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David Foenkinos

GRÖSSTER ANZUNEHMENDER GLÜCKSFALL

Aus dem Französischen 
 von Christian Kolb

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

Zum Buch

Jean-Jacques und Claire sind seit acht Jahren verheiratet, und zwischen der sonntäglichen Lammkeule bei Claires Eltern auf dem Land und dem zukunftspessimistischen Chinesischunterricht für die sechsjährige Tochter Louise spulen sie monoton und routiniert ihr Ehe- und Liebesleben ab, das einst durch eine Reise nach Genf – auf den Spuren von Albert Cohens Roman „Die Schöne des Herrn“ – seinen mythisch überhöhten Gipfel erreicht hatte. Aus Neid auf seinen Kollegen Édouard, der sich nach seiner Scheidung zu einem rasanten Casanova entwickelt hat, beginnt Jean-Jacques eine Affäre mit der attraktiven Arbeitskollegin Sonia. Noch einmal spürt er die Genfer Glückseligkeit, doch er weiß nicht wirklich etwas mit diesem Gefühl anzufangen. Er, der sich für alles im Leben rückversichern will, erlebt den Glücksfall als beängstigend unkontrollierbar und verläßt Sonia wieder. Claire, die sich nicht lange von der neuen Liebeslust ihres Mannes täuschen läßt, engagiert ihrerseits den schüchternen Russen Igor zunächst als Detektiv und dann als Liebhaber. Bei einer gemeinsamen Reise nach Berlin, wo sie ausgerechnet im Hotel Suisse absteigen, erkennt Claire, daß sie ihr größtes Glück gerade aufgegeben hat …

Voller Anspielungen auf Filme wie „Der Himmel über Berlin“ und „Jules und Jim“ und auf Autoren wie Albert Cohen und Witold Gombrowicz erzählt David Foenkinos in gewohnt ironischer und bisweilen skurriler Manier, aber auch mit melancholischen Untertönen die Geschichte einer großen Liebe. Sie erkennt sich leider erst, als sie mit großem Getöse zu Ende geht. Sehnsüchtig wird des unwiederholbaren Anfanges einer glücklichen Beziehung gedacht: Jedes Paar hat sein eigenes Genf.

Über den Autor

David Foenkinos, 1974 geboren, Schriftsteller und Drehbuchautor, studierte Literaturwissenschaften an der Sorbonne und Jazz am CIM. Seine Bücher sind weltweit in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und wurden für alle wichtigen französischen Literaturpreise nominiert, für den Prix Fémina, den Prix Médicis, den Prix Renaudot und den Prix Goncourt. Für „Das erotische Potential meiner Frau“ erhielt er den Prix Roger Nimier. Bei C.H.Beck erschienen die Romane «Das erotische Potential meiner Frau» (2005), «Größter anzunehmender Glücksfall» (2006), «Unsere schönste Trennung» (2010), «Nathalie küsst» (2011), der mit Audrey Tautou in der Hauptrolle verfilmt wurde, «Souvenirs» (2012), «Zum Glück Pauline» (2013) und «Zurück auf Los» (2014).

Über den Übersetzer

Christian Kolb, 1970 geboren, studierte französische Literatur und Filmwissenschaft in Berlin und Paris. Neben den Foenkinos-Romanen bei C.H.Beck übersetzte er u.a. Nicolas Fargues “Die Rolle meines Lebens”. Er lebt in Berlin.

 

 

 

Der Übersetzer dankt der Kunststiftung Nordrhein-
Westfalen für ein Aufenthaltsstipendium im Europäischen
Übersetzer-Kollegium Straelen.

 

 

 

 

 

FÜR CLAIRE C.

 

 

 

«Die Ehe ist eine Hölle.»

Henry de Montherlant

 

«Nie bin ich so glücklich gewesen
wie während meiner Ehejahre.»

