete, dass sie mit jedem Krug Bier fantastischer geworden war. Entgegen seiner Gewohnheit setzte er sich in die Stube, nicht auf die Bank vor dem Haus, um zu rauchen.
»Willst du gar nicht nachsehen?«, drängte Sophie.
»Jetzt lass mich erst mal in Frieden nach dem langen Marsch«, brummte Henrich. Seine Aussprache war nicht mehr ganz deutlich, was Sophies Unruhe zusätzlich verstärkte.
»Ja, aber was ist, wenn da wirklich jemand ist?«
»Sieh doch selbst nach. Oder schick Martha, wenn du dich nicht traust.«
»Wir sagen Martha kein Wort davon!«, rief Sophie entsetzt. »Wer weiß, auf was für Ideen sie kommt.«
Diesen Gedanken fand Henrich anscheinend äußerst amüsant. »Dass der Pfarrer sie hat gewähren lassen …«, kicherte er und schüttelte den Kopf.
»Das hat mich auch sehr gewundert.« Sophie runzelte die Stirn.
»Oh, er hat vor Jahren mal versucht, sich mit ihr anzulegen. War sehr eifrig und beharrlich. Irgendwann war es ihm wohl zu bunt, so wüst beschimpft zu werden.«
»Da kann ich mich gar nicht dran erinnern.«
In diesem Moment gesellte Martha sich zu ihnen und das Gespräch verstummte. Sophie blieb nichts anderes übrig, als zu warten, und das fiel ihr enorm schwer.
»Wie geht es Konrad? Denkst du, es ist ernst?«, fragte sie, um Martha nicht das Gefühl zu geben, dass sie störte.
»Bei Fieber weiß man nie so genau«, sagte die Magd düster. »Im Moment rechne ich allerdings nicht damit, dass es Probleme gibt. Lass ihn sich ausschlafen und dann ist er sicher bald wieder auf den Beinen.«
»Der Bengel hat Fieber?«, hakte Henrich nach.
»Ja. Ich habe ihm Umschläge gemacht, und als ich eben nach ihm gesehen habe, schlief er tief und fest. Das ist ein gutes Zeichen. Lasst ihn morgen in Ruhe. Soll ich Euch noch einen Tee machen, Müller?«
Henrich nickte nur und Martha ging in die Küche.
»Bitte, Vater. Es lässt mir keine Ruhe!«, sagte Sophie eindringlich.
Henrich stand knurrend auf. Wortlos schlurfte er aus dem Haus, ging über den Hof und verschwand in der Mühle. Sophie sah ihm vom Fenster aus hinterher. Es dauerte nicht lange, da kam er zurück und setzte sich genauso schweigend an den Tisch in der Stube.
Martha sah zwischen den beiden hin und her, während sie den Tee abstellte. »Ist irgendwas?«, fragte sie misstrauisch.
»Nein, nein«, erwiderte Sophie so unbeschwert wie möglich. Wenn ihr Vater etwas gefunden hätte, würde er sicher nicht so stoisch hier sitzen. Also war ihre Angst unbegründet und sie konnte sich endlich entspannen.
Als Martha später zu Bett gegangen war, bestätigte Henrich ihre Hoffnung: »Da oben ist nichts. In Zukunft solltest du drauf achten, dass Konrad seine Pflichten ernst nimmt. Geht ja nicht an, dass unsere Kunden Spinnweben in ihrem Mehl haben.«
»Keine Sorge, das werde ich«, sagte Sophie erleichtert.
9. Kapitel
Michelbacher Mühle, 21. Juni 1649
Der nächste Tag begann ähnlich trüb wie die vorigen, doch in seinem Verlauf klarte es zunehmend auf und am Nachmittag lagen Wald und Wiesen unter strahlendem Sonnenschein. Martha war schon im Morgengrauen aufgebrochen, um Johanniskraut zu sammeln, und Sophie erntete die Johannisbeerbüsche ab, die den Gemüsegarten säumten. Sie freute sich über die reiche Ernte. Einen Teil der süßsauren Beeren legte sie zum Trocknen aus, der Rest wurde ausgepresst und eingekocht. Sie steckte noch mitten in der Arbeit, als Martha mit einem Strauß hereinkam.
