MICHAEL SOMMER
SCHWARZE TAGE
Roms Kriege gegen Karthago
C.H.BECK
«Ich habe Angst vor der Zukunft, dass vielleicht einmal ein Anderer unserer Vaterstadt dasselbe Urteil spricht», so soll der Feldherr Scipio im Jahr 146 v. Chr. unter Tränen zu dem Historiker Polybios gesprochen haben, als er in die brennenden Ruinen Karthagos blickte. Er selbst hatte den Befehl gegeben, die antike Metropole, die über Jahrhunderte hinweg den Gang der Geschichte am Mittelmeer maßgeblich geprägt hatte, in Schutt und Asche zu legen. Siebzehn Tage soll Karthago gebrannt haben. Die Stadt wurde damals vollständig zerstört, ihre Stätte verflucht; die überlebenden Bewohner wurden in die Sklaverei verkauft. Seinen Soldaten gestattete der Oberbefehlshaber wegzuschaffen, so viel sie eben tragen konnten.
Die Epoche, die mit dem Ausbruch des Ersten Punischen Krieges 264 begann und mit der Zerstörung Karthagos ihren Abschluss fand, ist die dynamischste Phase der Geschichte nicht nur der römischen Republik, sondern der gesamten antiken Mittelmeerwelt. In ihrer machtpolitischen Architektur blieb damals buchstäblich kein Stein mehr auf dem anderen, und auch die innere Struktur der römischen Gesellschaft wandelte sich von Grund auf.
Michael Sommer bietet in dem vorliegenden Band nicht nur eine spannende und informative Gesamtdarstellung der Ereignisse, sondern er leuchtet zudem kenntnisreich die Hintergründe dieses Konflikts aus und stellt die Protagonisten und ihre Motive während der verschiedenen Entwicklungsphasen des Konflikts vor. So wird schließlich deutlich, weshalb Rom und die Mittelmeerwelt 264 in eine Periode krisenhafter Beschleunigung eintraten und warum diese mit Roms Triumph und Karthagos Vernichtung endete.
Michael Sommer ist Professor für Alte Geschichte an der Universität Oldenburg. Er forscht zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des römischen Kaiserreichs und epochenübergreifend zur Geschichte der Levante. Bei C.H.Beck sind von ihm lieferbar: «Wirtschaftsgeschichte der Antike» (2013) und «Die Phönizier. Geschichte und Kultur» (2008).
VORWORT
EINS: ASCHE
1. «Nicht Liebe noch Bund»: Die Quellen
«Poenus plane est!»
«Die ganze Oikoumene»: Polybios
Jenseits von Polybios
2. Krieg – Macht – Bewährung: Leitfragen und -themen
Krieg
Macht
Bewährung
ZWEI: PRÄLUDIUM
1. Mittelmeer
2. Karthago
Qart-Ḥadašt
Auf dem Weg zur maritimen Großmacht
3. Sizilien
Phönizier und Griechen auf Sizilien
Karthago gegen Syrakus
4. Rom
Die Wölfin erwacht
Friedliche Koexistenz
DREI: WASSER
1. Sizilianisches Gambit
Söhne des Mars
Entscheidung in Rom
Casus Belli
2. Der erste Krieg zwischen den Römern und den Karthagern
Der Krieg um Sizilien (264–257)
Der Libysche Krieg und sein Nachspiel (256–248)
Die Feldzüge der Karthager unter Hamilkar (247–241)
3. Das Ende
Entscheidung
Frieden
VIER: INTERLUDIUM I
1. Nachkriegszeit
Krieg ohne Gnade
Die großen Inseln
Ligurien und die Celtica
Illyricum
Iberien
2. Vorkriegszeit
Der Vertrag
Schritte in den Krieg
FÜNF: ERDE
1. Den Krieg nach Italien tragen
Über die Alpen
«Wir sind in einer großen Schlacht besiegt worden»
Verbrannte Erde
Cannae und die Folgen
2. Symploke
Iberien
Griechenland
Sizilien und Sardinien
Italien
Afrika
SECHS: INTERLUDIUM II
1. Veteranen
Hannibal
Scipio Africanus
Massinissa
2. Hundertachtundsechzig
Der Tag von Pydna
Der Tag von Eleusis
SIEBEN: FEUER
1. Ceterum censeo …
Die Grenzen instrumenteller Macht I: Iberien
Die Grenzen instrumenteller Macht II: Korinth
Die Grenzen instrumenteller Macht III: Rom
