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Hans van Ess

CHINESISCHE
PHILOSOPHIE

Von Konfuzius bis zur Gegenwart

C.H.Beck


Zum Buch

Die Prinzipien von Yin und Yang, Konfuzius’ Tugendlehre oder Laozis Lehre vom Nicht-Handeln sind auch im Westen ein Begriff, und doch mit der Aura des Rätselhaften umgeben. Handelt es sich um individuelle Glückslehren? Sind es Anleitungen für den guten Herrscher? Und wie lässt sich chinesische Philosophie in Begriffen der abendländischen Tradition erklären? Hans van Ess bietet mit seinem Buch einen Schlüssel zum Verständnis der chinesischen Denktradition und ihrer Voraussetzungen. Er erzählt die Geschichte der chinesischen Philosophie von Konfuzius über Laozi und die buddhistischen Spielarten des chinesischen Denkens bis hin zum modernen Neokonfuzianismus und macht verständlich, warum die traditionelle Philosophie in China bis heute einen so hohen Stellenwert hat, dass sie selbst noch bei Mao und im chinesischen Marxismus zu erkennen ist.

Über den Autor

Hans van Ess ist Professor für Sinologie, Vizepräsident der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie Präsident der Max Weber Stiftung. Bei C.H.Beck erschienen von ihm außerdem «Die 101 wichtigsten Fragen. China» (3. Aufl. 2020) sowie in C.H.Beck Wissen «Der Konfuzianismus» (2. Aufl. 2009) und «Der Daoismus» (2011).

Inhalt

Karte: China zur Zeit Konfuzius

1. Auf der Suche nach den Anfängen

2. Von «Frühling und Herbst» bis zu den Kämpfenden Staaten (721–​221 v. Chr.)

Konfuzius und Mo Di

Mengzi: Menschlichkeit und Gerechtigkeit

Die Jixia-Akademie: Meister Zou und die Lehre von den Fünf Elementen

Shang Yang und die Lehre von den «Bußen und ihren Bezeichnungen»

Zhuangzi: Wie man ein besseres Leben führt

Laozi und das Daode jing

Xunzi: Die Kultivierung des Menschen

Die Namenschule: Sprache und Ordnung

Han Fei zi: Die Dinge im Zaum halten

3. Einigung und Zerfall des Reiches (ca. 200 v. Chr. – 400 n. Chr.)

Daoistisch-konfuzianische Weiterentwicklungen

Vom Himmel und dem Menschen zur Religion

Die Lehre vom Dunklen

4. Die chinesisch-buddhistische Philosophie (ca. 300–​1000)

Buddhistische Lehre in daoistischen Begriffen

Seng Zhao: Alte chinesische Lehren in buddhistischem Gewand

Auf dem Weg zu einer chinesisch-buddhistischen Philosophie: Huayan-Buddhismus und Chan-Buddhismus

