Andrew Robinson hat zahlreiche Bücher zur Geschichte der Schrift veröffentlicht. Er studierte in Oxford und an der School of Oriental and African Studies, London. Nach langjähriger Tätigkeit als Journalist, Herausgeber und Fernsehredakteur ist er heute Visiting Fellow am Wolfson College, Cambridge und freier Autor. Bei der WBG erschien bereits ›Bilder, Zeichen, Alphabete. Die Geschichte der Schrift‹.
Aus dem Englischen von Josef Billen.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entbrannte der dramatische Wettstreit um die Entzifferung der Hieroglyphen. Ein Duell, zunächst zwischen Thomas Young und Jean-François Champollion, schließlich zwischen England und Frankreich.
Andrew Robinson schildert in diesem herrlich illustrierten Band, wie der Hieroglyphen-Code geknackt wurde, und liefert dabei zugleich die erste moderne Biographie Champollions – ein junger Wissenschaftler, der sich mit den römischen Obelisken beschäftigte, Papyrussammlungen studierte und schließlich nach Ägypten reiste, um eine vergangene Kultur zu enträtseln. Er besuchte das Tal der Könige und verglich sorgfältig die Schriften auf dem ›Stein von Rosette‹ mit den Inschriften auf Gräbern und Tempeln, um 1822 sein Alphabet der Hieroglyphen vorzustellen.
Daneben werden auch weitere Stationen des tragisch kurzen Lebens Champollions behandelt: Als Professor im revolutionären Frankreich, als Anhänger Napoleons und als Kurator der ägyptischen Sammlungen des Louvre.
Andrew Robinson
Das revolutionäre Leben des
Jean-François Champollion
Aus dem Englischen von Josef Billen
For my wife Dipli,
›moromere‹
Published by arrangement with Thames and Hudson Ltd, London
Copyright © 2012 Andrew Robinson
This edition first published in Germany in 2014
by Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt
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Der Verlag Philipp von Zabern ist ein Imprint der WBG.
© 2014 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.
Lektorat: Tobias Gabel, Gießen
Satz: DOPPELPUNKT, Stuttgart
Einbandabbildung: Porträt von Jean-François Champollion (Léon Cogniet, 1831)
© akg-images/Erich Lessing
Hieroglyphics © IlonaBudzhon/www.istockphoto.com
Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt a. M.
Besuchen Sie uns im Internet:www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-8053-4762-4
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-8053-4795-2
eBook (epub): 978-3-8053-4796-9
Prolog: Ägyptomanie
1 Hieroglyphisches ›Delirium‹ vor Champollion
2 Eine Kindheit in der Revolutionszeit
3 Der widerwillige Schüler
4 Die Ausrichtung auf Ägypten
5 Paris und der Stein von Rosette
6 Der jugendliche Professor
7 Der Wettstreit beginnt
8 Napoleon und Champollion
9 Verbannung und Revolte
10 Der Durchbruch
11 Die Renaissance Ägyptens
12 Direktor des ägyptischen Museums des Louvre
13 Endlich: nach Ägypten
14 Auf den Spuren Ramses’ des Großen
15 Erster Professor der Ägyptologie
16 Die Hieroglyphen nach Champollion
Nachwort: Spezialisierte Einzelforschung – universaler Erkenntniswille
Nachweise und Hinweise
Bibliographie
Danksagung
Verzeichnis der Abbildungen
Personen- und Sachregister
Im Jahre 1821 wurde in Piccadilly, dem damaligen Mittelpunkt des modernen London, eine bahnbrechende Ausstellung über das alte Ägypten eröffnet. Die Ägyptomanie, eine überschäumende Begeisterung für das alte Ägypten, die durch Napoleon Bonapartes dramatische Invasion Ägyptens zwei Jahrzehnte zuvor ausgelöst worden war, erfasste nun auch Britannien, wie sie es schon eine Zeitlang vorher mit Paris getan hatte. Die Ausstellung fand statt in der sogenannten Egyptian Hall, einem privaten naturgeschichtlichen Museum. Sie war 1812 in Piccadilly in einem exotischen ›ägyptischen Stil‹ erbaut worden. An ihrer Vorderfront war sie geschmückt mit ägyptischen Motiven, nämlich mit zwei Statuen von Isis und Osiris sowie mit geheimnisvollen Hieroglyphen. Als Anreiz für das Publikum zeigte sie – im Übrigen zum ersten Mal in Europa – eine prachtvoll gemeißelte und ausgemalte alte ägyptische Grabanlage, die man drei Jahre zuvor im Gebiet des antiken Theben, des heutigen Luxor, entdeckt und geöffnet hatte. Später wurde dieses Gebiet unter dem Namen ›Tal der Könige‹ bekannt. Zur feierlichen Eröffnung am 1. Mai 1821 erschien Giovanni Belzoni, ein Italiener, der die Grabstätte entdeckt hatte. Vorher war er unter dem Namen ›Der große Belzoni‹ als Kraftmensch im Zirkus aufgetreten, hatte sich aber anschließend zu einem der auffälligsten Ausgräber in Ägypten entwickelt und war im Begriff, eine der bekanntesten Personen Londons zu werden. Zur Eröffnung der Ausstellung erschien er eingewickelt wie eine Mumie vor einer riesigen Menschenmenge. Rund 2000 Besucher bezahlten half a crown, also eine halbe Krone, um die Grabstätte schon am Eröffnungstag sehen zu können. Ein Rezensent der Tageszeitung The Times bezeichnete die Ausstellung als eine »einzigartige Kombination und ein sachkundiges Arrangement neuartiger, reizvoller Gegenstände«.1
Die Egyptian Hall in Picadilly, London, in der Gestalt von 1820. Sie ist insofern ein frühes Beispiel der britischen ›Ägyptomanie‹, als ihre Fassade mit angeblich ägyptischen Statuen und Hieroglyphen ausgestattet war.
Selbstverständlich war das, was dort ausgestellt war, nicht das Grab selbst, das immerhin eine Länge von etwa 15 Metern hatte, sondern nur ein Modell von etwa einem Sechstel der Originalgröße. Ergänzt wurde es durch eine Reproduktion in originaler Größe der zwei eindrucksvollsten Kammern der Grabanlage. Die Basreliefs und die Bemalung der Wände zeigten Götter, Göttinnen, Tiere, Szenen aus dem Leben des Pharao und vielfarbige Hieroglyphen. Sie waren nachgestaltet worden mit Hilfe von Wachsabgüssen, die man von den Originalreliefs genommen hatte, und mit Hilfe von Zeichnungen, die vor Ort von Belzoni und seinem Landsmann Alessandro Ricci, einem Arzt, der sich zum Künstler gewandelt hatte, angefertigt worden waren. Einige der ausgestellten Gegenstände waren Originale – zum Beispiel zwei Mumien und das Stück eines Seils, das altägyptische Grabräuber bei ihrem letzten Versuch, in die Anlage zu gelangen, zurückgelassen hatten. Das Glanzstück – wohl eines der großartigsten ägyptischen Kunstwerke, die man jemals entdeckt hat – war ein leerer, aus weißem Alabaster bestehender Sarkophag ohne Deckel. Er war fast drei Meter lang und erst unmittelbar nach der Eröffnung der Ausstellung im August per Schiff aus Ägypten angekommen. Wenn man ein Licht in ihn hineinstellte, leuchtete es durch seine Wände hindurch; auf seinem Boden, auf dem einst die Mumie des Pharao gelegen haben dürfte, befand sich das lebensgroße Bild einer Göttin. In seine Wände waren innen wie außen Hieroglyphen eingraviert, die mit einem grünlich-blauen Präparat aus Kupfersulfat ausgelegt waren.