2. … Carthaginem esse delendam
Endspiel
Scipios Tränen
3. Erinnerungsorte
Colonia Iunonia Carthago
La malheureuse Carthage
ACHT: SCHLUSS
ANMERKUNGEN
EINS: ASCHE
ZWEI: PRÄLUDIUM
DREI: WASSER
VIER: INTERLUDIUM I
FÜNF: ERDE
SECHS: INTERLUDIUM II
SIEBEN: FEUER
ACHT: SCHLUSS
BIBLIOGRAPHIE
BILDNACHWEIS
ORTSREGISTER
NAMENREGISTER
SACHREGISTER
Schwarze Tage durchlitt nicht nur Karthago, als es sich 149 v. Chr. so mutig wie vergeblich gegen die Vernichtung durch die Römer aufbäumte. Harte Zeiten lagen hinter fast allen Bewohnern des Mittelmeers, ob sie in Nordafrika oder Italien, in Spanien, Griechenland, Ägypten oder auf einer der großen Inseln zu Hause waren. Die Punischen Kriege brachten Tod, Verwundung, Leid, Zerstörung und Armut über Hunderttausende. Niemand hat sich die Zeit genommen, ihre Geschichte aufzuschreiben. Ein paar Großen gaben die welterschütternden Konflikte Gelegenheit, in die Geschichte einzugehen. Hannibal, Scipio und Cato sind Namen, mit denen auch unsere Gegenwart noch etwas anzufangen weiß, auch wenn die Antike an Schule und Hochschule längst eine Randexistenz führt.
Eine Gesamtdarstellung dieser Zeit zu schreiben, ist eine Herausforderung, der kein Althistoriker widerstehen kann – jedenfalls keiner, der sich mit der römischen Republik beschäftigt. Das gute Jahrhundert zwischen 264 und 246 v. Chr. ist nicht nur die Epoche, in der Rom den Grundstein für sein Imperium legte, sondern eine Zeit enormer Umbrüche für die gesamte antike Mittelmeerwelt. Während Rom immer mächtiger wurde, versanken große Reiche in Trümmern, vor allem, aber längst nicht nur, Karthago. Die Frage, die schon der Zeitgenosse Polybios stellte und deren Beantwortung er zu unserem Glück ein kolossales Geschichtswerk gewidmet hat, beschäftigt uns bis heute: Warum Rom? Was war der Grund dafür, dass die Tiberrepublik ihre Konkurrenten um die Hegemonie einen nach dem anderen vom Spielfeld nahm?
Die Zeit der Punischen Kriege war nicht nur als historische Epoche von außerordentlicher Dynamik, sie ist auch ein rasch wachsendes Forschungsfeld. Längst nicht nur der Hannibalkrieg hat in den letzten rund 30 Jahren Aufmerksamkeit erhalten. Auch die zahlreichen Nebenkriegsschauplätze, von Nordafrika bis zum Alpengebiet, vom Balkan bis Iberien, sind inzwischen eingehend untersucht worden. Quellenkundliche Arbeiten stehen neben solchen, die das politische Geschehen, aber auch die Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte und neuerdings auch die Archäologie des römischen Expansionszeitalters zum Gegenstand haben. Viel Beachtung hat die senatorische Elite Roms erfahren, doch auch Karthago erfreut sich wachsenden Interesses in der Forschung.
Eine neue Geschichte der Punischen Kriege, die zugleich eine Geschichte des Mittelmeerraums im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. sein muss, braucht sich deshalb nicht groß zu rechtfertigen. Diese Geschichte wendet sich an Antike-Enthusiasten und alle, die es werden wollen. Sie möchte zeigen, wie die Forschung heute schwierigen, sperrigen und nicht selten einseitigen Texten Wissen über die Vergangenheit abringt. Dass das ein mühevoller, nie leichter und selten zu eindeutigen Ergebnissen führender Prozess ist, illustriert der Anmerkungsapparat, der sich als Wegweiser zu den Quellen versteht. Das Buch ist auch ohne ihn verständlich, aber es erfüllt seinen Zweck besser, wenn es zum Nachlesen bei Polybios, Livius, Appian und den vielen anderen antiken Autoren anregt, ohne die wir nichts über die Epoche wüssten.