5. Der «Neokonfuzianismus» (ca. 1000–​1900)

Die frühe chinesische Neuzeit

Die Herzensschule und das Denken des Wang Yangming

Die Gelehrsamkeit des ausgehenden Kaiserreichs

6. Chinesische Philosophie unter dem Einfluss westlichen Denkens (seit ca. 1900)

Chinesisches Lernen und westliches Lernen

Der Neukonfuzianismus und die Verteidigung der chinesischen Kultur

Neukonfuzianismus in der Volksrepublik China

Literaturhinweise

Auswahl von Übersetzungen chinesischer philosophischer Texte

Sekundärliteratur

Register

Umschrift, Aussprache und Übersetzungen

Zeittafel

Karte: China zur Zeit Konfuzius

1. Auf der Suche nach den Anfängen

Philosophie, landläufig mit «Liebe zur Weisheit», besser vielleicht als «Hang zur Weisheit» übersetzt, ist ein griechischer Begriff. Ein Äquivalent dafür gibt es im klassischen Chinesischen nicht. Das moderne Wort für Philosophie ist erst über den Umweg des Japanischen ins heutige Chinesische gelangt, und als sich die Japaner, welche die Notwendigkeit zur Modernisierung früher erkannt hatten als die Chinesen, zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts auf die Suche nach einem Wort machten, mit dem sie die griechische «Philosophie» in das ostasiatische Denken übertragen könnten, wählten sie für die Weisheit mit zhe , sino-japanische Lesung tetsu, ein altes, aber in der chinesischen Tradition kaum gebrauchtes Wort für «Weisheit», wohl um den Unterschied zwischen der Philosophie im Westen und derjenigen im Osten zu wahren. An zhe bzw. tetsu hängten sie das traditionell Chinesische xue, japanisch gaku, «lernen», an, denn eine Kombination mit einem Wort für «Liebe», «Freundschaft» oder «Hang» wäre im ostasiatischen Denken damals gänzlich unmöglich gewesen – und ist es wohl heute noch. Tetsugaku bzw. zhexue ist also «das Lernen der Weisheit», ein Gedanke, der dem Chinesischen fremd gewesen wäre, obwohl es die Idee, dass Weisheit zentral und wichtig ist, natürlich auch in China schon sehr früh gab. In der Tat spielt der «Weise» in allen Formen des chinesischen Denkens eine zentrale Rolle, allerdings eine andere als in Europa. Das Wissen und das Erkennen nämlich sind dort nur Teilbereiche der Weisheit, die sich ansonsten darin zeigt, dass der Weise in der Lage ist, die Beziehungen zu den Menschen und zwischen ihnen gut zu gestalten.

Oft heißt es, dass ein zentrales Motiv für die Entstehung der europäischen Philosophie die Suche nach Wahrheit gewesen sei, das Verständnis dessen, wie die Welt in ihrem Innersten wirklich ist. Daraus habe sich die abendländische Metaphysik und vor allem die Ontologie in systematischer Form entwickelt. Ein echtes Äquivalent dazu hat es in China ursprünglich nicht gegeben. Dort ist der zentrale Begriff in allen philosophischen Schulen das Dao, der rechte Weg oder aber die Methode, wie man etwas richtig macht. Von der Praxis abstrahiertes Denken spielt zunächst nur eine untergeordnete Rolle, auch wenn manche Darstellungen der chinesischen Philosophie an deren Anfang den dichotomischen Gedanken von yin und yang setzen, wie er im wahrscheinlich ältesten Buch Chinas, dem Buch der Wandlungen (Yijing), in Gestalt der gebrochenen und der ungebrochenen Linien zum Ausdruck kommt. Aus ihnen sind die 64 Hexagramme zusammengesetzt, deren Linienbeschreibungen den frühesten Teil dieses Textes ausmachen. Sie stehen für den Gegensatz von Stärke und Schwäche, der später an der Entwicklung der Philosophie des Daoismus maßgeblichen Anteil hatte. Allerdings entwickelte sich die Terminologie von yin und yang bei genauer Betrachtung der uns überlieferten Texte erst frühestens im ausgehenden vierten Jahrhundert vor der westlichen Zeitrechnung, also eher später als andere Denkströmungen, sodass es schwerfällt, schon in der bloßen Verwendung von symbolischen Darstellungen Philosophie zu entdecken. Die Sprüche des Yijing selbst dienen der Weissagung und sind ebenfalls nicht philosophisch zu nennen. Breiteren Raum wird daher im Zusammenhang mit diesem Text erst die Darstellung des wohl Han-zeitlichen Hauptkommentars einnehmen.

Ein klassischer Ort des Philosophierens war im alten Griechenland die Agora, auf der sich Männer zum öffentlichen Gespräch treffen konnten. Für China wird dagegen gerne angenommen, dass das Denken sich nicht dialogisch entfaltete und es eine Öffentlichkeit im westlichen Sinne gar nicht gegeben habe. Vielmehr seien Texte immer «von unten nach oben» geschrieben worden: Fahrende Gelehrte versuchten seit spätestens dem fünften oder sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, vor allem aber seit der Blütezeit der sogenannten Epoche der Kämpfenden Staaten im vierten und dritten Jahrhundert, Fürsten mit ihren Ideen zu überzeugen. Sie reichten Texte bei Hofe ein, um als Berater angestellt zu werden. Daraus ergab sich natürlich auch, dass die Inhalte der altchinesischen Philosophie zu großen Teilen in einem politischen Kontext entstanden und diesen erörterten. All das spielte sich vor dem Hintergrund einer zerstrittenen Welt ab, in der einzelne Staaten, die kulturell miteinander verbunden waren, regelmäßig übereinander herfielen, um Beute zu machen, aber auch mit dem Ziel, am Ende nicht als der Verlierer dazustehen, dessen Staat ausgelöscht wurde, sondern als derjenige, der die bekannte Welt unter seiner Vorherrschaft geeint hatte.