Als die Ausstellung zu Ende gegangen war, ließ Belzoni den Sarkophag in das British Museum überstellen. Nachdem die Museumsleitung zunächst unzutreffende Angaben über seinen Wert vorgegeben und sich schließlich 1824 sogar geweigert hatte, ihn überhaupt anzukaufen, verkaufte Belzonis Witwe – ihr Mann war im Jahr zuvor in Afrika plötzlich verstorben – ihn für £ 2000 an den Architekten Sir John Soane. Er fügte ihn seiner berühmten, eigenwillig zusammengestellten Sammlung von Kunstwerken bei, die er in seinem nicht weit vom British Museum gelegenen Privathaus angelegt hatte. Dort kann man den Sarkophag auch jetzt, nach fast zwei Jahrhunderten, noch sehen – als das Prachtstück der einzigartigen ›ägyptischen Krypta‹ im labyrinthischen Kellergeschoss des Museums, das nun Sir John Soanes Kunstsammlung beherbergt.
Um seine Neuerwerbung entsprechend herauszustellen und bekanntzumachen, arrangierte Soane im Jahre 1825 drei Abendempfänge, bei denen er den Sarkophag durch einen Fachmann für farbiges Glas und Beleuchtungstechnik illuminieren ließ. Benjamin Robert Haydon, ein Künstler, der eine dieser Veranstaltungen besucht hat, beschrieb dieses gesellschaftliche Ereignis mit großer Anschaulichkeit in einem Brief an eine gute Bekannte, in dem er die ständig zunehmende Faszination der Londoner Gesellschaft durch das alte Ägypten eingefangen hat:
»Der erste, den ich traf … war Coleridge. … Dann stieß ich auf Turner, den Landschaftsmaler mit seinem roten Gesicht und seiner weißen Weste und … dann wurde ich geradezu von den Beinen geholt und ohne weiteres bis zum Sarkophag weitergeschubst. … Es machte größtes Vergnügen zu sehen, wie die Leute vom Untergeschoss her in die Bücherei strömten, mitten hindurch zwischen Grabmalen, Kapitellen, Säulen und Köpfen ohne Nasen. Dabei zeigten sie regelrechtes Entzücken darüber, dass sie selbst zu den Lebenden gehörten, genau so großes Entzücken aber auch darüber, dass Kaffee und feines Gebäck auf sie warteten. Piekfeine Damen steckten ihre hübschen Köpfchen in einen alten, muffigen, mit Staub bedeckten und mit Hieroglyphen übersäten Sarg, staunten wortreich über sein Alter und fragten sich verwundert, für wen er bestimmt gewesen sein mochte. Gerade als ich selbst anfangen wollte zu überlegen, zwängte sich der Duke of Sussex, mit einem Stern auf der Brust und Asthma innen drin, schnaufend und keuchend durch den engen Durchgang und scheuchte alle Frauen wie Ritter Blaubart vor sich her, steckte sein königliches Haupt in den Sarg und verwunderte sich genauso wie alle anderen auch.«2
Wessen Grab war es, das Belzoni 1818 geöffnet hatte, und wie alt war der Sarkophag desjenigen, der zuerst in ihm beigesetzt worden war? Niemand hatte mehr als eine vage Vorstellung davon, weil niemand die Hieroglyphen lesen konnte. Die genaue Kenntnis der hieroglyphischen Schrift war verloren gegangen, seitdem ägyptische Priester sie im 4. Jahrhundert n. Chr. zum letzten Mal gebraucht hatten – rund eineinhalbtausend Jahre vor Napoleons Invasion.
Um mit dieser Frage zu beginnen: Belzoni sah in ihm zunächst das Grab des heiligen Stiers Apis, weil er in einer Kammer den mumifizierten Leichnam eines Stieres entdeckt hatte. Aber zur Zeit seiner Ausstellung 1821 hatte er seine Meinung geändert: Er kündigte es an als das ›Vermutliche Grab des Psammis‹, eines nicht mit Sicherheit nachgewiesenen Pharaos.
Dieser Name, Psammis, war durch Dr. Thomas Young (1773–1829) bekannt geworden. Young war von Beruf Augenarzt und zugleich einer der führenden Physiker und Mathematiker seiner Zeit sowie ein höchst talentierter Sprachwissenschaftler. Bereits 1794 wurde er zum Fellow der berühmten Royal Society in London gewählt. In der Zeit von 1814 bis 1819 hatte Young die ersten Erfolg versprechenden Schritte zur Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen unternommen. Er stützte sich dabei auf den Stein von Rosette (engl. Rosetta), auf den Soldaten aus der Armee Napoleons 1799 gestoßen waren. Young studierte die Abbildungen Belzonis und Riccis; dabei fiel ihm auf, dass eine hervorstechende hieroglyphische Kartusche – das ist eine kleine Gruppe von Hieroglyphen, die von einer ovalen Linie umgeben ist – in dem Grab genau so aussah wie Kartuschen, die auf Obelisken aus Rom und Ägypten eingraviert waren. Diese hatte er bereits probeweise verglichen mit dem Namen eines ägyptischen Herrschers, den er aus den Schriften Herodots, Manethos und Plinius’ kannte – dreier berühmter Autoren der Antike, die über Ägyptern geschrieben hatten und aus Griechenland, Ägypten und Rom stammten. Sie gaben den Namen des Herrschers als Psammis oder Psammuthis an, manchmal auch als Psammetich. »Es ist das erste Mal, dass Hieroglyphen mit solcher Akkuratesse gedeutet worden sind«, bemerkte Belzoni in seinem 1820 erschienenen großen Buch über seine Reisen durch Ägypten, wobei ihm Youngs eigene geheime Unsicherheit gar nicht bewusst war. Das – so schrieb er weiter – »zeigt ohne allen Zweifel, dass das System des Doktors der richtige Schlüssel ist, um die unbekannte Sprache zu lesen. Es ist zu hoffen, dass er sein mühsames und schwieriges Vorhaben erfolgreich abschließen kann – es würde der Welt die Geschichte eines der ursprünglichsten Völker erschließen, von dem wir bis jetzt so gut wie nichts wissen.«3 Ein Jahrhundert später bekundete Howard Carter, der 1922 das Grab Tutenchamuns, eines Pharaos der 18. Dynastie, entdeckte, seine Wertschätzung Belzonis als des ersten seriösen Ausgräbers im alten Ägypten. Durch dessen Memoiren hatte sich Carter zur eigenen zielgerichteten Suche nach einem bis dahin nicht mehr auffindbaren Grab im Tal der Könige inspirieren lassen. Belzonis Narrative of the Operations and Recent Discoveries within the Pyramids, Temples, Tombs and Excavations in Egypt and Nubia sei »eines der faszinierendsten Bücher in der ganzen Literatur über Ägypten«, schrieb Carter in The Tomb of Tut.Ankh.Amen.4 Um 1922 waren fast alle Ägyptologen in der Lage, die Hieroglyphen des neu entdeckten Grabes ohne Schwierigkeiten zu lesen. Auch Carter und seine Mitarbeiter konnten den Namen des bis dahin praktisch unbekannten jungen Pharaos schnell und zuverlässig identifizieren.
