Jörg Lauster
Der heilige Geist
Eine Biographie
C.H.Beck
Der heilige Geist ist neben Gott Vater und Jesus Christus die dritte Person des «dreieinigen Gottes». Jörg Lauster erzählt erstmals die Biographie dieser rätselhaften Macht von der Schöpfungsgeschichte über frühchristliche und mittelalterliche Geistvorstellungen bis hin zu der Frage nach dem göttlichen Geist in einer entzauberten Moderne voller Ungeist. Eine etwas andere Geistesgeschichte des Abendlandes, die auf faszinierende Weise Theologie und Philosophie, Religion und Kultur miteinander verklammert.
Vor der Schöpfung der Welt schwebte der Geist Gottes über der Urflut, senkte sich bei der Taufe auf Jesus herab und ließ die Apostel im Pfingstwunder in fremden Sprachen predigen. Der Geist erscheint als säuselnder Wind und brausender Sturm, als Feuer und Taube, in der Kirche und in der freien Natur. Er ist die große verändernde Macht, die zu Taten der Liebe anstiftet, Visionen befeuert, Künstler und Prediger inspiriert, Traditionen und Autoritäten untergräbt und als Weltgeist die Geschichte vorantreibt. Jörg Lauster geht in seiner Biographie des heiligen Geistes weit über die Theologiegeschichte hinaus, denn in politischen Utopien, in philosophischen Freiheitsideen, im künstlerischen Geniekult oder in der modernen Naturbetrachtung zeigt sich, wie sich der Geist auch in einer säkularisierten Welt Ausdruck verschafft. Das geheime Zentrum dieser ersten Biographie des heiligen Geistes ist die Philosophie der Renaissance, die wie ein Scharnier Mittelalter und Moderne, göttlichen und menschlichen Geist miteinander verbindet.
Jörg Lauster, geb. 1966, ist Professor für Systematische Theologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und hatte Gastprofessuren in Venedig, Rom und Chile inne. Bei C.H.Beck erschien von ihm bereits «Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums» (5. Auflage 2017, C.H.Beck Paperback 2020).
Vorsatz
Tafelteil
Das Rauschen der Welt
Erster Teil: Von den Ursprüngen zur sichtbaren Gestalt des Geistes
1. Der Geist über dem Wasser
Die Kraft des Mythos: Geist-Dichtung und deren Erforschung
Wind und Lebenskraft: Die kosmische Dimension des göttlichen Geistes
Tollwut und Sanftmut: Die anthropologische Dimension des göttlichen Geistes
Die Geburt des heiligen Geistes
2. Geist vom Himmel:
Pfingsten und der Geist im frühen Christentum
Explosive Geistesgegenwart: Paulus und die Christuspräsenz im Geist
Die Inkarnation des Geistes: Lukas
Die Gnade der späten Geburt: Johannes
3. Geist und Erde:
Der Stoffwechsel des Geistes
Charisma und Institution: Die Sozialkraft des Geistes
Charisma und Person: Der Geist und die kirchlichen Ämter
Der Geist und das Wasser: Die Taufe
Der Geist, das Brot und der Wein: Das Abendmahl
4. Den Geist denken:
Der Geist und das Dogma
Vom Nutzen und Nachteil der Trinitätslehre: Wenn Beter denken
Die Unruhe des Denkens und die Spuren der Trinität: Augustinus
Zweiter Teil: Geist und Mensch
5. Leben ohne Warum:
Die Mystik und der Geist Gottes in der Seele
Die Wurzeln der Mystik
Die Stunde der Frauen
Meister Eckhart und der Seelenfunken des Geistes
Die «Inseln des Sinnvollen»: Mystik heute
6. Freiheit und Gottebenbildlichkeit:
Der Geist als Verwandtschaft mit Gott
Renaissance: Die Freiheit zum Selbstentwurf
Gottebenbildlichkeit: Neuplatonische Physiologie des Geistes
Freiheit als Selbstbestimmung: Die Stimme der Vernunft
Freiheit als Selbstgestaltung: Die Stimme des Eigentlichen
Das Eigentliche und das Vernünftige: Freiheit als Befreiung
7. Begeisterung:
Inspiration als Psychologie des göttlichen Geistes