Auch wenn das Philosophieren über den Staat und sein Funktionieren bei den meisten altchinesischen Denkern selbst dann im Vordergrund stand, wenn sie in späterer Zeit für andere Ideen bekannt wurden, darf doch bezweifelt werden, dass die Sache ganz so einfach war. Zum einen sind Texte von einzelnen Personen sicherlich nicht nur in der Absicht geschrieben worden, damit Fürsten zu überzeugen. Es gibt Hinweise darauf, dass es öffentliche Räume gab, in denen diskutiert wurde; chinesische Philosophie ist also in ihren Ursprüngen stärker in dialogischer Form entstanden, als dies auf den ersten Blick den Eindruck machen mag. So berichtet eine Anekdote aus einem historischen Text, dass ein Politiker des Staates Zheng im Jahr 542 vor unserer Zeit den Vorschlag machte, die Dorfschulen abzuschaffen, weil die Männer dort über Politik diskutierten. Der Adressat des Vorschlages weist dieses Ansinnen entrüstet zurück, denn er hält diese Diskussionen für nützliche Beiträge zur Regierungsausübung. Konfuzius soll diese Auffassung unterstützt haben. Altchinesische Philosophen saßen ganz offenbar nicht einfach allein in ihrem Kämmerlein und schrieben an Texten. Sie traten vielmehr mit großem Gefolge bei den Lehnsfürsten auf. So muss sich der konfuzianische Denker Mengzi (lat. Mencius) zum Beispiel an einer Stelle (3B4) von einem Gesprächspartner die Frage gefallen lassen, ob er es nicht doch für etwas übertrieben halte, dass er mit Dutzenden von Streitwagen und einer Gefolgschaft von mehreren Hundert Männern anreise, um sich dann bei Hofe verpflegen zu lassen.

Zum anderen ist ein grundsätzliches Problem bei der Beschreibung der alten chinesischen Philosophie, dass die meisten Texte, die uns heute vorliegen, nicht aus einem Guss sind. Wir verdanken sie vielmehr einer Redaktion, die im Großteil der Fälle erst frühestens im ersten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung erfolgt ist, zu einer Zeit, als längst ein Zentralstaat etabliert war, in dem staatliche Strukturen tatsächlich nahelegten, was über die frühere Zeit nur angenommen wurde: dass es nämlich klare hierarchische Wege der Textzirkulation gab, bei denen der Staat die entscheidende Rolle spielte.

Das Material, aus dem die Textkonvolute stammen, die einzelnen Denkern zugeordnet oder zugeschrieben werden, ist oftmals heterogen, und seine Datierung, welche die traditionelle chinesische Gelehrsamkeit genauso beschäftigt hat wie die chinesische und die westliche Sinologie des zwanzigsten Jahrhunderts, ist ein höchst schwieriges Unterfangen, auch weil linguistische Kriterien in vielen Fällen eindeutige Ergebnisse nicht ermöglichen. Neuere Textfunde aus den letzten Jahrzehnten können das Bild zwar ergänzen, aber unter den aufsehenerregendsten Funden finden sich auch Texte, deren Authentizität nicht über jeden Zweifel erhaben ist. Sie stammen aus Antiquitätengeschäften in Hongkong und werden als Besitz einzelner Universitäten, die hohe Summen für sie ausgegeben haben, nur von einem kleinen, ausgewählten Kreis von Bearbeitern untersucht. Eine wirklich unabhängige wissenschaftliche Expertise von außerhalb gibt es in den meisten Fällen nicht, so dass beim Zitieren solcher Texte allerhöchste Vorsicht geboten ist. Doch haben neue Textfunde die traditionelle Philosophiegeschichte ohnehin nicht auf den Kopf gestellt, und es gibt wenig Grund, ihre Inhalte denen der traditionell überlieferten chinesischen Bücher vorzuziehen.