Alabastersarkophag des Pharaos Setis I., entdeckt im Tal der Könige von Giovanni Belzoni; jetzt im Kellergeschoss des Sir John Soane’s Museum, London.
Was den von Belzoni entdeckten Sarkophag angeht, stellte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts heraus, dass er nichts zu tun hatte mit dem von Young vermuteten Pharao ›Psammis‹, wobei Young immerhin die Kartusche des Pharaos korrekt identifiziert hatte. Tatsächlich war er hergestellt worden für den Herrscher Sethos, der jetzt bekannt ist als Seti I., ein militärisch erfolgreicher und im Bereich der Kunst bedeutsamer Pharao der 19. Dynastie. Seti I. hatte 1291 v. Chr. die Nachfolge seines Vaters Ramses’ I. angetreten. Nach seinem eigenen Tod im Jahre 1278 v. Chr. war ihm sein Sohn Ramses II., ›der Große‹, gefolgt – der berühmteste Pharao Ägyptens. In der auf dem Boden des Sarkophags abgebildeten Göttin hat man inzwischen Nut erkannt – eine Gottheit, deren Körper das Himmelsgewölbe symbolisiert und deren Obhut man den Leichnam Setis anvertraut hatte. Die hieroglyphischen Inschriften auf den Seitenwänden enthalten – zusätzlich zu den Titeln des Königs Seti – Passagen aus dem sogenannten Pfortenbuch, einem magischen Führer für die Reise der Seele eines Verstorbenen durch die Unterwelt. Sie beschreiben den Weg, den die Sonnenbarke des Osiris bei ihrer Fahrt auf einem von Dämonen bewohnten Fluss der Unterwelt nimmt, um die zwölf Regionen der Nacht zu durchqueren. Zaubersprüche machen es der Barke möglich, zwölf von Geistern und Schlangen bewachte Tore zu passieren. Ausgrabungen im Boden des originalen Grabraums, die man von 2008 bis 2010 anstellte, legten ein mit Hieroglyphen beschriebenes Bruchstück des verloren gegangenen Sargdeckels frei. Man fand es in einem Treppenhaus, das in den felsigen Untergrund zu einem Raum führte, der vermutlich als geheime Grabkammer Setis I. gedacht war. Diese ganze Anlage wurde jedoch nie fertiggestellt, vermutlich, weil der frühzeitige Tod des Pharaos es verhindert hat.
Wir verdanken diesen gesicherten heutigen Erkenntnisstand in erster Linie einem keineswegs wohlhabenden, aber geistig brillanten, selbstbewussten jungen Franzosen, der sich durch Napoleon hat inspirieren und Ägypten zu seinem Lebensinhalt hat werden lassen: Jean-François Champollion, dem Begründer der Ägyptologie. Champollions universalgelehrter Rivale aus England, Thomas Young, hatte 1814–1819 bereits mit der Entzifferung der Hieroglyphen begonnen, aber er war damit nicht weit genug gekommen. Mitte September 1822 gelang Champollion in Paris der Durchbruch: Er konnte als erster seit dem späten Römischen Reich die ›vergessenen‹ hieroglyphischen Schriftzeichen zahlreicher ägyptischer Herrscher wieder lesen – einschließlich der Schriftzeichen für Alexander, Berenike, Kleopatra, Ptolemäus und Ramses. Bald darauf schrieb er auf Bitten Belzonis für dessen Ausstellung des ägyptischen Grabes in Paris eine Art von Katalog für diese Zeichen – allerdings vorsichtshalber unter einem Pseudonym. Denn bis dahin vermochte es Champollion noch nicht, den Namen des Pharaos, für den das Grab bestimmt gewesen war, zu übersetzen. Sechs Jahre später jedoch, nachdem er intensiv ägyptische Monumente und Papyri studiert hatte, die nach Europa gebracht worden waren, sah er sich in der Lage, nach Ägypten zu reisen und, als erster Mensch seit der Antike, den Inschriften aus dem Tal der Könige ihre wahre Stimme zurückzugeben. Nur weitere sechs Jahr später, 1832, starb er – im Alter von nur 41 Jahren. Das Folgende ist die Lebensgeschichte dieses genialen Menschen, der in der ganzen Welt das Verständnis der mehr als drei Jahrtausende alten Kultur Ägyptens durch die Entzifferung der Hieroglyphen revolutioniert hat.
Bisher hat man gemeint, die hieroglyphische Schrift bestehe ausschließlich aus solchen Zeichen, die Begriffe und Vorstellungen, aber keine Laute und Ausspracheangaben repräsentierten. Sie bestand jedoch im Gegenteil aus Zeichen, von denen die weitaus größte Zahl die Laute von Wörtern der gesprochenen ägyptischen Sprache wiedergibt, das heißt also aus phonetischen Zeichen.
(Jean-François Champollion, Précis du système hiéroglyphique des anciens Égyptiens, 1824)5
Im antiken Athen und im antiken Rom schwärmte man für das alte Ägypten genauso, wie man es im 19. Jahrhundert in Paris und London tat. Von Ägypten war über rund zwei Jahrtausende ein machtvoller Einfluss auf die gelehrte Welt ausgegangen, vor allem, seitdem der Geschichtsschreiber Herodot um 450 v. Chr. das Land bereist hatte und dabei weit nach Süden, vielleicht sogar bis nach Assuan, gelangt war. In seinen in griechischer Sprache verfassten Historien erkannte Herodot scharfsinnig die Pyramiden von Gizeh als Begräbnisstätten der Pharaonen, und er vermittelte wichtige Informationen über den Vorgang der Mumifizierung. Herodots Werke waren allerdings nur eine geringe oder gar keine Hilfe für moderne Sprachwissenschaftler wie Champollion bei ihren Versuchen, die ägyptische Schrift zu entziffern.