Die Anmerkungen verwenden die in der deutschen Altertumswissenschaft gebräuchlichen Abkürzungen von Autoren und Werktiteln. Aufschluss über ihre Bedeutung gibt das Wikipedia-Lemma «Liste der Abkürzungen antiker Autoren und Werktitel», das auch einen exzellenten Überblick über den reichen Schatz der griechisch-lateinischen Literatur insgesamt vermittelt. «Nackte» Jahreszahlen beziehen sich auf Daten vor Christi Geburt, alle übrigen tragen den Zusatz «n. Chr.». Das Register enthält biographische Kurzinformationen zu den handelnden Personen des Dramas, bei denen in vielen Fällen durch Namensgleichheit Verwechslungsgefahr besteht. Nicht geläufige Begriffe werden im Text oder im Anmerkungsapparat erklärt.
Wissenschaft lebt vom Austausch, und auch dieses Buch ist nicht in mönchischer Klausur entstanden. Der Verzicht auf Präsenzlehre unter dem Vorzeichen der Corona-Epidemie macht bewusst, wie sehr Wissenschaft vom Gespräch im Hörsaal zehrt. Ich bin meinen Oldenburger Studenten für lebhafte, stets kritische Diskussionen in einer ganzen Reihe von Seminaren zum Thema dankbar. Ein herzliches Dankeschön gilt meinen Mitarbeitern Antonietta Castiello, Peter von Danckelman und Georg Müller, die das Manuskript gelesen haben und denen ich unzählige Anregungen verdanke. Dexter Hoyos hat mit mir geduldig Facebook-Diskussionen von einem Ende der Welt zum anderen geführt und mich mit Literatur versorgt. Über Fragen der Kriegstechnik habe ich mich in langen Telefonaten mit Raimund Schulz unterhalten. Ganz besonderen Dank schulde ich Tassilo Schmitt, der mich mit seiner profunden Kenntnis der Quellen auf unzählige Ideen gebracht und vor vermutlich noch mehr Irrtümern bewahrt hat. Die verbleibenden gehen selbstverständlich allein auf mein Konto. Auf zahlreiche Fehler hat mich auch meine Doktorandin Caroline Thongsan aufmerksam gemacht, der ich für die Erstellung des Registers zu großem Dank verpflichtet bin. Ihr ist es tatsächlich gelungen, sämtliche Hannos und Hasdrubals auseinanderzuhalten. Eine große Freude war die Zusammenarbeit mit Stefan von der Lahr und Andrea Morgan vom Verlag C.H.Beck, die das Buch von der Idee bis zum Druck kundig und mit nicht versiegender Geduld betreut haben. Schließlich danke ich meiner Frau Diana und meinem Sohn Jan dafür, dass sie mich in Corona-Zeiten mit den Punischen Kriegen geteilt haben.
Oldenburg, im September 2020 Michael Sommer
Dann, o ihr Tyrer, verfolgt diesen Stamm und des ganzen
Geschlechtes
Künftige Brut mit Haß, bringt dies als Opfer der Sühnung
Meiner Asche. Nicht Liebe noch Bund sei zwischen den Völkern.
Möge aus meinem Gebein sich einst ein Rächer erheben,
Der mit Feuer und Schwert die dardanischen Siedler verfolge,
Jetzt so wie einst, zu welcherlei Zeit die Macht es gestattet.
