Cover

George Orwell

REISE DURCH RUINEN

Reportagen aus Deutschland
und Österreich 1945

Aus dem Englischen
von Lutz-W. Wolff

Mit einem Nachwort
von Volker Ullrich

C.H.BECK textura

Zum Buch

«Die Leute zu Hause haben keine Ahnung, wie das hier aussieht.» Zwischen März und November 1945 reist George Orwell durch Deutschland und Österreich und gibt seiner Erschütterung über das Ausmaß der Zerstörung in seinen Reportagen Ausdruck. Er berichtet von einfachen Leuten, befreiten Kriegsgefangenen, vom Schicksal der Displaced Persons und von festgenommenen Nazis. Vor Ort wandelt sich die Perspektive: Aus Monstern werden zuweilen armselige Menschen, und zwingender als Rache oder Wiedergutmachung ist die Frage, wie hier und jetzt die Zukunft gestaltet wird. Immer wieder reflektiert Orwell das Tauziehen zwischen Ost und West um die Mitte Europas und die große Herausforderung, die mit dem Ende des Krieges für die Welt gerade erst begonnen hat. Dabei begreift er, dass es nicht um das Schicksal einzelner Nationen geht, sondern um das der Weltgemeinschaft.

Über die Autoren

George Orwell (1903–1950), geboren als Eric Arthur Blair, war ein britischer Schriftsteller, Essayist und Journalist. In Indien geboren, kam er als Kind nach England, lebte später eine Zeit lang in Myanmar und Frankreich und kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg. Heute ist er besonders für seine Dystopien Farm der Tiere und 1984 bekannt.

Volker Ullrich ist Historiker und leitete von 1990 bis 2009 das Ressort «Politisches Buch» der Wochenzeitung Die ZEIT. Zuletzt ist bei C.H.Beck von ihm erschienen: Acht Tage im Mai. Die letzte Woche des Dritten Reiches (62020, C.H.Beck Paperback 2021).

Inhalt

REPORTAGEN AUS DEUTSCHLAND UND ÖSTERREICH 1945

Die Auswirkung der Besatzung auf die französische Perspektive – Ein anderes politisches Denken

Ordnung schaffen im Chaos von Köln – Das Wasser kommt mit dem Wasserwagen

Zukunft eines zerstörten Deutschland – Ein agrarisches Elendsgebiet hilft Europa nicht weiter

Alliierte stehen vor Ernährungskrise in Deutschland – Das Problem der befreiten Zwangsarbeiter

Bayerische Bauern ignorieren den Krieg – Die Deutschen wissen, dass sie geschlagen sind

Die Deutschen zweifeln immer noch an unserer Einheit – Die Fahnen sind dabei nicht hilfreich

Jetzt steht Deutschland der Hunger bevor

Die Gefahr getrennter Besatzungszonen – Eine Verzögerung der Erholung in Österreich

Hindernisse für eine gemeinsame Verwaltung in Deutschland

Das unsichere Schicksal der Displaced Persons

«Rache ist sauer»

ARTIKEL ZU DEUTSCHLAND 1940–1945

Mein Kampf von Adolf Hitler

Order of the Day von Thomas Mann

Die Weltlage 1945

«Es ist ein äußerst eigenartiges Gefühl, jetzt endlich auf deutschem Boden zu stehen» – Nachwort

Stationen der Reise

Beobachtungen über das Verhalten der Deutschen

Auf Spurensuche der Nazi-Gräuel

«Rache ist sauer»

Die Zukunft des Kontinents

Quellennachweis

REPORTAGEN AUS DEUTSCHLAND UND ÖSTERREICH 1945

Die Auswirkung der Besatzung auf die französische Perspektive:

Ein anderes politisches Denken

The Observer, 4. März 1945

Paris, 3. März

Der Besuch des französischen Außenministers M. Bidault in London wird immer noch heiß diskutiert, und unter den herzlichen Bekundungen französisch-britischer Freundschaft erkennt man in Teilen der Presse eine leichte Beunruhigung hinsichtlich der britischen Einstellung zum Thema der Rheingrenze.

