Christian Geinitz
CHINAS
GRIFF NACH
DEM WESTEN
WIE SICH PEKING
IN UNSERE WIRTSCHAFT
EINKAUFT
C.H.Beck
Pirelli, Volvo, Club Méditerranée, Syngenta oder Spotify: Mit Milliardenbeträgen kaufen sich chinesische Investoren in europäische Unternehmen ein. Besonders beliebt sind deutsche Marken, darunter Daimler, Steigenberger oder BioNTech. Die wilde Shoppingtour hat ein Ziel: Bis 2049 will die Volksrepublik die Industrieländer entthronen und in allen Zukunfts-branchen Weltmarktführer werden. Die Corona-Pandemie hat den Vorstoß zwar verlang-samt, aber an den Langfristzielen nichts geändert. Dass sich die Chinesen an der Infrastruk-tur und an Unternehmen beteiligen, sollte uns eigentlich willkommen sein. Doch die Skepsis ist groß und die Abwehrbereitschaft wächst, weil Peking auch politische Zwecke verfolgt und nicht gewillt ist, seine eigenen Märkte vollständig zu öffnen. Der Wirtschaftsexperte Christi-an Geinitz zeigt in seinem Buch, wie die ökonomische Supermacht China nach dem Westen greift – eine Gefahr, auf die Deutschland und Europa konzertiert reagieren müssen. Er rät in seinem penibel recherchierten Buch jedoch dazu, einen kühlen Kopf zu bewahren. Europa sollte sich weder einkapseln noch Chinas zweifelhaftes Geschäftsgebaren übernehmen. Tritt die EU indes geeinigt auf und erkennt, dass Peking mehr denn je auf sie angewiesen ist, dann kann Europa die Bedingungen mitgestalten und gemeinsam mit China wachsen.
Christian Geinitz ist seit 25 Jahren Wirtschaftsredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zei-tung. Er gilt als Spezialist für Transformationsökonomien und kennt sowohl die westliche wie die östliche Seite der Globalisierung. Zwischen 2000 und 2003 berichtete er aus Mexiko-Stadt, von 2009 bis 2014 aus Peking. Zurück in Europa, widmete er sich von Wien aus Teilen Osteuropas und der Türkei. Seit 2020 schreibt er für die F.A.Z. aus Berlin.
Vorwort
Einleitung – WIE STARK IST CHINA WIRKLICH? ERST KOMMEN DIE WAREN, JETZT DIE AUFKÄUFER
Eine neue «Rote Gefahr»?
Von der Planwirtschaft zur gesteuerten Marktwirtschaft
Chinas Militärmacht wächst rasant
Chinas wirtschaftliche Aufrüstung
Patente Chinesen, chinesische Patente: Anschub für Innovationen
Die Chinesen sind längst da, auch bei uns zuhause
Die Chinesen strömen nach Deutschland
Jetzt kommt auch ihr Kapital
Auf dem Weg zur Weltmacht – DER MASTERPLAN «MADE IN CHINA 2025»
Pekings Griff nach den Sternen
Xi Jinpings Chinesischer Traum
Anknüpfen an alte Größe
Der Anspruch auf Weltmacht
Abschied vom alten Wachstumsmodell
Von der Werkbank der Welt zur Hightech-Nation
Vorreiter der Vierten Industriellen Revolution 4.0
«Made in China» versus «Made in Germany»
Verteidigung zuhause, Angriff in der Fremde
Going Out: Der Zukauf im Ausland
Der Einfluss des Staates
Prallgefüllte Kassen für die Expansion
Flexibilität statt Planwirtschaft: die Anpassung der Strategie
Der 14. Fünfjahresplan und die «Vision 2035»
Mit dem Füllhorn durch die Welt – WIE DIE STRATEGIE MIT LEBEN GEFÜLLT WIRD – UND WORAN ES NOCH HAKT
Von der Theorie zur Praxis: Erst Empfänger, jetzt Geber
Die Chinesen als größte Investoren der Welt
Die begehrtesten Ziele: Europa und Deutschland
Verlieren die Chinesen die Einkaufslust? Mitnichten!
Der Übernahmemotor läuft erst mit halber Kraft
Keiner kann die Chinesen besser bremsen als sie sich selbst
Zurückgepfiffene Drachen: Die Beispiele Anbang und Wanda
Der Luftfahrt-Luftikus und die Deutsche Bank: Die HNA-Gruppe
«Desinvestment»: Der Milliardenrückzug der Pleitegeier
Die Kommunistische Partei sitzt mit am Tisch
Selbst Vorzeigeunternehmer sind nicht sicher
Sany, Wanda, Fosun: Mit wem darf man sich einlassen?
Der alte Kontinent und die neuen Herren – WAS DIE CHINESEN IN EUROPA SUCHEN – UND FINDEN
Der Klimawandel in der Weltwirtschaft und die Fosun-Gruppe
Vom Gemischtwarenladen zum strategischen Investor
Als Steigenberger chinesisch wurde: Rosinenpicken statt Kaufrausch
Österreichische Skier, Spotify und Onlinespiele: Wo die Wächter ein Auge zudrücken
Nie wieder Halbleiterkrise: Chip-Hersteller auf Chinas Einkaufszettel
Trotz Geld und starker Worte: Die Mikroprozessoren-Wirtschaft hinkt hinterher
Der Masterplan fruchtet: Chinas Datenkonzerne sind schon top
Pekings Bettler haben einen QR-Code am Hut
Individualmedizin und Corona: Biontech und andere Pharma-Deals
Die Hand am Schalter: Chinas Devisenreserven fließen in europäische Schlüsselbranchen
Geld verdienen an Europas Energiewende
Wenn der Drei-Schluchten-Staudamm nach Spanien und Portugal kommt
Öko zur rechten Zeit: der Green Deal, die Griechenland-Krise und die Seidenstraße
Atom und Abfall: Geldverdienen mit dem, was keiner haben will
Finanzkrise und Brexit: Banken und Versicherungen im Fokus
Aufpeppen statt abwickeln – WIE CHINA EUROPAS «OLD INDUSTRY» AUFMISCHT
Heißer Reifen: Pirelli und die Automobilzulieferer
Weiße Ritter: Chinas Kfz-Zulieferer erobern manche Bastion kampflos
Autovernarrtes China: Wird Borgward zur Hightech-Marke?