Anonymer Autor

PROLOG

Es war lange her, daß Jean-Jacques sich nicht mehr gemüht hatte, in seinem vollen Glanz zu erstrahlen. Seit kurzem zog er es jedoch vor, die Treppen zu seiner Wohnung hochzusteigen, um seine Wadenmuskeln zu trainieren. Aufzüge schienen ihm jenen schlappen Typen vorbehalten zu sein, die nicht mehr zu verführen suchten. Er kam drei Minuten vor acht nach Hause und lächelte Claire mechanisch zu. Nachdem er dieses Lächeln in dem Stil, in dem man eine Fliege verscheucht, wieder ausgelagert hatte, schaltete er den Fernseher an. Je weniger Interesse er am Eheleben hatte, desto mehr beklagte er das Schicksal von Völkern, die sich im Kriegszustand befanden. Auf eine illusorische und abendländische Weise vernahm er im Drama der Kurden das Echo auf den eigenen Niedergang.

Das Leben als Paar ist das Land mit der geringsten Lebenserwartung. Acht Jahre, das war schon fast weltmeisterschaftsreif. Jean-Jacques und Claire tauschten Zeichen der Zärtlichkeit aus, flüchtige freilich; Zärtlichkeiten wie Relikte; leichte nostalgische Berührungen; verstohlene Küsse, die den einstigen Karussellküssen nachpilgerten. Einvernehmlich verbargen sie vor anderen ihren tatsächlichen Zerfall. Sie wurden als Vorbild angesehen, wodurch sie sich in ihrer Routine besser einrichteten. Andererseits verstand niemand, warum sie sich nicht noch ein Kind zulegten. Ein Paar wie sie, das Abbild der Vollkommenheit, stand in der quasi militärischen Pflicht, sich weiter fortzupflanzen. Anfangs hatten sie bedeutungsschwanger gelächelt und auf morgen verschoben, was in neun Monaten hätte geschehen können. Dann war die Zeit vergangen, und sie hatten der Tatsache ins Auge blicken müssen: daß sie gar kein zweites Kind wollten. Zu ihrer Rechtfertigung stellten sie etwas dar, was sie nicht waren. Jean-Jacques und Claire hatten den Wunsch geäußert, Zeit für sich haben zu wollen. Alle fanden diesen Standpunkt super. Man klatschte ihrer Gesellschaftslüge Beifall und flüsterte sich zu, daß die Liebe ohne den Egoismus in ihr Verderben rennt.

Louise, ihre sechsjährige Tochter, war am Ende ihrer Kräfte. Kein Krümel ihrer Freizeit entkam den Tanz- und Klavierstunden und dem Chinesischkurs. (Jean-Jacques hatte irgendwo gelesen, daß in vierzig Jahren die ganze Menschheit chinesisch reden würde; er war eben von rationalem und vorausdenkendem Charakter.) Sie sollte um jeden Preis ein Wunderkind werden,[1] und das Glück wurde systematisch kultiviert. Es gab daher nichts Wichtigeres, als sich der Illusion ihrer prächtigen Entwicklung hinzugeben. Aber wenn sie im Wohnzimmer Klavier spielte, war es schwierig, dabei nicht an das Streichquartett von der Titanic zu denken.

 

 

 

1 Sie würde also (zwangsläufig) ein bißchen an Neurasthenie leiden.

ERSTER TEIL

 

I

Jean-Jacques’ Arbeit erregte begrenzte Aufmerksamkeit. Er war eine Art Berater in Dingen, die mit Geld und der Bewegung von Geld zu tun hatten. Das Wichtigste an diesem Arbeitsplatz war demnach, niemanden im Nacken sitzen zu haben, um nach Belieben umschwenken zu können. Es gab viele Computer in seiner Firma und Männer, die Krawatte trugen. Männer, die zu geregelten Zeiten mit der Metro fuhren und die vor Schweiß trieften, wenn sie hereinkamen. Das Unternehmen befand sich in einem hohen Turm. Der Chef thronte im obersten Stockwerk. Doch nach den Anschlägen vom 11. September hatte er beschlossen, die Hierarchie umzudrehen. Das niedere Personal genoß von nun an einen uneinnehmbaren Blick über Paris. Niemand hatte es gewagt, die Veränderung zu kritisieren, aber die neue Situation beeinträchtigte doch mehr als einen der Beschäftigten: Wenn das einzige Ziel das Aufsteigen ist, entschließt man sich schwer zum Absteigen.