Dass es spätestens im vierten und dritten Jahrhundert vor unserer Zeit eine Reihe von unterschiedlichen Denkschulen in China gab, die vor allem in Ostchina aktiv waren, ist durch eine Vielzahl von Quellen belegt. Ein frühes Beispiel ist das sechste Kapitel des konfuzianischen Xunzi-Textes, das mit dem Titel «Wider die zwölf Meister» überschrieben ist und kurz vor der Reichseinigung durch die Qin-Dynastie (221 v. Chr.) in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts entstanden sein dürfte. Während es den Konfuzius und einen seiner Schüler in höchsten Tönen preist, kritisiert es das Denken von sechs anderen Strömungen, für die es jeweils zwei Exponenten namentlich nennt. Während uns einige dieser Personen anderweitig fast unbekannt sind, finden sich dort auch die Namen des Mo Di, auf den die mohistische Schule zurückgeht, des Shen Dao und des Tian Pian, deren Werke zu größeren Teilen verloren sind, die aber in späterer Zeit in die legalistische Schule eingeordnet wurden. Genannt werden außerdem Hui Shi und Deng Xi, die man zu den Logikern rechnet, und schließlich zwei Nachfolger des Konfuzius, nämlich der mutmaßliche Konfuziusenkel Zisi sowie Mengzi. Eine starke Verwandtschaft mit dieser Klassifikation weist das letzte Kapitel des daoistischen Klassikers Zhuangzi auf, das nach seinen Eingangsworten «Im Reich» oder «Alles unter dem Himmel» (tianxia) benannt ist. In ihm werden ebenfalls Exponenten verschiedener Denkrichtungen genannt und kritisiert, wobei hier als Ergänzung die Daoisten Laozi und Zhuangzi selbst einen prominenten Platz finden. In diesem Kapitel fehlt der Konfuzianer Mengzi. Das könnte damit zu tun haben, dass dieser zur Entstehungszeit von «Im Reich» an Einfluss verloren hatte. Diese Entstehung wird mehrheitlich erst auf das zweite Jahrhundert vor unserer Zeit angesetzt, als das alte Konzept von «allem unter dem Himmel», das auf der Idee gefußt hatte, dass die ganze bekannte Erde dem Zentralherrscher der Zhou-Dynastie unterstellt sei, von einem klareren Reichsgedanken abgelöst worden war.

Am meisten wissen wir über die Philosophie des alten China aus den Aufzeichnungen der Chronisten (Shiji) des Sima Qian (145 oder 135–​87?) und seines Vaters Sima Tan, die in ihr Geschichtswerk einige biographische Kapitel zu Personen aufgenommen haben, auf die wichtige Texte zurückgehen. In einem dieser Kapitel, dem 74. des Shiji, finden sich Parallelen zu den Überblicksdarstellungen der zeitgenössischen Philosophie in Xunzi und Zhuangzi. Vor allem aber ist im autobiographischen letzten Kapitel der Aufzeichnungen der Chronisten ein Essay des Sima Tan enthalten, in dem dieser die «wichtigsten Standpunkte der Sechs Schulrichtungen» erörtert. Ob hier tatsächlich von «Schulen» die Rede ist oder ob das an dieser Stelle stehende chinesische Wort jia, das Familie bedeutet, nicht eigentlich «Persönlichkeitstypen» meint, sei dahingestellt. Jedenfalls wird darauf verwiesen, dass schon im Buch der Wandlungen gesagt sei, dass es im Reich nur ein Ziel gebe, jedoch unterschiedliche Wege, es zu erreichen. Die Spezialisten für yin und yang, die als ru bezeichneten Konfuzianer, die Anhänger des Mo Di, die mit Namen befassten Logiker, die Gesetzes- oder Regelexperten und die Anhänger von Weg und Tugend, die Daoisten also, kümmerten sich sämtlich um eines, nämlich um Ordnung. Die Spezialisten für yin und yang lehrten, dass sich der Mensch nach der Ordnung des Jahres zu richten habe, aber auch, dass er allerhand Tabus beachten solle, die mit glück- und unglückverheißenden Zeitpunkten zu tun hätten. Die Konfuzianer legten Wert auf eine breite Bildung, wobei sie manchmal nicht in der Lage seien, ihr Wissen auf den Punkt zu bringen. Jedoch sei der Wert, den sie auf gesellschaftliche Hierarchien legten, von zentraler Bedeutung. Die Mohisten wiederum seien sparsam, hätten deshalb aber Schwierigkeiten, notwendige Unterschiede in der Gesellschaft manifest werden zu lassen. Die Gesetzesexperten kennten keinen Unterschied zwischen verwandtschaftlicher Nähe oder Ferne, alles sei bei ihnen durch das Gesetz geregelt, Gnade sei ihnen unbekannt. Andererseits regele ihre Lehre klar die Zuständigkeitsbereiche von Fürst und Untertan. Bei den «Namenexperten» sei alles darauf ausgerichtet, dass die Bezeichnungen den zugehörigen Realitäten entsprechen. Das sei eine wichtige Grundlage, führe aber oft dazu, dass die menschliche Komponente vernachlässigt werde. Den Daoisten schließlich gehört sichtlich die Sympathie des Autors: Sie handelten nicht, sondern passten sich den Gegebenheiten an.

