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Sören Urbansky

An den Ufern des Amur

Die vergessene
Welt zwischen
China und
Russland

C.H.Beck

Zum Buch

Am Amur stoßen auf einer Länge von zweitausend Kilometern China und Russland aufeinander. Sören Urbansky ist vom Baikalsee bis zum Japanischen Meer durch die abgelegene Grenzregion gereist. In seiner fesselnden Reportage vom «Schwarzen Drachen», wie die Chinesen den riesigen Grenzfluss zu Russland nennen, erzählt er mit untrüglichem Gespür für sprechende Details von den großen tektonischen Verschiebungen der beiden Imperien, die hier aufeinanderstoßen.

Wo der Norden Chinas sibirisch wird und der Südosten Russlands zunehmend chinesisch, stehen die beiden autoritären Imperien Rücken an Rücken zueinander. Bis zum Zweiten Weltkrieg rangen hier die Sowjetunion und Japan um die Vorherrschaft. Auf der Suche nach Spuren der Geschichte ist Sören Urbansky auf eine erstaunliche chinesisch-russische Gegenwart gestoßen. In seinem wunderbar anschaulich erzählten Buch berichtet er von prosperierenden chinesischen Metropolen auf der einen Seite und erstarrten russischen Orten auf der anderen Seite des Flusses – vor wenigen Jahrzehnten war das Gefälle noch umgekehrt. Er besucht Städte wie Harbin im Nordosten Chinas, einst «Moskau des Ostens», und Wladiwostok, das erträumte russische San Francisco, und ist zu Gast bei einfachen Menschen, die fließend Chinesisch und Russisch sprechen und ihre Soljanka mit Stäbchen schlürfen. Sein einfühlsamer Bericht kommt den Profiteuren und Verlierern der Grenze ganz nahe und erlaubt gerade dadurch ungewöhnliche Einblicke in den Zustand der beiden Großmächte und ihr spannungsvolles Verhältnis.

«Keine Reise ans Ende der Welt, sondern auf einen lange vergessenen Schauplatz der Weltgeschichte – genau beobachtet, historisch kenntnisreich, elegant geschrieben.» Karl Schlögel

«Sören Urbansky gelingt es in seiner glänzend geschriebenen, detailgenauen Reisereportage über die vergessene Welt zwischen Sibirien und Nordchina, die geschichtlichen Hintergründe ebenso einzufangen wie die aktuellen, nicht immer freundschaftlich grundierten Empfindungen der beiden Nachbarvölker. Ein Stück erlebte Seidenstraße!» Theo Sommer

Über den Autor

Sören Urbansky leitet das Pacific Regional Office des Deutschen Historischen Instituts Washington. Er studierte, forschte und lehrte in Frankfurt a. d. Oder, Harbin (China), Kasan (Russland), Berkeley, Peking, Freiburg, München und Cambridge.

Inhalt

Einleitung – 52. Breitengrad

1. Promenade durch das Paris Sibiriens – Irkutsk

2. Die durstigen Chinesen vom Baikalsee – Chuschir – Kultuk

3. Lenin und Lamas in Burjatien – Ulan-Ude – Werchnjaja Iwolga – Nauschki

4. Weltpolitik am mongolischen Snookertisch – Ulaanbaatar – Tschojbalsan

5. Das Notstromaggregat am Chalch – Amugulang – Ganjuur – Nuomenhan – Hailar

6. Ein Kosakendorf in China – Heishantou – Enhe

7. Der Prostituiertenfriedhof am Amur – Moerdaoga – Genhe – Mangui – Mohe – Beijicun

8. Entlang der rauen Seidenstraße – Jerofej Pawlowitsch – Mogotscha – Nertschinsk

9. Der Bibliothekar hinter Schwertfarn – Tschita – Atamanowka

10. Ein Einkaufsparadies an der Steppengrenze – Sabaikalsk – Manzhouli

11. Die mandschurische Bonanza – Daqing

12. Im russischen Atlantis – Harbin

13. Die langen Schatten von Mandschukuo – Pingfang – Changchun – Lüshunkou – Dalian

14. Xis Zeitungsleser, Kims Blumenmädchen – Dandong – Yanji – Hunchun – Fangchuan

15. Der afrikanische Enkel der Wehrbauern – Mudanjiang – Linkou – Jiamusi – Jiangchuan

16. Russische Gedächtnisschwächen – Aihui – Heihe – Blagoweschtschensk

17. Ein Hektar Sumpfland geschenkt – Birobidschan – Chabarowsk

18. Kein russisches San Francisco – Wladiwostok

Anhang

Dank

Zeittafel

Literaturhinweise

Geographisches Register

Meinen Eltern gewidmet

Einleitung

52. Breitengrad

Marschbefehl an die sowjetische Grenze. Der Rekrut ist blutjung, ein Mongole mit ehrlichem Gesicht. Arslan heißt er und steckt in einer zu weiten Uniform der Volksbefreiungsarmee. Sein größter Feind heißt nicht Iwan und steht auch nicht da drüben, auf dem Wachturm jenseits des Stacheldrahts. Arslans größter Feind ist die Einsamkeit auf diesem abgelegenen, trostlosen Posten.

Nein, schlafen kann ich nicht auf diesem russischen Nachtflug. Stattdessen starre ich auf den Bildschirm schräg über mir, auf dem dieses chinesische Melodram mit Arslan läuft. Fünfeinhalb Stunden braucht die Aeroflot-Maschine von Moskau nach Irkutsk, so wie von der einen an die andere amerikanische Küste, und doch überfliegt man gerade mal die Hälfte Russlands. Ich mache noch immer kein Auge zu. «Rotwein?», frage ich die Stewardess bettelnd. «Njet! Kein Alkohol in der Economy.» Immerhin lächelt sie. Irgendwo über dem Ural müssten wir gerade sein. Das schwarze Loch, in das ich hinabblicke, als ich die Fensterblende hochschiebe, bietet keine Orientierung.

Oben auf der Mattscheibe beschattet Arslan durch ein Fernrohr den Turm jenseits des Stacheldrahtverhaus, meldet minutiös, was die sowjetischen Wachen so treiben. Ich habe keine Kopfhörer. Es bleibt ein Stummfilm mit mäßigen Untertiteln. Als Arslan die Demarkationslinie nach sowjetischen Spionen durchkämmt, stößt er im Strauchwerk auf einen Umschlag. Adressiert an Sergej, den sowjetischen Rekruten auf dem anderen Turm, aber der Steppenwind hat ihn nach China geweht. Arslans Vorgesetzter öffnet den Brief, findet das Foto einer barbusigen Russin und klärt seinen Untergebenen über das Wesen des fremden Volkes auf: «Schau doch selbst, so verdorben und korrupt sind sie, die sowjetischen Revisionisten. Ihre Soldaten verlieren sämtliche Moral. Wie wollen sie mit Bildern von nackten Frauen den Krieg gewinnen?»