»Für deine Vase«, sagte sie und legte ihn auf den Tisch. Dann verschwand sie wieder. Sophie wusste genau, was es mit dem Strauß auf sich hatte. Die sieben verschiedenen Kräuter sollten vor Unheil bewahren. Sicherlich würde Martha auch einen Kranz an der Tür aufhängen. Die letzten Jahre hatte sie es nur an ihrer eigenen Tür getan, weil Sophie sich gegen den Aberglauben verwehrt hatte. Nach dem Leichenfund würde die Magd allerdings darauf bestehen, das Haus und die Bewohner auf ihre Weise zu schützen.
Sophie nahm den Strauß und tauschte ihn gegen den halb verwelkten aus, der sich in Elßgens Kanne befand. Diesmal würde sie Martha gewähren lassen, nicht, weil sie glaubte, dass der Kranz etwas nützen würde, sondern weil sie die Sorge und den guten Willen dahinter erkannte. Letzterer war bei Martha manchmal schwer zu entdecken.
Erst nach dem Mittag kam Konrad aus seiner Kammer geschlichen. Nervös knetete er seine Kappe in den Händen und stand mit zwischen die Schultern gezogenem Kopf vor Sophie, während er eine Entschuldigung murmelte, dass er nicht eher aufgestanden war.
»Es ist völlig in Ordnung, Konrad. Wir haben dich schlafen lassen, damit du schnell gesund wirst. Das heißt aber auch, dass du heute Abend daheimbleibst. Wer krank ist, kann nicht feiern gehen.«
»Mir geht es gut!«, rief er und bekam prompt einen Hustenanfall.
»Ja, das sehe ich, wie gut es dir geht«, erwiderte Sophie nüchtern.
»Ich wollte mit meinen Freunden …«
Kopfschüttelnd unterbrach sie ihn: »Nein. Du hältst Ruhe, dass es dir nicht so geht wie dem Sepp.« Innerlich wand sie sich etwas, eine solch harsche Drohung zu benutzen, doch manchmal heiligte der Zweck die Mittel. Es war zu Konrads Schutz, was der Junge nie im Leben einsehen würde.
Ihre Worte zeigten die gewünschte Wirkung und er gab keine Widerworte mehr.
»Nimm dir etwas zu essen und danach mach dich an die Arbeit. Sobald du merkst, dass es dir zu viel wird, ruh dich aus. Und du gehst nicht vom Hof, hörst du?«
»Ja, Frau Sophie.«
* * *
Henrich erklärte sich gern bereit, mit dem Jungen zu Hause zu bleiben, während Sophie und Martha nach Widderstein gingen. Da er erst am Tag zuvor im Wirtshaus gewesen sei und es ihm immer noch nicht so gut gehe, behalte er lieber ein Auge auf Konrad, verkündete er großmütig. Sophie vermutete, dass ihm bloß der Weg nach Widderstein zu mühsam war und er durchaus dabei gewesen wäre, wenn sie einen Wagen gehabt hätten. Aber besser Konrad blieb nicht allein, denn der hätte sich mit Sicherheit davongemacht und wäre in Michelbach feiern gegangen, Fieber hin oder her.
Es war ein herrlicher Sommerabend, die Luft roch würzig und frisch nach den Regenfällen, war aber trotzdem angenehm lau. Sophie genoss die Wanderung und freute sich darauf, einen unbeschwerten Abend zu verleben. Schon von Weitem sahen sie den Rauch des Johannisfeuers in den stillen Abendhimmel aufsteigen und hörten Musik und fröhliches Gelächter.
Sie wurden reihum herzlich begrüßt und Elßgen kam sofort angelaufen, fasste Sophie am Arm und zog sie mit sich zu dem Grüppchen Frauen, die in der Nähe der Tische beisammenstanden. Neben dem großen Johannisfeuer gab es ein Kochfeuer, über dem ein Ferkel am Spieß gedreht wurde. Es duftete verführerisch.
»Komm und iss etwas, Sophie«, lud Elßgen sie ein und schwenkte den Arm einmal über die aufgereihten Leckereien.
