Rebecca Clifford
»Ich gehörte nirgendwohin.«
Kinderleben nach dem Holocaust
Aus dem Englischen von Stephan Gebauer
Suhrkamp
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Die englische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Survivors. Childrenʼs Lives After the Holocaust bei Yale University Press (New Haven/London).
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2022
Erste Auflage 2022
© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2022
© 2020 Rebecca Clifford
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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg
Umschlagabbildung: nach Entwürfen von Alex Kirby/Yale. Umschlagfotos: © United States Holocaust Memorial Museum,Washington, D.C. (Abb. o.: mit freundlicher Genehmigung von Tosca Kempler, Abb. u.: mit freundlicher Genehmigung von Binem Wrzonski), und Yad Vashem Photo Archive, Jerusalem (Abb. Mitte)
eISBN 978-3-518-77223-2
www.suhrkamp.de
Für meine Mutter Julia,
geboren in Budapest im Jahr 1944,
und für meine Kinder Max und Addie,
geboren in Swansea in sichereren Zeiten
AIVG Aide aux Israélites Victimes de la Guerre
AJWS Australian Jewish Welfare Society
BEG Bundesentschädigungsgesetz (1956)
CBF Central British Fund for German Jewry
CJC(A) Canadian Jewish Congress (Archive)
DP Displaced Person
DSM Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders
FVA Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies,
Bibliothek der Universität Yale
IRO Internationale Flüchtlingsorganisation (International
Refugee Organization)
ITS Internationaler Suchdienst (International Tracing Service)
JDC American Jewish Joint Distribution Committee
ORT Organization for Rehabilitation and Training
OSE Œuvre de Secours aux Enfants
PTBS Posttraumatische Belastungsstörung
SHEK Schweizer Hilfswerk für Emigrantenkinder
UJRA United Jewish Relief Agency
UNRRA Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen (United Nations Relief and Rehabilitation Administration)
URO United Restitution Office
USCOM United States Committee for the Care of European Children
USHMM(A) United States Holocaust Memorial Museum (Archive)
VHA Visual History Archive
WLA Wiener Library Archive
Namen sind ein schmerzhaftes Thema für Menschen, die den Holocaust als Kinder überlebten. Als sie in Verstecke, Ghettos, Internierungs- oder Konzentrationslager gebracht wurden, verloren viele sehr junge Kinder ihre Geburtsnamen. Manche erhielten zu ihrem Schutz neue, nichtjüdische Namen und wurden jahrelang mit diesen angesprochen, bis ihre Geburtsnamen schließlich vollkommen aus ihrem Bewusstsein verschwanden. Manche wurden kurz nach Kriegsende adoptiert und erhielten die Familiennamen ihrer Adoptiveltern; unter Umständen erfuhren sie erst als Erwachsene, dass sie unter einem anderen Namen geboren worden waren. Kinder, denen bei Kriegsende kein Geburtsname zugeordnet werden konnte, hatten kaum Aussichten, jemals überlebende Eltern, Geschwister oder andere Verwandte wiederzusehen.
Die Menschen, deren Geschichten in diesem Buch untersucht werden, verstehen besser als die meisten von uns, dass unser Name ein wesentlicher Bestandteil unserer Identität ist und uns zu den Eigentümern unserer Lebensgeschichte macht. Im Lauf meiner Recherchen befragte ich Dutzende Überlebende und hörte mir zahlreiche Interviews an, die von anderen Wissenschaftlern geführt worden waren. Mit einer einzigen Ausnahme zogen es alle diese Überlebenden vor, kein Pseudonym zu verwenden, sondern ihre Geschichten unter ihrem eigenen Namen zu erzählen. Ich verstehe dieses Bedürfnis. Man kann sein Zuhause verlieren, man kann seine Eltern und andere Verwandte verlieren, man kann jahrelang kämpfen, um sich Klarheit über grundlegende Einzelheiten der eigenen Herkunft und Identität zu verschaffen – am Ende auch noch den eigenen Namen aus der Lebensgeschichte zu verlieren wäre ein Verlust zu viel.
In der Forschungsarbeit für dieses Buch habe ich Oral-History-Interviews mit Archivdokumenten kombiniert. Normalerweise begann ich mit den Archivrecherchen und verwendete die Namen, auf die ich in den Dokumenten stieß, um den überlebenden Kindern durch ihr späteres Erwachsenenleben zu folgen, wobei ich mich auf Interviews stützte, die sie im Rahmen von Oral-History-Projekten gegeben hatten, oder ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort herausfand, um sie selbst zu befragen. Aber viele Archive gewähren Zugang zu Material über einzelne überlebende Kinder nur dann, wenn dieses Material anschließend anonymisiert wird. Das konfrontierte mich mit einem moralischen Dilemma: Ich konnte diese Überlebenden befragen oder ihre früheren Interviews verwenden, aber ich würde ihre Namen verbergen müssen. Ich würde gezwungen sein, ihre Identität aus ihren Geschichten zu entfernen.
In Absprache mit den Archivaren fand ich für dieses Buch eine Kompromisslösung: Ich habe die tatsächlichen Vornamen und die Initialen der Familiennamen der Überlebenden verwendet. Das ist ein unvollkommener Kompromiss, aber er hat es mir ermöglicht, die Vorgaben der Archive zu erfüllen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass die Überlebenden, deren Geschichten ich hier erzähle, nicht dieses grundlegenden Bestandteils ihrer Identität beraubt werden. Um die erstaunliche Vielfalt der Namen einer ganzen Generation von jüdischen Kindern aus Europa zu bewahren (diese Namen trugen das Siegel sämtlicher Länder und Kulturen auf dem Kontinent), habe ich die in den Archivdokumenten aufgetauchten Namen der Überlebenden aus ihrer Kindheit verwendet, anstatt die später an den Sprachgebrauch in anderen Ländern und insbesondere ans Hebräische angepassten oder durch eine Eheschließung geänderten Namen heranzuziehen. Das bedeutet, dass einige der in dieser Studie behandelten Personen unter ihren Adoptivnamen auftauchen, weil dies die Namen waren, die in den frühen Aufzeichnungen verwendet wurden.