Doch Arslan denkt nicht im Freund-Feind-Schema des Offiziers. Er zeichnet Sergej Botschaften in den Schnee, schiebt den Liebesbrief unter dem Stacheldraht hindurch. Zwischen dem chinesischen Mongolen und dem russischen Sowjetsoldaten wächst allmählich eine heimliche Freundschaft. Und im heißen Steppensommer heiratet Sergej die Schönheit aus dem Umschlag – hoch oben auf seinem Wachturm.

Habe ich die Uhr eigentlich schon umgestellt? Sechs Stunden eilt Irkutsk Deutschland voraus – im Winter sind es sogar sieben. Auf dem Bildschirm ebenfalls Zeitumstellung – rund vierzig Jahre vorwärts in unsere Gegenwart: Eine russische Offizierin reist in die chinesische Grenzstadt Manzhouli. Vor abendroter Hochhauskulisse, die sich, einer Fata Morgana gleich, aus der Steppe erhebt, taucht sie in Sergejs Vergangenheit ein, sucht jenen Arslan, der ihren Vater während der eisigen Konfrontation zwischen China und der Sowjetunion mit ihrer Mutter zusammenbrachte. Dieser chinesische Film traut sich, selbst das dunkelste Kapitel der Beziehungen beider kommunistischer Weltmächte im zwanzigsten Jahrhundert hellpudrig-vollbusig zu zeichnen. Eine Romanze zweier Giganten: Latitude 52. Ich habe Nackenstarre.

52. Breitengrad. In chinesischen Ohren mag dieser Filmtitel aus dem Jahr 2012 nach Arktis klingen, dabei liegt selbst Schleswig-Holstein nördlicher. Russen können nur schmunzeln: beinahe subtropisch. China und Russland, fremde Nachbarn, seit über drei Jahrhunderten immerhin. Das Zarenreich war die erste europäische Macht überhaupt, mit der China Ende des siebzehnten Jahrhunderts einen Vertrag unterzeichnete. Russland schickte Missionare, trank Tee, hatte bald die besten Sinologen. Dann schnappte ein übermütiger Generalgouverneur nach chinesischen Ländereien, so groß wie Frankreich und Deutschland zusammen, bis heute gehören sie zu Russland. Nach dem russischen Bürgerkrieg wuchs die mandschurische Stadt Harbin zur größten russischen Diasporagemeinde an und machte sie zur chinesischen Stadt mit dem höchsten Ausländeranteil. Stalin wurde Maos significant other, nachdem Chinas oberster Revolutionär die Volksrepublik ausgerufen hatte. Seine Partei, die Kommunistische Partei Chinas, war 1921 mit sowjetrussischer Hilfe gegründet worden. Welch eine Schicksalsgemeinschaft. Als Arslan das russische Liebespaar verkuppelte, war der «ältere Bruder» längst Chinas Erzfeind geworden. Nach Perestroika und dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens dann die Millionen-Dollar-Frage, die sich die gesamte Pekinger Nomenklatura stellte: Warum ist die Sowjetherrschaft zusammengebrochen? Und, wichtiger: Was können wir aus dem Scheitern Russlands lernen?

Von Arslans unwahrscheinlicher Freundschaft abgesehen sind das alles Fragen der politischen Zentren. Dabei fliege ich durch die sibirische Nacht hindurch den 52. Breitengrad entlang in die russisch-chinesische Peripherie. Tausende Kilometer von Moskau und Peking entfernt ist es ein Zwischenland. Was ist mit den Menschen, die entlang des 52. Breitengrads leben? Lassen sich ihre Schicksale überhaupt in hergebrachte nationale Kategorien pressen? Arslan und Sergej, Grenzgänger im ehemaligen Niemandsland zweier Giganten, das längst wieder ein Land für jedermann geworden ist.

*

Diese Weltgegend hat mich nicht mehr losgelassen, seit ich kurz nach dem Abitur zu meiner ersten Überlandreise von Berlin nach Peking aufbrach. Immer wieder habe ich die Gründe und Abgründe zwischen den mongolischen Steppen im Westen, der sibirischen Taiga im Norden, dem Pazifik im Osten sowie dem chinesischen Kulturland südlich der Großen Mauer durchstreift. Die hier geschilderte Reise mäandert im Wechsel der Jahreszeiten vom Baikalsee den Amur hinab und all seine Nebenarme hinauf bis an das Ufer des Japanischen Meers. Genau genommen bestand sie aus mehreren Etappen. Meine Ostern 2019 begonnene Reise von Irkutsk direkt nach Wladiwostok war die letzte.

Den Halbkosaken Iwan, die russische Schaffnerin Wera, meinen chinesischen Kommilitonen Yunpeng, den es nach Afrika verschlug, und manch andere Menschen, von denen einige nicht ihren richtigen Namen in diesem Buch lesen wollen, traf ich bereits als Sprachstudent in Harbin und während meiner Forschungen in Archiven und Bibliotheken in Hailar, Tschita oder Blagoweschtschensk. Das Pauken von Schriftzeichen und das Warten auf Dokumente ließen viel Zeit für Streifzüge durch die nicht minder spannende Welt jenseits der Vokabelkarten und Aktendeckel. Die Schicksale der Menschen sind kleine Mosaiksteine jener großen Geschichte dieses von Imperialismus, Kaltem Krieg und Nationalismus gezeichneten Teils der Welt, der sich noch immer zu formieren scheint.

1. Promenade durch das Paris Sibiriens

Irkutsk

«Aufwachen! Schau hierher!» Kurz vor acht Uhr morgens schnauzt mich jemand aus dem Tiefschlaf. Ehe ich begreife, dass es sich bei der auf meine Stirn gerichteten Pistole um ein Fieberthermometer handelt, misst die resolute Frau die Temperatur von Passagier 14 E, drei Sitzreihen hinter mir. Ich muss doch eingenickt sein. Keiner der Passagiere hat H5N1. Die Maschine ist vogelgrippefrei, wir dürfen aussteigen. Doch seit wann messen die Russen die Körpertemperatur auch auf Inlandsflügen?