Diese Kurzeinschätzung zu den sechs Hauptströmungen, in die altchinesisches Denken unterteilt werden könne, hat die chinesische Geistesgeschichte maßgeblich geprägt. Sie findet sich wieder im ersten Literaturkatalog, der uns aus dem alten China erhalten ist. Dieser ist eine Bestandsaufnahme der Palastbibliothek des chinesischen Kaiserhauses zu Ende des ersten Jahrhunderts vor unserer Zeit und findet sich als dreißigstes Kapitel in der 80 n. Chr. am Kaiserhof eingereichten Geschichte der Früheren Han-Dynastie des Ban Gu (32–​92). Der Katalog beginnt mit der Literatur, die den kanonischen Schriften zugeordnet wird, und fährt dann mit einer Abteilung fort, die den Titel «Abriss der Meister» trägt. Was das Wort zi, das zumeist mit «Meister» übersetzt wird, tatsächlich heißen soll, ist unklar. In der Adelshierarchie des Altertums bezeichnet es einen niederen Fürstentitel, es ist aber auch das Wort für den «Sohn» und wird überdies als ehrende Anrede verwendet. Etwas Ehrendes liegt ihm in jedem Fall zugrunde. In der Han-Zeit wurde an die Geschlechtsnamen von Philosophen oft der Zusatz zi geheftet, sowohl um damit die Personen selbst als Denkmeister zu charakterisieren als auch um dem philosophischen Werk der Person einen Namen zu geben, den es zuvor oft nicht gehabt haben dürfte. Bei Ban Gu stehen in dieser Sektion zunächst konfuzianische und dann daoistische Autoren, es folgt die Yin-Yang-Schule, danach die Gesetzesautoren oder «Legalisten», die Namenspezialisten und die Mohisten. Jenseits der sechs schon von Sima Tan erörterten Schulen finden sich noch eine Diplomatenschule, eine Schule mit «vermischtem» Gedankengut und eine Schule von Agrartheoretikern. Für alle Schulen nennt Ban Gu an erster Stelle ein bestimmtes Amt, dem sie ursprünglich entstammen. Für die Konfuzianer ist dies zum Beispiel das Erziehungsministerium, für die Daoisten das Amt des Chronisten, für die Yin- und Yang-Spezialisten dasjenige des Astronomen oder Astrologen, für die Legalisten das des Justizministers oder Richters, und so weiter. Für Ban Gu entspringt die chinesische Philosophie also dem Geist der Bürokratie.

Die meisten dieser Klassifikationen sind Han-zeitlich, stammen also aus der Zeit nach der Gründung des Kaiserreichs und entsprechen damit nicht unbedingt Schulrealitäten der Zeit davor. Von Daoisten oder Legalisten spricht man erst seit dem zweiten Jahrhundert vor unserer Zeit. Anders verhält es sich nur mit den Konfuzianern und den Mohisten. Diese werden bei mehreren Autoren schon vor der Han-Zeit erwähnt, so in einem Kapitel des später als «Legalist» klassifizierten Meisters Han Fei, der kurz vor der Reichseinigung wirkte und davon spricht, dass die strahlendsten Formen von Gelehrsamkeit in seinem Zeitalter diejenigen der auf Konfuzius zurückgehenden Konfuzianer und der auf Mo Di zurückgehenden Mohisten seien. Auch Zhuangzi erwähnt die Konfuzianer und die Mohisten immer wieder als die Denker der Zeit, wobei er manchmal als einen Gegenpol auch Yang Zhu nennt, der wiederum im Mengzi-Text als Antipode des Mo Di genannt ist. Während Mo Di den «allgemeinen schonenden Umgang der Menschen miteinander» predigte, seien Yang Zhu die anderen Menschen so egal gewesen, dass er sich nicht einmal ein Haar ausgerissen hätte, selbst wenn er die Welt damit hätte retten können. Letztlich aber stellen zahlreiche Texte Konfuzius und Mo Di als die Vordenker aller späteren Schulen dar. Ein Konfuzianer wie der unten noch zu besprechende Xunzi betont genauso wie Mo Di die Notwendigkeit, dass ein guter Denker von einem Lehrer intellektuell «eingefärbt» werden muss, und in einem synkretistischen Text wie dem Frühling und Herbst des Lü Buwei (Lüshi chunqiu) wird dieses «Einfärben» mit Bezug auf Konfuzius und Mo Di behandelt. Diese beiden Männer seien schon lange tot, doch ihre Schüler seien überall in der Welt anzutreffen.