Das älteste Auto und die E-Mobilität: Bei Daimler sitzen die Chinesen mit am Steuer
Polestar, Smart, die London-Taxis und Lotus: Li Sufu krempelt Europas Automarken um
China als Marktführer in der Elektromobilität
Die Herzkammer der E-Mobilität: Batterien Made in China
Spätes Erwachen: Deutschland und Europa ziehen in der Akkufertigung endlich nach
Vorpreschen statt aufholen: Mit Luftfahrzeugen zu neuen Höhen
Das neue Luftfahrt-ABC: Gleichziehen mit Airbus und Boeing
China als «Home of Drones»
Deutsche Überflieger und ihre chinesischen Gönner
Wer ist schon die BASF? Neue Chemieriesen in Fernost
Syngenta, die Mutter aller Zukäufe
Osram und deutsche Kindersitze: Auch Konsumgüter haben ihre Reize
Abkupfern beim Klassenbesten – WAS AUS BEDEUTENDEN FIRMENKÄUFEN IN DEUTSCHLAND GEWORDEN IST
Der erste Schwung: Ein alter Sowjetflughafen, der Dalai Lama und die Aldi-PCs
Gartendünger und Drohnenmotoren: Auch kleine Übernahmen passen in die Strategie
Geht es den Firmen nach der Übernahme schlechter – oder besser?
Die Corona-Pandemie regt zur Zwischenbilanz an
Weltmarktführer und schwäbisches Tafelsilber: Der Fall Putzmeister
Protest und Tränen in Deutschland
Gemischte Bilanz der Übernahme
Innovationen im Blick: Putzmeister als passgenaue Auslandsübernahme
Roboter statt Ventilatoren und Müllautos: Midea schluckt Kuka
«Midea strebt nicht die Kuka-Mehrheit an.» Denkste!
Robotersteuerung vom Smartphone: Kuka und die Industrie 4.0
Die Kuka-Geschäfte laufen unter den Chinesen mehr schlecht als recht
Rangeleien zwischen Mutter und Tochter
Volle Fahrt Richtung Westen – DIE NEUE SEIDENSTRASSE
Selbst Rügen tickt Chinesisch: Pekings Reichweite ist gewaltig
Viel größer als der Marshall-Plan: 70 Prozent der Welt gehören zur Seidenstraße
Tief im Westen: China hilft beim Strukturwandel im Ruhrpott
Xi Jinpings Lieblingskind
Die Entwicklung seit 2017: Die BRI als «nationale Strategie»
China exportiert sein Entwicklungsmodell
China verkauft sich als Hüter der freien Wirtschaft
Wer die Standards setzt, hat die Macht: China als neuer Normengeber
Die Politik folgt der Wirtschaft – WIE CHINA DIE SEIDENSTRASSEN-INITIATIVE AUSSCHLACHTET
Handel und Einfluss: Auf den Spuren des Groß-Eunuchen
Milliarden für die Infrastruktur: Die Strategie der zwei Ozeane
Reibereien an Portugals Küste: Wenn die Seidenstraße auf US-Interessen prallt
Cosco in Piräus: Sünden- oder Glücksfall?
Hamburg als neues Tor zur chinesischen Welt
Alle für einen, einer für alle? China schart die osteuropäischen Länder um sich
Was China mit «16+1» bezweckt
Trojanisches Pferd? Pekings politischer Einfluss via Osteuropa
Europa schlägt China auf die Finger – ERSTE ABWEHRVERSUCHE GEGEN DIE EXPANSION
Alte Bande: Die Provinz Shandong und ihr Interesse an Deutschland
Wie sich Yantai Taihai und State Grid in Berlin blutige Nasen holten
Endlich gegenhalten: Deutschlands «Industriestrategie 2030»
Ihr müsst leider draußen bleiben: Strengere Investitionsprüfungen
Das europäische Dilemma zwischen Offenheit oder Abschottung
Plumper Name, plumpes Konzept: Die Konnektivitätsstrategie der EU
Wirtschaft und Politik wachen auf: China als Systemrivale
Eine neue China-Strategie der EU
Das Europa-Parlament nimmt kein Blatt vor den Mund
Ein Investitionsabkommen als Dauerbaustelle und Hoffnungsträger
Eigentor oder Tor zur Welt? Das Global Gateway
CFIUS und B3W: Die amerikanische Abwehr als Vorbild?
Schluss – EUROPA KANN DIE SINISIERUNG NICHT AUFHALTEN, ABER MITGESTALTEN
Chinesisch lernen ist eine gute Idee
Chinas Systemrelevanz lässt uns keine Wahl
Die Einkaufstour wird weitergehen – gezielt
Zweifelhafte Schrotschusspolitik aus den USA
Der Westen zieht die Zugbrücken hoch
Chinas Triumphzug geht seinen eigenen Weg
Nicht mit gleicher Münze zurückzahlen
Abwehr reicht nicht, Europa selbst muss fitter werden
WEITERFÜHRENDE LITERATUR
Dank
MEINEM VATER (1937–2020)
«Multipliziert man ein Problem mit der Bevölkerungszahl Chinas, ist es ein sehr großes
Problem.
Aber wenn man es durch die Bevölkerung Chinas teilt, wird es sehr klein.»
Wen Jiabao, chinesischer Ministerpräsident,
in Harvard (2003)
«Alles, was in den Schilderungen Chinas der Wahrheit entsprechen mag, entstammt dem Reiseführer Lonely Planet China.»
Tilman Ramstedt, deutscher Schriftsteller,
in «Der Kaiser von China» (2008)
China fasziniert, China polarisiert. Im Ausland erzeugt es Bewunderung, aber auch Angst, zuletzt in der Corona-Krise: Das Virus stammt aus Wuhan, wurde es dort möglicherweise gezüchtet? Dann war es allerdings auch die Volksrepublik, die die Epidemie als erste in den Griff bekam, auf beachtenswerte und zugleich drakonische Weise.
Die Wirtschaft des großen Landes stößt gleichermaßen auf Bedenken wie auf Hochachtung. Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte ist ein Standort so schnell vorangekommen, aber geht es dabei mit rechten Dingen zu? Solange die Asiaten ihre eigenartige sozialistische Marktwirtschaft nur zu Hause praktizierten, ließ das die meisten Ausländer kalt. Seit einigen Jahren aber dringen die Chinesen über die Grenzen vor, mit ihren Baumaschinen entlang der Neuen Seidenstraße und mit ihren Investoren, die in Deutschland und dem Rest Europas Unternehmen kaufen.