Die Tauben auf dem Platz vor dem Flughafen von Irkutsk verschlafen diesen kühlen Sonntagmorgen. Von irgendwoher läuten die Kirchenglocken das Osterfest ein, es tönt dumpf und fern. Hier beginnt also meine Reise entlang den Bruchzonen der Imperien, meine Expedition durch, ja durch was eigentlich? Nordostasien? Ein komischer Begriff. Klingt konstruiert. Was gehört dazu, was nicht? Russland als das größte Land der Erde ist Teil davon, genauso wie China, der bevölkerungsreichste Staat. Japan sicher auch. Aber was ist mit der Koreanischen Halbinsel? Und die Mongolei, zählt die eigentlich auch dazu? Wer entscheidet das überhaupt? Nordostasien erscheint mir plötzlich viel größer als die Summe seiner Teile. Ich reibe meine roten Augen, marschiere ein Stück, dann schaukelt mich ein betagter Tramwagen in Schrittgeschwindigkeit ins Zentrum von Irkutsk. Gleichgültig reißt die Schaffnerin einen Fahrschein von der Rolle ab.

Mittags treffe ich Wiktor in seinem Büro in der Universität. Großgewachsen, wirkt er doch klein neben den Papierstapeln auf seinem Schreibtisch. Selbst die Stühle sind mit Büchern überladen. Die Scheiben vor den durchhängenden Bücherregalen reflektieren die milchige Frühlingssonne. «Und, was hast du in den letzten Jahren so getrieben?» Wiktor wartet meine Antwort nicht ab, stattdessen drückt er mir sein neuestes Buch in die Hand. Das ist unter Wissenschaftlern in Russland Usus, da die Auflagen niedrig und die landesweite Distribution von Publikationen unzuverlässig ist. Irgendwie sind akademische Drucksachen in Russland graue Literatur geblieben, früher aus politischen, heute eher aus ökonomischen Gründen.

«Wann warst du gleich zum letzten Mal in Irkutsk?», will Wiktor von mir wissen, «ich zeig dir, was sich alles nicht verändert hat.» Er lacht schallend, so wie früher. Am Ostersonntag 2019 – zehn Jahre nach meinem letzten Besuch – hat sich in der Stadt tatsächlich erstaunlich wenig getan. Freilich, die dröhnende Popmusik, der Sound der ersten nachsowjetischen Dekaden, ist aus den Straßen verflogen. Lautsprecher plärren keine russischen Volkslieder, keine sowjetischen Chansons und keinen postsowjetischen Hip-Hop mehr vor jedem noch so kleinen Laden. Stattdessen ist die Uferpromenade herausgeputzt, hier und da strahlen ein paar frisch getünchte Fassaden. Die Staatsanwaltschaft hat einen prunkvoll-geschmacklosen Neubau am Angara-Ufer bezogen – keiner müht sich zu kaschieren, wo das Geld sitzt.

Im Sommer 2009, während die Studenten ausgeflogen waren und sich die halbe Stadtbevölkerung auf ihre Datschen verabschiedet hatte, schlenderten Wiktor und ich schon einmal an Kirchen vorbei und durch kleine Parkanlagen dieser hübsch daherkommenden alten Stadt. Die Trolleybusse summten auch ohne Fahrgäste, und Springbrunnen plätscherten gegen die Hitze an. Hier und da zeigte Wiktor auf ein Gebäude oder eine der unzähligen Skulpturen, von denen es in Irkutsk noch mehr gibt als anderswo in Russland: natürlich für Lenin, aber auch für die Dekabristen und die Frauen der Dekabristen, von denen noch die Rede sein wird, für einen Veterinär und für Touristen.

Zehn Jahre später und dreißig Grad kühler passieren wir eingeschossig-erdversunkene Holzbauten, die ihren Verfall mit Fassung zu tragen scheinen. Schiefe Fenster schielen mich an. Ihre blauen Läden kratzen auf dem Trottoir, so tief sind manche der Häuser in den sibirischen Morast eingesunken. Vom Bäckereikombinat zieht der Duft frischen Brotes herüber.

«Du wirst sehen, hier gibt es keine großen Umbrüche – Uferpromenade und Staatsanwaltschaft hin oder her. Irkutsk ist nicht Krasnojarsk, erst recht nicht Wladiwostok.»

«Liegt nicht gerade darin der Reiz der Stadt?», wende ich ein.

«Du hast den verklärten Blick eines Europäers», entgegnet Wiktor. «Aber ich habe früher selbst so nach Osten, nach China, geschaut. Herabgeschaut. Wenn wir das, weswegen du hier bist, nur besser schützen würden!»

Der Feiertag trägt ein Übriges zur trägen Stimmung bei. Die letzten Schneereste sind zwar weggetaut, doch an den Bäumen sprießen noch nicht einmal Knospen. Nur an einigen Häuserwänden prangen bereits auf Plakaten die orange-schwarzen Georgsbändchen, das russische Symbol des Kriegsgedenkens. Bis zum Jubiläum des Sieges über Hitlerdeutschland sind es noch knapp zwei Wochen.

Auf der Straße begegnen wir kaum Menschen. Nur vor der Dreikönigskathedrale an der Uferpromenade der Angara warten Kirchgänger auf Einlass. Die Verhaltensregeln sind auf Russisch, Englisch und Chinesisch angeschlagen: Keine Nutzung von Mobiltelefonen und Kameras, keine knappen Röcke. China kommt also immerhin auf Hinweisschildern vor.

Vom Turm durchbricht ein stetiger, doch unregelmäßiger Glockenschlag die Stille. Zur Läuteanlage dieses Ensembles aus sibirischem Barock und russischem Klassizismus führt eine schmale Stiege hinauf. Die Stufen aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert sind ausgetreten. Popen gehen sie täglich hinauf. Den weltlichen Kirchgängern ist der Zutritt zum Turm nur am Ostersonntag gestattet – dann dürfen sie die Glocken läuten.