2. Von «Frühling und Herbst» bis zu den Kämpfenden Staaten (721–​221 v. Chr.)

Konfuzius und Mo Di

Eine Darstellung der chinesischen Philosophie sollte also mit Konfuzius (552 oder 551–​479) beginnen, auch wenn dieser selbst sich auf Vorgänger beruft und seine Lehren ähnlich wie die der Vorsokratiker im alten Griechenland nur in Spruchform beziehungsweise in kürzeren Dialogen zwischen Konfuzius und seinen Schülern oder den Herrschenden seiner Zeit überliefert sind. Eine Reihe dieser Konfuziusworte sind in den Gesprächen des Konfuzius versammelt, deren Zusammenstellung traditionell seinen Schülern zugeschrieben worden ist, obwohl der Titel des Buches erst im zweiten Jahrhundert vor unserer Zeit erstmals genannt ist und eine Han-zeitliche Redaktion den Text in seine heutige Form gebracht hat. Konfuzius ist in fast allen Texten des dritten Jahrhunderts – auch denen konkurrierender Schulen – die wichtigste oder eine der wichtigsten Autoritäten, die zitiert werden. In diesen Texten stehen zahlreiche weitere seiner Aussagen, auch wenn diesen von der Tradition nicht dieselbe Authentizität zugebilligt worden ist. Nicht selten werden Konfuzius auch Worte zugeschrieben, die an anderer Stelle mit anderen Namen in Zusammenhang gebracht werden oder die allgemeine Sentenzen gewesen zu sein scheinen. Dies trifft zum Beispiel auf die goldene Regel zu: «Was Du nicht für Dich selbst wünschst, das füge auch keinem anderen zu.» Der Satz findet sich in den Gesprächen, aber auch an gänzlich anderer Stelle der literarischen Tradition des alten China.

Konfuzius war Spross einer alten Familie aus dem Staat Song, in dem in besonderer Weise Traditionen der Dynastie Shang hochgehalten wurden. Diese war der Dynastie Zhou vorangegangen, die zu Lebzeiten des Konfuzius nominell die Herrschaft über China ausübte. Real war die Macht längst auf Staaten übergegangen, die den Zhou nach Darstellung der chinesischen Geschichtsschreibung eigentlich im Rahmen einer Lehnsordnung unterstellt waren. Die Familie des Konfuzius war nach Lu im ostchinesischen Shandong ausgewandert. Lu zählte zu den hierarchisch wichtigen Lehnsstaaten. Hier wurde das zeremonielle System der Zhou besonders gepflegt, was als einer der Gründe dafür gilt, dass Konfuzius in seinen Lehren zeremonielle Regeln, Sitte und Anstand besonders betonte. De facto gehörte Lu zu den schwächeren Staaten der Zeit, und man könnte argumentieren, dass sich dort die Notwendigkeit einer Reform des politischen Systems besonders bemerkbar gemacht habe. Dieser Reform verschrieb sich Konfuzius, der seine Karriere als Lehrer begann und im Laufe seines Lebens eine große Zahl von Schülern um sich scharte.

Während eines langen Zeitraums reiste Konfuzius mit seinen Anhängern von Staat zu Staat, um eine Anstellung als Berater zu finden, kehrte aber schließlich enttäuscht nach Lu zurück, um sich dort für den Rest seines Lebens dem Unterricht und literarischen Tätigkeiten zu widmen, in der Hoffnung, dadurch die Welt besser reformieren zu können. Einige seiner Schüler allerdings leisteten gegen Ende seines Lebens entweder in Lu Dienst bei militärischen Auseinandersetzungen mit Nachbarstaaten oder aber im Nachbarstaat Wey. Dort kam es kurz vor dem Tod des Konfuzius zu einem folgenschweren Thronfolgestreit und in dessen Folge zu militärischen Auseinandersetzungen, bei denen einer seiner wichtigsten Schüler ums Leben kam. In diesem politischen Zusammenhang ist die berühmte Lehre von der Richtigstellung der Bezeichnungen zu verorten, die Konfuzius predigte: Ein Fürst müsse sich wie ein Fürst verhalten, ein Vater wie ein Vater, ein Untertan wie ein Untertan und ein Sohn wie ein Sohn. So banal sich dies anhört, für Konfuzius war es ganz entscheidend. Der Thronfolgestreit machte für ihn deutlich, welch großes Unheil durch die Verwirrung von hierarchischen Verhältnissen drohte.