Die hieroglyphische Schrift kam außer Gebrauch während der Spätantike: Die letzte erhalten gebliebene hieroglyphische Inschrift ist 394 n. Chr. durch einen Priester in das auf der Nilinsel Philae gelegene Hadrianstor eingemeißelt worden. Dieser Zeitpunkt liegt zwar schon fast am Ende der griechischen und römischen Herrschaft in Ägypten, tatsächlich war jedoch die genaue Kenntnis der Sprache und der Schrift der Pharaonen schon seit langem im Schwinden begriffen gewesen. Selbst Julius Caesar und Kleopatra, die 47 v. Chr. eine gemeinsame Reise an Bord einer königlichen Barke auf dem Nil unternahmen und sie ganz gewiss unterbrachen, um die Pyramiden zu besuchen, sahen das alte Ägypten im Wesentlichen als ›Touristen‹. Der heutige Ägyptologe John Ray weist treffend darauf hin, dass »zwischen Kleopatra und Djoser, dem König, für den [um 2650 v. Chr.] die Stufenpyramide gebaut worden ist, mehr Jahre liegen als zwischen Kleopatra und uns«.6
Der Grund für das zunehmende Verschwinden der hieroglyphischen Schrift lag natürlich darin, dass die alte Zivilisation, in der sie in Gebrauch war, in immer stärkerem Maße an Bedeutung verlor, als Ägypten im Jahre 525 v. Chr. zunächst durch die Perser, dann 332 v. Chr. durch die makedonischen Griechen erobert wurde. Alexander der Große, der diesen Eroberungsfeldzug führte, gründete ein Jahr später die Stadt Alexandria. Nach dem Tod Alexanders kam Ägypten drei Jahrhunderte lang unter die Herrschaft der griechisch sprechenden Dynastie der Ptolemäer. Ihr Name stammt von Alexanders Heerführer Ptolemäus I., ihre Herrschaft endete mit dem Tod Kleopatras VII. im Jahre 30 v. Chr. und mit der Besetzung des Landes durch die Römer, die bis 395 n. Chr. dauerte. Im 4. Jahrhundert n. Chr. erfolgte der Aufstieg des Christentums, und es kam zur Herrschaft des koptischen Christentums. Die Bibliothek von Alexandria hat wahrscheinlich ein Edikt des christlichen Kaisers Theodosius aus dem Jahre 391 n. Chr., alle heidnischen Tempel zu zerstören, nicht lange überlebt. In der Folgezeit wurden zahlreiche ägyptische Tempel, z.B. auch der Tempel der Isis auf der Insel Philae, in koptische Kirchen umgewandelt. Das Wort ›Kopte‹ ist abgeleitet vom arabischen qubti, das seinerseits vom griechischen Wort Aigyptos (Ägypten) herrührt. Das gesprochene Koptisch, die koptische Sprache also, stammte von der Sprache des alten Ägypten ab, das geschriebene Koptisch, die koptische Schrift also, hatte jedoch nichts mit den Hieroglyphen zu tun; sie war vielmehr wie das Griechische und Lateinische vollständig alphabetisch. Die Standardform der koptischen Schrift wurde gegen Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. entwickelt; sie bestand aus vierundzwanzig griechischen Buchstaben plus sechs aus dem alten Ägypten entlehnten Zeichen. Diese stammten jedoch nicht aus der älteren hieroglyphischen Schrift, sondern aus der viel jüngeren demotischen Schrift – der mittleren der drei Schriften, die auf dem Stein von Rosette enthalten sind, wie wir später noch sehen werden.
Die kulturellen Leistungen der ägyptischen Geschichte und die architektonische Großartigkeit der Bauwerke des alten Ägypten waren – selbst wenn sie schon der Vergangenheit angehörten oder zerstört waren – so eindrucksvoll, dass die Griechen und Römer – und vor allem die Griechen – den Ägyptern mit einer paradoxen Mischung aus Bewunderung ihres Kenntnisreichtums und ihrer Jahrtausende alten Geschichte und aus Verachtung ihres gegenwärtigen ›Barbarentums‹ gegenübertraten. Diese ihre Haltung ähnelte in gewisser Weise derjenigen, in der britische Imperialisten während der Zeit ihrer Kolonialherrschaft die dahinschwindende buddhistische Kultur des alten Indien betrachteten. Das hochbedeutsame Wort ›Hieroglyph‹ entspricht dem griechischen Wort für ›heilige, eingemeißelte Inschrift‹. Herodot berechnete, dass 11.340 Jahre vergangen waren zwischen dem ersten ägyptischen König und der Zeit, in der er selbst lebte. Er stützte sich dabei auf Informationen von Priestern, die der Zivilisation ihres Volkes ein märchenhaftes Alter gaben, was Herodot offenbar als die Wahrheit akzeptierte. Ägyptische Obelisken holte man nach Rom und verwendete sie als prestigeträchtige Symbole. Noch heute stehen dreizehn von ihnen in Rom, nur vier sind in Ägypten verblieben.
Griechische und römische Autoren wiesen die Erfindung der Schrift in der Regel den Ägyptern zu, und zwar sei sie ein Geschenk der Götter; Plinius der Ältere hatte demgegenüber die mesopotamischen Erfinder der Keilschrift vor Augen. Aber weder die alten Griechen noch die Römer scheinen sich Kenntnisse darüber verschafft zu haben, wie die zeitgenössische ägyptische Sprache zu sprechen oder zu schreiben sei. Das ist sehr überraschend, vor allem, wenn man an die Weltoffenheit denkt, die die Stadt Alexandria seit ihrer Gründung ausgezeichnet hat. Mit Sicherheit hatten Griechen und Römer keine Ahnung, wie die Hieroglyphen zu lesen seien, auch wenn sie das Gegenteil behauptet haben. Die Nachrichten, die sie uns über die ägyptische Schrift hinterlassen haben, sind unterschiedlich; sie stimmen jedoch darin überein, dass man bei der hieroglyphischen Schrift keine phonetische Komponente feststellen kann, wogegen man anscheinend der Meinung war, bei anderen, nicht-hieroglyphischen ägyptischen Schriften von phonetischen Bestandteilen sprechen zu können. Nach dem griechischen Geschichtsschreiber Diodorus Siculus, der im 1. Jahrhundert v. Chr. schrieb, war die ägyptische Schrift nicht darauf ausgerichtet, mit Hilfe von Silben die Bedeutung auszudrücken, die man mitteilen wollte, sondern mit Hilfe von bildlich dargestellten Dingen und deren metaphorischer Bedeutung, die man auswendig kannte.7 Mit anderen Worten: Die Hieroglyphen waren begrifflich oder symbolisch ausgerichtet; sie waren nicht alphabetisch wie die griechische, lateinische und koptische Schrift – eine Eigenart, die in der Geschichte ihrer Entzifferung fatale Folgen hatte. So meinte man, das hieroglyphische Bild eines Falken repräsentiere den Begriff der Schnelligkeit, oder das Krokodil symbolisiere das Böse schlechthin. In dieser Vorstellung wurden die griechischen und römischen Autoren bestärkt durch die natürliche Tendenz ägyptischer Schreiber, die Verbindung zwischen der bildlichen Gestalt einer Hieroglyphe und ihrer Bedeutung stark hervorzuheben; das geschah in besonderem Maße während der griechisch-römischen Periode.