Oben peitscht mir kalter Aprilwind entgegen. Durch die Glocken hindurch ist der Blick frei auf die Angara, die schnell das klirrende Eiswasser des Baikalsees durch die Stadt trägt, als sei auf dem Weg zur Karasee, zum Polarmeer besondere Eile geboten. Das gegenüberliegende Ufer der Angara ist bis heute nur spärlich bebaut. So geht der Blick beinahe wie vor dreieinhalb Jahrhunderten, als Kosaken hier von ihren Wehrtürmen über das Wildnispanorama wachten, in die noch graue Landschaft. Unten, am Fuß der Kirche, singt eine Trachtengruppe sibirische Volkslieder gegen die Aprilbrise an. Dahinter droht die ewige Flamme zu erlöschen, die an jene Sibirier in den Rängen der Roten Armee erinnert, die auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs starben – vom mandschurischen Harbin im Osten bis zu den Seelower Höhen im Westen. Frische Nelken leuchten auf dem Marmor, davor schieben junge Kadetten Wache.

In unmittelbarer Nachbarschaft reckt die Erlöserkirche, Irkutsks ältester Sakralbau und das älteste erhaltene Steingebäude Ostsibiriens, ihre goldene Nadel in den silbrig verhangenen Himmel. Der neugotische Turm der katholischen Kirche daneben erinnert an die einst bedeutende polnische Diaspora. Nach zwei Aufständen 1831 und 1863 hatten die Zaren Nikolaus I. und Alexander II. Tausende Polen ins ostsibirische Exil verbannt. Wie viele andere Gotteshäuser war die Kirche zu Sowjetzeiten geschlossen. Doch seit 1978 ist sie ein Konzertsaal – ausgestattet mit einer Orgel der Potsdamer Firma Alexander Schuke. Europa scheint überall zum Greifen nah.

Hier ist sie also, die Keimzelle der alten sibirischen Stadt, am Zusammenfluss von Irkut und Angara. Weniger als sechs Jahrzehnte nachdem der Kosaken-Ataman und Entdecker Jermak 1582 im Auftrag der durch Salzhandel reich gewordenen Unternehmerdynastie der Stroganows den Ural überschritten und damit die russische Eroberung weiter Teile Nordasiens eingeleitet hatte, reichte das Russische Imperium bereits bis an den Pazifik. Russland wurde früher Pazifik- als Ostsee- oder Schwarzmeermacht. Mal stoßend, mal tastend drangen Kosaken gen Osten vor. Die Truppen des Zaren sicherten mit Forts und Handelsposten ihren sibirischen Expansionsweg: 1587 Tobolsk, 1604 Tomsk, 1632 Jakutsk und schließlich 1651, nach dem Sieg über die mongolischen Burjaten, Irkutsk. Bereits vier Jahre zuvor hatten Kosaken den Pazifik erreicht und in Ochotsk das erste Küstenfort errichtet. Nur zwei Jahrhunderte später herrschte das Russische Imperium über ein Sechstel der Landmasse der Erde. In den Weiten Eurasiens erwachte das russische Sendungsbewusstsein, ähnlich wie Amerikas nicht minder von der Gier nach Gold und Pelzen und vom Hunger nach Freiheit getriebene Expansion nach Westen als göttlicher Auftrag, als Manifest Destiny erklärt wurde. Doch auf die Nachfahren Jermaks wartete am Endpunkt ihrer Expansion kein Kalifornien. Vielleicht ist das der Grund, weshalb die russische Frontier vergessen ist, selbst vielen Russen ist sie kaum vertraut.

Die Angara, der einzige Strom, der aus dem Baikal abfließt, verbindet Irkutsk mit dem See- und dem Flusssystem des Jenissej. Irkutsk war Kreuzung des «Sibirischen Trakts» mit den Flüssen und anderen Landverbindungen, die nach Jakutsk in den hohen Norden sowie in die Steppen Dauriens führten, ein Gebiet, das heute Transbaikalien heißt. Seit Ende des siebzehnten Jahrhunderts zogen russische Handelskarawanen auf dem Weg nach China durch Irkutsk, beladen mit Pelzen – dem weichen Gold Sibiriens –, und kehrten mit Tee und feinen Stoffen aus dem Reich der Mitte zurück.

Wiktor und ich marschieren, die Kragen hochgeschlagen, zum Kirow-Platz. Ein paar Menschen arbeiten dort auch am Ostersonntag: Männer graben Rabatten um, Frauen streichen die über den langen Winter vom Rost zerfressenen Zäune kesselschwarz. Hier, auf dem zentralen Aufmarsch- und Paradeplatz, ist Irkutsk plötzlich ganz Sowjetunion: Das wuchtige Haus der Räte überragt die Stirnseite. «Bis 1938 stand dort die Kasaner-Kathedrale, ein Juwel im russisch-byzantinischen Stil. Sie war Sitz der Diözese Irkutsk. Heute Regionalverwaltung», seufzt Wiktor. Aus gleicher Zeit stammt der Neubau der Staatsbankfiliale. Gegenüber der Bank steht – ebenfalls auf dem Fundament einer Kirche – das nach dem Krieg gebaute Verwaltungsgebäude der Firma Vostsibugol. Geduldig setzt Wiktor seine Einführung fort. «Achte auf die strenge Symmetrie der Säulen und Türmchen. Ein Paradebeispiel des sowjetischen Monumentalklassizismus.» Das Hotel «Angara» rundet das sozialistische Ensemble ab – eine schlichte Betonscheibe aus den späten sechziger Jahren.

*

Jenseits des sowjetischen Architekturfirnis, in einer vom Kirow-Platz abgehenden Seitenstraße, stolpern wir förmlich in den Reichtum sibirischer Handelsdynastien und merken: Das alte Irkutsk ist eigentlich eine Stadt aus Holz. Noch im frühen neunzehnten Jahrhundert gab es nur ein paar Dutzend Steingebäude in der Stadt, nämlich Villen reicher Kaufleute und Sakralbauten. Nicht Ziegel, sondern Lärchen und Fichten waren allseits verfügbares Baumaterial, das zudem besser vor Kälte im Winter isoliert. Gut gepflegt halten Holzbauten Jahrhunderte. Doch der große Brand von 1879 vernichtete zwei Drittel dieser Häuser. Wie zur Mahnung überragt bis heute der Feuerwachturm das Zentrum.