Angst entsteht aus Unkenntnis. Dieses Buch möchte Material und Interpretationen liefern, um Chinas Gang hinaus in die Welt besser zu verstehen. Es hätte seinen Zweck schon erfüllt, wenn dem Leser die Vielzahl der chinesischen Eigentümer hierzulande klarwürde und möglicherweise auch die Motivation, die hinter den Übernahmen steckt. Zweifellos werden Deutschland und Europa immer chinesischer, wie sie auch immer amerikanischer geworden sind. Es kann nicht schaden, sich auf die neue Weltordnung rechtzeitig einzustellen.
Berlin, im März 2022
Christian Geinitz
WIE STARK IST CHINA WIRKLICH? ERST KOMMEN DIE WAREN, JETZT DIE AUFKÄUFER
Droht uns eine neue «Rote Gefahr»? Diesmal aus China? Ein Schreckgespenst dieses Namens hat den Westen schon mehrfach in Furcht versetzt und seine Abwehr mobilisiert. Bisher bezogen sich die Befürchtungen auf den theoretischen und den real-existierenden Kommunismus, auf die revolutionären Thesen von Marx und Engels, auf die Sowjetunion und den Ostblock, auf die Stellvertreterkriege in Indochina, Lateinamerika und anderswo. Bei «Roter Gefahr» denkt man an die weitverbreitete Furcht vor Kommunisten und Sozialdemokraten im 19. Jahrhundert – «Ein Gespenst geht um in Europa» –; später gesellte sich die Angst vor der Ausweitung der Oktoberrevolution in Russland hinzu. Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kommen die Schrecken von Vietnam und Kambodscha in den Sinn, die McCarthy-Ära, die Kuba-Krise und der lange Kalte Krieg.
In jener Zeit wappneten sich die Vereinigten Staaten und andere westliche Nationen gegen Infiltrationen und Erhebungen im Inland ebenso wie gegen Angriffe von außen. Der «Red Scare» ging in erster Linie von Moskau aus, und er stützte sich auf dessen militärische Stärke. Trotz des Untergangs der Sowjetunion sind die Bedenken gegenüber Russlands Expansionsdrang zwar nicht verflogen. Zu Recht, wie man an der Annexion der Krim sieht. Die Vorzeichen und die Symbolik aber haben sich grundlegend geändert. Niemand käme heutzutage auf den Gedanken, das Regime von Wladimir Putin als «rote» Gefahr zu bezeichnen.
Wie aber sieht es mit der Bedrohung aus China aus, nach der dieses Buch fragt? Vor einer «Gelben Gefahr» warnten schon Kolonialpolitiker, Hochschullehrer und Künstler im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Deutlich rassistisch gefärbt, sahen sie den Niedergang Europas voraus, weil es der schieren Menschenmenge, der vermeintlich barbarischen Aggressivität und dem selbstvergessenen Arbeitseifer der Asiaten wenig entgegenzusetzen habe. Dieser Fremdenhass richtete sich pauschal gegen «die» Asiaten, nicht zuletzt gegen Japan, das 1905 den Krieg gegen Russland gewonnen hatte. Überdies dienten die Ressentiments als willkommene Rechtfertigung für imperiale Ambitionen und militärische Interventionen, etwa gegen den Boxeraufstand 1900/1901.
Passt aber die Bezeichnung «Rote Gefahr» zu China, ist es überhaupt «rot» zu nennen? Immerhin regiert dort seit 1949 unangefochten die Kommunistische Partei (KPC) unter der Roten Fahne mit den fünf Sternen. Der große symbolisiert die Partei, die kleinen stehen für die vier Klassen der Bauern, der Werktätigen, der Kleinbürger und der kommunistisch konvertierten Bourgeoisie. Auch Hammer und Sichel spielen nach wie vor eine Rolle, unter ihnen versammelt sich die KPC alle fünf Jahre zum Parteitag in der Großen Halle des Volkes am Platz des Himmlischen Friedens. Dort beschwört der Vorsitzende, Staatspräsident Xi Jinping, gern den Sozialismus und Karl Marx.
Die Verfassung stellt glasklar fest, woher der ideologische Wind weht. In der Präambel heißt es: «Die sozialistische Umgestaltung des Privateigentums an den Produktionsmitteln ist abgeschlossen, das System der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ist abgeschafft, und das sozialistische System ist etabliert worden.» Und Artikel 1 legt unmissverständlich fest: «Die Volksrepublik China ist ein sozialistischer Staat unter der demokratischen Diktatur des Volkes, der von der Arbeiterklasse geführt wird und auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern beruht.»
Die Verfassung billigt der Kommunistischen Partei eine Führungsrolle zu, und tatsächlich ist sie bis heute übermächtig in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Selbst in den internationalen Joint-Ventures, etwa bei Volkswagen, regiert sie mit. Laut Zentralkomitee unterhalten fast eine Million privater Unternehmen Parteizellen, darunter sind annähernd 50.000 Betriebe mit ausländischem Kapital. Kommunistisch muten auch die vielen Staatsunternehmen an. Ihre Vorherrschaft ist in Artikel 7 der Verfassung verankert: «Die staatseigene Wirtschaft, das ist die sozialistische Wirtschaft unter Volkseigentum, ist die dominierende Kraft in der Volkswirtschaft.»
Wie dominierend sie ist, zeigt sich im internationalen Vergleich. Unter den 30 umsatzstärksten Konzernen der Welt finden sich neun aus der Volksrepublik – bis auf den Versicherungskonzern Ping An gehören sie alle dem Staat. Mit fast 400 Milliarden Dollar Umsatz ist der Energiekonzern State Grid das größte Unternehmen auf dem Planeten hinter dem amerikanischen Handelsgiganten Walmart. Auf den Plätzen drei und vier folgen Amazon und Apple, dann aber geht es mit chinesischen Staatskonzernen weiter, mit den Rohstoffriesen China National Petroleum und Sinopec.