Geistesgaben als Kräfte zum Guten
Die Kraft, die Berge versetzt: Glaube
Dem Zynismus widerstehen: Hoffnung
Seelenflug zum Guten und Schönen: Das Lob der platonischen Liebe im Christentum
Romantische Liebe und das Amen des Universums
Die Verzwergung der Inspiration: Schriftfetischismus
Das Fließen des Geistes: Von Dichtern, Schutzengeln, Genies und Melancholikern
Inspiration für alle: Der Mythos der Kreativität
Gottes Dahinrauschen in der Seele: Vom theologischen Nutzen der Inspirationslehre
Die Unterscheidung der Geister: Fanatismus, Verzweiflung und die Sünde wider den heiligen Geist
Dritter Teil: Geist und Geschichte
8. Die Kraft der Utopie
Das tausendjährige Reich des heiligen Geistes: Joachim von Fiore
Magnetismus der Hoffnung: Utopia und der Sonnenstaat
9. Der Geist in der Geschichte als Versöhnung
Der Traum vom Frieden: Ein heiliges Experiment in der Neuen Welt
Pax Christiana: Der heilige Geist als Frieden
Hegel hat einen Plan: Der Weltgeist
Was von Hegel übrig bleibt: Fortschritt, Versöhnung und die heraufdämmernde Ahnung des bösen Volksgeistes
Durchbruch zum Guten: Versöhnung
Täterinnen und Täter der Liebe
Der Geist der Hingebung und Tapferkeit: Albert Schweitzer
10. Feuerzungen vom Himmel:
Das Pfingstchristentum und der Geist der Gegenwart
Der lange Weg von Mittelengland an den Pazifik
Wenn der Geist spricht: Pfingstchristentum heute
Der Geist in der Gegenwart
Vierter Teil: Geist und Welt
11. Der Geist in der Natur
Das Ende des göttlichen Geistes? Die Emanzipation des Materialismus
Der Geist im Gehirn
Die Stimme der Natur
Das Erwachen des Universums
Epilog: Das Ende der Welt
und das Ende des Buches
Anhang
Dank
Anmerkungen
Das Rauschen der Welt
1. Der Geist über dem Wasser
2. Geist vom Himmel: Pfingsten und der Geist im frühen Christentum
3. Geist und Erde: Der Stoffwechsel des Geistes
4. Den Geist denken: Der Geist und das Dogma
5. Leben ohne Warum: Die Mystik und der Geist Gottes in der Seele
6. Freiheit und Gottebenbildlichkeit: Der Geist als Verwandtschaft mit Gott
7. Begeisterung: Inspiration als Psychologie des göttlichen Geistes
8. Die Kraft der Utopie
9. Der Geist in der Geschichte als Versöhnung
10. Feuerzungen vom Himmel: Das Pfingstchristentum und der Geist der Gegenwart
11. Der Geist in der Natur
Epilog:Das Ende der Welt und das Ende des Buches
Literatur
Bildnachweis
Personenregister
Iwan Konstantinowitsch Aiwasowsky war ein russischer Romantiker des 19. Jahrhunderts. «Maler des Meeres» nannte ihn aus gutem Grund eine Wiener Ausstellung. Das Motiv aus dem ersten Kapitel der Genesis faszinierte ihn. Zweimal nahm er das Thema des Geistes über dem Wasser auf. Das Bild «Die Schöpfung» deutet den Geist in der Wolke an, durch die der Schöpfer im Hintergrund wirkt. Farbgebung und Lichtgestaltung unterstreichen das Geheimnis des Geistes.
Francisco de Goya war bibelfest. Er stellte auf seiner «Verkündigung der Geburt Jesu» (um 1785) mit dem Symbol der Taube und dem Lichtstrahl präzise dar, was der Engel im Lukasevangelium Maria ankündigt: «Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten.»
Rembrandt hat den Apostel Paulus mehrmals gemalt, einmal hat er sich sogar in einem Selbstporträt als Paulus dargestellt. Das Bild «Der Apostel Paulus» aus dem Jahr 1633 zeigt den alten, nachdenklichen Paulus. Zur Wirksamkeit des Geistes gehört neben der Begeisterung auch die Selbstreflexion. Hermann Gunkel urteilte in seinem Buch über den heiligen Geist treffend, dass dem Apostel Paulus sein Leben ein Rätsel war, das er nur durch das Nachdenken über den Geist lösen konnte.