Nur in ganz wenigen Fällen habe ich auf Pseudonyme zurückgegriffen, nämlich dann, wenn ich ohne ein späteres Interview Archivaufzeichnungen verwendete (weil ich nicht in der Lage war, die betreffende Person ausfindig zu machen, oder weil sie verstorben war), wenn ein Archiv eine vollständige Anonymisierung verlangte oder wenn mich eine interviewte Person bat, ihren wirklichen Namen nicht zu verwenden. In allen anderen Fällen habe ich mich bemüht, diesen kostbaren Besitz nach Möglichkeit zu erhalten.
Im Sommer 1946 wurde die siebenjährige Litzi S., eine Überlebende des Konzentrationslagers Theresienstadt, von einem Mann angesprochen. Sie war nach ihrer Befreiung nach England gebracht worden und wohnte in einem Kinderheim mit anderen Holocaust-Überlebenden. Der Mann erklärte, er sei ihr Vater, und die Frau, die ihn begleitete, sei ihre Mutter. Dies schien damals durchaus plausibel: Weder die Kinder noch die Mitarbeiter des Heims wussten, was aus den Eltern der Heimbewohner geworden war. Organisationen wie der Internationale Suchdienst des Roten Kreuzes suchten in ganz Europa und darüber hinaus nach vermissten Menschen. Doch die Nachforschungen kamen nur schleppend voran, und jene, die auf Nachrichten von Familienmitgliedern hofften, mussten sich auf eine quälend lange Zeit der Ungewissheit einstellen. Ein Jahr nach Kriegsende lebten die Kinder in dem Heim, das sich in einem beschaulichen Dorf in der südenglischen Grafschaft Surrey befand, in einem Zustand der unablässigen Erwartung. Litzis Angehörige waren die Ersten, die leibhaftig auftauchten. Für das junge Mädchen und die anderen Kinder muss es ein wundersames Ereignis gewesen sein.
Litzi fuhr mit den beiden, die behaupteten, ihre Eltern zu sein, nach Hause und lebte von da an eine zumindest oberflächlich gesehen normale Kindheit. Ihr Leben vor der Wiedervereinigung mit ihrer Familie wurde Teil einer nur dunkel erinnerten Vergangenheit. Manchmal litt sie unter Erinnerungen, denen sie keinen Sinn abgewinnen konnte, Bildern von hölzernen Stockbetten und großen Räumen voller Kinder, doch ihre Eltern wichen ihren Fragen aus, und irgendwann stellte sie keine mehr. Im Alter von 18 Jahren schrie Litzi während eines Familienkrachs den Mann, der sie elf Jahre zuvor aus dem Heim abgeholt hatte, voller Wut an: »Ich wünschte, du wärst nicht mein Vater!« Worauf er antwortete: »Ich bin es nicht.« Tatsächlich war er der Bruder ihres Vaters. Wie viele andere, die nach dem Krieg überlebende Kinder in ihre Obhut genommen hatten, war er der Meinung gewesen, es sei besser, die Ermordung von Litzis Eltern hinter einer Lüge zu verbergen, anstatt den gefährlichen Weg der Wahrheit einzuschlagen.1
Zu dem Zeitpunkt, als Litzi von ihrem Onkel abgeholt wurde, bereitete dem Personal im Kinderheim ein weiterer Schützling Kopfzerbrechen. Die elfjährige Mina R.[1] , ebenfalls eine Überlebende aus Theresienstadt, legte ein befremdliches Verhalten an den Tag. Sie sprach gestelzt, und ihre Emotionen wirkten unnatürlich: Die Mitarbeiter machten sich Sorgen über das falsche Lächeln, das in ihrem Gesicht festgefroren war. Eines Tages eröffnete Mina den Betreuern unvermittelt, dass ihre Mutter vor ihren Augen mit einem Kopfschuss hingerichtet worden war. Die Heimleiterin, Alice Goldberger, war überzeugt, es sei von therapeutischem Nutzen für die Kinder, über ihre Erfahrungen während des Kriegs zu sprechen. Sie ermutigte das Mädchen, sich zu öffnen und sich so der schmerzhaften Last ihrer Erinnerungen zu entledigen. Goldberger konnte sich entsinnen, dass Minas Verhalten sich nach dieser schockierenden Enthüllung verbessert hatte; das Sprechen schien tatsächlich eine therapeutische Wirkung zu haben. Umso verblüffter waren die Mitarbeiter des Kinderheims, als sechs Jahre später die Mutter des Mädchens auftauchte: Die Hinrichtung durch Kopfschuss hatte nie stattgefunden.2
Die Geschichten von Litzi und Mina zeigen, wie sonderbar die Welt war, in der sich die jungen Holocaust-Überlebenden nach dem Krieg wiederfanden. Scheinbare Wahrheiten konnten hier von einem Augenblick auf den anderen auf schockierende Art auf den Kopf gestellt werden. Manchmal kam heraus, dass Eltern, die scheinbar überlebt hatten, in Wahrheit seit Langem tot waren, wie Litzi zu ihrem Entsetzen erfuhr, als ihr »Vater« ihr schließlich gestand, dass er ihr Onkel war. Seltener waren die Fälle, in denen Eltern, die als tot galten, wie Minas Mutter, plötzlich wieder auftauchten. Oftmals waren die Tatsachen unbekannt, aber genauso oft wurden sie vor den Kindern verborgen. Manche Erwachsene gingen auf die beklemmenden Erinnerungen und Fragen von Kindern ein, aber sehr viel häufiger geschah es, dass die neugierigen Fragen nach ihrer Vergangenheit beiseitegeschoben wurden.