Wie es sich für ein sozialistisches Land gehört, gibt es in China Fünfjahrespläne und weitere zentrale Entwicklungsdirektiven. Doch trotz all dieser Reminiszenzen herrscht in dem riesigen Reich natürlich kein kommunistisches Regime im traditionellen Sinne. Von Klassenkampf und Revolution ist nur noch in Aufsätzen und Sonntagsreden zu hören. Die Planwirtschaft ist einer gesteuerten Marktwirtschaft gewichen, in der Privatunternehmen und Privatpersonen sich so lange bereichern können, wie sie der Partei nicht in die Quere kommen.
Längst sind die Produktionsmittel in der Hand einer neuen Klasse von Kapitalisten, die nicht selten mit den Parteiführern identisch sind, längst ist es wieder erlaubt, Arbeitskräfte auszubeuten, Vermögen anzuhäufen und zu vererben, den eigenen Wohlstand zur Schau zu stellen. Seit den 1990er Jahren steht der Terminus «sozialistische Marktwirtschaft», der westlichen Ökonomen wie eine Contradictio in adiecto erscheinen muss, sogar in der Verfassung. Hingegen wurde der Begriff «Planwirtschaft» komplett gestrichen. Im einschlägigen Artikel 15 heißt es nun nicht mehr: «Der Staat führt eine Planwirtschaft auf der Basis des sozialistischen Gemeineigentums durch.» Sondern: «Der Staat wird eine sozialistische Marktwirtschaft realisieren.»
Als Vater dieser Veränderungen gilt der Nachfolger von Deng Xiaoping an der Spitze Chinas, der seit 1989 amtierende Parteichef und spätere Staatspräsident Jiang Zemin. Er hatte auf dem Parteitag 1992 die «sozialistische Marktwirtschaft» ausgerufen, weil viele Staatsbetriebe völlig an der Nachfrage vorbeiarbeiteten. Ähnlich wie heute erwirtschaften sie zwar hohe Umsätze, aber kaum Gewinne, stattdessen häuften sie Überkapazitäten und riesige Schulden an. Der greise Deng spielte ebenfalls eine zentrale Rolle in dieser nächsten Phase des wirtschaftlichen Umbaus. Im Januar und Februar 1992 bereiste der Siebenundachtzigjährige den chinesischen Süden und verteidigte den marktwirtschaftlichen Kurs wortgewaltig gegen die konservativen Betonköpfe in der KPC.
«Wenn wir neben dem Sozialismus nicht gleichermaßen an Reform und Westöffnung festhalten sowie fortschreiten, die Wirtschaft und den Lebensstandard der Bevölkerung zu verbessern, endet es in unserem Untergang», mahnte Deng. Seiner Meinung nach hätte es nach den Unruhen am Platz des Himmlischen Friedens im Juni 1989 ohne die Reformen einen Bürgerkrieg gegeben, ähnlich wie während der Kulturrevolution: «Der eigentliche Grund, warum unser Land noch immer stabil ist, liegt in der Politik der Wirtschaftsreform begründet sowie in der steten Verbesserung der Lebensqualität großer Teile der Bevölkerung.»
Nach Dengs Tod 1997 kündigte Jiang Zemin mitten in der Asienkrise eine Erweiterung der sozialistischen Marktwirtschaft an, um künftig mehr Staatsunternehmen privatisieren zu können. Das ursprüngliche Ziel bestand darin, aus den 300.000 öffentlichen Betrieben rund 1000 Großkonglomerate zu schmieden und den Rest abzuwickeln oder zu verkaufen. Dieser Vorstoß ist, wie wir heute wissen, auf halbem Weg steckengeblieben; nach wie vor gibt es sagenhafte 167.000 Staatsunternehmen.
Falsch wäre auch der Eindruck, die wirtschaftliche Öffnung hätte die politischen und rechtlichen Freiheiten wesentlich vorangebracht. Wie wenig schon Deng davon hielt, zeigt sich in seiner Mitverantwortung für die blutige Niederschlagung der Studentenunruhen am Platz des Himmlischen Friedens 1989. Während seiner langen Amtszeit ließ der Patriarch weder freie Wahlen noch eine unabhängige Justiz oder überhaupt eine echte Gewaltenteilung zu, das Machtmonopol der Partei ging ihm über alles. Auf seiner als Ausweis von Fortschrittlichkeit und Westöffnung gelobten Reise durch den Süden stellte Deng 1992 klar: «Historische Erfahrungen haben gezeigt, dass unsere politische Macht nur über eine Diktatur zu konsolidieren ist. Eigentlich sollten wir unser Volk Demokratie genießen lassen. Um aber unseren Feinden überlegen zu sein, müssen wir Diktatur praktizieren, die demokratische Diktatur des Volkes.»
Vielleicht gelinge es erst in dreißig Jahren, also etwa 2022, ein «funktionierendes System» zu schaffen, überlegte Deng damals. Der Endzweck aller Anstrengungen liege noch viel weiter in der Zukunft. «Unser Ziel lautet, einen Sozialismus chinesischer Prägung aufzubauen. Wenn wir das in hundert Jahren geschafft haben, ist das bereits ein riesengroßer Erfolg. Auf unseren Schultern liegt eine schwere Bürde», schrieb Deng seinen Nachfolgern ins Stammbuch. Diese Last meint der heutige Führer Xi Jinping aufnehmen und weitertragen zu müssen. Nicht zuletzt, indem er seine eigenen Hundert-Jahr-Ziele definiert hat, auf die noch einzugehen sein wird.
Xi rekurriert mehr als seine unmittelbaren Vorgänger auf Marx und Mao. Gleichwohl ist China nach vierzig Jahren des kapitalistischen Aufstiegs nur noch der Theorie und der Symbolik nach ein «rotes» Land. Eher könnte man es leninistisch nennen, denn bei der «Volks»-Republik handelt es sich um einen autoritären, straff geführten Einparteienstaat, in dem Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht viel zählen und dessen Wirtschaft der Regierung und den kommunistischen Eliten untertan ist.
Diese Fremdbestimmung hat über die Jahre nicht abgenommen, im Gegenteil: Unter Xi Jinping haben die Zugriffsmöglichkeiten des Staates auf den Einzelnen zugenommen, die Abwehrrechte der Bürger sind geschrumpft. Mithilfe neuer Techniken, in denen China führend ist, kann es zur totalen Überwachung kommen. Über das System der «Sozialkredite» werden Privatpersonen und Unternehmen belohnt und bestraft, gemäß Kriterien, die niemand anders festsetzt als die allmächtige Kommunistische Partei. Der langjährige China-Korrespondent der «Süddeutschen Zeitung», Kai Strittmatter, hat ein lesenswertes Buch über diese «Neuerfindung der Diktatur» geschrieben. Er kommt zu dem Schluss, dass China unter Xi Jinping nicht nur selbstbewusster, sondern auch deutlich autoritärer geworden sei: «Chinas Diktatur unterzieht sich gerade einem Update mit den Instrumenten des 21. Jahrhunderts.»