Trotzdem scheinen die Franzosen – soweit man das aus zufälligen Gesprächen entnehmen kann – über bestimmte Aspekte der öffentlichen Meinung in Großbritannien immer noch ziemlich im Dunkeln zu tappen. Die beiden Völker haben jetzt fünf Jahre lang eine völlig unterschiedliche politische Entwicklung genommen, und ihre künftigen Beziehungen werden wahrscheinlich glücklicher sein, wenn die umstrittenen Punkte so früh wie möglich ans Licht gebracht werden.

Was den Neuankömmling als Erstes verblüfft, ist die Beobachtung, dass fast jeder Franzose gegenüber den Deutschen eine weit härtere Einstellung an den Tag legt als nahezu jeder Engländer. In privaten Gesprächen ist mir das noch mehr aufgefallen als bei der Lektüre der Zeitungen, und das betrifft nicht nur Kommunisten und hundertprozentige Gaullisten, sondern auch Sozialisten und Mitglieder der linken Résistance-Gruppen.

Natürlich gibt es individuelle Unterschiede, aber es scheint kaum einen Franzosen zu geben, der nicht davon ausgeht, dass die Zerstückelung Deutschlands, die Demontage der deutschen Rüstungsindustrie, schwere Reparationen, Zwangsarbeit und eine langfristige militärische Besetzung das Mindeste sind, was für die Sicherheit Frankreichs notwendig ist.

Die wirkliche Lage in Frankreich wäre auch dann nur schwer einzuschätzen, wenn die Nachrichtenverbindungen besser wären. Einige der stärksten Kräfte arbeiten nicht an der Oberfläche. Unversöhnliche Gegner beachten einen zeitweiligen Waffenstillstand, die Presse ist ängstlich, und ein großer Teil der Bevölkerung ist apathisch aufgrund der Entbehrungen.

Was die redegewandten Minderheiten betrifft, so scheint die Besatzung zu einer Verhärtung des politischen Denkens und zum Verschwinden der verschiedenen Richtungen geführt zu haben, die früher als fortschrittlich galten. Der Pazifismus zum Beispiel scheint völlig verschwunden zu sein. Einige Pazifisten haben sich dadurch diskreditiert, dass sie kollaborierten, aber der Wunsch, Frankreich möglichst bald wieder zu einer militärischen Großmacht mit einer starken mechanisierten Armee zu machen, ist offenbar universell.

Die ultralinken Sektierer, die im Vorkriegsfrankreich nicht ganz zu vernachlässigen waren, scheinen auch verschwunden zu sein. Einige Trotzkistengruppen existieren noch und veröffentlichen eine illegale Zeitung, aber sie haben offensichtlich kaum Einfluss. Die Verknüpfung der Ideen Armée – Patrie – Gloire hat sich in einem Maß wiederhergestellt, über das man nur staunen kann, wenn man sich erinnert, dass es die französische Linke noch vor etwa zehn Jahren für richtig hielt, den Versailler Vertrag als Schande zu bezeichnen und Persönlichkeiten wie Foch und Clemenceau mit Beschimpfungen zu überhäufen.

Anti-imperialistische Propaganda ist von der Bildfläche verschwunden. De Gaulles Erklärung, dass Indochina – sobald es befreit ist – ohne Einmischung fremder Mächte wieder fest ins französische Weltreich eingefügt werden soll, wurde kommentarlos hingenommen.

Ein anderes, nicht im strengen Sinne politisches, aber für den geistigen Klimawandel symptomatisches Phänomen ist die verbreitete Besorgnis über die französische Geburtenrate. Linke Zeitungen und Zeitschriften bringen Artikel, in denen erörtert wird, wie man die Mutterschaft fördern kann, während eine bewusste Beschränkung der Kinderzahl mit Bedauern betrachtet wird – eine Haltung, die durchaus gerechtfertigt ist, aber noch vor wenigen Jahren als reaktionär eingeschätzt worden wäre.