»Oh, was habt ihr euch für eine Arbeit gemacht!«, staunte Sophie und hielt bereitwillig einen Teller hin, um ein Stück frisch gegrilltes Fleisch entgegenzunehmen, ein unerhörter Luxus, den sie seit Weihnachten nicht mehr genossen hatte. Sie wandte sich den Frauen und dem großen Feuer zu und beobachtete das Treiben. Noch loderten die Flammen viel zu hoch, als dass jemand versuchen konnte darüberzuspringen, doch später am Abend würden viele dem alten Brauch folgen, um sich zu reinigen und sich Schutz und Glück für das kommende Jahr zu sichern. Sophie war gespannt, welche Paare den Sprung gemeinsam wagen würden. Jetzt, wo wieder Grund zur Hoffnung bestand, dass die Zeiten sich besserten, würde es sicherlich einige Hochzeiten geben.
Es begann schon zu dämmern, als Elßgen Sophie mit einem Stoß in die Rippen darauf aufmerksam machte, dass Johann im Lichtschein des Feuers aufgetaucht war. Seine Augen suchten die Anwesenden ab, und als er Sophie entdeckt hatte, hellte sich sein Gesicht deutlich auf.
»Hab ich nicht gesagt, der bleibt nicht in Michelbach, wenn du nicht da bist?«, grinste Elßgen, während Johann um das Feuer herum auf sie zusteuerte.
»Guten Abend«, grüßte er und machte eine höfliche Verbeugung, die die Frauen kichernd mit einem Knicks erwiderten. »Dass du den weiten Weg hier heraufgegangen bist, wo Michelbach viel näher liegt«, fuhr er etwas vage an Sophie gewandt fort.
»Dass du das Feuer und die Gesellschaft in Michelbach verlassen hast, um nach Widderstein zu gehen«, erwiderte Sophie ebenso vage.
Als er darauf nichts mehr sagte, sondern rote Ohren bekam, brach die ganze Gruppe von Frauen in schallendes Gelächter aus. Das zog gleich mehrere Männer an, die sich neugierig dazugesellten. Ein freundschaftlicher Schlagabtausch begann und es wurde viel gelacht. Erst der laute Aufschrei aus vielen Kehlen, gefolgt von jubelndem Applaus, machte die Gruppe darauf aufmerksam, dass der erste Sprung über das Feuer gelungen war. Nun gab es kein Halten mehr. Die jungen Burschen machten den Anfang und einer nach dem anderen flog unter den Anfeuerungsrufen der Umstehenden über die Flammen. Die Mädchen ließen sich mehr Zeit, denn keine wollte riskieren, dass ihre Röcke Feuer fingen.
Sophie betete still, dass niemand verletzt wurde. Die Sprünge wurden immer waghalsiger, während sich die Springer Mut antranken, und das konnte durchaus übel ausgehen. Den größten Applaus bekam allerdings Martha, die mit wild entschlossenem Gesicht Anlauf nahm. Sophie hielt sich die Augen zu, bis das Gejohle ihr in den Ohren klingelte und sie wusste, dass ihre Magd nicht in die Flammen gestürzt war.
Triumphierend winkte die alte Frau in die Runde. »Jetzt kann der Wilde Mann mich nicht mehr holen, ha!«, rief sie.
Sophie schüttelte nur den Kopf. Nun versuchte Johann, sie dazu zu bewegen, mit ihm einen Sprung zu wagen, aber Sophie lehnte vehement ab. Auch Elßgen ließ sich nicht überreden, obwohl eine ganze Reihe von Burschen es probierten. Was Sophie jedoch nicht entging, waren die Blicke, die Elßgen einem Bauern zuwarf, der sich aus dem allgemeinen Trubel heraushielt. Er war etwa in Sophies Alter und hatte, soweit sie wusste, erst kürzlich seine Frau verloren. Elßgen hatte, als er noch verheiratet gewesen war, von ihm schon öfter ähnlich geschwärmt wie von Graf Christian, wofür Sophie sie regelmäßig gerügt hatte, obwohl sie wusste, dass diese Schwärmereien bei Elßgen ein belangloser Zeitvertreib waren. Das sah nun anders aus. Der Mann war nicht mehr unerreichbar für Elßgen, schien ihr Interesse allerdings entweder nicht wahrgenommen zu haben oder zu ignorieren.