Der Maler Giovanni Battista Cima da Conegliano stellte in seiner «Taufe Christi» 1494 dem heiligen Geist elf Engel zur Seite. Das könnte eine Anspielung auf die Genien sein, durch die der Geist seine Wirkung in Menschen entfaltet.
Leonardo da Vincis «Abendmahl» im Refektorium des Klosters Santa Maria delle Grazie in Mailand ist die vermutlich berühmteste Darstellung dieser Szene. Das an faszinierenden Details so reiche Bild nimmt durch die meisterhafte Umsetzung der Zentralperspektive und die emotionale Aufladung der Figuren die Betrachter mit hinein in das letzte Abendmahl Jesu.
«Die Ausgießung des Geistes» illustrierte Gustave Doré 1865 als lichtvolles Ereignis. Der Geist senkt sich herab als Lichtstrahl und in Feuerzungen. Pfingsten wird in dieser Darstellung zu einem sinnlich wahrnehmbaren Ereignis.
Botticelli arbeitete in seinem Bild des Augustinus (um 1480) die doppelte Seite des Kirchenvaters heraus: Ergebung und Erleuchtung gehören ebenso zusammen wie innere Erfahrung und die Kraft des Denkens.
Michelangelos «Erschaffung Adams» bildet das Zentrum seiner Deckenfresken in der Sixtinischen Kapelle. Die Renaissance-Theologie der Gottebenbildlichkeit scheint mustergültig hervor. Der angedeutete Funkenflug zwischen den Fingerspitzen ist Michelangelos geniale Interpretation der Belebung des menschlichen Geistes durch den Geist Gottes.
Albrecht Dürers erste Bearbeitung der «Melancholia» von 1514 ist ebenso berühmt wie rätselhaft und hat darum Interpreten seit jeher vor schwere Aufgaben gestellt. Das Bild verarbeitet zahlreiche Motive der Melancholie-Lehre der Renaissance wie den Einfluss des Saturn und die Gegenwart des Genius. Die Hauptfigur stellt aber auch eine mögliche Stimmung des Künstlers selbst dar. Auch der Schmerz und der Verdruss an der Welt sind eine Form der Geistesgegenwart.
Ernst Ferdinand Oehme malte 1828 das Bild «Prozession im Nebel» noch stark unter dem Einfluss Caspar David Friedrichs. Der einsame Zug der Mönche in den Nebel hinein und aus den Augen der Betrachter hinaus deutet eine ungewisse Zukunft an. Die Romantiker hatten ein sicheres Gespür für die Verluste der Moderne. Das Bild hält in seiner Melancholie eine Kehrseite der Aufhebung der Kirche in die Kultur fest.
William Turner bringt in «Regen, Dampf und Geschwindigkeit» von 1844 die rasanten Veränderungen des 19. Jahrhunderts ins Bild, zu deren Symbol die Eisenbahn wurde. Die im sich auflösenden Dampf heranrasende Lokomotive ist ebenso faszinierend wie bedrohend. Damit wird das Gemälde zu einem Sinnbild der Ambivalenz der Moderne.
Caspar David Friedrich war ein Meister der Atmosphäre und der Stimmung. Selbst in der an sich unscheinbaren Motivwahl von Feldern und Baumgruppen in den Ausläufern eines Mittelgebirges gelingt es ihm, das Geheimnis aufscheinen zu lassen, das Menschen in der Natur erfahren können.
Der französische Maler Henri Rousseau fing 1907 in dem Bild «Exotische Landschaft mit Tiger und Jägern» die Ambivalenz der Natur ein. Ihre Schönheit gleicht einem Traumbild, und doch lauert verborgen in dem Idyll der Kampf um Leben und Tod zwischen Raubtier und Jäger.