Édouard war Jean-Jacques’ bester Freund und zugleich sein engster Mitarbeiter. Er war die Karikatur des selbstsicheren Mannes und lieferte stets jeden Beweis seiner lückenlosen Selbstverwirklichung. Jedesmal, wenn er einen Vertrag abschloß, sprang er plötzlich auf und stieg auf einen Schreibtisch. Alle mußten von seinen Erfolgen in Kenntnis gesetzt werden. Er war immer der erste, der noch spät einen Aperitif arrangierte, bei jeder Gelegenheit anstoßen mußte und diese falsche gute Stimmung erzeugte, in der man über nichts anderes als die Arbeit reden konnte. Trotz seiner gesellschaftlichen Extravaganzen war er der aufmerksamste Freund, den man sich vorstellen konnte. Die Freundschaft zu Jean-Jacques hatte im Besonderen in jener schwierigen Zeit begonnen, in der er sich hatte scheiden lassen. Damals war seine Beziehung auf beklagenswerte Weise auseinandergebrochen, mit Rechtsanwälten und Belastungszeugen. Mit den Jahren hatte sich die Lage aber drastisch geändert. Édouard hatte sich zu einem Single entwickelt, dem die Obsession von der Verführung innewohnte. Seine Kinder verwöhnte er in einem fort, wenn er mit ihnen zusammen war, und den Rest der Zeit zog er von einer Frau zur anderen. Er erging sich in Vertraulichkeiten, und in Jean-Jacques’ Ohren vermischten sich weibliche Vornamen und sexuelle Stellungen. Jean-Jacques hätte diese Unterhaltungen gern vermieden, weil es ihn frustrierte, daß er kein genauso turbulentes Leben hatte. Édouard bemerkte ein Unbehagen, das der sofortigen Analyse bedurfte:

«Wie läuft es mit Claire?»

Jean-Jacques antwortete, daß alles sehr gut laufe, aber seine Intonation hatte an ein verrücktes Klavier erinnert. Er konnte ja auch nicht sagen, daß alles schlecht laufe. Seine Beziehung zu Claire war einfach in eine Spalte der Liebesdefinitionen gerutscht und dort vergessen worden.

«Und in sexueller Hinsicht?»

Darauf hatte er keine Antwort. Édouard fällte ein drastisches Urteil: Sein Freund brauchte eine Geliebte. Jean-Jacques dachte just in diesem Augenblick, daß er imstande wäre, Claire zu betrügen. Um die Angst zu verscheuchen, die ihm dieser Gedanke machte, flüchtete er sich sogleich in eine seiner süßesten Erinnerungen. Édouard schnitt ihm das Wort ab:

«Denkst du an Genf?»

Er war offensichtlich so durchschaubar, daß sich seine Gedanken lesen ließen. Langsam brach ihm der Schweiß aus. Er versuchte sich auszumalen, wie er seine Frau belog. Er stellte sich seine Geliebte, die er noch gar nicht kannte, bereits bildlich vor. Sie war die geradezu monströse Fleischwerdung seiner Phantasien, eine barocke Mischung aus all den Frauen, die ihm, auch flüchtig, in den letzten zwanzig Jahren gefallen hatten. In seinem lächerlichen Eifer nahm Jean-Jacques die Ereignisse vorweg und hatte schon Schuldgefühle. Er wollte sich beruhigen und sagte sich, daß die ewige Treue nicht praktikabel sei, doch seine Fiebrigkeit ließ nicht nach. Das würde kein leichtes Unterfangen für ihn werden. Er versuchte sich davon zu überzeugen, sich selbst zu beweisen, daß sein Verlangen nach einer anderen Frau so unabweislich war wie der Zerfall seiner Beziehung. Claire würde ihn sicher verstehen, er brauchte keine Angst zu haben. Er hatte sie schließlich nicht in den ersten Monaten nach der Hochzeit betrogen. Die Legitimität des Ehebruchs wuchs mit den Jahren. Vielleicht würde sie auch einen Liebhaber haben. War es womöglich schon soweit? Die Frauen sind den Männern ja immer voraus, außer beim Sterben.