»Du solltest zu ihm gehen und mit ihm reden«, stichelte Sophie, als Elßgen schon wieder in seine Richtung schielte.
Elßgen zuckte zusammen und sah schnell woandershin. »Zu wem?«, fragte sie mit gespielter Unwissenheit.
»Du weißt genau, wen ich meine«, sagte Sophie. »Ein Tänzchen in Ehren wird er dir bestimmt auch nicht verwehren.« Weiter konnte sie Elßgen nicht ärgern, denn Martha kam dazu, leicht außer Atem nach ihrem gewagten Sprung.
»Ich gehe zurück, willst du mich begleiten?«, fragte sie Sophie.
»Nein, bleib noch!«, protestierte Elßgen sofort.
Sophie war etwas hin- und hergerissen. Einerseits war es herrlich, in so ausgelassener Gesellschaft zu sein, andererseits war sie schon recht müde. Außerdem wusste sie, dass die Stimmung bald umschlagen konnte, wenn zu viel Alkohol geflossen war.
»Ich komme mit«, sagte sie daher und sah Elßgen entschuldigend an.
Natürlich war Johann sofort zur Stelle. »Ich begleite dich«, sagte er entschieden und schob die Brust heraus, als könnte er damit seine Eignung als Beschützer beweisen.
»Uns«, korrigierte Sophie, lehnte aber nicht ab. Johann war ein anständiger Kerl, das wusste sie. Es war ihr tausendmal lieber, in seiner Begleitung zu gehen und seine zaghaften Annäherungsversuche abzuwehren, als unterwegs allein mit Martha einem betrunkenen Streuner zu begegnen. Nicht jeder im Umkreis war so vertrauenswürdig wie Johann.
Sie verabschiedeten sich, was relativ viel Zeit in Anspruch nahm. Sobald sie den Feuerschein hinter sich gelassen hatten, umfing sie die samtene Dunkelheit der Mittsommernacht.
Eine Weile liefen sie schweigend, bis Johann flüsterte: »Seht nur.«
In den Büschen und Bäumen am Ufer der Wied, die etwas unterhalb des Weges entlangfloss, blinkten Hunderte kleiner Lichtpunkte auf.
»Johanniskäfer! Wie zauberhaft«, sagte Sophie und blieb stehen, um den Anblick zu genießen. Um die Mühle herum hatte sie die Glühwürmchen auch schon öfter gesehen, doch noch nie so viele auf einmal. Sie spürte, wie Johann etwas näher an sie herantrat, und ging vorsichtshalber weiter.
Auch im weiteren Verlauf des Weges redeten sie nicht viel. Je weiter sie ins Tal kamen, desto kühler wurde es und im Mondlicht ließ sich ein Hauch von Nebel auf den Wiesen am Flussufer ausmachen.
»So, ich nehme jetzt ein Bad«, verkündete Martha plötzlich und balancierte über einen Baumstamm, der als Brücke über den Mühlengraben gelegt worden war.
»Martha, bis du verrückt? Denk dran, wie viel es geregnet hat! Was ist, wenn du ertrinkst?«, fragte Sophie erschrocken.
»Dann bin ich tot«, bemerkte die Magd trocken und lief unbeirrt weiter über die Wiese.
»Wehe!«, rief Sophie hinter ihr her und spürte Johanns Hand auf ihrem Arm.
»Lass sie. Sie ist alt genug, um zu wissen, was sie tut.«
Da hatte er natürlich recht. Trotzdem war Sophie etwas ungehalten. Sie war sich nicht sicher, ob Martha nicht noch andere als abergläubische Gründe hatte, sie hier mit Johann allein zu lassen. Eigentlich war sie davon ausgegangen, dass das nicht passieren würde.
Mit zusammengebissenen Zähnen marschierte sie weiter und brachte so etwas mehr Abstand zwischen sich und den jungen Mann. Beinahe hätte sie den Pfad verpasst, der zur Mühle führte, so verärgert war sie über Marthas Verhalten. Die Magd hätte auch gut mit bis zum Haus gehen und warten können, bis Johann sich verabschiedet hatte, ehe sie baden ging. Aber nein. Martha musste natürlich ihren alten Dickkopf durchsetzen.