Das menschliche Dasein zeichnet aus, dass es sich in einer Welt ereignet, die nicht stumm ist. Aus der Welt steigt ein Rauschen auf, das Menschen anspricht, fordert, schreckt und beruhigt. Das Rauschen kann in einer klaren Melodie hervorströmen, es kann ruhig dahinfließen, es kann in einem plötzlichen Brausen hereinbrechen oder als ein dunkles Grollen das menschliche Welterleben fluten. Für dieses Rauschen hat das Christentum aus tiefer Vergangenheit eine Erklärung: Das Rauschen der Welt ist die Gegenwart des göttlichen Geistes. Denn Gott ist in der Welt präsent als Geist. Niemand Geringeres als Jesus Christus hat dieses Herz der christlichen Überzeugung im Johannesevangelium in drei Worten zusammengefasst. «Gott ist Geist.» (Joh 4,24)
Davon handelt dieses Buch. Es will den vielfältigen Formen der Gegenwart des göttlichen Geistes im Rauschen der Welt nachgehen. Rauschen ist seinem Wesen nach uneindeutig. Zweifel und Unsicherheit gehören gewiss dazu. Ist es wirklich die Gegenwart des göttlichen Geistes, die aus dem Rauschen der Welt zu vernehmen ist? Aufgrund der Ungewissheit hat es an offensichtlichen Bestreitern nie gefehlt. Die Moderne gibt sich in ihrer Religionsbestreitung manchmal etwas zu selbstgewiss hochmütig. Schon Paulus traf in Ephesus auf Menschen, die ihm unbekümmert zuriefen: «Wir haben noch nie gehört, dass es einen Heiligen Geist gibt.» (Apg 19,2) Das Christentum hat im Laufe seiner Geschichte eine Reihe von Erfahrungen, Beobachtungen und Gründen zusammengetragen, um aus dem uneindeutigen Rauschen die Gegenwart des göttlichen Geistes zu vernehmen. Diesen Spuren will dieses Buch folgen, um die Möglichkeiten eines religiösen Welterlebens auszukundschaften und zur Diskussion zu stellen. Für den eigenen Umgang mit der Welt Rede und Antwort zu stehen, zeichnet seit Aristoteles die Belastbarkeit unserer Weltauffassungen aus. Es gibt, so die Grundannahme dieses Buches, Beobachtungen und Argumente, die Menschen in dem Rauschen der Welt erfahren lassen, dass mit dieser Welt etwas gewollt und gemeint ist.
Wir sind nicht die Ersten und wir werden auch nicht die Letzten sein, die auf das Rauschen der Welt lauschen. Das Verfahren einer Biographie des heiligen Geistes trägt der langen Tradition der christlichen Suche nach dem göttlichen Geist in der Welt Rechnung. Gewiss, eine Biographie des heiligen Geistes schreibt man nicht wie die eines Menschen. Aber es sind Linien in der Entwicklung des Geistes zu erkennen, die helfen, die Vielfalt seiner Wirkungen zu ordnen. Wie in einer Biographie lösen sich die Stufen der Entwicklung nicht einfach in die nächste auf. In dem, was wir sind, sind auf je eigene Art auch unsere Kindheit und Jugend gegenwärtig. So gilt es, die Wirkungen des Geistes in ihrer geschichtlichen Entwicklung aufzusuchen, aber auch im Blick zu halten, was davon in unsere Gegenwart hineinscheint. Die Biographie des heiligen Geistes reicht von einer vagen Ahnung seiner Anwesenheit bis hin zur Annahme des Geistes als Strukturprinzip des Universums. Vier Stadien lassen sich darin unterscheiden, sie alle schimmern hinein in unsere Gegenwart.
Am Beginn steht erstens der Weg von den Ursprüngen bis zur sichtbaren Gestalt des Geistes. Die Anfänge liegen im Alten Testament. Der Vergleich des Geistes mit dem Wind ist eines der stärksten und folgenreichsten Bilder des Alten Testaments. Der Geist ist nicht sichtbar, nicht fassbar und doch kräftig gegenwärtig. So tasten sich die großen Erzählungen an die Vorstellung heran, dass Gott in der Welt gegenwärtig ist und mit der Kraft des Geistes in Menschen und in der Natur die Geschichte führt. Das Christentum hat sich dies vollständig zu eigen gemacht, die Geistesgegenwart jedoch ganz auf die Person Jesus Christus konzentriert. Was er als Gottessohn ist, ist er aus der Kraft des Geistes. Inkarnation, die Menschwerdung des Gottessohnes, ist die höchste Form der Gegenwart des göttlichen Geistes. Die frühen Christen formten aus ihren Erfahrungen mit dem lebenden und dem auferstandenen Christus eine Einsicht, die sie als bahnbrechend erlebten. Die Gegenwart Christi war für sie überhaupt nur möglich als die Präsenz seines Geistes. Darum lässt sich die Geschichte des Christentums auch als die Geschichte der Wirkungen des Geistes Christi erzählen.