Damals betrachtete niemand diese Kinder als »Holocaust-Überlebende«. Sie wurden als »unbegleitete Kinder«, »jüdische Kriegswaisen«, »kriegsgeschädigte Kinder« oder Ähnliches bezeichnet. Häufiger wurde ihnen einfach gesagt, sie seien die Glücklichen, die am Leben waren, während andere gestorben waren: Sie sollten sich glücklich schätzen, leben zu dürfen, jung und widerstandsfähig genug zu sein, um die unerträglichen Erinnerungen abzuschütteln. Sie sollten froh sein, dass andere versuchten, ihre Leben wieder zusammenzusetzen, anstatt dass sie selbst derartige Anstrengungen unternehmen mussten (denn diejenigen, die diese Aufgabe hatten, mussten die oft demoralisierende, mühevolle Arbeit leisten, zerstörte Familien und Gemeinden physisch, wirtschaftlich und psychologisch wiederaufzubauen). Diese Aufforderung war befrachtet: Indem man einem Kind sagte, es müsse sich glücklich schätzen, am Leben zu sein, es solle die Vergangenheit hinter sich lassen und sich auf die Zukunft konzentrieren, unterdrückte man seinen Impuls, seiner eigenen Geschichte einen Sinn abgewinnen zu wollen. Mit dem Älterwerden begannen viele der jungen Überlebenden, sich gegen diese Art lähmender Beruhigungsversuche aufzulehnen. Sie stellten ihren biologischen Eltern, Pflegeeltern, Verwandten und Erziehern bohrende Fragen zu ihren frühen Lebensjahren: »Wie ist mein wirklicher Name?« – »Woher komme ich wirklich?« – »Warum erzählt ihr mir nicht von meiner Mutter?« – »Warum habt ihr keine Babyfotos von mir?« Solche Fragen hatten das Potenzial, ganze Familien zu einer unangenehmen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu zwingen.
In diesem Buch beleuchte ich die Leben der jüngsten Holocaust-Überlebenden in den Nachkriegsjahren. Diese Gruppe wurde von der Forschung lange Zeit vernachlässigt.3 Ich konzentriere mich auf die zwischen 1935 und 1944 Geborenen, die zum Zeitpunkt der Befreiung im Jahr 1945 höchstens zehn Jahre alt waren. Diese sehr jungen Kinder hatten von allen Altersgruppen die geringste Chance, den Holocaust zu überleben (abgesehen von sehr alten Menschen). Aber das ist nicht der Grund – oder zumindest nicht der einzige Grund – dafür, dass ihre Geschichten so besonders sind. Die Erfahrungen dieser Kinder geben Aufschluss über eine Frage, die bedeutsame Implikationen hat: Wie können wir unserem Leben einen Sinn abgewinnen, wenn wir nicht wissen, woher wir kommen? Da die Erinnerungen dieser Kinder an ihr Leben vor dem Kriegsende unscharf waren, sofern sie überhaupt welche hatten, und da es oft keinen Erwachsenen gab, der willens oder imstande war, sie über wichtige Einzelheiten ihrer ersten Lebensjahre aufzuklären, mussten viele dieser jungen Überlebenden einen jahrzehntelangen Kampf austragen, um die Geschichte ihrer Herkunft zusammenzusetzen: ein im Grunde simpler, aber unverzichtbarer Akt, wenn es darum geht, die eigene Geschichte herzustellen. Er bildet das Fundament von Identität. Wenn wir die Geschichte unserer Familie, unseres Heimatorts, unserer prägenden Erfahrungen nicht erzählen können – wie können wir dann unserer Kindheit und ihrer Wirkung auf unsere Persönlichkeit einen Sinn geben? Welche Arbeit müssen wir leisten, um zu erklären, wer wir sind? Die meisten von uns betrachten es als selbstverständlich, in der eigenen Kindheit nach Erklärungen zu suchen. Wir halten uns selten vor Augen, dass dies ein Privileg ist. In diesem Buch werde ich der Frage nachgehen, was es bedeutet, ohne dieses Privileg aufzuwachsen und durch die persönlichen Umstände gezwungen zu sein, sich die Geschichte der eigenen Vergangenheit aus Splittern zusammenzusetzen. Es ist ein Buch über den Holocaust, aber auf einer noch fundamentaleren Ebene ist es ein Buch über das Leben nach und mit einer Kindheit im Chaos.