An der Mühle angekommen, öffnete Sophie erst die Haustür, bevor sie sich zu Johann umdrehte, um sich zu verabschieden. »Vielen Dank für die Begleitung«, sagte sie eher förmlich, um ihn ja nicht zu ermutigen.
»Sehr gern. Möchtest du nicht vielleicht ein wenig …«
Ein Klappern unterbrach ihn.
»Was war das?«, fragte Sophie erschrocken und versuchte, die Schatten um die Gebäude mit ihrem Blick zu durchdringen. Erfolglos. Auch Johann sah sich um und beide lauschten mit angehaltenem Atem. Alles blieb ruhig.
Schließlich holte Johann tief Luft und wandte sich Sophie zu. Noch bevor er seinen begonnenen Satz fortsetzen konnte, sagte sie: »Dann gute Nacht, Johann.« Sie konnte seine Enttäuschung förmlich riechen.
»Gute Nacht, Sophie«, erwiderte er und ging davon.
Sie schaute sich nochmals suchend im Hof um und schloss die Tür.
Im Haus regte sich nichts. Offensichtlich waren ihr Vater und Konrad schon lange zu Bett gegangen, denn als sie in den Flur im Obergeschoss kam, hörte sie gleichmäßiges Schnarchen aus Henrichs Zimmer tönen. Es war beruhigend und verhinderte, dass ihre Gedanken zu dem Klappern von vorhin zurückkehrten und es zu etwas Furchteinflößendem aufbauschten.
* * *
Trotz der langen Nacht war am nächsten Morgen an Ausschlafen nicht zu denken. Mit dem ersten Hahnenschrei stand Sophie auf und nahm sich ausgiebig Zeit, sich in Ruhe zu waschen und die langen hellbraunen Haare zu bürsten und hochzustecken. Der Geruch des Johannisfeuers hing in ihren Kleidern, würde aber sicher bald verfliegen. In Gedanken noch bei den Gesprächen vom Vorabend, weckte sie ihren Vater, der den Hahn mal wieder nicht gehört hatte. Konrad knurrte zwar verschlafen, wirkte sonst jedoch ganz munter, sodass sie beschloss, ihn heute zur Schule zu schicken. Sofort fing er an zu husten.
Sophie verschränkte die Arme und sah ihn misstrauisch an. »So viel hast du die ganze Zeit nicht gehustet. Gaukel mir nichts vor. Du gehst zur Schule.«
Der Hustenanfall verschwand ebenso plötzlich, wie er gekommen war, und Konrad verzog das Gesicht. »Kann ich nicht noch einen Tag zu Hause bleiben?«
»Nein, kannst du nicht. Und jetzt los.«
In der Küche trafen sie Martha an, die mit fahrigen Händen den Haferbrei über dem Feuer umrührte. Sie hatte tiefe Ringe unter den Augen, als hätte sie in der Nacht kein Auge zugetan.
»Geht es dir gut?«, fragte Sophie besorgt.
Martha antwortete nicht. Sie stellte den Topf auf den Tisch und setzte sich, ohne die Löffel dazuzulegen.
»Martha?« Sophie berührte ihre Schulter. »Ist etwas passiert?«
»Ich habe einen Mann gesehen«, krächzte die Alte mit Grabesstimme.
»Hatte er einen Kopf?«, fragte Konrad. Plötzlich war er hellwach und äußerst interessiert.
Martha schnaufte einmal tief durch und sah Konrad nachdenklich an. »Ja, jetzt wo du es sagst, er hatte einen Kopf.« Diese Tatsache schien sie zu beruhigen.
»Wo hast du ihn gesehen? Am Fluss?«, wollte Sophie wissen, während sie die Löffel verteilte.
»Auf dem Hof. Ich kam gerade von meinem Johannisbad über die Wiese, da stand er plötzlich da, als wäre er aus dem Nichts erschienen. Zwischen Haus und Mühle. Ich habe mir den Mund zugehalten, damit ich nicht schreie und ihn auf mich aufmerksam mache. Als ich wieder hinsah, war er fort.«
Konrad starrte sie mit halb offenem Mund an.