Das vorliegende Buch fragt, wie real die Möglichkeit ist, dass von diesem eigenartigen Zwittersystem aus Kaderordnung und Turbokapitalismus eine Gefahr für den Westen, für Europa, für Deutschland ausgeht. Dabei geht es zuvorderst um die wirtschaftliche Expansion, aber es schadet nicht, auch auf andere Instrumente zur Machtdurchsetzung zu blicken, etwa auf Chinas Militärkraft. Wie beachtlich sie ist, wurde am 1. Oktober 2019 für alle Welt anschaulich, als Peking aus Anlass des 70. Geburtstags der Volksrepublik die größte Militärparade aller Zeiten erlebte. Daran nahmen 15.000 Soldaten, mehr als 160 Flugzeuge sowie 580 Panzer und andere Waffensysteme teil.
Glänzend orchestriert, folgte der Höhepunkt am Schluss des Aufmarsches. Da zeigte die Volksbefreiungsarmee ihre Interkontinentalraketen vom Typ «Dong Feng 41». Der Name «Ostwind» nehme bereits die mögliche Abschussrichtung nach Westen vorweg, sagen Militärfachleute, denn der Flugkörper könne in kürzester Zeit Europa erreichen. Innerhalb einer halben Stunde ließen sich zehn nukleare Sprengköpfe bis in die USA tragen. Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping, der auch Oberbefehlshaber ist, sagte anlässlich dieser Machtdemonstration, niemandem sei es möglich, die Grundlagen «dieser großen Nation» zu erschüttern. «Keine Macht kann den Fortschritt des chinesischen Volkes und der Nation aufhalten.»
Unzweifelhaft ist China eine militärische Großmacht. Das Land ist eines von nur fünf ständigen Mitgliedern im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen, ist Atommacht, hat mehr Soldaten unter Waffen als jedes andere Land, rund zwei Millionen, und erhöht seinen Wehretat in überproportional großen Schritten. 2019, im letzten normalen Jahr vor der Corona-Krise, wuchs die Wirtschaft um 6,1 Prozent, die Rüstungsausgaben aber legten um 7,5 Prozent auf knapp 1200 Milliarden Yuan zu. Das sind etwa 190 Milliarden Dollar oder 1,3 Prozent der Wirtschaftsleistung.
Mit seiner Mannstärke liegt China vor den Vereinigten Staaten mit ihren 1,4 Millionen Soldaten, beim Budget rangiert Peking aber weit hinter Washington auf Platz zwei. Amerika gibt viermal so viel Geld aus, etwa vier Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (BIP). Nun ist es sicher richtig, dass die Volksrepublik nicht alle ihre Zahlen veröffentlicht. Das Internationale Friedensforschungsinstitut in Stockholm (Sipri) nimmt an, dass der tatsächliche Wehretat etwa 1700 Milliarden Yuan oder 260 Milliarden Dollar umfasst. Kaum ein anderes Land habe in den vergangenen Jahren derart aufgerüstet, stellen die Schweden fest.
In nicht einmal zehn Jahren ließen die Chinesen ihre Rüstungsausgaben inflationsbereinigt um mehr als 80 Prozent anschwellen. Der «Economist» schreibt, seit Deng Xiaopings Zeiten habe kein anderer Führer die Volksbefreiungsarmee derart auf Vordermann gebracht wie der amtierende Militärchef Xi Jinping. Dieser habe sich vorgenommen, die Truppen bis zum 100. Geburtstag der Volksrepublik 2049 auf «Weltklasse-Niveau» zu bringen. Das heiße nichts anderes, so das britische Nachrichtenmagazin, als dann Amerika schlagen zu können.
Das klingt alarmierend, vorerst aber kann China den USA militärisch nicht das Wasser reichen. Trotz der massiven Aufrüstung erreichen die chinesischen Rüstungsausgaben noch nicht einmal die Nato-Vorgabe von zwei Prozent des BIP, auf die die Amerikaner in ihrem Verteidigungsbündnis so sehr pochen. Das mag ein schwacher Trost für andere asiatische Staaten sein, mit denen Peking im Ost- und Südchinesischen Meer um Territorien streitet. Zu denken ist hier an Japan, Vietnam oder Taiwan, das «zurückzuerobern» Peking sich ausdrücklich vorbehält. In diesen und anderen Konflikten verlässt sich die Volksrepublik zunehmend auch auf ihre Waffenpräsenz. Aber dass China Richtung Europa oder Amerika expansiv werden könnte, gilt so lange als ausgeschlossen, wie die Nato funktioniert, sich Peking nicht mit Moskau verbündet und die atomare Abschreckung greift. Militärisch ist die neue «Rote Gefahr» für uns also wohl keine Bedrohung. Jedenfalls vorerst.
Aber Peking rüstet eben nicht nur mit Waffen auf, sondern auch wirtschaftlich. In diesem Zusammenhang waren die Jahre 2019 bis 2021 eine denkwürdige Phase für die ostasiatische Macht. Die internationale Politik und die Weltpresse konzentrierten sich in dieser Zeit vor allem auf den Handelsstreit mit den Vereinigten Staaten und natürlich auf die Corona-Pandemie, die von China ausging. In geringerem Maße kamen auch die Proteste in Hongkong und die zunehmende Einverleibung der Kronkolonie zur Sprache, zudem die Lage der Uiguren in Xinjiang und vielleicht noch der Jahrestag des Massakers am Platz des Himmlischen Friedens 1989. Da Donald Trump bis zu seiner Abwahl im Januar 2021 Ost und West gleichermaßen vor sich hertrieb, die «Agenda setzte», wie man heute sagt, schien das Riesenreich in eine passive, ja reaktive Rolle gedrängt zu werden. Das galt umso mehr, als sich die Volksrepublik angesichts der Covid-19-Welle eine Zeitlang abschottete und einigelte.