Die bei weitem bedeutsamste Autorität auf dem Gebiet der ägyptischen Schrift war Horapollo (Horus Apollo), ein Philosoph des späten 5. und frühen 6. Jahrhunderts n. Chr., der vermutlich aus Nilopolis in Oberägypten stammte. Horapollos Abhandlung Hieroglyphika wurde wahrscheinlich während des 5. Jahrhunderts n. Chr. in griechischer Sprache geschrieben (oder ins Griechische übersetzt?) und geriet dann in Vergessenheit. Das erst um 1419 durch einen wagemutigen, archäologisch interessierten Reisenden aus Florenz auf der kleinen griechischen Insel Andros entdeckte Manuskript dieses Werks wurde während der Renaissance in Italien bekannt. Nach dem Erscheinen der Ausgabe in griechischer Sprache im Jahre 1505 wurden Horapollos Hieroglyphen-Abhandlung außerordentlich einflussreich: Sie erfuhr dreißig Editionen; eine Ausgabe mit der durch Willibald Pirckheimer 1512 vorgenommenen Übersetzung ins Lateinische wurde illustriert durch Albrecht Dürer. Champollion hat in Frankreich die Hieroglyphika studiert. Sie liegen auch heute noch im Druck vor.
Horapollos Lesarten der Hieroglyphen waren eine Kombination von Erdichtetem und Wahrem. Thomas Young hat sie ›kindlich‹ oder gar ›kindisch‹ genannt. Sie waren für ihn eher »eine Sammlung von Einfällen und Rätseln als eine Darlegung eines realen Systems wirklicher Schreibformen«.8 So heißt es in den von ihm ansonsten geschätzten Hieroglyphika zum Beispiel:
Wenn sie einen Schreiber aus dem Tempel, einen Propheten oder einen Ein balsamierer bezeichnen wollen, oder eine schlechte Laune, einen schlechten Geruch, ein Gelächter, ein Niesen, eine Regel oder einen Richter, dann zeichnen sie einen Hund. Ein Schreiber, vor allem derjenige, der ein perfekter Schreiber werden möchte, muss viele Dinge beschnüffeln, muss ständig wachsam sein und darf nicht nur um einen Einzigen herumschwänzeln – genauso wie die Hunde. Und sie bezeichnen mit dem Hund einen Propheten, weil der Hund eigentlich durch alle anderen Tiere hindurch auf die Bilder der Götter schaut – wie ein Prophet.9
Wir haben es Champollion zu verdanken, wenn wir jetzt wissen, dass in diesen Vorstellungen Wahres sich mit Absurdem vermischt: Die Schakal-Hieroglyphe (›Hund‹) bezeichnet den Namen des Gottes Anubis; er ist der alte ägyptische Gott des Einbalsamierens, einer mit Geruchsbelästigung versehenen Tätigkeit (daher Horapollos Bedeutung ›Geruch‹?). Ein ruhender Schakal ist ferner die Bezeichnung einer besonderen Art von Priester, nämlich des ›Herrn der Geheimnisse‹, ein solcher könnte zunächst ein Tempelschreiber gewesen und gewissermaßen als Prophet betrachtet worden sein. Ein gehender Schakal kann auch für einen Beamten stehen und deshalb vielleicht auch für einen Richter.
Cynocephalus, ein sagenhafter hundsköpfiger Mann, gezeichnet von Albrecht Dürer als Illustration in Willibald Pirckheimers Übersetzung der Hieroglyphika Horapollos.
Die arabischen Invasoren, die 642 das christliche Ägypten eroberten und den Islam einführten, gelangten zu einem zumindest marginal besseren Verständnis der Hieroglyphen, weil sie überzeugt waren, dass diese zu einem Teil phonetisch und nicht rein symbolisch seien. (Arabische Gelehrte, die einzelne Hieroglyphen zu lesen versuchten, machten immerhin Fortschritte, wenn auch nur geringe.) Diese Überzeugung gelangte jedoch nicht von der islamischen Welt des Mittelalters nach Europa. Stattdessen übernahmen Gelehrte der italienischen Renaissance unter dem Einfluss der Schriften Horapollos die Ansicht der Griechen und Römer, die Hieroglyphen seien Symbole der Weisheit. Der erste von vielen, der in der Welt der Neuzeit ein ganzes Buch zu diesem Gegenstandsbereich schrieb, war ein venezianischer Humanist und Theologe mit dem lateinischen Namen Pierius Valerianus (1477–1558). Er publizierte seine Arbeit 1556 und illustrierte sie mit wunderbar phantasievollen ›Renaissance-Hieroglyphen‹.
Der berühmteste unter den frühneuzeitlichen Interpreten der Hieroglyphen war der deutsche Theologe und Jesuit Athanasius Kircher (1602–1680). Champollion hat sich mit seinen Werken eingehend beschäftigt. In der Mitte des 17. Jahrhunderts galt Kircher in Rom als die allgemein anerkannte Autorität zum Forschungsbereich ›altes Ägypten‹. Seine umfangreichen Schriften führten jedoch weit über die ›Ägyptologie‹ hinaus. Man nennt ihn zuweilen ›den letzten Vertreter der Renaissance‹ (z.B. in der Encyclopaedia Britannica). Im Untertitel einer erst vor kurzer Zeit erschienenen akademischen Studie über Kircher wurde er sogar bezeichnet als ›der letzte Mensch, der alles wusste‹, weil er versucht hat, die Gesamtheit des menschlichen Wissens zu erfassen.10 Das Resultat war eine Mischung aus Torheit und Brillanz – wobei die erste Qualifikation leicht dominiert. Von dieser Einschätzung hat seine intellektuelle Reputation sich nie wieder ganz erholt, obgleich seine Universalgelehrsamkeit in modernen Augen faszinierend sein mag.