Das werdende Christentum stand vor der Herausforderung, das Brausen des Geistes Christi in eine verlässliche Form zu überführen. Diese Materialisierung des Geistes war ein aufwühlender und konfliktbeladener Prozess, denn er arbeitet sich an etwas ab, was an sich unmöglich ist: Das Unsichtbare sichtbar zu machen. Es zählt zu den großartigsten Leistungen des Christentums, diesen Übergang gemeistert zu haben. Die Wege, die das Christentum hier mit der Ausbildung von kirchlichen Strukturen, Ämtern und auch Sakramenten in der Antike einschlug, prägen seine Erscheinungsform bis heute. Doch den unsichtbaren Geist in sichtbare Formen zu bringen, hat von Beginn an Widerstände hervorgerufen. Protestbewegungen des Geistes gab es immer und gibt es noch. Mit der Formgebung des Geistes kann das Christentum nie zu Ende kommen, sie ist im Fluss, solange es die Kirche geben wird.
Die frühen Schilderungen christlicher Erfahrungen arbeiten das Erstaunen, die Verwunderung und Begeisterung darüber auf, dass Menschen den Geist zunächst und zuerst in sich selbst wirksam erlebten. Der Geist verwandelte Menschen, dadurch prägte er zugleich auch die Umgebung, in der sie lebten. In diesen frühen Geisterfahrungen sind zwei wichtige Wirkungsfelder des Geistes zu erkennen, an denen die folgende Darstellung der Geschichte des Geistes entlang schreiten wird. Der Geist zeigt sich in Menschen, und der Geist zeigt sich in der Geschichte.
Der Geist wird zum Gegenstand persönlicher Erfahrung, die – das ist das zweite Stadium – Menschen ergreift und verwandelt. Davon berichten Paulus und die Kirchenväter, am eindrücklichsten schließlich die Mystiker des Mittelalters. Das weite Feld der Mystik lebt von der Geisterfahrung im Innern der Menschen. Mystik ist das unfassbare Staunen über das, was Menschen in sich erleben und wie dieses Erleben sie selbst und ihren Blick auf die Welt verwandelt. Die Erfahrung des Geistes zeigt sich als eine Kraft der Befreiung. Der Renaissance kommt die Bedeutung zu, Geisterfahrungen als Freiheitserfahrungen artikuliert zu haben. Geist ist schließlich wesentlich Inspiration. Der göttliche Geist erscheint in den Idealen und Kräften, die in Menschen aufscheinen. Die Tradition nannte dies die Geistesgaben Glaube, Hoffnung und Liebe. In der Moderne hatten die Romantiker ein besonderes Gespür dafür, dass die göttliche Inspiration noch viel weiter in das Welterleben der Menschen hineinreicht.
Der Geist in der Welt lässt sich so wenig festhalten wie der Wind. Zur Erfahrung des Geistes gehört daher auch das unglückliche Bewusstsein des Abstandes zwischen dem, was mit dieser Welt gemeint ist, und dem, was sie ist. Auch die Melancholie ist eine Inspiration. Aus ihr bricht die Traurigkeit hervor, das Rauschen des Geistes nicht zu verstehen, sondern nur noch von Ferne zu ahnen. Melancholie ist daher die Sehnsucht offener Ohren, Augen und Herzen. Rauschen kann man schließlich missverstehen oder letztlich ganz überhören. Fanatismus und Verzweiflung sind je auf ihre Art die Kehrseiten dessen, was Menschen aus der Gegenwart des göttlichen Geistes in der Welt machen können.