Einige Monate später fanden sich Jean-Jacques und Sonia in einem Hotelzimmer wieder. Nicht zum ersten Mal. In den Armen einer anderen Frau zu liegen gab ihm neue Energie, kein Zweifel. Seit Jahren war er nicht so glücklich gewesen. Er wollte einfach leben und frei atmen können. Er konnte keine Aufzüge mehr ertragen. Wenn er an die Gefahren seiner Euphorie dachte, kam er sich in seinem Klischee des verheirateten Mannes entsetzlich lächerlich vor. Bevor er nach Hause ging, vertrat er sich nun ein wenig die Beine, als ob das Umherirren in der Nacht das glückselige Lächeln, das sich quer über sein Gesicht zog, vertreiben könnte. Auf den Straßen von Paris kreuzte er mit Blicken die Passanten. Der irre Gedanke, daß alle wußten, was er gerade getan hatte, drängte sich ihm auf. Nach dem Sex steht man immer ein bißchen im Mittelpunkt der Welt. Aber das Gefühl, das er hatte, war gar nicht so verstiegen. Seit ein paar Tagen wurde er wirklich beobachtet.

 

II

Am besten beginnt man bei einer Frau mit den Haaren. Claires Haar war unschlüssig, lang, aber gewellt. Man hatte den Eindruck, daß es ein unabhängiges Leben führte. Die Farbe schien sich auch zu verändern, wie die Regenbogenhaut bei Neugeborenen. Der kroatische Volksglaube fällt einem da ein. Nach diesem Glauben kündigen sich wichtige Ereignisse im Leben einer Frau mit den Haaren an.

Sie waren nicht mehr so weich und mit den Jahren etwas welk geworden. Jean-Jacques bemängelte oft, daß sie so spröde waren. Für Claire war das lediglich ein Zeichen ihrer Reife. Sie war fast fünfunddreißig. Dennoch schien ihr, als verliefe das Leben in Zyklen, nach denen man letztlich wieder zu dem wird, der man ursprünglich gewesen ist. Man brauchte nur abzuwarten. Träumerisch sah sie in der Zukunft die Ausbrüche ihrer jugendlichen Torheit wiederkehren. In manchen Nächten träumte sie von unendlichen Reisen in gefährlichen Ländern. Sie wachte dann schweißtriefend auf, mitten im Flug, der durch turbulente Strömungen hindurchführte, um sie herum ruckelte alles, die Fluggäste kreischten und wähnten sich dem Tod nahe. Claire hatte schreckliche Flugangst. Die Leute fanden das oft amüsant. Aber Claire konnte nichts Amüsantes daran finden, am Flughafen in Roissy zu arbeiten und Flugangst zu haben. Das war eher ein unglücklicher Zufall.

Die Kosmetikfirma, bei der Claire angestellt war, hatte in Roissy eine Parfümerie eröffnet. Man hatte sie darum gebeten, die Leitung zu übernehmen. Also nahm sie jeden Tag mit den Touristen die Schnellbahn zum Flughafen. Man stellte ihr Fragen, und sie hatte immer eine Antwort parat. Sie wußte, ob Air Gabon oder Iberia von Terminal 1 oder von Terminal 2 abflogen. Manchmal kannte sie sogar die Abflugzeiten. Sie dachte an Ouagadougou, wenn sie durch Saint-Denis fuhr. Ein komisches Gefühl war das, mit all diesen Leuten, die auf dem Weg in den Urlaub waren, zur Arbeit zu fahren. Am Abend würde sie sie nicht wiedersehen. Es gab gar keinen richtigen Alltagstrott. Ein feiner Unterschied zeichnete den öffentlichen Nahverkehr, der der urbanen Einsamkeit und dem Griesgram so zuträglich ist, auf dieser Strecke aus.

Es war wie ein kleiner Tapetenwechsel.

Und man konnte sich in seinen Gewohnheiten mit Leichtigkeit wie ein Tourist fühlen.