Im Jahr 1666 war Kircher betraut worden mit der Publikation einer hieroglyphischen Inschrift, die auf einem kleinen altägyptischen Obelisken eingemeißelt ist, der auf der Piazza della Minerva in Rom steht. Aufgestellt worden war er auf Veranlassung Papst Alexanders VII. Der Obelisk steht auf einem steinernen Elefanten und bildet gemeinsam mit ihm eine Skulptur, die von dem Bildhauer Bernini entworfen worden ist. Die ägyptische Inschrift hat ihren Platz jetzt also auf diesem steinernen Elefanten. Das Ganze ist vermutlich eine skulpturale Versinnbildlichung der Idee ›Weisheit beruht auf Stärke‹. Kircher gab seiner (rein begrifflichen) Lesart einer Kartusche auf dem Obelisken folgende Fassung: »Der Schutz des Osiris gegen die Gewalt des Typho muss entsprechend den ordnungsgemäßen Riten und Zeremonien durch Opfer herabgerufen werden und durch den Anruf des Schutzgottes der dreifachen Welt, um den Fortbestand des Wohlstands sicherzustellen, der immer wieder durch den Nil geschenkt wird gegen die Gewalt des Feindes Typho.«11 Die allgemein anerkannte Lesart dieser Kartusche ist schlicht und einfach der Name eines späten Pharao, nämlich Wahibre (griechischer Name Apries) aus der 26. Dynastie!
Athanasius Kircher, Jesuit, Theologe und Universalgelehrter, auf einem Porträt von 1678, das auf einem Stich von Cornelis Bloemart II. von 1664 beruht und Kircher im Alter von etwa 62 Jahren zeigt.
Im Gegensatz dazu hat Kircher bei der Wiederentdeckung und Wiederbelebung des Koptischen echte Hilfe geleistet, als er 1636 die erste Grammatik und das erste Wörterbuch dieser Sprache in Europa veröffentlichte. Vom 4. Jahrhundert bis zum 10. Jahrhundert hatte die koptische Sprache in ganz Ägypten in Blüte gestanden, wo sie die offizielle Sprache der christlichen Kirche war. Sie war aber – außer in der Koptischen Kirche – überall durch das Arabische abgelöst worden. Zur Zeit Kirchers, in der Mitte des 17. Jahrhunderts, ging sie ihrem Untergang entgegen, obgleich sie in der Liturgie noch in Gebrauch war, wie Champollion selbst wohl mit großer Freude 1807 von einem koptischen Priester in einer Kirche in Paris gehört hat. Seltsamerweise ist Kircher nicht darauf gekommen, eine Verbindung herzustellen zwischen dem gesprochenen Koptisch der ägyptischen Christen und der heidnischen Sprache des alten Ägypten. Immerhin kamen jedoch im 18. Jahrhundert einige Gelehrte in Europa auf den Gedanken, sich Kenntnisse des Koptischen und seines Alphabets anzueignen. Alles, was sie dabei lernten, wurde von Champollion aufgenommen und vertieft; es dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, die alte ägyptische Sprache während der Entzifferung der Hieroglyphen in ihrer wahrscheinlichen Gestalt zu rekonstruieren.
In der Zwischenzeit jedoch führten Kirchers überaus phantasievolle Interpretationen der Hieroglyphen zu zahlreichen weiteren, durchaus verschrobenen Theorien. So vertrat zum Beispiel Graf Palin, ein schwedischer Diplomat, zwischen 1803 und 1804 in drei Publikationen die Meinung, Teile des biblischen Alten Testaments seien eine hebräische Übersetzung eines ägyptischen Textes. Dabei handelt sich auf den ersten Blick um eine vernünftige Vermutung, vor allem, wenn man sich die Bedeutung der Rolle, die Ägypten in der Bibel spielt, vor Augen hält. Palin ging jedoch weit darüber hinaus: Er versuchte, den ägyptischen Text zu rekonstruieren, indem er den hebräischen Text ins Chinesische übersetzte. Das war wiederum nicht so verrückt, wie es zunächst scheint, wenn man bedenkt, dass ägyptische Hieroglyphen und chinesische Schriftzeichen eine ausgeprägt begriffliche und symbolische Komponente besitzen, die aus dem bildhaften Charakter vieler ihrer frühesten Zeichen herrührt. Aber Palin ging viel zu weit in seinem überspannten Verständnis der Hieroglyphen. Thomas Young notierte dazu kühl und gelassen:
›Weisheit beruht auf Stärke‹.
Dieser mit einem Elefanten nach einem Entwurf Berninis von 1666 zusammengefügte Obelisk steht heutzutage in Rom. Die auf ihm befindlichen Hieroglyphen wurden von Athanasius Kircher phantasievoll interpretiert.
Das eigentümliche Wesen der chinesischen Schriftzeichen…hat wesentlich dazu beigetragen, uns zu helfen bei der Suche nach dem allmählichen Fortschritt der ägyptischen Symbole durch ihre verschiedenen Entwicklungsformen hindurch. Dennoch ist die Ähnlichkeit ganz gewiss weitaus geringer, als Mr. Palin es vermutet hat. Er erzählt uns ja, wir brauchten die Psalmen Davids nur ins Chinesische zu übersetzen und sie in der alten Form dieser Sprache niederzuschreiben, um die ägyptischen Papyri zu reproduzieren, die man bei den Mumien gefunden hat.12
Nichtsdestoweniger dürfte die begriffliche Komponente der chinesischen Schrift – und darüber hinaus noch mehr das gemeinsame Vorkommen eines besonderen Elements zwischen den chinesischen Schriftzeichen und den ägyptischen Hieroglyphen, das erst später entdeckt wurde – einen wesentlichen Schlüssel geboten haben bei der Entzifferung der Hieroglyphen in den behutsameren Händen eines Champollion, eines Young und anderer.
Den ersten ›wissenschaftlichen‹ Schritt in die richtige Richtung machte ein englischer Geistlicher. Im Jahre 1740 äußerte William Warburton, der spätere Bischof von Gloucester, die Vermutung, der Ursprung jeglichen Schreibens, einschließlich der Hieroglyphen, dürfte eher bildlicher Art sein als göttlicher Herkunft. Ein französischer Bewunderer von Warburton, der Abbé J.-J. Barthélemy, kam 1762 zu der vernünftigen Ansicht, die Kartuschen auf den Obelisken könnten die Namen von Königen oder Göttern enthalten. Ironischerweise gelangte er zu dieser Schlussfolgerung auf der Basis einer falschen Beobachtung, nämlich, dass angeblich die von der ovalen Umrahmung umgebenen Hieroglyphen sich von allen anderen unterschieden. Schließlich wagte gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein dänischer Gelehrter, Georg Zoëga, die nützliche, aber riskante und noch durch nichts bewiesene Aussage, in gewissem Ausmaß könnte es sich bei einigen Hieroglyphen um das handeln, was er selbst ›notae phoneticae‹, also ›phonetische Zeichen‹ nannte. Sie dürften, wie er meinte, in der ägyptischen Sprache eher Laute als Begriffe repräsentieren. – Der Weg zur Entzifferung wurde nach und nach von altem Schutt freigeräumt.