Auch ist es ein Buch über das Erinnern, insbesondere über frühe Erinnerungen und ihre Rolle im späteren Leben. Die meisten Menschen erzählen bereitwillig von ihrer frühesten Erinnerung, wenn man sie danach fragt. In meiner lege ich Wäsche zusammen. Ich vermute, dass ich etwa drei Jahre alt war, als das geschah, denn ich entsinne mich noch, wie klein ich war im Vergleich zu den Möbeln im Raum. In dieser Episode befinde ich mich im Wohnzimmer unseres Hauses in Kingston in der kanadischen Provinz Ontario; wir nannten es das »Fernsehzimmer«. Ich stehe vor einem Wäschekorb aus Plastik, der sich auf einer Holztruhe befindet, die mein Vater gebaut hat. In dem Korb liegt ein pfirsichfarbener Pullover, und ich strecke den Arm aus, um ihn herauszuziehen, denn ich habe ihn als meinen erkannt: Er ist ein Geschenk meiner Großmutter väterlicherseits gewesen. Die Wäsche ist warm, weil sie gerade aus dem Trockner gekommen ist, und eine angenehme Welle der Wärme geht durch meine Hand, als ich den Pullover greife. Als ich ihn berühre, passiert etwas Verblüffendes: Blitzende Funken fliegen durch die Luft. Der frisch getrocknete Pulli ist mit statischer Elektrizität aufgeladen, und die trockene kanadische Winterluft lässt ihn knistern und singen, als die Funkenblüten an meinen Fingerspitzen explodieren. Dieses Erlebnis ist in mein Gedächtnis eingebrannt, so meine Vermutung, weil es überraschend und zugleich ergreifend schön war.
Aber wie kommt es, dass ich diese Erinnerung verstehen kann? Woher weiß ich, dass mein Vater die Truhe gebaut und dass ich den Pullover von meiner Großmutter bekommen hatte? Der Grund ist, dass diese Erinnerung so wie alle anderen ein soziales Konstrukt ist und dass mir die Erwachsenen in meiner Umgebung halfen, meiner Erfahrung einen Sinn zu verleihen. Sie erklärten mir, wer die Truhe gebaut hatte, wer den Pullover gestrickt hatte und warum im Winter Funken durch die trockene Luft fliegen. Das gilt nicht nur für die eine Episode, sondern für alle meine frühen Erinnerungen – und auch für alle Ihre Erinnerungen. Die meisten von uns können die Geschichte ihres Lebens erzählen, vom Anfang bis zur Gegenwart, weil andere uns geholfen haben, diese Geschichte zusammenzusetzen. Unsere Eltern, Verwandten und Gemeinden, das Kollektiv, in dem wir leben – unser soziales Umfeld –, stellen die Details bereit, an die wir uns nicht erinnern oder die wir nicht erklären können, und helfen uns, Erinnerungen, die wir vor unserem inneren Auge haben, unter Umständen jedoch nicht richtig interpretieren können, in einen sinnvollen Kontext einzuordnen.
Die Geschichten von Kindern, die den Holocaust überlebten, sind teilweise deshalb faszinierend, weil ihre soziale Welt in Stücke geschlagen wurde: Die Eltern, Verwandten und Gemeinden, die normalerweise diese unverzichtbare Rolle bei der Rekonstruktion ihrer Lebensgeschichte gespielt hätten, waren fort. In ihrer Abwesenheit blieben jene Kinder mit Erinnerungen zurück, die sie nicht interpretieren konnten, und in den Geschichten ihrer ersten Lebensjahre klafften große Lücken. Während sie heranwuchsen, mussten sie die Bruchstücke selbst zusammensetzen, Dokumente, Fotos und in der Diaspora verstreute noch lebende Verwandte aufspüren, um eine Antwort auf die grundlegendste aller Fragen zu finden: Wer bin ich?
In diesem Buch folge ich einer Gruppe von sehr jungen Überlebenden des Holocaust aus den Ruinen, die der Krieg hinterlassen hatte, durch ihre Kindheit und Jugend auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben, in Ehen und eigene Erfahrungen der Elternschaft und schließlich ins Alter. Dabei zeichne ich nach, wie sich ihre Beziehung zu ihrer Vergangenheit über einen Zeitraum von siebzig Jahren wandelte. Ich sehe mir an, wie sie mit Erwachsenen interagierten, mit überlebenden Eltern und Verwandten, Pflege- und Adoptiveltern, Mitarbeitern von Hilfsorganisationen, Psychotherapeuten und anderen Personen, die versuchten, die Parameter ihres Lebens zu formen, die sie beobachteten, betreuten und förderten – und sie zeitweise vernachlässigten, belogen und im Stich ließen. Ich untersuche die kurz- und langfristigen Auswirkungen ihrer Kindheitserfahrungen auf ihre Identität und hinterfrage einige Grundannahmen über Kinder als Subjekte, über die Natur von Traumata und über die Beziehung zwischen Ich und Erinnerung.
***
Wer waren die Menschen, die als Kinder den Holocaust überlebten? Bei der Beschäftigung mit ihren Leben müssen wir akzeptieren, dass es vieles gibt, was wir nie über sie in Erfahrung bringen werden. Zunächst einmal werden wir nie genau wissen, wie viele Kinder aus jüdischen Familien den Krieg überlebten. Das American Jewish Joint Distribution Committee (JDC) gelangte nach einer ersten Schätzung wenige Jahre nach Kriegsende zu dem Ergebnis, dass von den 1,5 Millionen jüdischen Kindern, die es vor dem Krieg in Europa gegeben hatte, etwa 150 000 überlebt hatten.4 Die meisten Historiker stützen sich noch heute auf diese Zahl, aber die Schätzung war problematisch und musste einer komplexen Realität gerecht werden.5 Die Zahl wirft eine Reihe von Fragen auf, die weitreichende Implikationen für die Forschung zu Kindern in und nach bewaffneten Konflikten haben. Welche Kinder wurden von Hilfsorganisationen wie dem JDC erfasst? Welche Kinder wurden als jüdisch eingestuft? Welche Kinder zählten als Überlebende des Holocaust? Und wer zählte überhaupt als Kind?