Sophie schluckte. »Hast du im Stall und in der Mühle nachgesehen, ob da jemand ist?«
»Bist du verrückt?«, quiekte Martha in einer für sie völlig untypischen Tonlage. »Ich habe gemacht, dass ich in meine Kammer komme und die Tür verrammle!«
»Wieso das denn?«, brummte Henrich, der in diesem Moment die Küche betrat.
»Martha hat einen Mann im Hof gesehen«, sagte Sophie. Sie musste wieder an das Klappern denken, das sie und Johann gehört hatten. Da musste jemand gewesen sein. Als sie den anderen davon erzählte, wirkte auch Henrich besorgt.
»Wir essen erst einmal und dann gehen wir alle zusammen nachsehen.« Er sprach das Tischgebet und danach löffelten alle hastig ihr Frühstück. Sobald der Topf leer war, sprangen sie auf, ließen alles, wie es war, auf dem Tisch stehen und eilten in den Hof.
»Vielleicht können wir seine Fußspuren finden!«, rief Konrad aufgeregt.
Dumm war der Gedanke nicht, denn der Boden war weich vom Regen. Doch bei den vielen Besuchern, die in letzter Zeit zur Mühle gekommen waren, war der Hof übersät mit Abdrücken aller Art.
»Aussichtslos«, bemerkte Henrich und stapfte zur Mühle hinüber. Hinter der Tür bewahrte er einen robusten Knüppel auf, mit dem er schon den einen oder anderen diebischen Landstreicher vertrieben hatte. Den holte er hervor und sah sich zuerst einmal in der Mühle um. Sophie folgte ihm. Während er in jeden Winkel zwischen den Zahnrädern und Balken schaute, suchte sie den Boden nach verräterischen Dreckklumpen ab, die dem Eindringling von den Schuhen gefallen sein konnten. Beide fanden nichts, auch nicht in der oberen Etage. Vorsichtshalber stieg Henrich noch einmal die Leiter in den Dachspitz hinauf, kam jedoch kopfschüttelnd wieder herunter.
»Nichts. Jetzt der Stall.«
Auch dort fanden sie nichts. Gehöft und Mühle lagen da wie eh und je. Ratlos sahen sie einander an.
»Na, besser als noch ’ne Leiche«, sagte Martha schließlich und machte sich daran, die Hühner zu füttern.
»Los Konrad, hol deine Schulsachen und dann ab mit dir.« Sophie hatte mit weiterem Protest gerechnet, doch Konrad flitzte sofort los.
»Der hat seinen Kameraden ordentlich was zu erzählen«, sagte Henrich schmunzelnd und räumte den Knüppel weg.
»Wie geht es dir denn heute, Vater?«, fragte Sophie.
»Ja, ja«, war die ergiebige Antwort. »Ich kümmere mich um die Schweine, schau du nach den Kühen.«
Sophie lächelte in sich hinein und holte Melkeimer und Schemel. Ihr Vater hasste es, von ihr umsorgt zu werden.
Wenn die Kühe heute genug Milch gaben, würde sie später Butter rühren.
Leider standen die Tiere jenseits der Wied. Der Wasserstand war zum Glück so weit zurückgegangen, dass die Trittsteine trocken waren und Sophie ohne Probleme ans andere Ufer balancieren konnte. Dort musste sie allerdings einige Umwege gehen, um den Pfützen auszuweichen, die noch nicht versickert waren. Einige Male geriet sie in sumpfige Stellen, die ihr beinahe die Schuhe ausgezogen hätten.
Bei den Kühen angekommen, schnallte sie sich den Melkschemel um, band eine Kuh am Baum an und begann zu melken, wobei sie mit der jüngsten Kuh anfing. Die stand nicht immer still und sie wollte nicht riskieren, dass sie ihr den vollen Eimer umstieß. Sie hatte kaum mit dem Melken angefangen, da sprang die Kuh auch schon weg, aufgeschreckt von einem Fuhrwerk, das am anderen Ufer zur Mühle rollte. Sophie konnte den Eimer gerade noch rechtzeitig festhalten. Sie stand auf und spähte hinüber, wer da kam. Es war der Bäcker, eindeutig erkennbar an seinem gescheckten Pferd. Niemand sonst im Umkreis besaß einen Schecken. Sophie wartete, bis die Kuh sich beruhigt hatte und weitergraste, dann setzte sie ihre Arbeit fort.