Jetzt allerdings haben wir mit der Ankunft von Napoleon Bonapartes Invasionstruppen in Ägypten im Jahre 1798 und der Entdeckung des Rosettasteins einen Wendepunkt erreicht. Dass das Wort ›Kartusche‹ seither im Zusammenhang mit ägyptischen Hieroglyphen gebraucht wird, rührt her aus dieser schicksalhaften Begegnung von Orient und Okzident. Die ovalen Umrandungen einiger Hieroglyphen nämlich, die die französischen Soldaten auf Tempelmauern und anderen Monumenten in Ägypten, ja sogar auf den Mauern von Moscheen, bei deren Bau alte ägyptische Steine verwendet worden waren, sehen konnten, erinnerten sie an die Patronenhülsen (cartouches) ihrer Gewehrmunition.
Glücklicherweise war das Militär fast so interessiert an der Kultur wie an der Kriegführung. Eine große Anzahl französischer Wissenschaftler – große Gelehrte wie der Mathematiker Jean-Baptiste Joseph Fourier, Champollions späterer Mentor – begleitete die Armee. Auch zahlreiche Künstler waren mit dabei, wie zum Beispiel der elegante Dominique Vivant Denon, der kurz zuvor von Napoleon zum Direktor des Louvre-Museums in Paris bestellt worden war. Die Künstler sorgten für die Illustrationen der neun Quartbände und der elf Bildbände der Description de l’Égypte, der von Napoleon veranlassten vollständigen Darstellung über die Arbeiten der Wissenschaftler in Ägypten. Sie wurde publiziert zwischen 1809 und 1828; ihre Reproduktionen von Hieroglyphen sollten der wichtigste Gegenstand von Champollions anfänglichen Forschungen werden.
Napoleons große Expedition führte jedoch nicht zum sofortigen Durchbruch bei der Entzifferung der Hieroglyphen. So heißt es mit den umsichtigen Worten Denons in seinem höchst einflussreichen und immer noch lesenswerten Werk Voyages dans la basse et la haute Égypte pendant les campagnes de Général Bonaparte (›Reisen in Unter- und Oberägypten während der Feldzüge des Generals Bonaparte‹), das 1802 in Paris erschien und im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts mehrmals nachgedruckt wurde:
Jedes Relikt aus der Antike, das man entdeckt hat, bildet die Grundlage einer Erklärung, wobei es sich allerdings oft um eine Erklärung handelt, die einen Irrtum unterstützen soll … Jedem Gelehrten war daran gelegen, schon im ersten Fragment der Dokumente, die aus Ägypten nach Europa gelangt waren, die Beweisstücke zu sehen für einen Systementwurf, den er vorher bereits konzipiert hatte. Voller Ungeduld hat sich ein jeder darangemacht, eine Erklärung zu finden für den Himmel, für die Erde, für die Prinzipien, nach denen dieses Volk regiert wurde. Voller Ungeduld hat er sich ein Bild zu machen versucht von seiner Lebensweise, von den Zeremonien bei der Verehrung der Götter, von seinen Künsten und Wissenschaften und von seinen Wirtschaftsformen. Die Formen der Hieroglyphen haben beigetragen zu einem Delirium der Imaginationen, und alle sind, gestützt auf Hypothesen und mit gleichem Geltungsanspruch in verschiedene Richtungen weiter vorangetrieben worden, und alle sind gleichermaßen obskur und riskant.13
Als eine Abteilung von Pionieren im Juli 1799 beim Wiederaufbau einer alten Festungsanlage in dem im Nildelta gelegenen Dorf Rashid (Rosette) den Rosettastein entdeckte, erkannte der diensthabende Offizier sofort die Bedeutung der drei parallel auf ihm enthaltenen Inschriften und sandte ihn unverzüglich an die Fachleute in Kairo. Im Oktober desselben Jahres verkündete Napoleon selbst unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Ägypten vor dem Institut national des langues et civilisations orientales in Paris: »Es scheint unzweifelhaft zu sein, dass der Abschnitt mit den Hieroglyphen dieselbe Inschrift enthält wie die beiden anderen Abschnitte. Damit steht ein Mittel zur Verfügung, bestimmte Informationen zu erhalten über diese bisher unbekannte Sprache.«14 Kopien der Inschriften wurden angefertigt und 1800 nach Paris geschickt. Der Stein selbst jedoch wurde von der britischen Armee nach dem Sieg über die Franzosen 1801 beschlagnahmt und nach London verschifft. Von der dortigen Society of Antiquaries wurden Gipsabdrücke des Steins für die Universitäten in Cambridge, Dublin, Edinburgh und Oxford hergestellt und an verschiedene Institutionen in Europa und Amerika gesandt, einschließlich der französischen Nationalbibliothek in Paris. Im Jahre 1802 gelangte der Stein in die Sammlungen des British Museum. Am oberen linken Rand stand: »Erbeutet in Ägypten von der britischen Armee im Jahre 1801«, am oberen rechten Rand stand: »Überreicht durch König Georg III.« Sogleich wurde der Stein zu einem dauernden Symbol der englisch-französischen Rivalität: Während der Zweihundertjahrfeier von Champollions Geburtstag ›missverstand‹ beispielsweise Jean Leclant, ein führender Ägyptologe und Ständiger Sekretär der Académie des inscriptions et belles-lettres in Paris, die Inschrift auf dem Rand oben links als: »Der französischen Armee weggenommen, Alexandria 1801«!15
Napoleon besucht die in einem früheren mameluckischen Harem gelegene Zentrale des kurz zuvor gegründeten Institute d’Égypte in Kairo, 1798. Publiziert in der Description de l’Égypte.
Die früheste Kopie des Rosetta-Steins. Hergestellt von französischen Gelehrten in Kairo 1800, dem Jahr seiner Entdeckung in Rosette. Der hieroglyphische Abschnitt ist am meisten beschädigt.
Vom Augenblick der Entdeckung an war es klar, dass die Inschrift auf dem Stein in drei verschiedenen Schriften abgefasst war: die untere in Buchstaben des griechischen Alphabets, die obere – unglücklicherweise die am stärksten beschädigte – in Hieroglyphen mit deutlich erkennbaren Kartuschen. Zwischen diese beiden eingeschoben war eine Schrift, über die kaum etwas bekannt war. Offenkundig ähnelte sie nicht der griechischen Schrift, aber anscheinend hatte sie eine flüchtige Ähnlichkeit mit der hieroglyphischen Schrift über ihr, obwohl sie keine Kartuschen aufwies. Heute kennen wir diese Schrift als die ›demotische‹; entwickelt worden ist sie um 650 v. Chr. aus einer kursiven ägyptischen Schreibform, die bekannt ist als die ›hieratische‹ – eine ›Schnellschrift‹, die man parallel zur hieroglyphischen Schrift schon von etwa 3000 v. Chr. an gebraucht hat. Die hieratische Schrift selbst erscheint auf dem Rosettastein nicht. Der Ausdruck ›demotisch‹ ist abgeleitet vom griechischen demotikós, das etwa so viel wie ›zum Volk gehörig‹, ›zum allgemeinen Gebrauch bestimmt‹ bedeutet. Die demotische Schrift steht nämlich im Gegensatz zur heiligen hieroglyphischen Schrift, die im Wesentlichen für sakrale Zwecke benutzt wurde. Der Begriff ›demotisch‹ wurde zuerst von Champollion benutzt; der ungern den vorher von Young verwendeten Begriff ›enchorial‹ weiterverwenden wollte. Young hatte ihn geprägt nach der Bestimmung der Schrift des mittleren Teils, die in der griechischen Inschrift selbst enthalten war, nämlich enchoria grammata – also etwa ›die im Land gebräuchliche‹ oder ›einheimische‹ Schrift.