Da die Durchsetzbarkeit von Politik auf Dauer immer von den einfachen Leuten abhängt, liegt im gegenwärtigen Auseinanderklaffen der britischen und französischen Ansichten eine gewisse Gefahr. Grundsätzlich steht Frankreich politisch weiter links als Großbritannien. Die herrschende Klasse ist weitgehend diskreditiert, und gegen Projekte wie die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien gibt es wenig offene Opposition.

Die internationalistischen und humanitären Ideen, von denen man früher glaubte, dass sie untrennbar mit dem Sozialismus verbunden seien, sind dagegen zurückgetreten, und der Respekt vor der Demokratie ist wahrscheinlich geschwächt worden. In England ist es dazu nicht im selben Maße gekommen, und diese Tatsache sollte dem französischen Volk klargemacht werden. Insbesondere sollte klargestellt werden, dass die britische Öffentlichkeit wohl kaum für längere Zeit bereit sein dürfte, eine Friedensregelung zu unterstützen, die so aussieht, als wäre sie rachsüchtig, und mit Sicherheit jede Politik ablehnt, die eine dauerhafte Besatzungsarmee notwendig macht.

Andererseits sollten wir uns vielleicht bemühen, den französischen Standpunkt etwas besser zu verstehen.

Wenn man in diesem Land mit jemandem redet, stößt man früher oder später immer auf ein und dieselbe Tatsache: dass Großbritannien nicht die Erfahrung gemacht hat, wie es sich anfühlt, in einem besetzten Land zu leben.

Zum Beispiel ist es nicht möglich, über die «Säuberung» zu reden, ohne dass einen jemand daran erinnert.

Die Leute, die es gern sähen, wenn die «Säuberung» richtig in Schwung käme (und manche von ihnen sagen ganz offen, dass sie einige Tausend Exekutionen für notwendig halten), sind keine Reaktionäre und auch nicht unbedingt Kommunisten; es können ganz sensible, nachdenkliche Leute sein, deren Vorgeschichte liberal, sozialistisch oder unpolitisch ist.

Die eigenen Einwände werden immer auf die gleiche Weise beantwortet: «Für euch in England ist das anders. Ihr könnt das friedlich regeln, weil es keine wirkliche Spaltung im Land gibt. Wir müssen uns hier mit echten Verrätern befassen. Sie am Leben zu lassen ist einfach nicht sicher.» Gegenüber Deutschland ist die Haltung genauso. Ein hochintelligenter Franzose fegte meine Vorstellung, es könne ein demokratisches Deutschland geben, wenn Hitler erst einmal weg sei, einfach beiseite.

«Es geht nicht darum, dass wir uns rächen wollen», erklärte er mir. «Aber nachdem wir sie vier Jahre lang hier bei uns im Land hatten, kann ich einfach nicht glauben, dass die Deutschen dieselbe Art Menschen wie wir sind.»

Manche Beobachter glauben allerdings, dass die derzeitigen, eher chauvinistischen Denkmuster nur ein oberflächliches Symptom sind und dass sich ganz andere Tendenzen zeigen werden, wenn der Krieg erst einmal wirklich gewonnen ist.

Gleichzeitig kann man bei allen unterschiedlichen Auffassungen in der hohen Politik und in der öffentlichen Meinung doch feststellen, dass es keine anti-britischen Gefühle in Frankreich zu geben scheint.

Wenn man Paris als Maßstab nimmt, wird man sagen können, dass Frankreich nie anglophiler war als heute. Man erhält die beschämendsten Komplimente für Englands einsamen Kampf im Jahre 1940 und das «sehr korrekte» Verhalten der relativ wenigen britischen Soldaten, die man hier auf den Straßen sieht.