Nun stehen wir vor einem der äußerst eklektischen Zeugnisse aus Ziegeln und Sandstein: dem Haus des Kaufmanns und Goldminenbesitzers Isaj Fajnberg, heute Adresse der Provinzbibliothek. Ein sorgfältig gemauerter Davidstern leuchtet noch immer sechszackig unterhalb des Eckturms. Das von Fajnberg ursprünglich bewohnte Holzhaus war, wie so viele andere, den Flammen zum Opfer gefallen. Wie andere Kaufleute betätigte sich Fajnberg als Mäzen, der an vielen öffentlichen Projekten, auch am Bau des Schauspielhauses, beteiligt war. Nebenan steht das im pseudorussischen Barock gebaute Haus Alexander Wtorows. Zu Sowjetzeiten tummelte sich hier die Jugend. «Ein Prachtbau! In der ganzen Union gab es wohl keinen prunkvolleren Palast der Pioniere», schwärmt Wiktor. Wtorow war mit dem Verkauf von Textilien zum reichsten sibirischen Händler aufgestiegen. Ein Stück weiter, auf der Karl-Marx-Straße, die vor der Oktoberrevolution einmal treffender Große Straße hieß, weitere Villen und Stadthäuser, in denen bis zum Bürgerkrieg Läden, Restaurants, Versicherungsgesellschaften, Zeitungsredaktionen und Bankfilialen untergebracht waren. «Um die Jahrhundertwende wähnten die Menschen in Irkutsk sich in Europa, nicht umsonst gilt die Stadt als das Paris Sibiriens», so Wiktor. Eine staubige Patina bedeckt den einstigen Glanz. Die Betriebsamkeit, sie ist verflogen.

Das goldene Zeitalter der Irkutsker Handelsdynastien begann schon Anfang des achtzehnten Jahrhunderts mit den Sibirjakows und Trapeznikows und erhielt nach Aufhebung des staatlichen Exportmonopols für Pelze im Jahr 1762 zusätzlichen Auftrieb. Noch Anfang des neunzehnten Jahrhunderts gingen drei Viertel der nach China exportierten Pelze durch die Kontore der Irkutsker Kaufleute.

Diesen ungeheuerlichen Steigflug verdankt Irkutsk seiner segensreichen geographischen Lage. Sie machte Irkutsk zur Stadt mit Sibiriens größter Händlergemeinde und zu einem zentralen Umschlagplatz zwischen Europa und Asien, selbst nach Amerika. Die Dependance der Russländisch-Amerikanischen Kompagnie wickelte hier ihren Pelzhandel zwischen dem Nordpazifik und China ab. Ein Goldrausch am Fluss Lena bescherte der Stadt ab dem Jahr 1843 einen zusätzlichen Kapitalzufluss. «In keiner sibirischen Stadt gibt es Läden mit derart auserwählten Luxusgütern, vornehmem Geschmack und so elegante Droschken. Nirgends sonst sah ich eine – wie soll ich sagen – so exquisite und agile Gesellschaft, die Manifestation eines erlesenen Sinns für Literatur, Wissenschaft und die schönen Künste.» Wiktor zitiert den Ethnographen und Publizisten Pawel Rowinskij, der 1875 diese Zeilen schrieb.

Wir biegen in die Timirjasew-Straße ein. Doch selbst dieses Ensemble aus von den Flammen verschonten alten Lebkuchenhäusern mit all ihren aufwändigen Schnitzereien an Traufen, Türen und Veranden ist heute bedroht. «Denkmalschutz alleine erhält noch kein Haus. Holz braucht ständig Pflege. Früher fehlte das Geld», schimpft Wiktor, «und heute fehlt uns der Verstand.»

In einigen Querstraßen sind zwar Holzhäuser eingerüstet, doch fehlt es an einem Gesamtkonzept. Das 130. Viertel ist so ein kitschiges Ensemble, durch das sich eine Fußgängerzone schlängelt. Links und rechts Hipster-Geschäfte und durch Vintagelampen in mattes Licht gehüllte Cafés. Schlimmer als Vernachlässigung oder Kommerzialisierung sei indes die Gentrifizierung mit dem Streichholz: «Immer wieder legen kriminelle Investoren Feuer. Neubauten sind einfach billiger», meint Wiktor. «Und wenn die Stadt keine Baugenehmigung erteilt, hält das Grundstück nach dem Brand als Parkplatz her.»

*

Wiktor führt mich zu Russlands ältester aktiver Synagoge, die in der Karl-Liebknecht-Straße steht. Sie wurde Anfang der 1880er-Jahre gebaut, nachdem die Stadtverwaltung die Organisation einer jüdischen Gemeinde gestattet hatte. Offiziell durften Juden damals nur im sogenannten Ansiedlungsrajon im Westen des Imperiums leben. Doch als Händler wie die Fajnbergs, vor allem aber als Sträflinge und Verbannte gelangten Juden auch nach Ostsibirien. Um die Jahrhundertwende war jeder zehnte Bürger der Stadt ein Aschkenase. Ende des neunzehnten Jahrhunderts zogen viele Tataren aus der Wolgaregion zu, die sich hier ein besseres Leben erhofften; ihnen verdankt Irkutsk die ebenfalls in der Liebknecht-Straße gelegene Moschee.

«Irkutsk war nicht nur das Handels- und Verwaltungszentrum Ostsibiriens, mit Kaufleuten aus Moskau, Nowgorod und Kasan, mit Juden, Polen und Deutschen, dem einen oder anderen Franzosen. Es war auch das kulturelle Herz der Region. Bereits Ende des achtzehnten Jahrhunderts hatte die Stadt ein Museum, eine Druckerei sowie zahlreiche Bildungseinrichtungen: ein theologisches Seminar und ein Gymnasium mit Klassen in Mandschurisch, Mongolisch, Chinesisch und Japanisch.» Wiktors Augen strahlen, ehrlich begeistert. «Die erste öffentliche Bibliothek, gegründet 1782, war ein Unikat der russischen Provinz, kostenlos zugänglich für alle Stadtbewohner.» Die Ursprünge des Theaters gehen ebenfalls auf das späte achtzehnte Jahrhundert zurück. «Nach Tula und Charkow war Irkutsk die dritte Stadt jenseits der russischen Metropolen, die überhaupt eine Bühne hatte.» Die 1851 gegründete Sibirische Abteilung der Russisch Geographischen Gesellschaft wurde Ausgangspunkt zahlreicher wissenschaftlicher Expeditionen und Fundament der Wissenschaft in der Region.