Ufer sei stets dem Ufer und Flut den Fluten entgegen,
Waffen den Waffen, und ewig sie selbst und die Enkel im Kampfe![1]
Mit einem Fluch verabschiedet sich Dido aus dem Leben, die Königin und Gründerin Karthagos. Sie stößt ihn aus, nachdem Aeneas ihr und ihrer Stadt den Rücken gekehrt hat, der Überlebende des Trojanischen Krieges und Liebhaber der schönen Königin. Aeneas hat es auf seiner Flucht aus dem brennenden Troja nach Karthago verschlagen. Dort kann ihn Didos Liebe nicht halten, als der Götterbote Merkur ihm seine Mission in Erinnerung ruft, mit seinen Gefährten in Italien eine Stadt zu gründen. Nach der heimlichen Abreise des Helden besteigt Dido einen Scheiterhaufen und stößt sich das Schwert in den Leib. Zuvor aber ruft sie ihr Volk (die «Tyrer») zu ewigem Hass auf Aeneas und seine Nachkommen («die dardanischen Siedler») auf. Dido ist selbst vor ihrem Bruder Pygmalion aus der phönizischen Stadt Tyros geflohen, und Dardanos ist der mythische Stammherr der Trojaner. Ascanius, der Sohn des Aeneas, errichtet später der Sage nach in Latium die Stadt Alba Longa, einer seiner Nachkommen ist Romulus, der Gründer Roms. Zwischen Karthago und Rom also soll «nicht Liebe noch Bund» sein, Afrika und Italien («Ufer sei stets dem Ufer entgegen») sollen auf ewig miteinander im Krieg liegen. Ein Rächer soll sich in Karthago erheben, der «mit Feuer und Schwert» den Römern heimzahlt, was Aeneas ihr, Dido, angetan hat: wenn «die Macht es gestattet» – wenn also politisch die Zeit reif ist für Rache.
Die Worte des Zorns und der Rache legte um 20 v. Chr. der Dichter Vergil (70–19 v. Chr.) der Königin Dido in den Mund. Der Tod der Karthagerin ist eine der dramatischsten Szenen in der Aeneis, dem Nationalepos der Römer, dem es an Dramatik wahrhaftig nicht mangelt. Didos Fluch erfüllte sich auf grausame Weise. Drei große Kriege, von denen der erste ein Regionalkrieg um Sizilien, der zweite nach antiken Maßstäben ein Weltkrieg und der dritte ein Vernichtungsfeldzug war, besiegelten Roms Aufstieg zur Hegemonialmacht des Mittelmeerraums – und Karthagos Untergang. Für den augustuszeitlichen Leser der Aeneis, für den die mythische Vorgeschichte Roms und die Epoche der Punischen Kriege zwei Koordinaten im historischen Kontinuum waren, ergab die Verknüpfung zwischen Aeneas und Karthago unmittelbar Sinn. Rom und Karthago waren neben Athen und Sparta die archetypischen Erbfeinde der klassischen Antike, und der Konflikt mit Karthago war für Rom gleichzeitig Auftakt und dynamischste Phase seiner Expansionsgeschichte. Wo, wenn nicht hier, sollte ein augusteischer Leser den entscheidenden Wendepunkt nicht nur der römischen, sondern der Weltgeschichte suchen, in dem das imperium sine fine, das in Zeit wie Raum grenzenlose Reich, das Iuppiter in der Aeneis den Römern verheißt, Gestalt gewann? Bis heute berühmt sind das Wort vom keine Gnade kennenden «karthagischen Frieden» und die Forderung des Politikers und Feldherrn Cato, Karthago müsse zerstört werden. Im Zeitraum von fast 118 Jahren lagen Römer und Karthager 42 Jahre lang im Krieg. Bei Vergil zeigt sich eine Perspektive, die Geschichte auf ein Ziel zusteuern lässt, das sie in der Realität nicht hatte und generell nie hat. Was in der Rückschau wie ein Jahrhundertkonflikt zwischen den beiden Groß-, ja Weltmächten des Altertums aussieht, der vom ersten Aufeinanderprallen über die sizilische Stadt Messene (Messina) 264 bis zur Auslöschung Karthagos durch Scipio Aemilianus im Jahr 146 reichte, nahm sich für die Zeitgenossen keineswegs so folgerichtig aus. Schließlich entrollte sich das Geschehen über vier Generationen, und nicht immer folgte logisch ein Ereignis auf das nächste, bis Karthago in Trümmern lag.