Doch die Perspektive trügt. Aus chinesischer Sicht waren 2019 und 2021 positiv besetzte Jahre; und selbst das Corona-Jahr 2020 hätte schlimmer kommen können. Die Ostasiaten sehen viel Anlass für Genugtuung und für Stolz. Sie sind sich sicher, dass Peking trotz allen Gepolters aus Washington und trotz der zwischenzeitlichen Abkühlung seines Wirtschaftswachstums das Agenda-Setting in absehbarer Zeit selbst übernehmen wird.
Mit großem Selbstbewusstsein begingen die Chinesen in diesen Jahren gleich mehrere große Jubiläen. Vor hundert Jahren, 1921, wurde die Kommunistische Partei KPC gegründet. Seit 1949 ist sie ununterbrochen an der Macht. Damit hat China die 1922 gegründete und 1991 aufgelöste Sowjetunion als das am längsten autoritär regierte große Land im 20. Jahrhundert überholt. 2024 wird die KPC dann auch die KPdSU als die am längsten an der Macht befindliche kommunistische Partei hinter sich lassen. 2021 jährte sich zudem Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO zum zwanzigsten Mal, mithin die Integration in die globalisierte Wirtschaft, die den rasanten ökonomischen Aufstieg der Asiaten erst möglich gemacht hatte.
Ein weiterer Geburtstag wurde eher im Stillen begangen, jener des Startschusses für den wirtschaftlichen Aufschwung vor 40 Jahren. Auf der entscheidenden Sitzung des Zentralkomitees der KPC im Dezember 1978, dem so genannten Dritten Plenum, schwang sich Deng Xiaoping zum eigentlichen Herrscher der Volksrepublik auf, obwohl er niemals mehr als nur Stellvertreter des Ministerpräsidenten und des Parteivorsitzenden war. Von 1979 an setzte Deng als De-facto-Führer des Riesenreiches die wirtschaftliche Öffnungspolitik durch, die bis heute andauert. Er nahm Teile der verheerenden Kollektivierung in der Landwirtschaft zurück und erlaubte den Bauern, ihre Produkte selbständig zu vermarkten. Gleichzeitig ließ Deng in den Ostküstenprovinzen Guangdong (Kanton), Fujian und Hainan Sonderwirtschaftszonen errichten, die bis in die Gegenwart hinein das Rückgrat der chinesischen Industrie bilden.
Schon in den 1960er Jahren hatte Deng in deutlicher Gegnerschaft zu Mao darüber sinniert, dass individuelles Gewinnstreben und individueller Wohlstand kein Privileg des Kapitalismus seien, sondern sich in den Sozialismus einfügen ließen. Sein berühmtestes Zitat aus jener Zeit lautet: «Egal ob sie gelb oder schwarz ist, eine Katze, die Mäuse fängt, ist eine gute Katze.» Gegen Ende seines Leben, auf der bereits erwähnten Reise durch den Süden 1992, fasste Deng seine Wirtschaftsprogrammatik noch einmal zusammen: «Der Sozialismus kann erst dann seine Überlegenheit demonstrieren, wenn er alle zivilisatorischen Vorzüge der Menschheit integriert, einschließlich der kapitalistischen. Sozialismus heißt gemeinsam reich werden.»
Es ist imposant, was China seit Dengs Zeiten aus sich gemacht hat, wie sehr seine Einwohner «gemeinsam reich» geworden sind. Zu Beginn der Öffnungspolitik steuerte das Land wenig mehr als zwei Prozent zur weltweiten Wirtschaft bei. Bis Ende der 1990er Jahre verdreifachte sich dieser Anteil. 2006 überstieg er erstmals die Zehn-Prozent-Marke. Seitdem hat sich der Wert (kaufkraftbereinigt) abermals verdoppelt, wie der Weltwährungsfonds IWF ausgerechnet hat: China erwirtschaftet heute also rund ein Fünftel des Bruttoinlandsprodukts auf dem Planeten.
Hinter den nackten Zahlen stehen Millionen Menschen, denen es heute viel, viel besser geht als früher. Dass die Armut in der Welt stark zurückgegangen ist, haben wir vor allem der Volksrepublik zu verdanken. Seit Deng Xiaopings Herrschaft ist die Zahl der Chinesen, die mit weniger als 1,90 Dollar am Tag auskommen müssen (wiederum kaufkraftbereinigt), von 750 Millionen auf weniger als zehn Millionen Personen geschrumpft. Statt 66 Prozent der Bevölkerung sind heute weniger als ein Prozent mittellos. Der Rückgang betrifft mehr als doppelt so viele Menschen, wie in den USA leben.
Vergessen darf man dabei allerdings nicht, dass der Kommunismus zuvor einen großen Anteil an der bitteren Armut in China gehabt hatte. Die Kollektivierung der Landwirtschaft und Maos verfehlte Modernisierungspolitik im «Großen Sprung nach vorn» waren für Abermillionen von Hungertoten verantwortlich, die Kulturrevolution der Jahre danach stürzte das Land weiter ins Chaos. Als Mao 1976 starb, war der Lebensstandard geringer als bei seiner Machtübernahme 1949. Nicht der Krieg mit den Japanern, nicht der Bürgerkrieg mit den Kuomintang, nicht die früheren Kolonialherren hatten das Elend über das Land gebracht, sondern der Maoismus. Dieselbe Partei, die sich heute für die erfolgreiche Bekämpfung der Armut auf die Schultern klopft, hatte sie zuvor mitverursacht.
Gleichwohl ist der chinesische Aufstieg seit Maos Tod beachtlich. Wer sich die Zeit nimmt, in den Datenbanken der Weltbank zu stöbern, aus denen die Armutszahlen stammen, stößt auf viele Wohlstandsindikatoren, die kaum bekannt sind, aber die chinesische Erfolgsgeschichte der vergangenen 40 Jahre eindrucksvoll illustrieren.
1980, zu Beginn der wirtschaftlichen Öffnung, nutzten 2,6 Millionen Chinesen ein Flugzeug, heute sind es 551 Millionen im Jahr. Auch das Luftfrachtaufkommen ist um das Zweithundertfache gestiegen. Wie stark das Land technisch aufgerüstet hat, zeigt sich daran, dass heute auf 100 Einwohner 104 Verträge für Mobiltelefone kommen. Das ist mehr als im Weltdurchschnitt und viel mehr als im vergleichbar großen Indien mit nur 87 Verträgen. In China gibt es fast 400 Millionen Breitbandanschlüsse für 1,4 Milliarden Menschen, in Indien sind es kaum 18 Millionen für 1,35 Milliarden Einwohner. Jeder zweite Chinese nutzt das Internet, aber nur jeder dritte Inder. Dafür ist nicht zuletzt die Verstädterung verantwortlich. Vor vierzig Jahren lebten 80 Prozent der Chinesen auf dem Land, ein größerer Anteil als in Indien. Heute sind es in der Volksrepublik lediglich 42 Prozent, auf dem Subkontinent hingegen noch immer 66 Prozent.