Doch wer verstehen will, weshalb Irkutsk das intellektuelle Zentrum Sibiriens war, der sollte ein eher schmuckloses blau-weiß getünchtes Herrenhaus unweit des Zirkus besichtigen. Umgeben von Ställen, einer Scheune und Gesindehäusern beherbergt das zweigeschossige Gebäude das Dekabristen-Museum. Jene «Dekabristen» genannten Offiziere, die im Dezember (russisch dekabr) 1825 dem gerade gekrönten Zaren den Treueschwur verweigert hatten, erwiesen sich als Glücksfall für die kulturelle Entwicklung Ostsibiriens. Nikolaj I. schickte viele von ihnen ins sibirische Exil. Die meist hochgebildeten Adligen suchten in der Verbannung den Kontakt zur lokalen Gesellschaft. Sie gaben Impulse für die Stadtplanung, Landbewirtschaftung und Bildung in der Region. Und sie leisteten einen zentralen Beitrag zur Erforschung der Ethnographie, Geographie und Natur Sibiriens. Die von ihnen aufgeworfenen «sibirischen Fragen» waren der Nährboden des sibirischen Regionalismus – einer politischen Bewegung, die im späten neunzehnten Jahrhundert gegen den russischen Kolonialismus in Sibirien opponierte. Ihr Wortführer Nikolaj Jadrinzew betonte in seinem Monumentalwerk Sibirien als Kolonie die vorgeblichen Eigenheiten der Sibirier im Vergleich zu ihren russischen und ostslawischen Vorfahren – insbesondere kulturelle Unterschiede wie die Liebe zur Freiheit und die Eigeninitiative. Diese Autonomiebestrebungen flammten im russischen Bürgerkrieg, in dem Irkutsk besonders hart umkämpft war, und nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder auf.

Einer der bekanntesten Dekabristen war Fürst Sergej Trubezkoj, durch dessen Haus Wiktor und ich nun streifen. Trubezkojs Ehefrau Jekaterina war ihrem Mann in die Verbannung gefolgt, erst nach Nertschinsk und später nach Irkutsk. Mit ihrer Solidarität und ihrem bewussten Verzicht auf ein luxuriöses Leben galt Jekaterina Trubezkoja wie auch Maria Wolkonskaja vielen Zeitgenossen als Ideal einer russischen Frau. Maria engagierte sich im örtlichen Krankenhaus und machte ihre eigenen vier Wände zu einem informellen Zentrum des städtischen Kulturlebens. Bälle, musikalische Soiréen, Debattenabende – eine europäische Insel inmitten der asiatischen Wildnis. Spuren dieses «Pariser» Lebens finden wir heute lediglich noch im Museum in den Wohnhäusern der Trubezkojs und Wolkonskijs.

Das Ende der Stadt der Lebemänner und Stubenmädchen, das Ende der Salons und rauschenden Feste war radikal: Mit dem Bürgerkrieg, besonders aber nach Einmarsch der Wehrmacht in der Sowjetunion, als der Staat hastig ganze Fabriken aus Frontgebieten nach Sibirien evakuierte, wurde Irkutsk zu einer sozialistischen Industriestadt der Arbeiter und Ingenieure, der Paraden und der Massenalphabetisierung. Die neue Generation baute nach Kriegsende die gigantischen Wasserkraftwerke von Irkutsk und stromabwärts entlang der Angara. Bei Bratsk versanken hinter der damals größten Staumauer der Welt einhundert Dörfer sowie Tausende Hektar wertvoller Ackerfläche. Als nach dreizehnjähriger Bauzeit alle Turbinen ans Netz gingen, war genügend Elektrizität für die Aluminiumwerke von Bratsk und Irkutsk und andere energieintensive Industrien verfügbar. Schon bald schuftete jeder zweite Berufstätige in Irkutsk in der Schwerindustrie. Die Einwohnerzahl verdreifachte sich auf sechshunderttausend Menschen in den sieben sowjetischen Jahrzehnten – und verharrt seither auf diesem Niveau.

Als Wiktor vor dem Museum aus den Statistiken zitiert, ertappe ich mich bei dem Gedanken an die Prophezeiung Michail Lomonossows, jenes großen Dichters und Wissenschaftlers der Aufklärung, dass Russlands Macht mit Sibirien wachsen, das Land reicher werden würde. Doch reich woran? Das Leben in Irkutsk spielt sich heute vor allem in den Trabantenstädten ab, deren Wohnblöcke auf den umliegenden Hügeln im Kontrast zu den Prunkbauten im Zentrum stehen. Die brutale Industrialisierung hat zahllosen anderen sowjetischen Städten die russische Seele geraubt, hier blieb der historische Stadtkern weitgehend unberührt – sehen wir vom Alphabet der sozialistischen Straßennamen ab: Gagarin, Kirow, Lenin, Liebknecht … Partisanen, Pioniere, Proletarier …

Wiktors eigene Familiengeschichte liest sich wie ein Spiegel dieser radikalen Entwicklung. Seine Vorfahren väterlicherseits lebten als Bauern seit dem achtzehnten Jahrhundert in der Region Irkutsk. Seine Mutter, in Belarus geboren, überlebte die Blockade Leningrads und zog nach dem Krieg nach Irkutsk. Der Weg zurück in ihr belarussisches Heimatdorf blieb ihr versperrt: «Das war ausgelöscht. Ich weiß nicht einmal, wie meine Großeltern mit Vornamen hießen. Meine Mutter sprach nicht darüber.» Wiktor, Jahrgang 1949, wuchs in einem kleinen Dorf nordwestlich von Irkutsk auf. Er studierte Geschichte an der Irkutsker Staatlichen Universität, promovierte 1976 in Moskau und kehrte dann als Professor an seine Alma Mater zurück. Eine sowjetische Bilderbuchkarriere.

*

«Komm», beharrt Wiktor, «wir gehen noch schnell nach Schanghai», als wir hinter dem historischen Feuerwachturm auf den Zentralmarkt von Irkutsk einbiegen. «Du interessierst dich doch für allerlei chinesische Spuren.» Seine Augen blitzen durch die dicken Brillengläser. Als Historiker mit anthropologisch geschultem Blick sucht Wiktor in der nachsowjetischen Gegenwart die Renaissance der Zarenzeit. Schanghai, das sehe ich jetzt, ist ein eher überschaubarer Basar. Ein paar Frauen bieten auch am Feiertag Dill aus dem Gewächshaus feil, etwas weiter zapft jemand schon frischen Kwas aus einem Tankwagen, obwohl der Sommer noch ferne Zukunft ist. Ein Chinese aus der südlichen Küstenprovinz Fujian verkauft statt edlem Zobel Kunstpelzmäntel und Plastikschlappen. «Brauchst du ein Telefon?», fragt mich ein Mann am Nachbarstand in gebrochenem Russisch, während er Handyschutzhüllen in einer Glasvitrine arrangiert. Wir steigen durch die kargen Relikte der chaotischen postsowjetischen Marktwirtschaft. In den Wendejahren sprossen überall in Sibirien, ja selbst in Moskau, asiatische Basare wie Pilze nach einem Spätsommerregen empor. Sie trugen klingende Namen wie «China», «Schanghai» oder «Mandschurei» – wie schon zur Zarenzeit.