Informiert sind wir über die Ereignisse ausschließlich durch Quellen, die eine ganz und gar oder doch vornehmlich römische Perspektive einnehmen. Was immer Karthager über die Auseinandersetzung mit Rom schrieben und dachten, es ist unwiederbringlich verloren, sieht man von ein paar Zitaten in der römischen Geschichtsschreibung ab. Die Einseitigkeit des Blickwinkels schlägt sich in dem Begriff nieder, der sich in allen europäischen Wissenschaftssprachen für den Großkonflikt eingebürgert hat: die Punischen Kriege, les guerres puniques, le guerre puniche, las guerras punicas, the Punic Wars. Die Bewohner Karthagos hießen auf Lateinisch Poeni, das dazugehörige Adjektiv lautete Poenus oder Punicus, abgeleitet von griechisch φοίνιξ (phoínix), was so viel bedeutet wie «purpurrot». Phoínikes war der griechische Name primär für die in der Levante beheimateten Phönizier, die den Griechen in der Eisenzeit als tüchtige Seeleute und Lieferanten von Luxusgütern begegneten. Darunter waren auch besonders wertvolle, in Phönizien hergestellte Purpurstoffe, so dass der Name hier seinen Ursprung haben dürfte.
Die Karthager waren, wie die Dido-Legende andeutet, Nachkommen von Phöniziern, die sich in Nordafrika niedergelassen hatten. Allerdings konstruiert bereits der Sammelbegriff «Phönizier» Zusammengehörigkeit dort, wo sie eigentlich gar nicht vorhanden war. Spätestens der Geschichtsschreiber Timaios von Tauromenion sah um 300 in den Karthagern Nachkommen der Phönizier. Karthago pflegte zwar stets Bindungen an seine levantinische Mutterstadt, sie waren aber doch eher locker und vor allem affektiver, nicht politischer Natur. Schon die Bewohner der «phönizischen» Städte Tyros, Sidon, Berytos, Byblos und Arados betrachteten sich wohl nur als entfernte Verwandte. Hauptsächlich sahen sie sich als Bürger ihrer Stadt, die mit ihren Nachbarn wohl sprachliche und kulturelle Gemeinsamkeiten teilten, mit ihnen aber auch häufig bittere Konflikte austrugen – ganz ähnlich wie die Griechen. Das gilt auch für Karthago, das seine Mutterstadt Tyros schnell überflügelte und obendrein Menschen aus aller Herren Länder in seinen Mauern beherbergte. Wenn Karthago etwas war, dann eine multikulturelle Metropole, keine «phönizische» Stadt.
Hinzu kommt, dass die Wörter Poenus und Punicus in Rom einen höchst zweifelhaften Klang hatten. Die «punische Treue», Punica fides, war sprichwörtlich. In der wohl um 135 und damit ein Jahrzehnt nach Karthagos Zerstörung erstmals aufgeführten Komödie Poenulus («Das Punierlein») des Dichters Plautus (ca. 254–184) heißt es im Prolog: Poenus plane est! – «Er ist ein Punier durch und durch» –, und das ist gewiss nicht als Kompliment gemeint. Das römische Karthagobild war von Stereotypen regelrecht überwuchert: Karthager galten als notorische Lügner, als verschlagen, vertragsbrüchig aus Gewohnheit und profitgierig. Dass man den Nordafrikanern ein gerüttelt Maß an Perfidie unterstellte, war nicht erst das Ergebnis der langen Kriege und auch nichts ganz Neues. Bereits die Griechen hatten in den Phöniziern so kunstfertige wie weitgereiste Botschafter einer zunächst überlegenen Zivilisation gesehen, die aber stets auf den eigenen Vorteil bedacht waren und es mit der Wahrheit auch nicht immer so genau nahmen. Schon in Homers Odyssee (um 700) begegnet dieser Typus in Gestalt seefahrender Händler, die um des Profits willen nicht einmal vor Kindesentführung zurückschrecken. Und das Werk Herodots, des «Vaters der Geschichtsschreibung» (ca. 485–424), beginnt mit den Phöniziern, denen er die Schuld am Dauerstreit zwischen Hellas und dem Orient gibt. Schließlich seien es phönizische Händler gewesen, die bei einem Besuch im griechischen Argos die Tochter des Königs entführt hätten.[2]