Der erste Schritt zur Entzifferung bestand natürlich in einer Übersetzung der griechischen Inschrift. Es stellte sich heraus, dass es sich dabei um ein Dekret eines Priesterrates handelte, der aus allen Teilen Ägyptens in Memphis, der nicht weit vom heutigen Kairo gelegenen Hauptstadt des alten Ägypten, am 27. März 196 v. Chr. zusammengekommen war. Der Anlass des Zusammentreffens war der erste Jahrestag der Krönung des jungen Ptolemäus V. Epiphanes, des Königs von ganz Ägypten. Die griechische Sprache wurde gebraucht, weil sie während der Dynastie der Ptolemäer die Sprache des Hofes und der Regierung war. Neben anderen tauchten in der griechischen Inschrift die Namen Ptolemäus, Alexander und Alexandria auf.
Die Aufmerksamkeit der künftigen Entzifferer wurde erregt durch den allerletzten Satz des griechischen Textes. Er lautete: »Dieses Dekret soll in eine Stele aus hartem Stein in heiligen [d.h. hieroglyphischen] und einheimischen [d.h. demotischen] und griechischen Schriftzeichen eingemeißelt und in jedem Tempel der ersten, zweiten und dritten [Ordnung] neben dem Standbild des ewig lebenden Königs aufgestellt werden.«16 Mit anderen Worten: Die drei Inschriften – die hieroglyphische, die demotische und die griechische – waren in ihrer Bedeutung gleich, jedoch nicht notwendigerweise jeweils eine Wort-für-Wort-Übersetzung. Dieser griechische Satz war jedenfalls das erste, was den Entzifferern verriet, dass der Rosettastein eine bilinguale Inschrift trug – etwas, was sie heiß herbeisehnten, geradezu eine Art Heiligen Gral der Entzifferung. Die zwei auf dem Stein vertretenen Sprachen waren Griechisch und – vermutlich – altes Ägyptisch, die Sprache der Priester, die in zwei unterschiedlichen Schriften wiedergegeben war, sofern sich unter den ›heiligen‹ und den ›gewöhnlichen‹ Schriftzeichen nicht zwei unterschiedliche Sprachen verbargen, was vom Kontext her ziemlich unmöglich zu sein schien. Tatsächlich sind die in hieroglyphischen und demotischen Schriftzeichen geschriebenen ägyptischen Sprachstufen nicht identisch, aber nahe verwandt, wie etwa das Lateinische und das Italienische aus der Zeit der Renaissance.
Weil der in Hieroglyphen wiedergegebene Text stark beschädigt war, stellte man ihn zunächst zugunsten des demotisch geschriebenen Textes zurück, der so gut wie vollständig war. Im Jahre 1802 wandten zwei Fachleute – Silvestre de Sacy, ein berühmter französischer Orientalist, und einer seiner Schüler, nämlich Johan Åkerblad, ein schwedischer Diplomat (wie Graf Palin) – unabhängig voneinander ähnliche Techniken an. Sie suchten nach einem Namen, insbesondere nach Ptolemäus, indem sie wiederkehrende Gruppen demotischer Zeichen isolierten, die in etwa derselben Position vorkamen wie die elf bekannten Stellen des Namens im griechischen Text. Als sie diese Gruppen gefunden hatten, stellten sie fest, dass die Namen in der demotischen Fassung allem Anschein nach alphabetisch geschrieben waren – wie in der griechischen Fassung auch. Das bedeutete, dass die demotische Schreibweise eines Namens mehr oder weniger ebenso viele Zeichen umfasste, wie ihr vermutetes griechisches Äquivalent alphabetische Buchstaben hatte. Dadurch, dass sie das jeweilige demotische Zeichen dem entsprechenden griechischen gegenüberstellten, gelang es ihnen, versuchsweise ein Alphabet demotischer Zeichen zusammenzustellen. Als sie dieses vorläufige Alphabet auf den vorliegenden Text anwandten, konnten sie andere demotische Wörter wie ›griechisch‹, ›Ägypten‹ und ›Tempel‹ identifizieren. Es schien zunächst so, als sei die demotische Schrift genauso alphabetisch wie die griechische Inschrift.
Tatsächlich aber war sie zum Leidwesen von de Sacy und Åkerblad nicht in toto ein Alphabet – selbst wenn einige Elemente der Schrift, wie etwa die Namen, sehr wahrscheinlich alphabetisch geschrieben waren. Young hatte Verständnis für seine Vorgänger: »Sie stützten sich auf die irreführende oder letztlich unvollständige Ansicht der griechischen Autoren, die sich vorgenommen hatten, die unterschiedlichen Arten des Schreibens bei den alten Ägyptern zu erklären, und die sehr deutlich ausgesprochen hatten, dass sie bei vielen Gelegenheiten ein aus nur 25 Buchstaben bestehendes alphabetisches System angetroffen hatten.«17 Weil sie sich an der Autorität der Klassiker ausrichteten, vermochten sich weder de Sacy noch Åkerblad von der vorgegebenen Meinung zu befreien, die demotische Inschrift sei in alphabetischen Schriftzeichen geschrieben – als stünde sie im Gegensatz zur hieroglyphischen Inschrift, die beide für insgesamt nicht-phonetisch hielten. Dabei glaubten sie, dass die hieroglyphischen Symbole Begriffe ausdrückten, aber nicht Laute bezeichneten – so wie es in Horapollos Hieroglyphika vorgegeben war. Die offenkundige Unterschiedlichkeit im Erscheinungsbild zwischen hieroglyphischen und demotischen Schriftzeichen, die gepaart war mit dem erdrückenden Gewicht der europäischen, bis auf die Antike zurückgehenden Meinung, dass die ägyptischen Hieroglyphen eine begriffliche oder symbolische Schrift seien, bestärkte de Sacy und Åkerblad in der Überzeugung, die der hieroglyphischen und der demotischen Schrift zugrunde liegenden geheimen Prinzipien seien vollkommen unterschiedlich. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass die hieroglyphische eine begrifflich-symbolische Schrift sein müsse (wie vermutlich auch die chinesische), wohingegen die demotische eine phonetischalphabetische Schrift sei (wie die griechische).
nicht