Ordnung schaffen im Chaos von Köln:

Das Wasser kommt mit dem Wasserwagen

The Observer, 25. März 1945

Köln, 24. März

Es gibt immer noch hunderttausend Deutsche in den Ruinen von Köln. Die meisten leben allerdings in den Vororten, wo es noch relativ viele bewohnbare Häuser gibt.

Das Zentrum, das einmal berühmt für seine romanischen Kirchen und seine Museen war, ist nur noch ein Chaos von gezackten Ruinen, umgestürzten Straßenbahnen, zerbrochenen Standbildern und riesigen Trümmerbergen, aus denen wie Rhabarberstangen rostige Stahlträger herausragen.

Als die Amerikaner kamen, waren viele Straßen ganz unpassierbar, bis die Bulldozer sie räumten. Es gibt keine Wasserleitungen mehr, kein Gas, keine Verkehrsmittel und Strom nur für essenzielle Einrichtungen wie die elektrischen Öfen der Bäckereien. Andererseits scheinen die Deutschen noch einigermaßen hinreichende Lebensmittelvorräte zu haben, und die Militärregierung – in dieser Gegend ist sie Sache der Amerikaner – hat die Reorganisation mit lobenswerter Tatkraft in Angriff genommen.

Sie schicken primitive, von Pferden gezogene Wasserwagen herum, sie haben einen Gesundheitsdienst eingerichtet, geben eine Wochenzeitung in deutscher Sprache heraus und haben schon die halbe Bevölkerung mit Fingerabdrücken neu registriert. Das ist nötig, um neue Lebensmittelkarten ausgeben zu können, und hilft auch ein bisschen bei der wichtigen Aufgabe, die Nazis aus den Nicht-Nazis herauszusieben.

Am ersten und zweiten Tag der Besatzung gab es massive Plünderungen durch Zivilisten, und es war offensichtlich, dass eine Art Zivilpolizei rekrutiert werden musste. Unter der Aufsicht eines erfahrenen amerikanischen Polizisten wurde eine Truppe von 150 unbewaffneten Deutschen ohne Uniformen zusammengekratzt, die bereits Dienst tut. Sowohl dabei als auch bei allen sonstigen Angestellten der Militärregierung gilt das Prinzip, keine Nazis zu rekrutieren, in welcher Funktion auch immer.

Der neue Polizeichef ist zum Beispiel ein Jude, der denselben Posten schon bis 1933 innehatte, als ihn die Nazis vertrieben. Drei verschiedene Gerichtshöfe sind eingesetzt worden, die Straftaten, mit denen sie sich befassen, reichen von Spionage bis zu Verstößen gegen Verkehrsregeln. Ich habe an der ersten Verhandlung des intermediary court teilgenommen, der sich mit relativ schwerwiegenden Vergehen beschäftigt und Gefängnisstrafen bis zu zehn Jahren aussprechen darf. Angeklagt war der örtliche Sekretär der Hitlerjugend, ein junger Nazi von ziemlich unappetitlichem Aussehen, nicht wegen seiner HJ-Mitgliedschaft (die Militärregierung bewertet die bloße Zugehörigkeit zu einer Nazi-Organisation nicht als Verbrechen), sondern weil er seine Funktion vor den Amerikanern zu verschweigen und eine Liste von HJ-Mitgliedern zu verstecken versucht hatte. Er wurde zu sieben Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe von 10.000 Reichsmark verurteilt, wobei sich seine Haftstrafe für jede nicht bezahlte Mark um einen vollen Tag verlängert.

Das wäre auch dann von vertretbarer Strenge gewesen, wenn solche Strafen wirklich abgesessen werden müssten, und der Mann war offensichtlich schuldig. Die Fairness der Verhandlung war so eindrucksvoll, dass sogar der deutsche Rechtsanwalt, der ihn verteidigte, dies extra erwähnte. Insgesamt scheint die amerikanische Militärregierung sehr gut gestartet zu sein, aber man kann sich vorstellen, dass die Schwierigkeiten später größer werden, wenn die Leute die Bombenangriffe vergessen haben und die Lebensmittelkrise sich weiter verschärft.