Die beiden älteren Kühe gaben ordentlich Milch, sodass Sophie lange dasaß, die Stirn an den warmen Bauch der jeweiligen Kuh gelegt, und versonnen zusah, wie die Milch unter ihren Fäusten in gleichmäßigem Rhythmus in den Eimer spritzte.
Für den Rückweg ließ sie sich Zeit, denn sie wollte keinesfalls etwas verschütten. Sobald sie den Mühlenhof betrat, war es mit der beschaulichen Stimmung vorbei. Das Klappern der Mühle verkündete Geschäftigkeit. Sophie grüßte den Bäcker, brachte die Milch ins Haus und kehrte sofort zurück, um ihrem Vater zur Hand zu gehen. Im Gegensatz zu den meisten Bauern wollte der Bäcker sein Mehl gebeutelt haben, was zusätzlich Arbeitsschritte beim Abfüllen erforderte. Dafür brauchten sie die Säcke nicht einzeln abzumessen, wie es der Fall war, wenn mehrere Kunden zur Mühle kamen.
Henrich schnaufte schon kräftig, als Sophie die Mühle betrat. Er hatte gerade einen Sack Getreide in den Rüttelschuh entleert und drückte ihn ihr in den Arm. »Hier, mach den am Kleiekotzer fest.«
Sophie ging ans Ende des Raumes, der vom Knarzen der Zahnräder und dem Rumpeln der Mühlsteine erfüllt war. Hinter dem Mehlkasten befand sich die Schütte, aus der die Kleie rutschte, eingefasst von einer verwitterten Holzfratze, aus deren Mund ein Halbrohr ragte. Das Gesicht des Kleiekotzers war kaum noch zu erkennen, so alt war er schon.
Sophie hängte den Sack in die Halterung und hob kurz den Vorhang an, der verhinderte, dass das Mehl aus dem Mehlkasten drang. Süßlich duftender Staub füllte den Kasten, in dem das Beutelsieb hin und her schwang.
»Läuft es?«, fragte Henrich, als sie zu ihm zurückkam.
»Alles bestens«, antwortete sie. »Ich übernehme den nächsten Sack, mach du eine Pause.«
Henrich nickte ihr dankbar zu und verschwand nach draußen, um dem Bäcker Gesellschaft zu leisten. Wegen des Lärms konnte sie kein Wort von dem verstehen, was die beiden Männer sprachen. Es war egal, sie wusste auch so, dass der Leichenfund erneut Gesprächsthema war. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Und wenn nun der Mann, den Martha in der Nacht gesehen hatte, der Mörder war, der sich irgendwo in der Nähe versteckte? Sophie versuchte, den Gedanken weit wegzuschieben, aber es gelang ihr nicht. Er saugte sich in ihrem Kopf fest wie ein Blutegel und ließ sich nicht abschütteln, egal wie oft sie sich sagte, dass sie alles abgesucht und nichts gefunden hatten.
10. Kapitel
Michelbacher Mühle, 23. Juni 1649
Im Laufe des Tages schöpfte Sophie mehrmals die Sahne ab, die sich oben auf der Milch absetzte, bis sie am nächsten Morgen eine gute Portion beisammenhatte. Die füllte sie ins Butterfass und begann, sie mit dem darin liegenden Kolben zu stampfen. Butter schlagen war monoton und langweilig, und wenn das Produkt, das dabei entstand, nicht so schmackhaft gewesen wäre, hätte sie sich die Mühe nicht gemacht. Doch Sophie liebte Butter, also stand sie am Küchentisch und starrte aus dem Fenster, während sie stampfte und stampfte und stampfte. Nach einer halben Ewigkeit entstanden die ersten Flocken und Sophie seufzte erleichtert auf. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern. Ihr wurden allmählich die Arme lahm und die Schultern schmerzten. Kurz darauf, ganz plötzlich, verklumpte die Butter.
Zufrieden stand Sophie auf, schüttete die Buttermilch, die übrig geblieben war, in eine Kanne und knetete die Butter zu einem festen Klumpen zusammen, wobei sie noch einen Rest Buttermilch herausdrückte. Der Butterklumpen wanderte in ein eigens dafür vorgesehenes Steinguttöpfchen.