Bei aller Anerkennung sollte man nicht übersehen, dass Urbanisierung, Industrialisierung und der Verkehrsausbau einen hohen Preis haben – gerade im Hinblick auf den Schutz von Klima, Ressourcen und Umwelt, der zum vordringlichen Thema unserer Zeit zu werden verspricht. Der chinesische Energieverbrauch je Kopf hat sich im genannten Zeitraum vervierfacht, der Kohlendioxidausstoß pro Person verfünffacht. Inzwischen sind die Emissionen je Einwohner ähnlich hoch wie in den Industrieländern und fünfmal höher als in Indien. 2012 fanden Gesundheitsforscher heraus, dass die Luftverschmutzung jedes Jahr etwa 1,2 Millionen Chinesen das Leben kostet, das sind fast 40 Prozent aller Umwelttoten auf der Welt. Nur Fehlernährung, Bluthochdruck und das Rauchen sind in der Volksrepublik noch gefährlicher als der Dreck in der Atemluft.
Des ungeachtet ist die Lebenserwartung während der Boomphase deutlich gestiegen. Chinesen, die in unserer Zeit zur Welt kommen, werden im Schnitt 76 Jahre alt, zehn Jahre älter als 1980 und acht Jahre älter als heutige Inder. Die Sterblichkeit von Neugeborenen und Kindern unter fünf Jahren ist in beiden Ländern enorm gesunken, aber in Indien ist sie weiterhin viermal so hoch wie im Reich der Mitte. Zu verdanken ist das in China der Ausbildung von Ärzten und Krankenschwestern und den steigenden Gesundheitsausgaben. Peking steckt je Einwohner siebenmal so viel Geld in die medizinische Versorgung wie Neu-Delhi.
Ähnliche Erfolgsmeldungen lassen sich für die Schul- und Universitätsausbildung finden. In der jüngsten Pisa-Studie, die im Dezember 2019 veröffentlicht wurde, nahmen Schüler aus Peking und Schanghai sowie aus den reichen Ostküstenprovinzen Zhejiang und Jiangsu weltweit Spitzenplätze ein, sowohl beim Lesen als auch in Mathematik und in den Naturwissenschaften. Vor zehn Jahren schrieben sich weniger als zehn Prozent eines Abiturjahrgangs als Studenten ein, inzwischen sind es 45 Prozent. Jedes Jahr gehen mehr als acht Millionen Absolventen von chinesischen Hochschulen ab, doppelt so viele wie in den Vereinigten Staaten. China setzt vehement auf eigene Forschung und Entwicklung (F&E) und braucht dafür Millionen Ingenieure und Entwickler. Zur Jahrtausendwende – der oberste Wirtschaftsreformer Deng Xiaoping verstarb 1997 – kamen auf eine Million Einwohner 540 F&E-Mitarbeiter, heute sind es mehr als 1200.
Statt 0,9 Prozent seiner Wirtschaftsleistung wie früher investiert China heute fast 2,2 Prozent in Forschung und Entwicklung, das ist mehr als im EU-Durchschnitt. Der Erfolg gibt den Asiaten recht: Jedes Jahr meldet das große Land 1,4 Millionen Patente an. Das sind 44 Prozent aller Anträge auf der Welt und etwa genauso viele, wie die nächstplatzierten vier Industrieregionen zusammen schaffen: die USA, Japan, Südkorea und Europa. Es stimmt, dass die Zahl der Anmeldungen noch nichts über die Qualität der Innovationen aussagt. Aber zum einen führen die Chinesen auch die Liste der tatsächlich erteilten Patente bei der Weltorganisation für geistiges Eigentum Wipo an; mit 420.000 Schutzrechten im Jahr liegen sie um ein Drittel vor den Amerikanern. Zum anderen hat sich die Volksrepublik im so genannten Patentzusammenarbeitsvertrag PCT 2020 zum ersten Mal vor die USA an die erste Stelle geschoben.
Im Rahmen dieser internationalen Patentanmeldung unterzieht die Wipo die Produkte einer vorläufigen Prüfung, damit sie in aller Welt geschützt sind und nicht in jedem Land einzeln angemeldet werden müssen. In zwanzig Jahren hat der Andrang aus China einen zweihundertfachen Anstieg erlebt: 1999 hatte Peking der Organisation kaum 270 internationale Anträge vorgelegt, heute sind es fast 60.000. An der Spitze der patentesten Unternehmen der Welt steht schon seit längerem ein chinesisches: der Telekommunikationsausrüster und Smartphone-Hersteller Huawei aus Shenzhen, der in Amerika und Westeuropa derzeit für so viel Aufregung sorgt. Von den zehn innovativsten Unternehmen der Welt stammen drei aus China, drei aus Japan, zwei aus Südkorea, eines aus den USA und eines aus Schweden. Das erste deutsche Unternehmen folgt erst auf Platz 13, der Autozulieferer Robert Bosch.
China gibt in der Innovationsförderung weiter kräftig Gas: Im neuen Fünfjahresplan wurde 2021 festgeschrieben, dass sich bis 2025 die Zahl der Patente je 10.000 Einwohner auf zwölf fast verdoppeln soll. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung will man jedes Jahr um mehr als sieben Prozent steigern, der Anteil der digitalen Wirtschaft am Bruttoinlandsprodukt soll von knapp acht auf zehn Prozent wachsen.