In der Hauptsache betätigte sich Konfuzius nicht als Philosoph. Vielmehr wird ihm zugeschrieben, die kanonischen Schriften des chinesischen Altertums redigiert zu haben. Besonders die Frühlings- und Herbstannalen (Chunqiu), eine Chronik seines Heimatstaates, die der Zeit von 721–​481 v. Chr. ihren Namen gegeben hat, soll er in eine solche Form gebracht haben, dass Lob und Tadel für die Regierenden seiner Zeit zum Ausdruck kamen. Mehrfach ist in den Gesprächen des Konfuzius davon die Rede, dass er anhand der Lieder des Buchs der Oden moralische Vorstellungen gelehrt habe. Überhaupt spielt das Wort «Sitte», li, das ursprünglich einmal Riten oder Zeremonien bedeutet hatte, bei Konfuzius eine entscheidende Rolle.

Der zentrale Begriff in den Gesprächen des Konfuzius ist «Menschlichkeit» (ren), von der sechzig Stellen handeln, die das Wort eher einkreisen, als dass sie es wirklich definieren würden. Was diese Menschlichkeit genau sein soll, wird nicht ganz klar. An mehreren Stellen wird sie mit der Praxis guter Regierung in Beziehung gesetzt. Sie scheint für Konfuzius den sensiblen, kompetenten Umgang mit anderen Menschen zu beschreiben, der Voraussetzung für eine erfolgreiche Ausübung von Herrschaft ist. Obwohl Konfuzius immer wieder den Himmel als Zeugen anruft, betont er mehrfach, dass für sein Denken das Jenseits, Geister und Götter oder Fragen nach einem Leben nach dem Tod keine Bedeutung haben. Ihm gehe es nur um eine Verbesserung des menschlichen Zusammenlebens. Auch darum braucht er kein philosophisches System.

Mo Di wurde mindestens ein Jahrzehnt nach dem Tod des Konfuzius geboren und kam in dessen Heimatstaat Lu mit dessen Schülern und Enkelschülern in Berührung. Davon ausgehend entwickelte er selbst eine Lehre und gründete eine eigenständige Schule, von der es heißt, sie sei überaus straff und hierarchisch organisiert und auf einen Großmeister zugeschnitten gewesen. Sie soll auf die sozial Schwachen ausgerichtet gewesen sein, Zimmerleute sollen zu ihrer Klientel gehört haben. In diesem Zusammenhang ist von Interesse, dass der Nachname Mo ansonsten in China unbekannt war. Er bedeutet eigentlich «tätowieren». Das Tätowieren im Gesicht war eine Form der Bestrafung, die zur Folge hatte, dass die Betroffenen den Dienst an ihren Ahnen nicht mehr durchführen durften, da sie diesen sichtbar Schande gemacht hatten. Einige Wissenschaftler nehmen deshalb an, dass Mo Di eigentlich der «Tätowierte Di» war.

Mo Di lehnte Angriffskriege ab, wurde aber von einem Herrscher des Staates Song Mitte des fünften Jahrhunderts in Dienst genommen, um dort mit seinen Schülern die Verteidigung zu organisieren. Auch an seinem Beispiel wird also deutlich, dass das philosophische Schreiben nicht einem Selbstzweck diente, sondern einerseits auf die Praxis ausgerichtet war und dass andererseits Schulen nicht nur dem Unterricht dienten, sondern Meister und Schülerschaft eine wehrhafte Gemeinschaft bildeten.

Die Lehren des Mo Di sind mit denen des Konfuzius auf den ersten Blick verwandt: Während dieser von der Menschlichkeit als wichtigster Tugend gesprochen hatte, zu der ein gebildeter Mensch fähig zu sein hatte, um ein Amt übernehmen oder Regierung ausüben zu können, ging es Mo Di um «allgemeine Menschenliebe» oder vielleicht besser den «allseitig schonenden Umgang miteinander» (jian ai)