Der Flughafen von Roissy war ein einmaliger Ort. Einer Stadt ähnlich, nichts außen herum, reines no man’s land, auf das sich alles projizieren ließ. Männer glauben, sich auf Flughäfen alles erlauben zu können. In Paris kam es sehr selten vor, daß ein Mann sie verführen wollte. Seitdem sie in Roissy arbeitete, verging kein Tag, ohne daß man ihr eindeutige Angebote machte. Flugkapitäne, selbstbewußte Geschäftsmänner, aufgeregte Fremde, all diese Männer wollten mit ihr schlafen. Claire sah die Annäherungen als grobschlächtige Belästigungen an, die ihr unerträglich waren; genaugenommen war es die Selbstsicherheit der meisten Männer, die ihr unerträglich war. Auf fremdem Terrain ließen sie ihrer viehischen Natur erst freien Lauf (air-porcs, dachte sie sich). Claire hatte in diesem mißlichen Umfeld eine unglaubliche Gefühlskälte entwickelt. Manche Angestellte, die sie um ihre allerdings nicht sehr extravagante Schönheit beneideten, hielten sie für eine hochnäsige Frau, die sich in die Lüfte der Herablassung aufschwang.

Es war schon vorgekommen, daß sie sich vorstellte, was passieren würde, wenn sie sich verführen ließe. Sie war nicht unempfänglich für all diese Männer. Die Schäbigkeit des Ortes und der herbe Mangel an Originalität waren erdrückend, aber manche Männer waren durchaus verführerisch. Was wäre dabeigewesen, sich nur einen Augenblick lang hinreißen zu lassen und sich gewiß etwas länger gehenzulassen? Mit ihrem Mann hatte sie fast keinen Sex mehr, und wenn sie welchen hatte, war der Ablauf mechanisch. Es war wie bei einem nicht sehr leistungsstarken Unternehmen, das Bestände auslagerte. Trotzdem war ihr nicht, als stecke sie in der Haut einer Frau, die ihren Mann betrügt. Die Liebe war für sie in eine Geschichte eingebettet, und Kurzgeschichten interessierten sie nicht. Geschichten von purer Fleischeslust fand sie entwürdigend; oder sie lagen ihr vielmehr fern. Ihre eigene Lust war ihr immer wie eine langsame Überlegung erschienen. Letzten Endes konnte sie so gut wie unmöglich herausfinden, wonach sie sich wirklich sehnte. Sie wünschte sich nicht unbedingt ein Abenteuer herbei. Daß der Zauber der Anfänge mit Jean-Jacques zurückkommen würde, schien ihr unwahrscheinlich. Was blieb dann noch? Eine Art sauerstoffverarmte Atmosphäre. Ihr Liebesleben war ein no man’s land, ihr Liebesleben war wie Roissy.

Wenn der Zweifel sie befiel, flüchtete sich Claire in die Erinnerung an die Reise nach Genf, eine magische Woche ganz am Anfang ihrer Liebesgeschichte. Einige Zeit zuvor hatte ein verblüffendes Detail ihre Bekanntschaft mit Jean-Jacques geprägt. Sie lasen beide Die Schöne des Herrn von Albert Cohen und waren beide praktisch auf der gleichen Seite. Sie hatten ihre Bücher getauscht und im Buch des anderen zu Ende gelesen. Sie hatten sich geküßt, bevor die Liebenden Selbstmord begingen. Auf der Pilgerfahrt nach Genf hatten sie festgestellt, daß das Ritz aus dem Roman gar nicht existiert. Vor allem hatten sie auf dieser Reise die romantischen und romanesken Helden gespielt. Auf diesem Gaukelspiel läßt sich ja immerhin eine Familie gründen.

Claire fand, daß sich ihre Beziehung zu einem Schweizer Uhrwerk entwickelt hatte. Am Abend kam Jean-Jacques genau drei Minuten vor zwanzig Uhr nach Hause. Sie fragte sich, ob diese Pedanterie Absicht war. Sie stellte sich vor, wie er an den Tagen, an denen er seiner Zeit voraus war, im Bistro an der Ecke ein Bier trank. Sie saß mit dem Rücken zur Tür. Sie wußte schon, wie er sich verhalten würde, welche Wörter er sagen würde. Er lächelte sie stets an. Sie hätte gewollt, daß er sie berührte und zärtlich durch ihr Haar striche, und sei es nur flüchtig. Seit kurzem fehlte dieser Abfolge das Natürliche. Wenn sie an diese Sendung über die Agenturen für Alibis zurückdachte, die sie vor einigen Monaten gesehen hatte, wurde einiges an Jean-Jacques’ Benehmen klar. Als er die ersten Briefe erhalten hatte, in denen er zu feierlichen Eröffnungen von Banken eingeladen wurde, er, der zuvor nur Werbeprospekte erhalten hatte, war Claire dieser postalische Aufruhr fragwürdig erschienen. Der Zeitplan ihres Mannes war nun abseits der vorgeschriebenen Bahnen des Ehelebens äußerst genau kalkuliert. Wozu konnten diese Agenturen einem Mann wie ihm nütze sein? Einem nicht sehr mondänen, festgefahrenen Typen, der Unvorhergesehenes nicht vertrug.