Aus dem Blickwinkel der Griechen waren alle Nichtgriechen, auch die Römer, Barbaren. Aus der ab der späten Republik Konturen gewinnenden gemeinsamen Perspektive von Griechen und Römern galt dasselbe: Demnach waren Phönizier wie Karthager Barbaren. Keine primitiven Barbaren wie Skythen und Kelten, aber gleichwohl Barbaren, bei denen mit Verhalten zu rechnen war, das von bekannten Mustern abwich, und denen deshalb nicht zu trauen war. Weil nahezu die gesamte griechisch-römische Historiographie und auch die sonstige Literatur von dieser Barbarentopik durchzogen ist, sollte man den Texten gegenüber besondere Vorsicht walten lassen. Eigentlich verbietet es sich von selbst, die römische Benennung «Punische Kriege» einfach unkritisch zu übernehmen: «Römisch-Karthagische Kriege» wäre angemessener. Weil aber die eigentlich romzentrierte Bezeichnung in allen Wissenschaftssprachen eingeführt ist und auch als Epochenbegriff geradezu kanonischen Rang besitzt, hält diese Darstellung ebenfalls daran fest. Außerdem sind die lateinischen und griechischen Texte so gut wie alles, was wir an Quellen über die Konflikte des 3. und 2. Jahrhunderts besitzen. Materielle Zeugnisse gibt es kaum, und so konnte auch die vorliegende Darstellung selbstverständlich nur auf Grundlage der antiken Literatur, vor allem der historiographischen Werke geschrieben werden. Der Versuch, eine Geschichte der «Punischen Kriege» gegen den Strich der Quellen zu schreiben, ist zum Scheitern verurteilt, auch wenn er immer wieder unternommen worden ist. Daher lohnt als Erstes ein kurzer Blick auf die wichtigsten Texte und ihre Verfasser.[3]
Wichtigste Quelle für die gesamte Epoche sind die «Historien» (Historíai) des aus Megalopolis in Arkadien stammenden Griechen Polybios (ca. 200–120). Von allen erhaltenen Werken wurden die Historien mit der kürzesten zeitlichen Distanz zu den Ereignissen verfasst: Das Werk entstand ab 167, als der nach der Schlacht von Pydna nach Italien deportierte Polybios Aufnahme im Haus des Feldherrn Lucius Aemilius Paullus Macedonicus fand. Die ersten fünf der insgesamt 40 Bücher sind vollständig erhalten, vom Rest haben teils sehr bedeutende Fragmente in Form von Zitaten bei späteren Autoren überdauert. Im Mittelpunkt der Darstellung stehen die Jahre 220 bis 168: von den Ereignissen, die zum Zweiten Punischen Krieg führten, bis zur Schlacht von Pydna, durch die Rom seine Hegemonie im Osten durchsetzte – für Polybios eine echte Sattelzeit der antik-mediterranen Geschichte:[4]
«Denn wer von den Menschen wäre denn so gleichgültig und oberflächlich, dass er nicht zu erfahren wünschte, wie und durch welche Art von Organisation und Verfassung ihres Staates in nicht ganz dreiundfünfzig Jahren [220 bis 167] fast die ganze Oikoumene unter die alleinige Herrschaft der Römer gefallen ist.»[5]
Die Oikoumene – das ist für Polybios die gesamte bewohnte, zivilisierte Welt. Wer sie beherrscht, steht, so wie die Tiberrepublik ab Mitte des 2. Jahrhunderts, konkurrenzlos da. Polybios ist einer Geschichtsbetrachtung verpflichtet, die er «pragmatisch» nennt: Geschichte soll nützlich sein. Er schreibt in erster Linie für ein Publikum, das selbst Verantwortung trägt. Die politische Elite soll durch das Studium der Vergangenheit in die Lage versetzt werden, in ihrer Gegenwart vernünftige Entscheidungen zu treffen. Anschauungsmaterial dafür findet der Geschichtsschreiber aus Megalopolis in Roms Aufstieg zur Weltmacht in Hülle und Fülle.[6]
Begreifbar wird die Geschichte der römischen Machtentfaltung durch die universalhistorische Weitung des Blicks auf den gesamten Mittelmeerraum: von der Iberischen Halbinsel über Nordafrika, Italien und den Balkan bis nach Syrien und Ägypten. Polybios’ Gegenstand ist nicht ein einzelner Krieg, sondern die kausale Verkettung einer Vielzahl von Konflikten. In der Tradition des Thukydides und in polemischer Absetzung von vielen seiner eigenen Vorgänger ist für Polybios Wahrheit das Ziel jedweder Beschäftigung mit Geschichte. Entferne man aus der Geschichte die Wahrheit, so bleibe nichts als nutzloses Geschwätz. Bei der Fülle der Informationen gelte es, durch Abwägung von Plausibilitäten die Spreu vom Weizen zu trennen. Polybios wendet sich gegen die Verfälschung von Fakten ebenso wie gegen die Tendenz, Geschichte zu dramatisieren, wie er sie bei vielen seiner Kollegen beobachtet. Besonders kritisch steht er Timaios von Tauromenion gegenüber, einem sizilischen Historiker des 3. Jahrhunderts, dem er Parteilichkeit und mangelnde Sorgfalt bei der Recherche vorwirft, vor allem das Fehlen jeglicher eigener Anschauung. Polybios kann für sich nicht nur in Anspruch nehmen, Örtlichkeiten besucht und mit vielen Zeitzeugen gesprochen zu haben, sondern auch, dem dröhnenden Schlussakkord seiner Geschichte selbst beigewohnt zu haben: Bei der Belagerung und Zerstörung Karthagos im Jahr 146 durch Scipio Aemilianus war der Geschichtsschreiber Augenzeuge; als der römische Feldherr Tränen über das Schicksal der Stadt vergoss, stand er daneben.[7]