Das JDC stützte sich bei seinen Schätzungen auf die Zahl der Kinder, die nach Kriegsende von Hilfsorganisationen betreut wurden. Es war jedoch schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, jene Kinder zu erfassen, die keinerlei behördliche Unterstützung erhielten, weil sie von überlebenden Eltern, Verwandten oder Gastfamilien betreut wurden und unter dem Radar der Behörden blieben, obwohl ihre Zahl in die Zehntausende ging.6 Man muss die Frage aufwerfen, inwieweit diese Nachkriegszahlen die nationalsozialistische Definition des Judentums widerspiegeln: Beispielsweise ist nicht klar, ob die Zahlen jene Kinder beinhalteten, die einen nichtjüdischen Elternteil hatten (und besonders schwer auffindbar sein konnten, wenn sie kaum Kontakt zu jüdischen Organisationen und Gemeinden hatten). Man muss auch fragen, welche Kinder von den Hilfsorganisationen – und später von den Historikern – als »Überlebende« betrachtet wurden. Als ab 1946 eine große Zahl von Juden, die den Krieg in der Sowjetunion überlebt hatten, in die für »Displaced Persons« (DPs) errichteten Flüchtlingslager in Deutschland, Österreich und Italien strömten, stellte das JDC fest, dass es in seiner ursprünglichen Schätzung 30 000 jüdische Kinder nicht berücksichtigt hatte, die den Krieg auf sowjetischem Territorium überlebt hatten. Doch die korrigierte Zahl von 180 000 überlebenden Kindern wurde von Historikern nie aufgegriffen – was selbstverständlich ein Hinweis darauf ist, dass sie diese Kinder lange Zeit nicht als »Überlebende« betrachtet haben.7 Schließlich muss man fragen, welche Personen in diesem Kontext der Kategorie »Kind« zugeordnet wurden. Das JDC, die Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen (UNRRA) und andere Hilfsorganisationen waren sich nicht immer einig darüber, bis zu welchem Alter ein Mensch als Kind zu betrachten war, aber die meisten zogen die Altersgrenze bei 17 oder 18 Jahren. So verdecken diese Nachkriegsschätzungen die Tatsache, dass die Mehrheit der überlebenden Kinder (so wie auch die meisten Flüchtlingskinder in der Gegenwart) Jugendliche waren, und die Unklarheit wird dadurch erhöht, dass die Hilfsorganisationen für Spendensammlungen Fotos von Babys und Kleinkindern verwendeten.8 Aus all diesen Gründen sollten wir uns der Tatsache bewusst sein, dass die Nachkriegsstatistiken über Kinder, die den Holocaust überlebten, kaschieren, dass sie eine Reihe wichtiger Fragen bezüglich der Grenzen der Kindheit und der Natur des »Überlebens« unbeantwortet ließen. Wir müssen uns damit abfinden, dass es vieles gibt, was wir über diese überlebenden Kinder als demografische Gruppe nie erfahren werden.
Sieht man von den Zahlen ab, so ist jedoch klar, dass die jüngsten Überlebenden die Überreste einer ganzen Generation europäischer Juden waren, was sie in den ersten Nachkriegsjahren zum Gegenstand beträchtlichen Interesses und großer Sorge seitens der Erwachsenen machte. Daher ist es sonderbar, dass sie als Gruppe bis vor Kurzem kaum Aufmerksamkeit von Historikern erhalten haben. Kinder und ihre Erfahrungen haben in der historischen Forschung oft nur eine marginale Rolle gespielt, und in vieler Hinsicht tun sie das immer noch. Wenn Historiker sich mit Kindern befasst haben, konzentrierten sie sich eher auf Konstrukte der Kindheit statt auf die Kinder selbst: Sie untersuchten, welche Vorstellungen Erwachsene in der Vergangenheit von der Kindheit hatten, anstatt zu erforschen, was Kinder über ihr Leben und die Welt dachten oder ob sie möglicherweise wertvolle Zeugen für das Verhalten Erwachsener sein konnten. Das gilt insbesondere für die Erforschung der Geschichte von Kriegen und Konflikten. Obwohl Kinder in den Kriegen des 20. Jahrhunderts in einem nie dagewesenen Ausmaß zum Ziel von Gewalt wurden, scheint Krieg das Erwachsenenthema par excellence zu sein. Wir versuchen, Kinder in unser Verständnis bewaffneter Konflikte einzuordnen, und neigen dazu, sie fast ausschließlich als Teil der vielköpfigen Gruppe der Opfer zu betrachten. Es fällt uns schwer, mehr als nur Opfer in ihnen zu sehen. Aber Kinder, sogar sehr kleine Kinder, waren in der Geschichte des Kriegs eigenständige Akteure und handelnde Subjekte. Jene jüdischen Kinder, die im Zweiten Weltkrieg in das Netz der genozidalen Politik des NS-Regimes gerieten, waren extrem verwundbar, aber wenn wir sie ausschließlich als Opfer betrachten, entgeht uns die Tatsache, dass sie auch kreative Flüchtige, Unterhändler, Manipulatoren und sogar Täter bei Racheakten sein konnten. Als sie nach dem Krieg zum Gegenstand einer groß angelegten humanitären Kampagne zur Versorgung und Repatriierung der »unbegleiteten Kinder« Europas wurden, konnten sie einiges tun, um die wohlmeinenden Pläne der Erwachsenen für ihre Zukunft zu vereiteln, zu torpedieren oder sich ihnen zu verweigern. Und sie taten es. Sie fanden ihren eigenen Weg durch die Nachwehen von Krieg und Konflikt, und wir werden Kindern bei Weitem nicht gerecht, wenn wir sie einfach als Opfer betrachten.