Aus Gründen der Ökonomie bediente sich Jean-Jacques unter anderem des guten alten Rezepts des Arbeitskollegen in Not. Der Rückgriff auf alte Hausmittel verspricht eben die besten Alibis. Leider fehlte ihm auf dem Gebiet der Hinterlist die leidliche Erfahrung, und so brachte er selbst Licht in die Angelegenheit. Zum Beispiel legte er an Abenden, an denen er noch einmal wegmußte, seine Krawatte nicht ab. Er vergaß schlicht ein winziges Detail: daß das seit sechs Jahren das erste war, was er jeden Abend machte. Noch bevor ihr Mann sein Alibi vorbrachte, konnte Claire ahnen, daß er noch einmal ausgehen sollte. Eine andere verwirrende Begebenheit: Eines Abends, sie war in der Küche beschäftigt, hatte er vorgegeben, nicht ans Telefon gehen zu können, als dieses geklingelt hatte. Er war so in die Redaktion eines megawichtigen Dossiers für eine megawichtige Versammlung betreffs des megawichtigen Dossiers vertieft, daß ihn das Läuten hätte ins Schwitzen bringen müssen. Claire hatte den Hörer ans Ohr geführt und ergeben der Partitur des Kollegen gelauscht, der schnellstens Hilfe brauchte, sonst würde er sich wohl unter einem Stapel Unterlagen umbringen. Jean-Jacques hatte sich sofort erhoben, mit übertriebener Leidensmiene. Er glich einem Soldaten, den die Pflicht ruft. Auf der Treppe hatte er seine Frau dramatisch-frontal geküßt, bevor er sich an eine andere Front begab. (Er kämpfte an allen Fronten, könnte man wahrscheinlich sagen.) Dies eine Mal hatte Claire ein Lachen nicht unterdrücken können.

Man mag den Elefanten, der uns den Floh ins Ohr setzt, lieber als den Floh, der uns den Elefanten ins Ohr setzt. In anderen Worten: Man verzeiht schlechten Schwindlern leichter. Denen, die unwillentlich mit dem Zaunpfahl winken. Claire fand das Verhalten ihres Mannes fast rührend. Sein Organisationsumfang und der Aufwand an Energie, den er betrieb, um taktvoll zu erscheinen, riefen ihr ins Gedächtnis, wie rücksichtsvoll und zuvorkommend er war, Eigenschaften, die sie an ihm immer geliebt hatte. Die Sache ging ihr vor allem angesichts der Gewißheit, daß er sie betrog, nicht besonders zu Herzen. Eine Freundin, der sie sich anvertraut hatte, stellte unwiderruflich fest: Ihr Mangel an Eifersucht war der Beweis ihres Mangels an Liebe. Sabines Feststellungen waren immer unwiderruflich und immer falsch. Denn Claire hing sehr wohl an Jean-Jacques, auf eine andere Art, doch auf die Art kam es schließlich nicht so an. Nach acht Jahren, konnte sie es ihm da wirklich übelnehmen? Sie hatte ja selbst schon daran gedacht, ihn zu betrügen. Seine Unbeholfenheit beruhigte sie noch unter einem anderen wichtigen Aspekt: Es war sicher das erste Mal. Und sie hatte recht. Manchmal packte sie der Wunsch, ihn in die Arme zu nehmen, ihm zu sagen, daß sie ihn liebte, daß sie alles wußte und daß das alles gar nicht schlimm sei.