Polybios’ Nähe zu Scipio Aemilianus ist aber gerade ein Grund, manchen Passagen des Werkes mit gesundem Misstrauen zu begegnen. Nicht nur dem Sieger von 146, sondern auch dessen Adoptivgroßvater Scipio Africanus maior sowie wiederum dessen Vater und Onkel setzt Polybios mit seinem Geschichtswerk ein Denkmal. Das Charisma militärischen Ruhms und politischer Erfolge, soziales Ansehen, auch Freundschaften und politische Netzwerke – all das vererbte sich im Rom der Republik von einer Generation auf die nächste, wurde als «Ahnenkapital» über Jahrzehnte und Jahrhunderte akkumuliert. Das heißt nicht, dass Polybios sich mit seinen Historien ganz und gar in den Dienst des Hauses Scipio und seiner Familiengeschichte gestellt hätte. Es ist aber wahrscheinlich, dass viele der von ihm konsultierten Augenzeugen und sonstigen Quellen aus dem Dunstkreis der Cornelii Scipiones kamen, also der öffentlichen Wahrnehmung dieses Clans verpflichtet waren. Wie mächtig diese Tradition war, zeigt sich nicht nur bei Polybios, sondern in allen Berichten über die Scipionen: Stets überragten sie ihre Zeitgenossen an militärischem Genie und politischem Weitblick, ob der Konsul Scipio vor der römischen Niederlage gegen Hannibal an der Trebia Ende 218 seinem forschen Kollegen Sempronius Longus widersprach und anregte, die Schlacht ins Frühjahr zu verschieben, oder ob Scipio Aemilianus bereits als junger Offizier den Kontrapunkt zu den unfähigen römischen Kommandeuren im Dritten Punischen Krieg setzte.[8]
Außer auf eigenes Erleben und Augenzeugenberichte – darunter von römischen und nichtrömischen Kriegsteilnehmern und deren Nachkommen – konnte Polybios sich auf Archive stützen: insbesondere das offizielle römische Archiv im Aerarium, wo nicht zuletzt sämtliche römisch-karthagischen Verträge lagerten. Von Bedeutung waren zudem private Archive, die unter anderem Briefe enthielten wie den, den der ältere Scipio nach der Einnahme Neukarthagos 209 an Philipp von Makedonien geschrieben hatte. Polybios’ wichtigste Quellen für weiter zurückliegende Ereignisse waren die heute verlorenen Geschichtsdarstellungen älterer Autoren: für den Ersten Punischen Krieg vor allem Philinos, Verfasser einer Monographie über diesen Konflikt, und Quintus Fabius Pictor, Teilnehmer der Schlacht am Trasimenischen See 217. Philinos, ein sizilischer Grieche aus Akragas (Agrigent), hatte selbst im Ersten Punischen Krieg auf Seiten der Karthager gekämpft, Fabius Pictor war der Sohn eines Konsuls und weitläufig verwandt mit Quintus Fabius Maximus Verrucosus, dem 217 ernannten Diktator, der in seinem Werk auch eine prominente Rolle spielte. Der Griechisch schreibende Pictor, der als Begründer der römischen Geschichtsschreibung gilt, diente Polybios als wichtigste Quelle für den Hannibalkrieg. Gattungstechnisch steht die von ihm verfasste Geschichte Roms in der Tradition der griechischen ktíseis, also von Werken, welche die Geschichte einer Stadt bis auf ihre Gründung zurückverfolgen. Pictor begründete eine dreiteilige Gliederung, die sogenannte historia tripartita, die sehr schnell kanonischen Rang erlangte: In großer Dichte schilderte er offenbar die Ereignisse der römischen Frühgeschichte um den Gründungsakt und die Königszeit, recht summarisch dann die Zeit der frühen Republik bis zum Beginn des Sizilienkrieges und wieder sehr ausführlich schließlich die Ereignisse ab 264, die für ihn Zeitgeschichte waren und durch Augenzeugenberichte und Selbsterlebtes leicht zu durchdringen. Für diese Phase bediente sich Pictor eines Darstellungsschemas, das die Ereignisgeschichte nach Amtsjahren gliedert und das deshalb «annalistisch» genannt wird.