Möglicherweise ist es für Historiker leichter gewesen, das Verhalten der Erwachsenen zu studieren, die überlebenden Kindern nach Kriegsende halfen, als sich mit den Kindern selbst zu beschäftigen. Die Sorgen und Vorstellungen dieser Erwachsenen sind in jüngerer Zeit zum Gegenstand einer Welle historischer Studien geworden, darunter Bücher wie Tara Zahras Lost Children und Daniella Dorons Jewish Youth and Identity in Postwar France. Die Angst der Erwachsenen um und ihre Hoffnungen für die Kinder sind faszinierende historische Themen, aber wir müssen der Versuchung widerstehen zu glauben, diese eröffneten uns einen Blick auf die Kinder selbst in ihrer Rolle als menschliche Wesen mit eigenen Interessen. Da wir alle irgendwann einmal Kinder gewesen sind, wissen wir, dass die Wünsche von mit Autorität ausgestatteten Erwachsenen und die Wünsche von Kindern mit sehr wenig Autorität gelegentlich vollkommen unvereinbar sein können. In diesem Buch gehe ich von der Annahme aus, dass Kinder nicht einfach Objekte der Machtanwendung sind. Erwachsene mögen sie oft als solche betrachten, und doch sind sie Subjekte. Eine Untersuchung von Kindern im Netz ihrer Beziehungen zu Angehörigen oder anderen Fürsorgepersonen, zu Behörden und Institutionen und zwischen diesen Institutionen und der Zivilgesellschaft zeigt, dass wir neue Wege einschlagen müssen, um die Geschichte der Kinder in unser allgemeines Verständnis der Vergangenheit einzuordnen.9
Wie konnten sich die Kinder als eigenständige Subjekte behaupten? Allein dadurch, dass sie Fragen nach ihrer Vergangenheit stellten und die Erwachsenen damit nicht in Ruhe ließen, wobei es die Kinder hier oft äußerst schwer hatten. Erwachsene Fürsorgepersonen, seien es überlebende Familienmitglieder oder Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, besaßen in der langen Zeit der Ungewissheit während der frühen Nachkriegsjahre häufig selbst nicht viele Informationen. Wie die Geschichten von Litzi und Mina zeigen, war in dieser Zeit selten klar, wer noch am Leben war und wer nicht. Dazu kam, dass sich viele Erwachsene dagegen sträubten, eine junge Seele mit dem Wissen zu belasten, das vorhanden war. Die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen waren geteilter Meinung in der Frage, ob es Kindern half oder schadete, über ihre Kriegserfahrungen zu sprechen, aber selbst dann, wenn betreuende Personen ein Kind zum Reden ermutigten, taten sie dies mit dem erklärten Ziel, das Kind möge die erlittenen Verluste überwinden und die Vergangenheit hinter sich lassen. Dabei half den Erwachsenen die Annahme, die Psyche von Kindern sei formbar und widerstandskräftig. Ein französischer Journalist sagte im August 1945 über Kinder, die das KZ Bergen-Belsen überlebt hatten, das Gedächtnis sei »in diesem Alter glücklicherweise kurz und der Lebenswille stark. Haben sie einfach das Gefühl, einen unbestimmten Albtraum durchlebt zu haben, der in ihrer Erinnerung bereits verblasst?«10 Das Beharren der Erwachsenen auf der Fähigkeit von Kindern, traumatische Erfahrungen rasch zu vergessen (und die Annahme, dies sei in ihrem eigenen Interesse), ließ die neugierigen Fragen vieler Kinder zur unmittelbaren Vergangenheit verstummen. Natürlich gab es auch Umgebungen, in denen offen über die Geschehnisse während des Kriegs gesprochen wurde, aber es geschah nur äußerst selten, dass dabei den Erfahrungen eines Kindes dieselbe moralische Autorität zugestanden wurde wie denen eines Erwachsenen.
Die Annahme, die Kinder könnten und würden die Vergangenheit vergessen und sich der Zukunft zuwenden, sie hätten »Glück« gehabt und das werde ihre Erinnerung zum Schweigen bringen, wurde nur sehr langsam überwunden. Es waren schließlich die jungen Überlebenden selbst, die sie in Frage stellen sollten, doch es dauerte Jahrzehnte, bis sie mit ihrer Kritik durchdrangen. Die Geschichte von Felice Z. veranschaulicht diesen Prozess. Erst im Jahr 1983 begann Felice herauszufinden, wer sie war. Ein Jahr zuvor hatte sie im Alter von 42 Jahren endlich die Bestätigung erhalten, dass ihre Eltern in Auschwitz getötet worden waren. Die Familie – die Eltern David und Lydia, ihre ältere Schwester Beate, die zu jenem Zeitpunkt drei Jahre alt war, und die einjährige Felice – war aus der kleinen Ortschaft Walldürn im Odenwald in das südfranzösische Internierungslager Gurs deportiert worden. Die beiden kleinen Mädchen waren vom Roten Kreuz aus dem Lager gerettet und bis zur Befreiung Frankreichs von katholischen Familien versteckt worden. Die Eltern wurden deportiert und ermordet.11 Seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr hatte Felice versucht, Näheres über ihre ersten Jahre und das Leben und den Tod ihrer Eltern in Erfahrung zu bringen, aber die Geschichte war immer noch sehr lückenhaft. Schließlich brachte sie den Mut auf, im April 1983 am ersten American Gathering of Jewish Holocaust Survivors in Washington, D. C., teilzunehmen, dem größten Treffen von Holocaust-Überlebenden, das jemals stattfand. In der Hoffnung, dort Menschen mit ähnlichen Geschichten kennenzulernen, aber unsicher, wie ihre eigene in den größeren Kontext des »Holocaust-Überlebens« passte, hielt Felice der Kritik älterer Überlebender stand, die zu ihr sagten: »Sie waren ein Kind, was wissen Sie schon? Sie können sich ja gar nicht daran erinnern.« In einem kurzen Interview, das ein Freiwilliger am Rand der Versammlung aufnahm, machte Felice ihrer Frustration Luft:
Die Leute verstehen es nicht, und es fällt mir sehr schwer, darüber zu sprechen. Ich gehöre nicht dazu, ich war in keinem Lager, dieses Leid habe ich nicht erlitten. Ich habe nichts vorzuweisen. […] Ich hatte das Gefühl, keine Überlebende zu sein, aber dann dachte ich: Auf meine Art bin ich sehr wohl eine Überlebende. Meine Eltern sind tot, meine ganze Familie ist tot, abgesehen von meiner Schwester und mir ist niemand mehr da.12
Etwa zur selben Zeit auf der anderen Seite des Atlantiks machte Denny M. eine ähnlich entmutigende Erfahrung. Er versuchte, sich einigen der frühen Selbsthilfegruppen für Holocaust-Überlebende in Großbritannien anzuschließen, stieß bei den älteren Teilnehmenden jedoch auf Skepsis und teilweise sogar auf Feindseligkeit. Im November 1940 geboren, war Denny als Kleinkind nach Theresienstadt gebracht worden. Er konnte sich nicht an seinen Vater und seine Mutter erinnern, die beide ermordet worden waren. Er war noch keine fünf Jahre alt gewesen, als er nach Kriegsende in Großbritannien eingetroffen war. Es war ihm bewusst, dass sich seine Erlebnisse in Theresienstadt von denen eines Menschen unterschieden, der als Erwachsener in Auschwitz oder Buchenwald gewesen war, aber er war schockiert über die Geringschätzung, mit der ihm die älteren Überlebenden in den Selbsthilfegruppen begegneten: Einige suggerierten, er habe die Kriegsjahre im Grunde »in einer Art von Butlin's-Ferienlager« verbracht (Butlin's ist eine britische Firma, die Ferienparks für Erwachsene und Familien führt; Anmerkung des Übersetzers). Denny, Felice und zahlreiche andere, die den Holocaust als Kinder überlebt hatten, sahen sich immer wieder damit konfrontiert: Ältere Zeitzeugen, darunter viele ältere Holocaust-Überlebende, waren nicht der Ansicht, dass die Erfahrungen von Kindern als Überleben »zählten«.13
Die Geschichten von Felice und Denny liefern weitere Hinweise auf eine mögliche Erklärung dafür, warum die Geschichte der jüngsten Holocaust-Überlebenden so lange eine marginale Rolle spielte. Ihre unangenehmen Begegnungen mit älteren Überlebenden und ihr Gefühl, nicht dazuzugehören, deuten auf eine ausgrenzende Praxis des Erinnerns rund um den Begriff der »Überlebenden« an sich hin. Wir haben mittlerweile eine inklusivere Vorstellung davon, was es bedeutet, den Holocaust überlebt zu haben, und wer sich als Überlebender bezeichnen darf, aber früher waren die anerkannten Definitionen sehr viel enger. Noch Jahrzehnte nach dem Krieg verstand die Öffentlichkeit unter einem »Überlebenden« in erster Linie eine Person, die ein Konzentrationslager überlebt hatte. Die Mehrheit der überlebenden Kinder (sowie zahlreiche erwachsene Überlebende) gehörte dieser Kategorie nicht an. Die Figur des KZ-Überlebenden hatte eine kulturelle Bedeutung, die nicht nur von der Öffentlichkeit anerkannt, sondern auch von den KZ-Überlebenden selbst gepflegt wurde, die nicht gern sahen, dass jene, die in ihren Augen weniger gelitten hatten, diese so wirkmächtige Vorstellung vom Überleben verwässerten.
Jene, die den Holocaust als Kinder überlebt hatten, mussten sich nicht nur gegen die Kritik von außen verteidigen, sondern auch gegen eine innere Stimme, die ihnen einflüsterte, sie seien eigentlich keine Überlebenden, sondern lediglich Kinder, die Glück gehabt hätten, und ihre Kriegserfahrungen seien weniger authentisch als die der älteren Generation. Nicole D., die im Jahr 1991 das erste internationale Treffen von Personen organisierte, die den Holocaust als Kinder in einem Versteck überlebt hatten, hat beobachtet, dass man »nicht an der Hierarchie des Leidens rütteln konnte«.14 Erst in jüngster Vergangenheit haben Menschen, die den Holocaust als Kinder überlebten, einige der Rollen übernommen, die vor nicht allzu langer Zeit noch die alleinige Domäne der älteren Überlebenden waren. Sie besuchen Schulen. Sie arbeiten als Freiwillige in Museen und Ausstellungen über die Shoah. Sie halten am Holocaust Memorial Day Vorträge. 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben sie endlich Anerkennung als Überlebende gefunden, und der Grund für den Wandel liegt auf der Hand: Sie sind die einzigen, die noch am Leben sind.