*

Der Antrieb zu jeglichem technologischen Fortschritt ist der Ehebruch: Internet, Handy und SMS wurden einzig und allein erschaffen, damit alle Liebespärchen mit Leichtigkeit in verschiedenen Parallelwelten leben können. Die Zeiten der strafrechtlichen Verfolgung sind vorbei, die Gesellschaft hat sich freundlicherweise so eingerichtet, daß sie unseren Vergnügungen mit Diskretion begegnet (herzlichen Dank). Das Terrain der Treue wird derart angebaggert, daß sich in Liebesverhältnissen nicht mehr die Frage stellt, ob der andere einen betrügt, sondern nur noch, mit wem.

*

Jeden Morgen kam Claire am Detektivbüro Dubrove[1] vorbei, das gleich unten im Haus war. Eines Tages entschloß sie sich hineinzugehen. Im Eingangsbereich schien sich alles überlebt zu haben, das Gesicht der Concierge, das nach Juli 1942 aussah, eingeschlossen. Sie zog immer den Vorhang ihrer Loge zur Seite, wenn ihr fremde oder zögerliche Schritte zu Ohren kamen. Claire waren ihre eindringlichen Blicke peinlich, und sie beeilte sich, die Treppen hinaufzukommen. Nachdem sie einige Minuten vor einer Sekretärin, die das Gesicht einer Sekretärin hatte, gesessen und sich geduldet hatte, empfing sie der Patron. Sicher hatte er sie warten lassen, um nicht einen komplett untätigen Eindruck zu machen. Vielleicht war er auch vor der Tür auf- und abgelaufen, denn er schien ein bißchen zu schwitzen. Er bezog hinter ihr seine Stellung, um ihre Beinbewegungen zu betrachten (er gehörte nicht zu der Sorte von Männern, die bei Frauen gleich auf den Hintern schauen). Dann hob er den Kopf.

«Der Rauch stört Sie hoffentlich nicht?» fragte er in einem Tonfall, an dem er feilte, damit er rauh und zugleich warm, eindrucksvoll und zugleich beruhigend klang. Dominique Dubrove bemühte sich, den Vorstellungen von seinem Gewerbe zu entsprechen, und zündete sich in Gegenwart seiner Klienten immer eine dominikanische Zigarre an. Claire sah sich also einem schlechtrasierten Mann in zerschlissenen Kleidern gegenüber, der an seinem Schreibtisch versunken saß, welcher in einem künstlichen Dämmerlicht dahinsiechte.

«Darf ich Ihnen einen Whisky anbieten?»

Der Ort erschien ihr unheimlich, aber genauso hatte sie sich das auch vorgestellt. Nach einem recht kurzen Schweigen erläuterte sie rasch die Lage. Dubrove präsentierte ihr seine Karteikarten mit den Bildern und Tarifen der Ermittler. Jemanden verfolgen zu lassen (also jemanden dazu zu bringen, eine Straße entlangzulaufen) kostete fünf- bis zehnmal soviel, wie einen Kurs in Quantenphysik zu belegen. Diese Logik ging ihr nicht in den Kopf. Dubrove sah ihr Zögern und fügte Ausführungen zum Risikofaktor des Berufs an. Er hätte liebend gern eine Träne vergossen und die zerstückelte Leiche eines seiner Neffen erwähnt, die auf dem Grund der Seine gefunden worden war; doch leider war der einzige Schaden, zu dem er gekommen war, das verstauchte Handgelenk seines Schwiegersohns, der bei Pigalle einem sexshopsüchtigen Mann folgte. Am Ende philosophierte er über den unschätzbaren Wert der Verschwiegenheit. Claire blätterte die Karteikarten durch, bei der von Igor hielt sie verdutzt inne. Sie unterbrach Dubrove in seinem kaufmännischen Eifer:

«Warum ist dieser Ermittler so günstig?»

Der Stundensatz von Igor war tatsächlich fünf- bis siebenmal niedriger als der der anderen. Claire fragte, ob das ein Anfänger sei, ein Praktikant, oder ob der Ermittler nie ein Rätsel löste und ob daher sein Kurs wie bei einem börsennotierten Unternehmen jämmerlich gefallen sei. Irgend etwas an seinem Gesicht weckte nämlich ihre Neugier, sie wußte nicht genau, was. Dubrove schien ziemlich verlegen zu werden, aber die Sache war so: Igor war sein Neffe, der einfach aus dem Grund dem Betrieb angehörte, weil er zur Familie gehörte. Er war ein reizender Junge, gespickt mit Vorzügen, wie man so schön sagt, jedoch …

«Wollen Sie es mir nicht sagen?» wiederholte Claire.