Die Ideale, Kräfte und neuen Weltsichten, die durch den Geist in Menschen einfließen, verbleiben nicht im Innern der Menschen. Sie treten ein in die sozialen Zusammenhänge, in denen Menschen leben. So schreibt der Geist drittens Geschichte. Die Hoffnung ist wirksam als die Kraft, die Menschen über das Vorhandene hinaus auf ein in der Zukunft liegendes Ideal hinzieht. Mit Utopien und der Hoffnung auf Frieden wirkt der Geist gleich einem Magneten in die Geschichte hinein. Die Geschichte erweist sich darin nicht einfach nur als die unermüdliche Abfolge von Ereignissen. Auf den mittelalterlichen Abt Joachim von Fiore geht die Theorie zurück, dass die Geschichte selbst die Entfaltung des göttlichen Geistes ist. Das hat das Geschichtsdenken der Moderne tief geprägt. Der Traum von Fortschritt gehört hier ebenso hin wie die großen Desillusionierungen des 20. Jahrhunderts, die bescheidener nicht mehr vom Programm, sondern von den Spuren des Geistes sprechen. Sie werden sichtbar in den Taten der Liebe, die Menschen üben.
Die Geschichte der Entfaltung des Geistes treibt schließlich die Menschen über die Erfahrung der Geistesgegenwart in sich selbst und seiner geschichtsverwandelnden Kraft hinaus in eine universale Dimension. Die Renaissancedenker berauschten sich noch an der Erfahrung des Geistes als etwas, was allein den Menschen auszeichnet. Sie besangen die Sonderstellung des Menschen im Kosmos. Das Verständnis der Natur hat sich seit dem späten 20. Jahrhundert grundlegend gewandelt. Damit erweitert sich das Verständnis des Geistes. Es dämmert viertens die Einsicht herauf, dass in den Geisterfahrungen des Menschen sich eine Stimme erhebt, die das Universum durchwaltet.
Ein Buch über die Geschichte des göttlichen Geistes ist auch ein Buch über Gott, seine Gegenwart in der Welt und die Möglichkeiten, ihn zu erfahren. Die biographische Perspektive auf den Geist weitet unser Gehör. Das Rauschen der Welt ist ein vielfältiger Klang. Der heilige Geist ist an sehr viel mehr Orten und in sehr viel mehr Gestalten aufzufinden, als es je eine konfessionell gebundene Perspektive einfangen kann. Er ist überall dort zu finden, wo Menschen in ihrem Welterleben hinübergeführt werden in das Geheimnis der Welt, in dem zugleich ihr Sinn aufleuchtet. Sie erfahren: Die Welt ist nicht genug. Der heilige Geist ist die Antwort auf die Frage, woher diese Erfahrungen kommen und wohin sie uns führen.
Es ist das Ziel dieses Buches, diese Erfahrungen im Durchgang durch die Geschichte des Geistes in ihrer Vielfalt darzustellen. Der Geist ist ein so großes Thema, dass in der akademischen Theologie naturgemäß jede und jeder für ihn zuständig ist. Die Pneumatologie, das heißt die Lehre vom Geist, als Gebiet der Systematischen Theologie und Dogmatik ist die Königsdisziplin der theologischen Beschäftigungsmöglichkeiten mit dem Geist. Erfreulicherweise sind hier seit geraumer Zeit in allen Konfessionen mehrere, sehr anregende Versuche unternommen worden, den Geist als Erscheinungsform Gottes begrifflich zu erfassen.[1] Der Geist ist en vogue. Gott sei Dank. Die jüngste Pneumatologie stammt aus der Feder meines Wiener Kollegen Christian Danz.[2] Sie gibt einen vorzüglichen Überblick über die neueren Entwicklungen und ist selbst ein veritabler Systementwurf einer Theologie des Geistes, dessen Studium nur wärmstens empfohlen werden kann. Der hier eingeschlagene Weg ist ein anderer. Wenn es die Disziplin gäbe, dann müsste sie historische Kulturpneumatologie heißen. Sie versucht aus der Vielfalt der vorkommenden Erscheinungsformen des göttlichen Geistes in der Welt ihre Bedeutung für unsere Gegenwart heute zu erschließen, um so dem Geheimnis näher auf die Spur zu kommen, was es mit dem Rauschen der Welt auf sich haben könnte. Das Buch soll zeigen, wie vielfältig die Präsenz des Geistes im Laufe der Geschichte erfahren werden kann. Es geht weniger um die begriffliche Systematisierung. Beide Wege schließen sich nicht aus, die folgende Darstellung empfiehlt sich nicht als Alternative zur dogmatischen Pneumatologie und ist auch sonst an keinerlei Konkurrenzen interessiert. Der göttliche Geist ist groß, er erduldet viele Versuche, ihn zu verstehen.
Erster Teil