Die Chinesen werden also von Tag zu Tag stärker. Bedeutet das aber auch, dass sie zu uns kommen werden, wie dieses Buch nahelegt? Nun, sie sind längst da – sogar bei uns zu Hause. Das Smartphone, das uns morgens weckt, stammt mit hoher Wahrscheinlichkeit aus der Volksrepublik, mehr als 80 Prozent aller in der Welt verkauften Handys laufen dort vom Band. Die Asiaten haben auch unser Bett geschreinert und die Bezüge genäht. Die vermeintlich in Schweden gefertigte Nachttischlampe ist ebenfalls «Made in China», desgleichen die elektrische Zahnbürste. Der Gürtel und das T-Shirt stammen von dort, die Turnschuhe sowieso. Die Kinderzimmer sind voll mit fernöstlichem Spielzeug und in China gedruckten Büchern. Wer sucht, findet auch in der Küche und am Frühstückstisch Waren von dort, nicht nur Kühlschrank, Wasserkocher oder Kaffeemaschine, sondern auch Erdbeeren, Tee und Fruchtgetränke. Was kaum jemand weiß: Die Volksrepublik ist der größte Apfelsafthersteller der Welt. Die amerikanische Wirtschaftsjournalistin Sara Bongiorni hat ein ganzes Buch über ihren schwierigen – und amüsanten – Versuch geschrieben, mit ihrer Familie ein Jahr lang auf chinesische Produkte zu verzichten. Es war fast unmöglich, führte jedenfalls zu viel Verzicht.
China, wohin man blickt: Das meiste in Deutschland verkaufte Parkett ist von dort, die meisten Sonnenbrillen, drei Viertel aller Personal-Computer, jedes zweite Fernsehgerät. Seit 2015 ist das Reich der Mitte über alle Warengruppen hinweg betrachtet der wichtigste Lieferant für Deutschland. Zu Beginn der Öffnungspolitik Ende der 1970er Jahre lag es erst auf Rang 35 der Importländer. Doch schon 1990 schaffte es Position 14, in den frühen Zweitausendern stieg es dann in die Top Ten auf.
In dieser Zeit hat sich die Art der Güter stark verändert. Ursprünglich lieferte China vor allem Textilien, Kleidung und Schuhe, heute führen elektrische und elektronische Geräte die Liste an. Von den jährlich 110 Milliarden Euro Importwert entfallen mehr als ein Drittel auf Computer, Datenspeicher und Unterhaltungselektronik. Dahinter folgen Haushaltsgeräte, Batterien, Elektromotoren und Maschinen. Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden führt haarklein Buch über die enormen Handelsmengen. Jedes Jahr verschifft China 20 Millionen «Telefone für zellulare Netzwerke» zu uns und mehr als 15 Millionen «Tragbare Computer». Allein diese Laptops, Handys und Smartphones sind 14 Milliarden Euro wert. Angesichts der wachsenden Warenflut ist es nicht übertrieben zu sagen, dass wir in großen Teilen von der Einfuhr aus China abhängig sind. Und dass unser Wohlstand samt jahrelang geringer Inflation auch darauf beruht, dass die Asiaten noch immer viel preisgünstiger produzieren als wir selbst.
Nach den Waren kamen die Menschen aus Fernost nach Deutschland. Bis zu 37.000 Chinesen waren zwischenzeitlich an hiesigen Hochschulen eingeschrieben, mehr als aus jedem anderen Land der Welt. Das zweitplatzierte Indien, das fast genauso viele Einwohner zählt, bringt es nicht einmal auf die Hälfte. In normalen Jahren, außerhalb von «Corona», ist jeder zehnte ausländische Student in Deutschland ein Chinese. Ähnlich hoch ist der Anteil der Volksrepublik am Wissenschaftspersonal aus dem Ausland. Nur aus dem EU-Land Italien, für das volle Freizügigkeit der Studenten und Arbeitskräfte gilt, kommen mehr Hochschullehrer, Assistenten oder akademische Hilfskräfte in die Bundesrepublik. Dass Peking einen derart engen Austausch mit Wissenschaftseinrichtungen im Westen sucht, ist kein Zufall. Das Riesenreich braucht innovative und hochkompetente Akademiker, wenn es sich, wie beabsichtigt, zu einer Industrienation, zu einer Wissensgesellschaft nach dem Vorbild Amerikas oder Deutschlands entwickeln will.
Auch außerhalb der Unistädte treffen wir immer mehr Chinesen, seit sie 2012 die Deutschen als Reiseweltmeister abgelöst haben. Für die Besucher aus Fernost gilt die Bundesrepublik als das beliebteste Ziel in Europa. Nach Auskunft der Deutschen Zentrale für Tourismus hat sich die Zahl der jährlichen Übernachtungen in den zehn Jahren vor Corona auf drei Millionen mehr als verdreifacht. Aus keinem anderen nichteuropäischen Staat zog es mehr Touristen und Geschäftsreisende an Rhein, Ruhr, Mosel, Elbe oder Spree als aus der Volksrepublik und aus Hongkong. Bis 2030 könnten es den damaligen Berechnungen zufolge fünf Millionen Reisende werden. Natürlich hat die Pandemie diese Entwicklung stark gebremst, der Reisemarkt ist auch in der Bundesrepublik geradezu zusammengebrochen. Das ändert aber nichts an dem großen Interesse der Chinesen an Deutschland und an ihrem fortdauernden Willen, es irgendwann einmal zu besuchen. Deshalb stellt sich die Tourismusindustrie auf eine bald wieder anziehende Nachfrage aus dem Reich der Mitte ein.
Das hat natürlich mit der schieren Größe des Landes zu tun, mit den engen Wirtschaftsbeziehungen, mit Erleichterungen in der Ausstellung von Pässen und Visa in der pandemiefreien Zeit und damit, dass es in einer normalen Saison von China aus in kein anderes Land der EU mehr Direktflüge gibt als nach Deutschland. Vor allem aber liegt der Reiseboom am zunehmenden Wohlstand. Die Zahl der Chinesen, die sich Fernreisen leisten können, beträgt rund 100 Millionen Personen und wächst jedes Jahr zweistellig. Am neuen Flughafen in Berlin, einer der beliebtesten Städte, erfolgen die Durchsagen inzwischen auf Chinesisch, gleich nach den englischen Aufrufen.
Vielleicht haben die Asiaten nicht den besten Ruf, ähnlich wie russische oder arabische Gäste. Aber sie sind in der Reiseindustrie und im Einzelhandel gern gesehen, weil sie die Spendierhosen anhaben; «Shopping» ist eine ihrer liebsten Freizeitaktivitäten. Jeder Chinese gibt während seines Aufenthalts mehr als 500 Euro aus, fast 40 Prozent der in Deutschland getätigten zollfreien Einkäufe gingen vor der Pandemie auf das Konto von Chinesen.