Einer der größten Basare entstand 1992 jenseits des Feuerwachturms auf dem Gelände einer bankrotten Schuhfabrik. «Vor zwanzig Jahren noch war Schanghai ein wahres Babylon», sagt Wiktor, «mehrere Tausend Chinesen, Koreaner, Vietnamesen, Russen, Tadschiken und Kirgisen trieben hier Handel. Die Qualität der Produkte war oft schrecklich, aber der Preis stimmte.» Dank seiner zentralen Lage, billiger chinesischer Massenware und den anspruchslosen Konsumgewohnheiten der Kunden sei die hektargroße Budenfläche das Zentrum des gesamten Versorgungssystems der Region gewesen. «An Wochenenden reisten Zwischenhändler selbst aus dem fernen Ulan-Ude und Tschita an.»

Wiktor hat den Markt damals oft aufgesucht. «Täglich gab es Schlägereien, und Hygiene war ein Fremdwort. Specknackige Security-Angestellte pressten den Händlern Schutzgeld unter dem Vorwand fehlender Dokumente ab.» Er zeigt auf ein verwaistes Holzhaus, das mit tief ausgesägten Ladenfenstern an diese Zeit erinnert. «Die umliegenden Häuser beherbergten illegale Warenlager, Kantinen, Cafés, öffentliche Toiletten, Friseursalons, Bordelle und Billardhallen. Selbst eine unterirdische Arena für Hundekämpfe gab es.»

Wiktor beäugt misstrauisch einen Mann, der uns zu folgen scheint. Er hat noch immer diesen sowjetischen Augenwinkelblick. Ich muss an die Bilder einer Nachrichtensendung in Russlands «Erstem Kanal» Mitte der nuller Jahre denken. Daran, wie Milizionäre medienwirksam ein illegales Schlaflager nahe dem Basar aushoben. Schlimmer als die Bilder war der Kommentar des Moderators: «Die Chinesen hausen hier wie Kakerlaken. In Kellern! Unter der Erde!» Als die Stadtverwaltung 2006 den Markt liquidierte, wichen die Händler auf ein Dutzend offene Flächen im Zentralmarktgebiet aus – der Volksmund nannte das Areal «Groß-Schanghai».

Obwohl die wilden Handelsplätze inzwischen fast vollständig aus dem Stadtbild verschwunden sind, haben die Märkte für Wiktor dennoch das Leben der Sibirier nachhaltig verändert: «Durch die Basare war China plötzlich in russischen Städten wieder präsent. Von heute auf morgen waren sie ein Teil der täglichen Routine der Bewohner. Ob man dort einkaufen ging oder nicht, war ein Statement, das den sozialen Status von Menschen markierte. Und wer hatte zuvor schon mal einen Chinesen gesehen? Heute ist China längst wieder ein fester Bestandteil unseres Lebens.»

Doch inzwischen hätten chinesische Touristen die Händler abgelöst. Siberia Airlines bediene täglich Peking. «Irkutsk gilt Chinesen aber nur als ein Transitpunkt auf dem Weg zum Baikalsee», schränkt Wiktor ein. «Sie landen am Flughafen und bleiben, wenn überhaupt, für eine Nacht. Die meisten Chinesen fliegen ohnehin direkt nach Europa weiter: Drei Tage Moskau, drei Tage Sankt Petersburg. Das war’s.» So ist China – obwohl historisch für Irkutsk wichtig –, abgesehen von ein paar Lautsprecherdurchsagen in Supermärkten und Hinweisschildern vor Kirchen, auffallend abwesend.

Irkutsk scheint anders als zu seiner Blütezeit ein Opfer seiner geographischen Lage, ein Schatten seiner selbst, ein vergessenes Paris: Im Westen boomt Krasnojarsk – strategisch viel näher an Europa gelegen. Im so fernen Osten ist es ein Steinwurf bis nach China. Dort hängen die Städte Blagoweschtschensk, Birobidschan und Chabarowsk wie an einer Perlenkette am Grenzfluss Amur aufgereiht, gefangen zwischen China im Süden und der unermesslichen Taiga im Norden. Dort ist jeder auf sich allein gestellt – eine Nachtzugfahrt von der nächsten nennenswerten Siedlung entfernt. Und Irkutsk klemmt irgendwo dazwischen und ist sich und seiner Umgebung von Industriestädten entlang der Angara genug. Die Frontier hat sich schon lange weitergeschoben. Irkutsk, das Zentrum Ostsibiriens, scheint, obwohl es östlicher als Singapur liegt, mit Asien nicht verschwistert, doch auch mit Europa ist die Stadt höchstens verschwägert.

2. Die durstigen Chinesen vom Baikalsee

Chuschir – Kultuk

Am nächsten Morgen ist die österliche Ruhe passé. Eine nicht enden wollende Kolonne von Kleinbussen schiebt sich auf meinem Weg ins Zentrum an mir vorbei, verbleit meinen Atem. Am Zentralmarkt, dem ehemaligen Schanghai, gehen die von den Russen Marschrutkas – ja, da steckt das deutsche Wort Marschroute drin! – genannten Sammeltaxis zum Baikalsee ab. Viereinhalb Stunden braucht der Kleinbus für die knapp dreihundert Kilometer bis in das Dorf Sachjurta. In Sachjurta legen die Fähren nach Olchon ab, wenn der Baikal nicht vereist ist. Olchon ist die mit Abstand größte Seeinsel. Unterwegs ödet die Landschaft karg, bergig, apriltraurig. Birken liegen wie erloschene Zündhölzer kreuz und quer auf den Hängen. Später Neuschnee muss die Bäume unter ihrem Blattwerk im vergangenen Frühsommer erdrückt haben. Seit einigen Jahren ist die Chaussee fast durchgehend asphaltiert. Über die Schotterabschnitte braust der Fahrer dennoch mit der Geschwindigkeit eines Surfers, der auf einer Welle reitet.

Winzig sah der Baikal auf meiner Landkarte aus. Doch das lag nur daran, dass der sibirische See von Russland ganz umschlossen ist. Jetzt, in Sachjurta, wo der Blick auf den Baikal frei ist, muss ich jenen Geophysikern recht geben, die behaupten, dass hier ein neuer Ozean geboren wird, weil seine Ufer ganz allmählich auseinanderdriften.