Dieses Darstellungsschema war ein Erbe der durch den Pontifex maximus, den Leiter des wichtigsten Priesterkollegiums, geführten offiziellen Jahreschronik der annales maximi und für die frühe römische Historiographie stilprägend. Es zerriss durch seinen radikalen Synchronismus Sinn- und Handlungsstränge und zeichnete in dürren Worten und ohne stilistischen Anspruch die wichtigsten Ereignisse auf. Die zwei Generationen nach Cato hielten am annalistischen Aufbau und an der griechischen Sprache fest: zum einen, weil sie ein literarisches Genre aufgriffen, das von Griechen begründet und durch Pictor nach Rom verpflanzt worden war, vor allem aber, um den intellektuell im 2. Jahrhundert noch immer tonangebenden Griechen die römische Sicht auf die Vergangenheit zu vermitteln. Die große Innovationsleistung der sogenannten älteren Annalistik, die bis ca. 150 reichte – ihr sind der noch im Hannibalkrieg kämpfende Lucius Cincius Alimentus, der um 200 schreibende Senator Aemilius Sura, Publius Cornelius Scipio Augur, der Sohn des Africanus, und Aulus Postumius Albinus, Konsul des Jahres 151, zuzurechnen –, war dennoch die Konzeption der römischen Geschichte als Einheit, die von der Gründung Roms bis in die Gegenwart der Autoren reichte. Die Annalisten waren ausnahmslos Senatoren und damit selbst Gestalter von Politik, und ihre einschlägige Erfahrung wie auch ihr sozialer Status leiteten selbstverständlich ihren Blick auf die Geschichte. Das annalistische Schema wurde in der römischen Geschichtsschreibung erst durch den älteren Cato (234–149) durchbrochen. Er war auch der Erste, der sein Geschichtswerk, die Origines, auf Latein verfasste.[9]
Polybios begegnet Fabius wie Philinos mit erheblichem Misstrauen, weil sie Partei für ihr jeweiliges Lager bezogen und deshalb die Fakten zurechtgebogen hätten. Noch skeptischer ist er gegenüber den Griechen Chaireas und Sosylos, die Hannibal auf seinem Italienfeldzug begleiteten. Polybios wirft beiden vor, «Machwerke» verfasst zu haben, in denen sie nichts als das «Geschwätz aus Barbierstuben und von den Gassen» kolportiert hätten. Laut Cornelius Nepos verdankte Hannibal Sosylos seine Griechischkenntnisse. Immerhin hat sich von dem Geschichtswerk des Griechen ein Papyrusfragment erhalten, in dem er eine sonst nicht bezeugte Seeschlacht zwischen der Flotte Massalias (Marseille) und einem karthagischen Geschwader mit großem militärischem Sachverstand beschreibt. Polybios konsultierte außerdem Schriften römischer Autoren über den Hannibalkrieg, die er aber nicht namentlich nennt; möglicherweise befand sich darunter eine «Hauptquelle», die später auch Livius nutzte.[10]