Dubrove drückte seine Zigarre aus. Er streckte sich zum Ohr seiner neuen Klientin vor. Sie begriff, daß er flüstern wollte. Es gab ein Geheimnis, das sicherlich noch kostbarer als Igor war, ein Geheimnis, das man nicht ausplaudern durfte, um dem Ruf des Unternehmens nicht zu schaden. Claire hörte gut zu, zog die Augenbrauen hoch und deutete dann ein Lächeln an.

«Genau diesen Detektiv will ich haben», sagte sie mit fester Stimme.

 

III

Sonia war seit ihrer ersten Stunde im Unternehmen das Ziel aller Blicke gewesen. In den Jahren ihres betriebswirtschaftlichen Studiums, in denen weibliche Exemplare in den Hörsälen der Universität vor Seltenheit zu ersticken drohten, hatten die Finanzexperten eine Neigung entpuppt, ihre Begierden auf etwas unflätige Weise kundzutun. Das war nicht unbedingt unangenehm, doch Sonia wurde dieser ausufernden Bekundungen recht schnell überdrüssig. Sie erfand einen Verlobten, aber das war nicht genug. Ein Mann ist für einen anderen Mann eben immer eine Maginot-Linie. Für den nächsten Sommer dachte sie sich also ein Verlöbnis aus. Das offizielle Ambiente des Worts «Verlöbnis» gab den Ausschlag dafür, daß man sie in der Folge in die deprimierende Kategorie der schon vergebenen Frauen einordnete. Die Stürme der Verführung zerschellten an ihr wie Wellen an einem verheirateten Fels. Die meisten Männer waren weiter nett zu ihr (sie hatte das Gegenteil befürchtet), manche wurden sogar noch netter. Sonia verstand: Die Unfähigkeit der Männer, sie zu verführen, wurde in dem Augenblick für rechtmäßig erklärt, da sie erfuhren, daß sie bereits verlobt war. Keiner war also beleidigt, weil er nicht der Erwählte war. Es waren alle erleichtert.

Alle außer einem.

Jean-Jacques hatte sich in den ersten Tagen an der jungen und hübschen Praktikantin uninteressiert gegeben. Ungewollt hatte er sich dadurch auf brillante Weise profiliert. Sonia war überrascht gewesen, nicht weil er sich nicht für sie interessierte, denn das war nicht wirklich der Fall, sondern weil er sich unbehaglich zu fühlen schien. Wenn sie ihm über den Weg lief, spürte sie an ihm eine aufgeregte Beklemmung. Es war genau so, als ob er dazu gezwungen worden wäre, sich im Kino seinen Lieblingsfilm anzusehen. Wenn Jean-Jacques Sonia begegnete, schielte er ihr nicht selten nach. Was andere Männer als Hinundhergerissensein des Bewußtseins erlebten, machte er physisch durch. Sein linkes Auge wollte Sonia sehen, und sein rechtes Auge wollte sie nicht sehen. Da sein Gesicht aber ein kleiner 10. Mai 1981 war, setzte sich sein linkes Auge immer durch. Als er hörte, daß Sonia einen Verlobten hatte, gönnte er sich ein nervöses Lachen. Es war ihm so vorgekommen, als hätte sie ihn gern gemocht. Dieses Gefühl war so unbestimmt, wie eine merkwürdige Hingezogenheit sein kann. Aber nein, er hatte diese Hingezogenheit nicht geträumt. Immer wenn Édouard einen belanglosen Aperitif arrangiert hatte, immer wenn Jean-Jacques danach in sein Büro zurückgekehrt war, hatte er den Eindruck gehabt, daß sie ihn mit Blicken zurückzuhalten versucht hatte. Eine schnelle, in ihrer weiblichen Wirksamkeit fast absurde Kopfbewegung zu ihm hin. Sie war nicht unempfänglich. Frauen verdrehen nie den Kopf, wenn nicht ein Gedanke dahintersteckt.

*