***
15
Um diese Geschichten zu erzählen, stütze ich mich auf eine bemerkenswerte Sammlung von Archivmaterial, darunter Akten aus Fürsorgeeinrichtungen, Aufzeichnungen aus Kinderheimen, Dokumente im Zusammenhang mit Entschädigungsforderungen, psychiatrische Gutachten, Briefe, Fotos und unveröffentlichte Memoiren. Die Materialien stammen aus fast einem Dutzend verschiedener Länder – eine Papierspur der überlebenden Kinder, die uns rund um den Erdball führt. Doch bei allem Reichtum an Dokumenten sind die Stimmen dieser Kinder in den Archiven kaum zu vernehmen. Fast die gesamte Dokumentation über diese Kinder aus den Nachkriegsjahren wurde von Erwachsenen zusammengestellt, und es ist schwierig herauszufinden, was die Kinder selbst in der Vergangenheit dachten und fühlten. Bei meinen Recherchen stieß ich gelegentlich auf Briefe, kurze Aufsätze und Gedichte, die junge Überlebende nach dem Krieg verfasst hatten, und hier und da gab es einige wenige Sammlungen von Zeichnungen. Doch meist bewahren Archive nur jene Dokumente auf, die als wertvoll gelten, und den Arbeiten von Kindern wird selten ein solcher Wert beigemessen. Selbst dort, wo kleine Kinder Dokumente hinterlassen haben, ist fraglich, inwieweit diese wirklich Aufschluss über ihre eigenen Gefühle und Ansichten geben. Oft wird Kindern gesagt, was sie schreiben und zeichnen sollen. Auch wählen sie häufig ihren Gegenstand bewusst so aus, dass er den Erwachsenen um sie herum gefallen wird. Daher ist es äußerst schwierig, den seltenen Briefen und Zeichnungen, die in den Archiven zu finden sind, Bedeutung abzuringen – doch es ist reizvoll, es zu versuchen.16
Selbst die besten Archivquellen genügen nicht, um den Werdegang eines Kindes in und durch das Erwachsenenleben zu verfolgen und sich ein Bild von den langfristigen Auswirkungen einer gebrochenen Kindheit zu machen. Daher habe ich für dieses Buch Interviews herangezogen, die mit den überlebenden Kindern im Erwachsenenalter geführt wurden. Diese Befragungen stammen aus einem Zeitraum, der sich von den späten siebziger Jahren (als eine Reihe bahnbrechender Oral-History-Projekte mit dem Schwerpunkt Holocaust begann) bis in die Gegenwart erstreckt. Diese Interviews zeugen von Erfahrungen, die ich mit Archivquellen allein nicht hätte entdecken können. Die Geschichte von Litzi S. ist ein interessantes Beispiel dafür: In Akten aus ihrem Kinderheim ist vermerkt, dass Litzi das Heim »verlassen hat und jetzt bei ihrem Onkel und ihrer Tante in London lebt«.17 Ohne den mündlichen Bericht, den sie später abgab, hätte ich nie erfahren, dass Litzi ab diesem Punkt ein Jahrzehnt in dem Glauben verbrachte, ihr Onkel und ihre Tante seien eigentlich ihre Eltern, und zweifellos wäre es mir unmöglich gewesen, nach den Auswirkungen einer solchen Erfahrung zu fragen.
Die Oral History liefert uns natürlich die Perspektive, aus der die erwachsene Person ihre Kindheitserlebnisse betrachtet: Sie sieht ihre Vergangenheit von einem Punkt am Ende eines langen Prozesses der Reflexion und Neubewertung. Die mündlich erfragte Geschichte verrät uns wenig darüber, was ein Mensch als Kind dachte oder fühlte. Sie gibt uns vor allem Aufschluss über die Auswirkungen und Konsequenzen von Kindheitserlebnissen und darüber, wie jemand diesen Erfahrungen einen Sinn verliehen und seine Vergangenheit zu einem Bestandteil seiner gegenwärtigen Identität gemacht hat. Psychologen haben festgestellt, dass die Interessen und Ziele von Kindern selten denen der Erwachsenen entsprechen, die sie später einmal sein werden. Wenn wir uns an unser kindliches Wesen erinnern, rahmen wir unser Narrativ mit unserem erwachsenen Verständnis dessen, was wichtig und relevant ist, und verändern dadurch die Geschichte.18 Die Interviews mit den ehemals jungen Überlebenden verraten also ebenso viel über die Suche nach Sinn in der eigenen Kindheit wie über Kindheit selbst.
Dieses Buch fügt die Geschichten von durch den Krieg zerrissenen Kindheiten in den großen Bogen von Menschenleben ein. Wie sich zeigen wird, wurden viele der hier betrachteten Menschenleben im Lauf der Zeit wunderbar gewöhnlich. Doch darf man »gewöhnlich« nicht mit »leicht zugänglich« gleichsetzen. Ich beschäftige mich als Historikerin seit zwanzig Jahren mit dem Holocaust, und in jedem Kapitel dieses Buchs behandle ich Fragen und Erkenntnisse, die für mich nicht nur unerwartet, sondern teils schockierend waren. Die Entscheidungen, die sowohl Kinder als auch Erwachsene trafen, ihre Annahmen über die jeweils andere Seite und ihre Beziehungen zueinander stellten meine bisherigen Vorstellungen vom Leben in Familien und sozialen Gruppen nach dem Holocaust auf den Kopf. Die dauerhafte und unvorhersehbare Rolle von Kindheitserinnerungen in einem Menschenleben, die in den Geschichten dieser Überlebenden zum Vorschein kommt, hat mich dazu bewegt, mein gesamtes Verständnis der Natur des Gedächtnisses von Grund auf zu überdenken. All diese unerwarteten Elemente dienen einem unverzichtbaren Zweck: Sie zeigen, dass wir den Holocaust und seine Folgen in vielerlei Hinsicht nach wie vor nicht verstehen – und in einem umfassenderen Sinn zeigen sie uns, wie wenig wir darüber wissen, wie Menschen im Lauf ihres Lebens mit einer zerrissenen Kindheit umgehen, wie sie sich mit ihr auseinandersetzen, sie leugnen, sie verdrängen und ihr einen Sinn geben.