Sophie war gerade dabei, sich das Fett in ihrem Spüleimer von den Fingern zu waschen, als es klopfte. Sie zuckte zusammen. »Wer ist da?«, rief sie und trocknete sich hastig die Hände ab.
»Rentmeister Brinck«, war die Antwort und Sophie öffnete die Tür, froh, dass es kein Fremder war.
»Herr Brinck, guten Tag, tretet bitte ein.« Sie machte einen Knicks und bat ihn, in die Stube durchzugehen. »Ist es schon wieder Zeit für die jährliche Kontrolle?«
»Das ist es in der Tat, gnädige Frau. Ist der Müller zugegen?«, antwortete Herr Brinck und setzte sich an den Tisch, wo er seinen Hut ablegte.
»Ja, ich hole ihn gleich. Möchtet Ihr vielleicht etwas trinken? Ich kann Euch frische Buttermilch anbieten.«
Die Augen des Rentmeisters leuchteten auf. »Das Angebot nehme ich gern an, Frau Gilles.«
Sophie füllte ihm einen Becher und machte sich dann auf die Suche nach ihrem Vater, den sie irgendwo in den Ställen vermutete. Sie fand ihn im Schweinepferch, wo er den Zaun ausbesserte. »Der Rentmeister ist da, Vater!«, rief sie ihm vom Stall aus zu, doch er reagierte nicht. Sie versuchte es erneut, lauter diesmal, ohne Erfolg. »Wird immer schlimmer mit seinen Ohren«, schimpfte sie leise vor sich hin, während sie mit gerafften Röcken durch den schlammigen Auslauf zu ihm stapfte.
Auf halber Strecke bemerkte er sie und sah sie fragend an.
»Der Rentmeister ist da!«, rief sie noch einmal und winkte ihm, ins Haus zu kommen. Auf sein Nicken hin drehte sie um. Sie nahm sich kurz Zeit, im Stall den gröbsten Dreck mit einer feuchten Bürste von den Schuhen zu schrubben, ehe sie ins Haus zurückging. Beim nächsten Marktbesuch würde sie neue Bürsten kaufen müssen. Diese hier hatte schon so viele Borsten verloren, dass sie beinahe der Glatze eines alten Mannes glich.
Als sie in den Flur kam, sah Sophie sofort, dass ihr Vater sich nicht die Mühe gemacht hatte, seine Schuhe zu reinigen, bevor er ins Haus ging. Mit zusammengekniffenen Lippen folgte sie der Spur feuchter Erdklumpen in die Stube.
»Da hattet Ihr ja wirklich einiges an Aufregung die letzten Tage«, bemerkte der Rentmeister gerade.
»Ja, das reicht uns erst einmal für eine Weile. Ihr wollt sicher wissen, wie es um die Mühle steht«, erwiderte Henrich.
»Es ist doch hoffentlich kein Schaden entstanden beim Bergen der Leiche, oder?«, fragte Herr Brinck.
»Nein, nein. So weit ist alles in Ordnung. Kleinere Reparaturen an den Zahnrädern waren in letzter Zeit erforderlich, aber sonst läuft die Mühle einwandfrei. Was vor dem Winter allerdings gemacht werden muss, ist, einige der Schaufeln des Mühlrades zu erneuern. Ein paar sind morsch und werden vermutlich brechen, wenn es kalt wird. Das sollten wir verhindern.«
Der Rentmeister zog Tintenfass, Feder und Papier aus seinem Beutel, legte alles sorgsam zurecht und notierte die notwendigen Reparaturen mitsamt den voraussichtlichen Kosten. »Wie sieht es mit dem Mühlengraben aus? Muss da etwas gemacht werden?«
»Ja, bei der Suche nach dem Kopf der Leiche haben wir entdeckt, dass eine der Weiden im oberen Teil gerissen ist. Die sollte gefällt werden, bevor sie umstürzt und größeren Schaden anrichtet. Der Schultheiß von Michelbach weiß schon Bescheid. Wenn Ihr ihn daran erinnert, wäre das hilfreich.«