Vor zehn Jahren noch pendelte im Sommer lediglich ein hölzernes Fährboot mit einer Kapazität von zwei Autos zwischen Sachjurta und Olchon. Inzwischen queren in den eisfreien Monaten drei größere Fähren die schmale Durchfahrt zwischen dem Festland und der Insel. «In der Ferienzeit, wenn Touristen die Seeufer überrennen, stauen sich die Wagen dennoch den Berg hinauf», berichtet eine Frau, die vor mir am Anleger steht. Heute ist keine Fähre am Pier. Sobald der See im Januar zufriert, führt eine Eisstraße auf die Insel. «Im Winter schieben die Chinesen ihre Rollkoffer übers Eis. Wie auf dem Flughafen», erzählt die Insulanerin mir noch, während sie den Kragen ihres zebragemusterten Anoraks nach oben schlägt. Zu Sowjetzeiten sei Olchon nur unter Einheimischen aus den Regionen Irkutsk und Burjatien beliebt gewesen, und das auch nur während der Sommerferien. Jetzt kämen Touristen aus aller Welt, selbst bei Eis und Schnee. Weil sich im März bereits zwei große Risse gebildet haben, endet unsere Fahrt am Fähranleger. Heute bleiben neben dem Irkutsker Sammeltaxi nur wenige Fahrzeuge an der Kaimauer hängen, eines mit chinesischem Kennzeichen.

Obwohl wenig los ist, dauert es, bis ich einen Platz im einzigen Luftkissenboot ergattere, das heute zwischen Sachjurta und Olchon verkehrt. Wie jedes Jahr in der Übergangszeit – vor Weihnachten und um Ostern – ist die Insel ziemlich abgeschnitten. Gerade ein Dutzend Passagiere findet in dem dröhnenden in Flecktarn gehaltenen Ungetüm Platz. Der Fährbetrieb beginnt erst wieder nach den Maifeiertagen.

Am anderen Ufer wartet schon Sergej. In seinem rundlichen sowjetischen Minivan schaukelt er zwei Belgier und mich schweigend zum Anwesen von Nikita Bentscharow in Chuschir, immer die tiefen Furchen der Sandpiste im Blick, die so etwas wie die Hauptstraße der Insel sein muss. Ich klemme im Fond, und mir ist übel. Unter der Sitzbank des Kleinbusses steckt ein Kanister. In der Nase sitzt mir der Duft meiner ostdeutschen Kindheit. Es ist dieser süßliche Geruch vom Kerosin der Militärkolonnen, die über die Landstraßen der Altmark dröhnten. Immerhin siebzig Kilometer misst die einzig permanent besiedelte Baikalinsel von einer Spitze zur anderen. Olchon bedeutet in der Sprache der Burjaten «trocken». Recht haben sie. Tatsächlich bedeckt Steppenvegetation die sanften Hügel. Nur am Horizont steht borealer Nadelwald. Öde ist das Eiland aber keineswegs.

Bentscharows Anwesen erreichen wir nach einer Stunde Fahrzeit. Seine Herberge war das erste Inselhotel überhaupt. Ein wüster Stilmix aus in die Landschaft gepurzelten Holzhütten und Jurten. Jetzt, kurz nach Ostern, sind die Zeltdisco am Strand und der Souvenirstand weiter oben verwaist. Laut Aushang an der Rezeption gibt es Kochkurse – im Sommer. Am frühen Abend essen die Angestellten im Speisesaal. Die Köche, die Putzfrauen, der Hausmeister – sie alle stammen aus dem Dorf und scheinen froh über die Arbeit, die sie bei Nikita gefunden haben. Außer zwei Professorinnen von der Sorbonne und mir gibt es keine Kundschaft.

Im Abendblau schlendere ich durch das laternenlose Chuschir. Im Dorf sollen anderthalbtausend Menschen leben – knapp zwei Drittel der Inselbewohner. Mich erinnert Chuschir an eine verwaiste Western-Filmkulisse. Die sandige Hauptstraße wäre etwa fünf Spuren breit, wenn sie denn Markierungen hätte. Gesäumt wird sie von kleinen Holzgebäuden. Vor den wenigen jetzt geöffneten Restaurants räuchert der berühmte Omul vor sich hin. Der Fisch zählt auf Olchon zu den Grundnahrungsmitteln. Zwei in Rentnercamouflage gekleidete Ehepaare schleichen mir entgegen. Der Mann mit dem Anglerhut echauffiert sich in breitestem Sächsisch über den von zwei postsowjetischen Investitionsruinen und einem korrodierten Bauwagen eingerahmten Dorfteich: «Und das nennt sich Lenin-Straße, wo in der Mitte diese Kloake steht?» Eine hagere Kuh quert teilnahmslos den Sandweg und hinterlässt einen dampfenden Fladen.

Ich flüchte ans Seeufer und bestaune die beiden Schamanka-Felsen. Unweit von Bentscharows Herberge überragen sie wie gigantische Stoßzähne den schleichend tauenden See. Ein paar Möwen hüpfen von Scholle zu Scholle. Bunte Tücher umhüllen die dürren Stämme der wenigen Kiefern davor, als würden diese frieren. Felsen, Bäume, Flüsse – alles scheint hier von Geistern bewohnt. Und die Kommunikation mit der Geisterwelt übernehmen die Schamanen. Frauen dürfen die heiligen Felsen nicht betreten – es sei denn, sie bitten den Burjaten-Gott Burchan hinterher um Vergebung. Überhaupt hat Burchan hier eine große Bedeutung, nach ihm ist auch der Hausberg der Insel benannt.

Am nächsten Morgen treffe ich die Sachsen wieder – sich aus dem Weg zu gehen, scheint auf dem Eiland ein Ding der Unmöglichkeit. Wir haben uns für die gleiche Inselrundfahrt angemeldet. So erkunde ich eingepfercht zwischen den beiden Ehepaaren im gleichen mausgrauen kerosinparfümierten Uasik 452, der mich gestern abgeholt hat, den Norden der Insel. Für das Rentnerquartett aus Grimma ist Olchon ein verklärter Sehnsuchtsort der Einfachheit und Rückständigkeit. Den Burjaten hingegen, die noch immer die Mehrzahl der Insulaner stellen, gilt die Schamaneninsel als Heiligtum, als Heimat voller Herausforderungen.